Herausgegeben im Auftrag des Weißenseer Arbeitskreises
(Kirchliche Bruderschaft in Berlin)
Weißenseer Blätter Verlag und v. i. S. d. P. Hanfried Müller
Ehrlichstraße 75 - D - 10318 Berlin

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Aus dem Inhalt 2 / 2006

 

   Zu diesem Heft

   Dokumentation:

Ein Brief der Konferenz US-amerikanischer Kirchen an die 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen

   Zur Karrikaturenprovokation - Da kann einem Hören uns Sehen vergehen / Carl-Jürgen Kaltenborn

   Gott und Welt. - Karl Barth und die Dialektik der christlichen Philosophie / Hans Heinz Holz

   Antwort an Rosemarie Müller-Streisand / Peter Franz

   Zum Disput zwischen Peter Franz und Rosemarie Müller-Streisand / Wolf Dieter Gudopp

   Ein Leserbrief zu Rosemarie Müller-Streisands Kritik an Peter Franz / Dieter Kraft

   Theorie und Praxis der nationaldemokratischen Revolution am Beispiel Afghanistans / Matin Baraki

   Eine Preisfrage. - Wo mag das wohl stehen?

   Rechtsfragen des Potsdamer Abkommens. Zur Überwindung des Faschismus (Fortsetzung von Heft 1/06, S. 64) / Erich Buchholz

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Zu diesem Heft

 

Zu diesem Heft

An erster Stelle dokumentieren wir in diesem Heft einen Brief der Konferenz US-amerikanischer Kirchen an die 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen und hoffen, es möchten sich auch in Deutschland endlich wieder bekennende Kirchen so klar und mutig gegen die unheilige Allianz von religiösen Schwätzern und faschistoiden Politikern äussern. Dann zeigt Carl-Jürgen Kaltenborn - weit hinausgreifend über den Ärger mit den Taktlosigkeiten des verkommenden Journalismus - Recht und Grenzen religionskritischer Satire auf: Zur Karrikaturenprovokation. Da kann einem Hören und Sehen vergehen.

Danach finden sich viele Beiträge - sowohl zu theologischen wie zu gesellschaftlichen Fragen -, von denen in besonderer Weise gilt, was wir in der ersten Ausgabe der WBl 1982 „Zu diesem Heft“ schrieben: „In den Weißenseer Blättern soll ein Chor von Stimmen laut werden ... aus Kirche und Welt; die wir kritisch oder zustimmend hören sollten. Nicht mit allem, was wir veröffentlichen, identifizieren wir uns. Aber wir halten es für gut, es zur Kenntnis zu nehmen“.

Zum Geburtstag Karl Barths, der sich am 10. Mai zum 120. Male jährt, lassen wir einen historisch-dialektischen Materialisten zu Wort kommen: Hans Heinz Holz schreibt über Gott und Welt. Karl Barth und die Dialektik der christlichen Philosophie. Wer 1946 und 1947 in Bonn studiert hat, erinnert sich vielleicht noch daran, wie Barth - köstlich humorvoll - von einem Japaner erzählte, der einst bei ihm ein besonders gutes Referat gehalten, dazu aber erklärt habe, was er gesagt hätte, glaube er allerdings nicht. Ob Barth Ähnliches bei dem Aufsatz von Hans Heinz Holz empfunden hätte?

Holz macht Theologie und Philosophie kommensurabel, indem er die Dogmatik als „christliche Philosophie“ versteht. Tatsächlich ist im Zuge der „konstantinischen Wende“ aus christlicher Dogmatik als Durchdenken des geglaubten Wortes Gottes weitgehend eine dem römischen Weltreich angemessene religiöse Welt-Anschauung geworden. Allerdings halten Christen sie nicht für Explikation des Glaubens, sondern für dessen Verleugnung. Diese Entwicklung aber ermöglicht es Holz, statt über Glauben aufs Wort und Erkenntnis der Welt über religiöse oder nichtreligiöse Weltanschauung zu debattieren. Denn daß Christusglauben im Gegensatz zu jeder Religion im Weltverhältnis Gottes und nicht im Weltverhältnis von Menschen begründet ist (daß Christen das meinen, sieht Holz durchaus, hält es aber für religiös-illusionär), ist nur im Glauben denkbar. Zwar ist das „Durchdenken des Glaubens“ als menschliches Denken mit allem menschlichen Denken kommensurabel. Aber insofern es nicht die Wirklichkeit, sondern die Offenbarung des die Wirklichkeit schaffenden Wortes durchdenkt, ist es mit dem Durchdenken der Weltwirklichkeit inkommensurabel. Das macht die Schwierigkeit nicht nur eines sogenannten „christlich-marxistischen“ Dialogs, sondern eines Dialogs über Glaubens- und Welterkenntnis überhaupt aus. Die Wahrheit Gottes wird uns gesagt; sie ist ursprünglich monolog, Gott redet, der Mensch hört. Erst indem er Gottes Wort glaubt, kann es aposteriori zum „Dialog“ über die geglaubte Wahrheit kommen. Bezeugt jedoch der eine, er empfange den Glaube als Gottes Offenbarung, während der andere den Glauben für ein illusionär-religiöses Weltverständnis hält, wird der Dialog schwierig.

Diese Frage müssen wir im nächsten Heft ausführlich aufnehmen und zugleich das Gespräch mit Peter Franz  weiterführen. Er möchte, wenn wir seine Antwort an Rosemarie Müller-Streisand recht verstehen, die Theologie als fides quaerens intellectum, als Durchdenken des Wortes, dem wir glauben, zu Gunsten reiner Spontaneität sich religiös begründender Humanität preisgeben. In gewisser Weise knüpft er an ebionitische (die Gottheit Jesu leugnende) Traditionen an, so wie Holz an doketische (die Wahrheit der Menschwerdung Gottes leugnende) Traditionen anknüpft, um ein religiöses und nichtreligiöses Weltverhältnis am gleichen Maßstab messen zu können. Wo Holz Theologie als „religiöse“ mit nichtreligiöser Weltanschauung er-kenntnistheoretisch vergleichbar machen möchte, versucht Franz „religiöses“ und nichtreligiöses Lebensgefühl ethisch kommensurabel zu machen. Auch diese Frage werden wir ausführlicher aufnehmen und dabei noch einmal unsere Bedenken gegenüber der „Befreiungstheologie“ genauer erklären müssen. Zunächst lassen wir schon in diesem Heft Wolf Dieter Gudopp und Dieter Kraft zu dieser Kontroverse zu Wort kommen.

Für den gesellschaftswissenschaftlichen Teil des Heftes übernehmen wir diesmal aus der Festschrift Aus Kirche und Welt den Essay von Matin  Baraki über Theorie und Praxis der nationaldemokratischen Revolution am Beispiel Afghanistans. Wir vermuten, daß diese sachkundige und differenzierte Darstellung des revolutionären und konterrevolutionären Prozesses in einem der am wenigsten entwickelten Länder der Erde für viele unserer Bezieher ebenso anregend ist wie für uns. Zwar wird sie unter einigen unserer kommunistischen Leser einen Aufschrei des Entsetzens auslösen: „Mehrparteiensystem“, „Gewaltenteilung“, „zurück zu Marx und nicht zu Lenin“ ... das wirkt wahrlich provozierend, und auch wir fragen uns: sollen wir wirklich einen Schritt zurück gehen? Eher doch wohl vorwärts! Aber Dogmatismus führt nicht nur in unterentwickelten Ländern nicht weiter und hat in schon sozialistischen Ländern zu einer Stagnation beigetragen, die es erleichterte, sie konterrevolutionär zu paralysieren. Von den „Klassikern“ sollten wir nicht zeitbezogene Lehrsätze, sondern die Methode des Denkens übernehmen, schon gewonnene Erkenntnisse in weiterer Erkenntnis revidieren (welch schreckliches Wort, aber es heißt nur: überprüfen!) und so bessere Erkenntnisse gewinnen. Dazu rücken wir am Ende einen Text mit der Preisfrage: „Wo mag das wohl stehen?“ ein.

Das Heft schließt mit einer weiteren Fortsetzung der Abhandlung von Erich  Buchholz zu Rechtsfragen des Potsdamer Abkommens. Zur Überwindung des Faschismus.

Zuletzt möchten wir auf den soeben veröffentlichten Aufruf „Für eine antikapitalistische Linke“ von einer Reihe Europaparlaments-, Bundestags- und Landtagsabgeordneten hinweisen, die am 28. III. 06 in der jungen Welt gekürzt erschienen ist und unter www.antikapitalistische-linke.de im Internet eingesehen werden kann.

Nicht zuletzt möchten wir in diesem Vorwort energisch unserer Empörung darüber Ausdruck geben, daß das sogenannte „Haager Tribunal“ den Tod von Svobodan Milosewic - zumindest durch Unterlassung, wenn nicht vorsätzlich durch medikamentöse Vergiftung - herbeigeführt hat, bevor er, schon in der Befragung der Zeugen der Anklage zum Ankläger geworden, durch die Vernehmung der von ihm selbst benannten Zeugen den Prozeß vollends zum Scheitern gebracht hätte. Wir halten es für einen Skandal und einen Rückfall der Rechtsentwicklung um Jahrhunderte, daß mitten in Europa Richter und Scharfrichter identisch zu werden scheinen!

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Dokumentation:

Ein Brief der Konferenz US-amerikanischer Kirchen im Ökumenischen Rat der Kirchen

An die 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen

Porto Alegre, Brasilien

Gnade sei mit euch und Friede vom dreieinigen Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.

Als Führer der US-amerikanischen Kirchen, die dem Ökumenischen Rat der Kirchen angehören, grüßen wir die Delegierten der 9.Vollversammlung mit Freude und Dankbarkeit für eure Partnerschaft im Evangelium in den Jahren, seit wir zuletzt in Harare zusammengetroffen sind. In diesen Jahren wart Ihr beständig in eurer Liebe zu uns. Wir erinnern uns besonders, wie ihr uns voll Mitleid umarmt habt in den Tagen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und vor wenigen Monaten bei den Nachwirkungen des Hurrikans Katrina. Eure seelsorgerlichen Worte, eure Gaben und eure Gebete haben uns unterstützt und uns daran erinnert, daß wir nicht allein sind, sondern verbunden im Leib Christi zu einer Gemeinschaft der Ermutigung und des Trostes. Auch jetzt habt ihr uns mit großer Gastfreundschaft willkommen geheißen. Ihr sollt wissen, daß wir dafür sehr dankbar sind.

Wir gestehen jedoch auch ein, daß wir Bürger einer Nation sind, die in diesen Jahren viel dafür getan hat, die menschliche Familie in Gefahr zu bringen und die Schöpfung zu mißbrauchen. Nach den Terroranschlägen sandtet ihr „lebendige Briefe“, die uns zu einer tieferen Solidarität mit denen einluden, die täglich überall in der Welt leiden unter Gewalt. Aber unser Land antwortete darauf, indem es versuchte, einen privilegierten und sicheren Platz in der Welt in Anspruch zu nehmen und indem es Terror auf die wirklich Verwundbaren unter unsern globalen Nachbarn herabschickte. Unsere Führer schenkten den Stimmen der Kirchenführer kein Gehör, die innerhalb der Nation und in der Weltöffentlichkeit erklangen; sie ließen sich auf imperialistische Vorhaben ein, die Dominanz und Kontrolle um unserer nationalen Interessen willen suchen. Nationen wurden dämonisiert und Gott wurde in den Dienst der nationalen Agenda gestellt. Das halten wir für Götzendienst. Wir beklagen mit besonderem Schmerz den Krieg im Irak, der unter Vortäuschung falscher Tatsachen begonnen wurde und die weltweiten Normen der Gerechtigkeit und der Menschenrechte verletzt. Wir beklagen alle, die in diesem Krieg getötet oder verletzt wurden; wir gestehen voller Scham die Mißhandlungen, die in unserem Namen geschehen sind. Wir bekennen, daß wir unsere prophetische Stimme nicht laut und ausdauernd genug erhoben haben, um unsere Führer von diesem Weg des Präventiv-Kriegs abzuhalten. Herr, erbarme dich!

Die Flüsse, Ozeane, Seen, Regenwälder und die Feuchtgebiete, die uns erhalten, selbst die Luft, die wir atmen, werden unaufhörlich verletzt und die globale Erwärmung bleibt unbekämpft, während wir es zulassen, daß Gottes Schöpfung auf die Zerstörung zutreibt. Und doch lehnt es unser eigenes Land ab, seine Mitschuld anzuerkennen und weist multilaterale Abkommen ab, die diesen zerstörerischen Trend umkehren wollen. Wir verbrauchen, ohne für ein Nachwachsen zu sorgen. Wir bemächtigen uns begrenzter Ressourcen, als seien sie Privatbesitz; unser unkontrollierter Appetit verschlingt mehr und mehr von den Gaben der Erde. Wir bekennen, daß wir unsere prophetische Stimme nicht laut und ausdauernd genug erhoben haben, um unsere Nation in die globale Verantwortung für die Schöpfung zu rufen, und daß wir selber Anteil haben an einer Kultur des Konsums, die die Erde schädigt. Christus, erbarme dich!

Die überwiegende Mehrheit der Völker der Erde lebt in bitterer Armut. Der Hunger, die HIV/AIDS-Pandemie, die behandelbaren Krankheiten, die unbehandelt bleiben, klagen uns an; sie offenbaren uns das schreckliche Gesicht der weltweiten wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, die wir allzu oft nicht eingestanden haben und der wir nicht entgegengetreten sind. Unser Land erfreut sich eines enormen Wohlstands, aber wir klammern uns lieber an unsere Besitztümer statt zu teilen. Wir haben uns nicht unter den Bund des Lebens gestellt, zu dem uns unser Gott ruft. Der Hurrikan Katrina zeigte der Welt die Menschen, die unser Land durch den Bruch des Gesellschaftsvertrags fallen läßt. Wir haben uns als Nation geweigert, sowohl dem Rassismus entgegenzutreten, der in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft herrscht, als auch dem Rassismus, der unser politisches Handeln überall in der Welt vergiftet. Wir bekennen, daß wir unsere prophetische Stimme nicht laut und ausdauernd genug erhoben haben, um unsere Nation dazu aufzurufen, eine gerechte Wirtschaftsordnung zu schaffen, so daß keiner Mangel leidet, wenn alle teilen. Im Angesicht der Armut der Erde spricht unser Wohlstand das Urteil über uns. Herr, erbarme dich!

Schwestern und Brüder in der ökumenischen Gemeinschaft, wir kommen zu euch in diese Versammlung voll Dank für die Gastfreundschaft, die wir nicht verdient haben, für eine Kameradschaft, für die wir nichts eingebracht haben, für eine Umarmung, für die wir nichts getan haben. Wir kommen zu euch in der Hoffnung, die in Christus zugesagt ist, und voll Dank für gläubige Menschen in unserem Land, die unserer Sehnsucht nach Frieden am Leben hielten, und wollen Partner sein bei der Suche nach Einigkeit und Gerechtigkeit. Von einem Ort imperialistischer Sirenengesänge kommen wir in Buße zu euch und suchen die Gnade, die das menschliche Bewußtsein verändern kann, das überdrüssig geworden ist der Gewalt, der Herabsetzung und der Armut, die unser Land verursacht hat, die Gnade, die Menschen verändern kann, die schwer mit Schuld beladen sind, die Gnade, die die Welt verändern kann.

Herr, erbarme dich, Christus, erbarme dich, Herr, erbarme dich. Amen.

Übersetzung: Angelika und Ulrich Krum*

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Zur Karrikaturenprovokation

Da kann einem Hören uns Sehen vergehen

von Carl-Jürgen Kaltenborn

Als Ursache für Volkszorn in islamischen Ländern gegen dänische Mohammed-Karikaturen, vermittelt durch Massenmedien, wird genannt: Verletzung religiöser Gefühle durch Bruch des Bilderverbotes. So tun wir gut daran, die Schlüsselwörter näher zu betrachten: Volkszorn, Medien, religiöse Gefühle und Bilderverbot.

Gottesbilder in Alt-Israel

Beginnen wir mit letzterem: Welchen Sinn hat das Bilderverbot?

Dem Glauben Israels wohnt in der „Exodusgruppe“ ( jenem Teil des künftigen Volkes, der aus der Sklaverei Ägyptens ausbricht) von Beginn eine Tendenz zur Bildlosigkeit inne. Dahinter steckt auch Distan-zierung von der ägyptischen Kultur mit ihrer ausgeprägten Gottesbild-verehrung. Dennoch kommt es erst ab Ende des 8. Jahrhunderts v.u.Z., im Kampf des Propheten Hosea gegen Gottesbilder, zur Formulierung des Bilderverbotes. Bis dahin wurde der Gott Israels auch mit Bildern und Kultsymbolen verehrt. Das Stierbild von Bethel war allerdings als Podest gemeint, auf dem Israels Gott unsichtbar stehend vorgestellt wurde. Doch ist es von diesem Podest bis zur direkten Identifizierung im Volksglauben nur ein kleiner Schritt. Die an den Sinai projizierte Erzählung vom „Tanz um das Goldene Kalb“ reflektiert rückschauend die hoseanische Auseinandersetzung. In der Zeit des Babylonischen Exils wird das Bilderverbot, verknüpft mit dem Mißbrauchsverbot des göttlichen Namens, auch auf die häusliche Gottesverehrung und jede bildliche Darstellung im Gottesdienst angewandt.

Christen zwischen Symbolen und Ikonen

Anfänglich halten auch die Christen am biblischen Bilderverbot fest. Man begnügt sich mit Symbolen und Allegorien in der Kunst. Doch beim Übergang ins 6. Jahrhundert gewinnt das Volksbedürfnis nach Greifbarem und Sichtbarem, vor allem im künstlerisch entwickelten Osten, die Oberhand. Unter hellenistischem Einfluß dringt die Bilderverehrung vor. Am Ende des ersten Viertels des 8. Jahrhunderts setzt im byzantinischen Bilderstreit - unter Kaiser Leo III. - eine Gegenbewegung ein, die 843 mit der Wiederherstellung des Bilderkults und der Einsetzung des „Festes der Orthodoxie“ abgeschlossen wird.

Von der Ablehnung durch die Theologen am Hofe Karls des Großen, bis zu den Bilderstürmern der Reformation hält sich jedoch ein ikono-klastisches (bildbekämpfendes) Element im westlichen Christentum.

Bildverbot im Islam

Im Koran findet sich kein direkt ausgesprochenes Bilderverbot. Doch wird – in den Suren 6, 74 ; 21, 52 ff. und 60, 24  – an die biblische Ablehnung von Gottesbildern angeknüpft. Besonders von letzterer Stelle aus, wird - unter Bezug auf Allah als dem Schöpfer - in der Tradition darauf verwiesen, daß es neben dem Schöpfer als Bildner keine andere Instanz geben darf. Deshalb ist selbstverständlich, daß Allah weder abgebildet werden kann noch darf. Abbildungen von Menschen sind zwar laut Koran nicht explizit verboten, doch hat die muslimische Tradition Vorbehalte gegenüber Bildern von Menschen und anderen Lebewesen. Da aber in nichtarabischen Kulturen figürliche Darstellungen teilweise auf lange Traditionen zurückblicken können, finden sich in der spätmittelalterlichen persischen Malerei auch Darstellungen des Propheten, häufig mit Heiligenschein, immer jedoch anstelle des Gesichts ein weisser Fleck, oder es ist von einem Schleier verdeckt. Ähnlich verhält es sich bei den Osmanen und unter den indischen Moguln. Dies zu erwähnen, heißt zugleich, darauf hinzuweisen, daß an keiner Stelle von dem Islam geredet werden kann. Den Islam gibt es so wenig wie es das Christentum oder das Judentum gibt. Religionen und Weltanschauungen begegnen uns rund um die Welt in breit gefächerten, vielfältig historisch gewachsenen Varianten.

Wider den Namensmißbrauch

In der Hebräischen Bibel (dem sog. „Alten Testament“ ), innerhalb des Dekalogs, im Buche Exodus 20,2-7 steht das Bilderverbot in der Mitte zwischen der Warnung vor Fremdgöttern und der göttlichen Namensverweigerung. Die Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok (Ex. 32, 25-30) illustriert das Gewicht des Namens, vergleichbar unserem Märchen vom Rumpelstilzchen. Wer den Namen einer Person oder In-stanz kennt, hat Macht über sie, kann sie für eigene Belange herbeirufen, beschwören. Deshalb verweigert Gott in der Erzählung von der Berufung des Mose am brennenden Dornstrauch (Ex.3,1-15), seinen Namen zu nennen. Stattdessen wird in einer Volksetymologie die In-tention des Gottesnamens erklärt, den auszusprechen verboten ist,: „Ich werde dasein, als der ich dasein werde.“ (Buber/Rosenzweig-Übersetzung)

Worauf zielt das Bilderverbot?

Wann und wo immer Ge- bzw. Verbote aufgestellt werden, ist dies ein Signal dafür, daß sie nötig sind. Im Straßenverkehr, um Unfälle zu verhindern. Schildern werden an Unfallschwerpunkten installiert. So signalisiert das Bilderverbot, daß bildhaft gedacht und empfunden wird. Das kann jeder an sich selber testen, etwa beim Anruf einer fremden Person, deren Stimme wir zum ersten Mal hören. Die meisten assoziieren sofort – von der Stimme abgeleitet - ein Bild dieser Person. Bei langjähriger Bekanntschaft mit einer Personen entsteht ein festes Bild von ihr in uns: Mosaik aus vielen Erfahrungen, die wir mit der- oder demjenigen gemacht haben. Dieses Bild birgt die Gefahr in sich, daß wir mit Hilfe dieses Bildes die Person selbst verdecken. Wir meinen von ihr alles zu kennen. So lassen wir ihr keine Entwicklungsmöglichkeit mehr. Daran kranken viele Beziehungen. Wir wissen ja schon alles über sie. Was kann da noch Neues hinzutreten? Solche Bilder lähmen jede Kommunikation; denn ein Dialog kann so kaum noch geführt werden. Wir kennen dessen Ausgang ja bereits, gesättigt von langjährigen Erfahrungen. Durch das Bild heben wir die Eigenständigkeit dieser Person auf. Sie ist uns nicht mehr gegenüber. Wir haben sie per Bild aufgesogen. Dasselbe passiert mit dem Gottesbild. Es muß sich dabei gar nicht um ein Gemälde, eine Plastik aus Holz Stein oder anderen Stoffe handeln. Entscheidend ist ohnehin die in uns aufgebaute Beziehung. In dem Moment, in dem wir Gott in uns eingesogen haben, ist er zum Teil unseres Kreislaufs geworden. Die Gottheit steht uns nicht mehr gegenüber. Wir führen nun einen Scheindialog mit einem Gott in uns, der wir selber sind. Dieser Gefahr zu wehren, wird das Bilderverbot installiert. Es geht nicht um das Bild als Kunstwerk, sondern um die Fixierung auf Bilder, die die Kommunikation tötet; denn sie hebt das Gegenüber auf, indem sie es in uns verlagern. Oder  - um mit Martin Buber zu reden – Gott und jedes andere Gegenüber wird zu einem ES. Wir verlieren das göttliche wie das menschliche DU, indem wir es bildlich fixieren, uns dabei angleichen. Gegen den Tod jeder wahrhaft personalen Korrespondenz muß angegangen werden. Darüber sollten sich die Gemüter erhitzen. Nicht aber vordergründig über ein gezeichnetes, gemalten, geschnitztes, in Stein gehauenes oder aus Metall gegossenes Abbild der Wirklichkeit.

Religiös fühlen oder Glauben leben?

Was verbirgt sich hinter der Redewendung von „verletzten relgiösen Gefühlen“? Was sind religiöse Gefühle? Wodurch können sie verletzt werden?

Ob wir das Wort vom lateinischen „religio“: „zurückbinden“/ “befestigen“ oder „relego“: „wieder (zusammen) lesen“ herleiten, es läuft - bei allem Wissen um die Unmöglichkeit einer weltweit akzeptablen Religionsdefinition - auf Schleiermachers Richtungsangabe hinaus: Religion wäre als „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“. Religiös ist demnach – allerdings in der Sprache dieses deutschen evangelischen Theologen des Vormärz - wer sich in der Abhängigkeit der alles umfassenden, alles durchdringenden göttlichen Gnade weiß. Wie aber können Gefühle verletzt werden, die von einer derartige Grundstimmung geleitet sind?

Menschen, die sich von göttlicher Güte „schlechthin“, d.h. ohne Einschränkung, geleitet, beschützt und bestimmt wissen, wie sollten sie in diesem Glauben verletzt werden können? Und indem wir hier „Religion“ durch „Glaube“ ersetzen, signalisieren wir bereits eine andere Qualität. Glaube erschöpft sich ja nicht – jedenfalls am Christus-Evangelium orientierter Glaube (und über einen anderen als diesen vermag ein christlicher Theologe kein Urteil abzugeben, kann höchsten Wahlverwandtschaft vermuten) - im für-wahr-Halten von Dogmen. Glaube ist auch nicht ein vages Hoffen auf überirdisches Eingreifen. Glaube ist eine durch souveräne Gelassenheit charakterisierte Grundhaltung, in der unser Leben gemeistert wird. Darin unterscheidet sich Glaube vom Aberglauben. Glaube ist als unverwüstliche Lebens- und Sterbenskraft – wie der jüdische Theologe Pinchas Lapide nie müde wurde zu betonen – immer auch ein Aber-Dennoch-Glaube gegen alle äußeren Widerstände und Zweifel. Ein solcher Glaube hat sich durch die Jahrtausende, bis zum Märtyrer-Tod als unzerstörbar erwiesen. Wie sollte ein solcher Glaube verletzt werden können? Deshalb haben wir um der begrifflichen Klarheit willen das Ausgangswort „Religion“ durch „Glauben“ ersetzt, um so den qualitativen Unterschied - in unserem Gedankengang zum Ausdruck gebracht - auch terminologisch zu verankern. Religion als in weltanschaulichen Lücken und Grenzbereichen angesiedelte Rückversicherungsbewegung zur Innerlichkeit und Transzendenz, läßt sich verletzen. Glaube ist unverletzlich, weil jeder weltanschaulichen Abhängigkeit entzogen.

Der Buchstabe tötet

Auf einem ganz anderen Blatt steht der Streit über Auslegungsfragen „Heiliger Schriften“ und eine angemessene Haltung zur Tradition. In diesen Auseinandersetzungen scheiden sich orthodoxe, konservative und liberale Strömungen in allen Religionen sehr schnell von einander. Ganz abgesehen von vielfältigen mystischen Bewegungen, die häufig Brückenbauer zwischen den Religionen sind.

Für die Auslegung der Bibel hat Paulus im 3. Kapitel seines 2. Briefes an die Christen in Korinth, im 6. Jahrzehnt u.Z., als Maßstab genannt: „Der Buchstabe tötet. Der Geist aber macht lebendig.“

Was in unseren Tagen „Fundamentalismus“ genannt wird, ist mit dem ersten dieser beiden Paulus-Sätze gemeint. Es handelt sich um Leute, die sich um das Fundament ihres Glaubens besorgt zeigen, dabei jedoch an der Oberfläche bleiben, insofern sie auf Buchstaben pochen, ohne Bewußtsein dafür, worauf diese Buchstaben in einem bestimmten historischen Zusammenhang hinzielen. Diese Beschränktheit ist kein intellektueller, sondern ein gesellschaftlicher Defekt, weshalb sog. „Fundamentalisten“ (eigentlich: Literalisten oder Buchstabilisten; denn sie gehen keineswegs ihrer Sache „auf den Grund“) gegenüber Argumenten immun sind. Nährboden dieses „Fundamentalismus“ genannten Literalismus ist in der Regel eine gesellschaftliche Krise, in der verunsicherte Menschen ihre Verantwortung gern abgeben. So kommt man zu schnellen, einfachen Schuldzuweisungen an andere, in Tateinheit mit der Aufgabe eigenständigen Denkens. In der so entstehenden Masse tritt an die Stelle des selbständigen Denkens die Manipulation durch Machthaber. Man denkt nicht mehr. Man wird gedacht.

In solcher Atmosphäre muß der Glaube aufpassen, nicht in religiöse Gefühligkeit abzudriften; denn nun wird ein künstlicher Graben errichtet zwischen Glauben und Denken, Glauben und Wissen. Wer sich darauf einläßt, wird zu gedankenlosem Glauben getrieben. Der Glaube gründet jetzt einzig auf unkontrollierten Gefühlen, im Sog der Masse schwimmend, die ihrerseits machtgesteuert wird. Glaube pervertiert so zur Religion.

Jeder, der dagegen seine Stimme erhebt, läuft Gefahr, zum Irrlehrer, Volksverhetzer, kurz: zum Feind erklärt zu werden. Wer diese brisante Situation reflektiert, weiß, worauf er sich einläßt, wenn er hier öffentlich Stellung bezieht. Dabei geht es auch um die Art der Auseinander-setzung. Wer meint manche Auswüchse einer bestimmten Glaubensrichtung kabarettistisch überspritzt, satirisch überhöht oder – wie jetzt geschehen – durch Karikaturen bloßstellen zu müssen, sollte zuvor die möglichen Reaktionen der dadurch auf den Plan gerufenen Geister im Blick haben. Denn Freiheit – auch die der Presse – zeitigt, wenn sie denn wirklich Freiheit ist, Handlungen, die aus der Einsicht erwachsen in das, was jetzt und hier notwendig und angemessen ist. Im Zeitalter der Telekommunikation macht die Ethik selbstverständlich auch nicht vor den Massenmedien Halt. Sich mit Unkenntnis in Bezug auf die behandelte Problematik herauszuwinden, ist niemandem gestattet. Heute kann jede des Lesens und Schreibens kundige Person – zumindest in unseren Breiten - über das Internet an jedewede Information, z.B. über das Verhältnis von Muslimen zum Prophetenbild gelangen. So gilt denn auch für Karikaturisten, was schon vor einem Vierteljahrhundert im Friedenskatechismus des „Ökumenischen Basisseminars Königswartha“ formuliert wurde: „Wo Wissen erreichbar ist, ist Nichtwissen unmoralisch.“

Wozu Karikieren?

Als Übertreibung des Typischen begegnet Karikatur – auch wenn ihre heutige Bezeichnung, vom italienischen: „caricare“= „überladen“ abgeleitet, sehr viel jünger ist - bereits im Neuen Reich Ägyptens, also vor dreieinhalb Jahrtausenden. Mißstände oder gegnerische Personen werden durch das Kampfmittel der Karikatur der Lächerlichkeit preisgegeben.

„Was Ihr wollt, daß euch die Leute tun...“

Bei der Frage nach dem jeweils Notwendigen und Angemessenen nehmen wir eine Anleihe bei der Tradition: Sowohl für Rabbi Hillel als auch für Jesus ist die „Goldene Regel“ biblisches Fazit und Grundlage jeder Ethik, gebündelt in dem Satz der Bergpredigt: „Was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun.“ Auf ähnliche ethische Maximen treffen wir in verschiedenen Religionen.

In den „Vätersprüchen“ des Babylonischen Talmuds wird von Rabbi Elasar aus Modiim überliefert, daß „keinen Anteil an der kommenden Welt“ hätte, „wer das Angesicht seines Gefährten öffentlich erbleichen läßt“. Das Beschämen des Nächsten in der Öffentlichkeit wird in diesem Zusammenhang als so schwerwiegend eingeschätzt wie die Entweihung des Heiligen.

Wenn uns im 3. Buch der Tora, dem „Leviticus“ (hierzulande zumeist: „3. Mose“ genannt) im 19. Kapitel dahingehend die „Leviten gelesen werden“, daß wir nicht nur unseren „Nächsten“ lieben sollten wie uns selbst, sondern diese „Nächstenliebe“ auch auf den Fremdling ausgedehnt wird, bringt uns diese Zumutung im Blick auf Karikaturen ins Grübeln.

Abschied vom Witz?

Sollen wir auf ein so altes, bewährtes Kampfmittel verzichten? Wäre dies nicht gleichbedeutend mit dem Abschied von jeglichem Witz? Was ist mit der kabarettistischen Verarbeitung kritikwürdiger Zustände und Personen, wo doch auch die Bibel nicht auf Witz verzichtet?

Im Buch Genesis 31, 34f. wird mit diebischer Freude erzählt, wie Rachel die Hausgötter ihres Vaters stiehlt. Indem sie bei der folgenden Razzia durch ihren Vater und dessen Knechte die gestohlenen Hausgötter unter den Sattel ihres Kamels schieb und sich daraufsetzt, unter Hinweis darauf, daß sie „ihre Tage“ hätte, weshalb man ihr verzeihen möge, wenn sie nicht vor ihrem Vater aufstünde, wird implizit eine deftige Religionskritik im Blick auf die wehrlosen Hausgötter präsentiert. Die Jona-Novelle ist eine einzige Satire auf Glaubensentartungen im nachexilischen jüdischen Volk.

Auf diesem Boden erwuchs der Jüdische Witz als Überdruckventil in oft schwer ertragbarer Situation der Diaspora.

Ein typisches Beispiel dafür: Ein Rabbi klagt vor Gott, daß sein Sohn Christ geworden sei. Die Antwort Gottes: „Ich verstehe dich. Mir ist es genauso ergangen.“ Darauf der Rabbi: „Und was hast du gemacht?“ Gott: „Ein Neues Testament.“

Hier erweist sich Witz als kräftiges Zeichen des Überlebenswillens. Indem man vorrangig über sich und seine eigene Religiosität lacht, entwickelt sich Souveränität.

Ganz anders die Sauertöpfigkeit christlich-fundamentalistischer Kreise, die die folgende Anekdote „aufs Korn nimmt“:

Ein Dorfpastor leiht einem Langzeit Bettlägrigen ein Wilhelm-Busch-Album. Als er sich 14 Tagen später danach erkundigt, wie dem Kranken das Buch gefallen hätte, kommt die Antwort: „Ganz nett, Herr Pfarrer. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß es sich um Gottes Wort handelt, hätte ich an manchen Stellen gelacht.“

Da hört der Spaß auf

Am 9. Februar 2006 erschien in der Wolgograder Tageszeitung „Gorodskije Westi“ eine Karikatur, auf der Buddha, Moses, Jesus und Mohammed angesichts von Randalierern im Fernsehen ausrufen: „Also das haben wir sie nicht gelehrt.“ Am 15. Februar hat daraufhin die russische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen wegen „Aufwiegelung zu religiösem Hass“ angekündigt.

Bei solcher Reaktion auf eine Karikatur, die sich eindeutig nicht gegen einen der genannten Religionsstifter richtet, sondern deren Nachfolger aufruft „die Kirche im Dorf zu lassen“, sich auf das Eigentliche ihres Glaubens zu besinnen, kann man nur noch ungläubig den Kopf schütteln. Wieviel Kritik darf unsere Nächsten- und Fremdenliebe einschließen? Müssen wir demnächst gegenüber jedem beleidigten Aufschrei bei einem nicht verstandenen Witz um Entschuldigung bitten?

Wo leben wir denn?

Hier muß über die politische Konstellation gesprochen werden, innerhalb der, mit vielmonatiger Verspätung. auf unverhältnismäßige Weise, auf die im Herbst 2005 in einer dänischen Zeitung veröffentlichen Profeten-Karikaturen reagiert wird.

Um ohne Umschweife auf den Kern der Sache zu stoßen, blicken wir auf die von den UN angestoßene Debatte über die längst überfällige Auflösung des US-Gefangenenlagers Guantanamo. Dort werden Menschen unter Hinweis auf einen weltweit geführten „Krieg gegen den Terror“, jahrelang ohne ordentliche Gerichtsverfahren gefangen gehalten, wodurch man Rechtsstaatsprinzipien verletzt. Dies geschieht, indem die USA sich zur Führerin der westlichen Demokratie erklären. Wenn George W. Bush zudem bei vielen Anlässen sein Christentum demonstriert, müssen wir uns nicht wundern, daß die dabei sichtbar werdende Doppelmoral in vom Islam dominierten Ländern von Herrschenden zum Anlaß genommen wird, um daraus einen „Kampf der Kulturen“ zu konstruieren, der von den eigenen inneren Problemen ablenkt. Blicken wir von hieraus auf andere Brennpunkte der US-Nahostpolitik, so stoßen wir auf dieselbe Doppelmoral: im Irak-Krieg, der lügenhaft legalisiert wurde oder in der Auseinandersetzung über das Atomprogramm des Iran; denn solange solche Staaten der US-amerikanischen Globalstrategie dienen, wird deren Tun, selbst das völker-rechtswidrige, gedeckt. Sobald sich jedoch das Blatt wendet, können temporäre Partner zu „Schurkenstaaten“ erklärt werden. Auf diesem Boden, vor solchem Hintergrund, läßt sich, unter Hinweis auf Guanta-namo oder den Irak-Krieg, ein medienwirksam inszenierter Volkszorn gegen die karikaturelle Verunglimpfung Mohammeds nutzen, um den Spieß umzudrehen und eine geschlossene Front der islamischen Welt gegen den „christlichen Westen“ zu konstruieren. Dabei kann die Sensationsgier der im Verdrängungswettbewerb um Marktanteile stehenden Medienanstalten genutzt werden. Denn wie sich der Einsturz einer Brücke medial besser „verkauft“ als deren Einweihung, so bringen Tumulte mit brennenden Fahnen und Lynchjustiz allemal höhere Einschaltquoten als Informationssendungen über religiöse und weltanschauliche Gemeinsamkeiten. Hierbei kommt es zu einer unheiligen Allianz von Skrupellosen auf beiden Seiten. Wird die auf Events getrimmte „Volksseele“ in westlichen Ländern mit spannender Real-satire aus dem islamischen Osten gefüttert, so wissen Demagogen eben dort, wie die aufgestaute Heißluft gegen „westlich-christliche“ Arroganz und Unterdrückung zu nutzen ist, ihren politischen Zielen zu dienen. Glaube und Humanität bleiben in beiden Zusammenhängen auf der Strecke.

Was nun?

Jetzt sind die Weisen auf allen Seiten gefordert. Jene, die Bescheid wissen: über die Macht der Sprache wie über die Kraft des Hörens. Es ist anzuknüpfen an das längst Gewußte, doch weithin Vergessene:

„Die Zunge ... ist ein nimmermüdes Übel, voll tödlichen Giftes. Mit ihr preisen wir den Herrn und Vater, und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. Aus demselben Mund geht Segen und Fluch hervor.“ (Jakobus 3, 8-10)

„Tod und Leben sind in der Macht der Sprache, und die sie lieben, dürfen ihre Frucht essen.“ (Sprüche 18, 21)

Solche realistischen Einschätzungen erwachsen dem Glauben an Gottes allumfassende Gnade. Aus diesem Glauben konnte jemand vor zweieinhalb Jahrtausenden dichtend beten:

„Herr, du erforschest mich und kennest mich. / Ich sitze oder stehe, du weißt es; / du verstehst meine Gedanken von ferne. / Ich gehe oder liege, du ermisst es, / mit all meinen Wegen bist du vertraut. / Ja, es ist kein Wort auf meiner Zunge, / das du, o Herr, nicht wüsstest. / Du hältst mich hinten und vorn umschlossen, / hast deine Hand auf mich gelegt.“ (Psalm 139,1-5)

Aus solchem Glauben erwuchs auch die Wiedergabe der göttlichen Zusage in Koran-Sure 50,15:

„Wahrlich, wir erschufen den Menschen, und wir wissen, was ihm seine Seele einflüstert; denn wir sind ihm näher als die Halsader.“

In solche Zeugnisse kann ich als christlicher Theologe von ganzem Herzen einstimmen und verstehe zugleich, warum ein Zentralwort der Hebräischen Bibel mit der Aufforderung zum Hören beginnt. Nicht über einander reden, sondern auf einander hören! So beginnt Kommunikation. Hörfähigkeit zu üben, steht auf der Tagesordnung, in Zeiten, da man Staatsterror mit Individualterror vergilt und beides als Kampfmittel legalisiert.

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Gott und Welt

Karl Barth und die Dialektik der christlichen Philosophie

von Hans Heinz Holz

Vorbemerkung:

Vor einem Jahr fragte mich die Redaktion der Marxistischen Blätter, ob ich für ein Heft über Menschenbilder einen Aufsatz zum christlichen Menschenbild schreiben könne. Ich sagte unbedachtsamerweise zunächst zu. Während der Arbeit wurde mir aber klar, daß es zwar christlich gefärbte Menschenbilder in den verschiedenen Epochen der europäischen Geschichte seit dem Ausgang der Antike gab, aber kein christliches Menschenbild; es sind vielmehr die Menschenbilder der jeweiligen Gesellschaftsformationen und Perioden, die mit christlichen Weltanschauungsgehalten unterschiedlich aufgefüllt sind. Der Aufsatz für die Marxistischen Blätter wurde – angesichts des sich türmenden Materials – nicht fertig. Mein Interesse verschob sich dabei auch mehr und mehr auf die Problemlage, wie der Ursprung der christlichen Welteinstellung sich zu einer späteren Dogmatik verhält, die natürlich nicht ohne eine Anthropologie auskommt. In diesem Zusammenhang bekam die Radikalität der Barthschen Christologie eine zentrale Bedeutung. Den Extrakt dieser Studien und Überlegungen möchte ich nun der subtilen Kennerin der Kirchen- und Dogmengeschichte, Rosemarie Müller-Streisand, zueignen.

Die Geschichte der Theologie läßt sich begreifen als der Weg des menschlichen Logos, mit seinen Kategorien von Gott zu sprechen; logos tou theou wird dann ein Genitivus objectivus, Gott das Objekt menschlicher Erkenntnis. Auf diesem Wege erreicht man als Ziel eine Anthropologie, deren Menschenbild aus einer Projektion des Gottesbildes hervorginge, das doch selbst erst als eine Projektion der Kategorien des menschlichen Logos auf Gott entstünde – eine tautologische Konstruktion, in der der Mensch der Schöpfer Gottes und seiner selbst wäre. Und dies ist vielleicht das unaufhebbare Dilemma der Theologie, die nach Art einer Wissenschaft betrieben wird und also einen Gegenstand haben muß.

Eine solche Theologie wäre die Umkehrung der Verkündigung, die der Inhalt des Neuen Testaments ist. Philosophisch gibt es einen guten Grund für diese Umkehrung. Das Absolute kann nur im Spiegel erscheinen. In Abwandlung Feuerbachs könnte man sagen: Das Geheimnis der Theologie ist die spekulative Philosophie. Aber das ist nicht christlicher Glaube. Die Glaubensinhalte des christlichen Glaubens sind nicht unmittelbare Reden von Gott, sondern Erfahrungen seines Wirkens. Daraus ergibt sich das (nur spiegeltheoretisch auflösbare) Paradox, daß das Wort, das den Glauben trägt, nicht anders erkannt wird als im Glauben (Hanfried Müller). Von außen gesehen heißt das, der christliche Glaube läßt sich nur religionsphilosophisch begreifen als das, was er ist; von sich selbst her gesehen besagt es, daß der Glaube sich nicht rechtfertigen kann und an sich selbst keiner Rechtfertigung bedarf. Das ist die Differenz von christlichem Glauben und christlicher Dogmatik, welch letztere sich eben des Arguments bedient. In dieser gegensätzlichen Einheit entsteht (hegelisch gesagt) die christliche Religion als ein Gebilde des objektiven Geistes und wandelt sich in und mit diesem. Aber ihre jeweilige Verwirklichungsgestalt ist von ihrer ursprünglichen und existentiellen Wirklichkeit unterschieden. Ohne weltliche Vergegenständlichung kann der Glaube sich nicht in menschlichem Verhalten konkretisieren, er bedarf zu seiner Selbstdarstellung der Religion als objektiven geistigen Gebildes und ihrer Systematisierung, der Theologie.

Theologen, die die Rede von ihrem Glauben streng nehmen, wehren sich mit Recht gegen die Anthropologisierung der Theologie. Wenn Gott der ganz Andere (oder das ganz Andere) ist, nicht zu wissen und nicht zu nennen, [1] dann gibt es keinen logos tou theou in Prädikationen, die doch immer nur nach Analogie des menschlichen Verstehens von Weltlichem gebildet werden können. [2] Von der Theologie muß die Deutung gemäß einem Genitivus objectivus strikt ferngehalten werden. Der logos tou theou ist immer nur im Sinne eines Genitivus subjectivus das Wort Gottes, Seine eigene Verkündigung an die Menschen. Diese Verkündigung wird verlautbart durch den Mund der Propheten und (nach christlichem Verständnis) in höchster Authentizität und Autorität durch die Lehrworte Jesu, der als Gottes eingeborener Sohn den logos des Vaters in sich trägt.

Damit wird Theologie zur Christologie, oder besser gesagt: Theologie kann nur vermittels Christologie und durch Christologie hindurch zu ihrem Inhalt kommen. [3] Daß Gott als der ganz Andere zum Menschen als dem von ihm ganz Verschiedenen sprechen kann, ist nur möglich, weil er in Jesus Christus Mensch geworden und zugleich Gott geblieben ist. [4] Logisch gesprochen ist dies eine radikale metabasis eis allo genos. Um die Übertragung von Gottes Wort in menschliches Vernehmen und Gehorchen logisch begreiflich zu machen, muß es ein Gemeinsames geben, so wie bei der Übersetzung aus einer Sprache in eine andere die Gegenstände, die von den Wörtern bezeichnet werden, dieselben sind und die Vernunftstrukturen, denen gemäß Verknüpfungen von Wörtern vorgenommen werden, sich entsprechen. Der Mensch ist aufnahmefähig für den logos Gottes, er ist in potentia zur Teilhabe am logos Gottes, der ja auch, wenn er in den Menschen eingeht, kein anderer ist als eben der logos Gottes. Hier entspringt das Problem einer theologischen Anthropologie.

Dieses Problem wird im Schöpfungsmythos artikuliert. „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich“ (Gen I, 26). Luther war sich wohl bewußt, daß es zu gefährlichen Folgerungen führen könnte, wenn der Mensch als das Abbild Gottes zu gelten habe; er zog in seiner Übersetzung die zwei Satzteile zu einem zusammen: „Und Gott sprach: Laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sey“. [5] Damit verschob er das Gewicht auf die Differenz von Abbild und Urbild, auf ein Gleichsein im Unterschied. Aber die Fortsetzung von Gen. I, 26-29 widerlegt ihn: Sowohl die Übertragung der Herrschaft über die Erde und alles, was auf ihr kreucht und fleucht (dominium terrae), als auch die zweifache Wiederholung der Formel vom Bilde Gottes bestätigen die problematische Gottebenbildlichkeit des Menschen.

In einem koptischen gnostische Text aus Nag Hammadi, dem Eugnostosbrief, [6] wird der Schöpfungsmythos durch eine weitere anschauliche Ausgestaltung expliziert. Da heißt es von Gott, er sei „unbeschreiblich“ und „namenlos“; er habe „keine Menschengestalt“. Er ist das universelle Sein. „Er sieht nach allen Seiten, indem er sich allein erblickt durch sich selbst. [...] Man nennt ihn den ‚Vater des Alls‘“. Doch genauer müsse es heißen: „Den Herrn des Alls nennt man wahrheitsgemäß nicht ‚Vater‘, sondern ‚Vorvater‘, denn der Vater ist der Ursprung dessen, was offenbar ist“. Und nun folgt der entscheidende Satz: „Der anfangslose Vorvater sieht sich selbst in sich wie ein Spiegel“. [7] Dieses Bild von sich, das in ihm wie in einem Spiegel als ein Spiegelbild erscheint, ist er selbst, „gleichaltrig, aber nicht ebenbürtig an Kraft“ (denn das Spiegelbild ist ja nur das abhängige Korrelat des Urbildes). Dieses wesens-, aber nicht seinsgleiche Abbild des Vorvaters, nichts anderes als er selbst, ist der „Erste Mensch“ oder der „unsterbliche Mensch“. „Durch den unsterblichen Menschen trat eine Benennung ‚Göttlichkeit und Herrschaft‘ zuerst in Erscheinung. Der Vater nämlich, den man ‚den Selbstvater-Mensch‘ zu nennen pflegt, ließ diesen in Erscheinung treten“.8 Der unnennbare Gott, der sich selbst in nennbarer Gestalt erkennt, ist der Erste Mensch oder der unsterbliche Mensch, der Mensch kat’ exochen (könnte man sagen). „Den unsterblichen Menschen pflegt man den ‚Sohn des Menschen‘ zu nennen“ 9– das ist der, den „sie Heiland zu rufen pflegen“. Der in der christlichen Urgemeinde dominierende Titel „Menschensohn“ für Christus bzw. für den Messias 10 verliert in dieser Tradition seine Befremdlichkeit. Denn der Menschensohn ist eben der Gottessohn, weil Gott und der Erste Mensch ein und derselbe sind; und alle Menschen als Abkömmlinge des Ersten Menschen sind dazu geschaffen, den logos Gottes in sich aufzunehmen und damit aus den Fesseln des Irrtums gelöst zu werden.

Der gnostische Mythos, der das Verhältnis Gott-Mensch durch die Metapher vom Selbstbildnis im Spiegel anschaulich macht, wirft nun aber ein anderes Problem auf. Gott, der sich selbst erkennt, kann doch in seinem Selbstbildnis nichts Böses erkennen; Gott darf, per definitionem, nicht böse sein und in keinem seiner freien Entschlüsse das Böse wählen. Der Mensch, der sündigt, fällt aus der Gottebenbildichkeit heraus. Aber wie? Er ist doch das Bild Gottes im Spiegel. Schon der antike Kritiker des Christentums, Celsus (den Origines bekämpfte),11 hat gespottet, was für ein Gott das sei, der im Augenblick des Sündenfalls gerade einmal weggeschaut habe und dann noch nicht einmal wußte, wo er Adam finden solle (Gen. III, 8,9). Dualistische Lehren haben aus diesem Dilemma den Ausweg gewählt, neben Gott ein zweites Prinzip, den Herrn des Bösen, den Teufel, den Demiurgen, anzunehmen – eine Lösung, die dem strengen Monotheismus zuwiderläuft. Diesem bleibt dann aber die Frage gestellt, den Ursprung des Bösen in Übereinstimmung mit dem Begriff des einzigen und guten Gottes zu erklären. Der Kern einer christologischen Fundierung der Theologie liegt in der Sündhaftigkeit des Menschen, die des Heilands bedarf; sonst hätte es keinen Grund gegeben, Gottes Sohn in die Welt zu entsenden und für die Sündhaftigkeit der Menschen mit seinem eigenen Leiden einzustehen. Eine christologisch fundierte Theologie entgeht nicht dem Theodizee-Problem. Sie ist auch genötigt, die Erlösungsfunktion des Messias zu einem Menschenbild in Beziehung zu setzen, dessen Weltlichkeit durch das primordiale Ereignis des Sündenfalls definiert ist.

Die in der Exegese des Alten Testaments sich konservierende jüdische Religiosität 12 konnte sowohl die Bindung an eine theologische Anthropologie wie eine Konfrontation mit dem Theodizee-Problem von sich fernhalten. Das 2. Gebot gestattet keine noch so entfernte Gleichnisgestalt Gottes, so daß eine an der imago-Dei-These sich orientierende Lehre vom Menschen ausgeschlossen blieb. Vielmehr wurde das Gott-Mensch-Verhältnis unter der Form des Vertrags als „Bund“ mit gegenseitigen Verpflichtungen begriffen, wobei die absolute Transzendenz Gottes die Möglichkeit irrationaler Verletzungen des Bündnisses einschließt.13 Statt von der eigenschaftlichen Seite der Bildgestalt her definiert sich der Mensch – als der „Gerechte“, der Zaddik – von seinem Verhalten aus. Zentrum des Selbstverständnisses ist ein durch den Bund mit Gott gesetztes Ethos.

Karl Barth hat die Differenz dieses Ethos von jeder Ethik leidenschaftlich verfochten. Sein Verständnis vom Menschen kommt da in eine Nähe zur Existenzphilosophie, die wiederum ein Licht auf die Herkunft existenzphilosophischer Grundmotive aus christlichen Quellen wirft. Die Konkretion des Menschen ist sein Handeln im jeweiligen Augenblick, das Ereignis eines Tuns und Wirkens. „Das wirkliche Handeln des Menschen ist die in sich zusammenhängende Folge von Ereignissen, in denen je ein, je dieser konkrete Mensch, je eine konkrete Bedingung und Möglichkeit und in ihr sich selbst wählt und verwirklicht“.14 Diese Wahl ist singulär, sie richtet sich nicht nach einer allgemeinen Regel, einem kategorischen Imperativ. Die gesetzestreue Anerkennung einer allgemeinen Norm, der die einzelne Entscheidung zu subsumieren wäre, „ist die Verletzung des göttlichen Geheimnisses im ethischen Ereignis“. Denn „Gott ist der unicus legislator und darf seines Rechts als solcher nicht beraubt werden“,15 sagt Barth im Anschluß an Calvins Institutiones IV, 10,1. Hier öffnet sich der Abgrund des Subjektivismus. Es ist einleuchtend, daß Gottes Wille dem Menschen nicht bekannt sein kann – keinesfalls als eine bindende allgemeine Regel, die ja auch Gott selbst binden würde und seiner Freiheit des Willens zuwider liefe; aber auch nicht ahnungsvoll und ohne Garantie der Gewißheit im Einzelfall, über den die innere Stimme des Gewissens belehrt, die doch stets dem Selbstzweifel ausgesetzt ist, irrig sein zu können. „Das Gebot des lebendigen Gottes [...] wird dem Menschen gerade nicht nur allgemein und formell, sondern in konkreter Fülle, in inhaltlicher Bestimmtheit gegeben. Es ist immer Einzelgebot für das Handeln dieses Menschen in diesem Augenblick in dieser Situation, Vorschrift für diesen, für seinen Fall: Vorschrift zur Wahl einer bestimmten Möglichkeit menschlicher Gesinnung, Entschließung und Handlung“.16 Das Subjekt ist auf sich zurückgeworfen, es muß in Selbstvertrauen handeln, daß sein im Glauben verwurzelter Wille auf richtige Weise das Gute will. Sein Gehorsam gegenüber Gott schlägt um in eine legislative Autonomie, malgré lui, aber unausweichlich. „Der wahre Mensch ist der handelnde, und zwar der gut handelnde Mensch“ 17. Was aber gut ist, kann er nicht wissen, die Verheißung „eritis sicut Deus, scientes bonum et malum“ ist ja die Verführung der Schlange und gerade nicht das unwiderrufliche Gnadengeschenk Gottes. Könnte man sich an einen allgemeinen Kodex halten, wie der gesetzestreue Jude des Alten Bundes es meint und rabbinische Auslegungskunst es ihm glaubhaft macht, dann ließe sich das Verhalten auf Gottes Wort abstimmen. Bonum et malum müßten dann aber eben in formaler Allgemeinheit begriffen werden können, und das heißt auch: Es müßte ein Bild Gottes, eine Idee von seinem Willen den Menschen gegeben sein. Genau dies aber versagt das neutestamentliche Gottesverständnis. Gott ist nur gegenwärtig in seinem jeweils einzelnen Sich-Zeigen, gegenwärtig nur als Vergegenwärtigung. „Gerade in der heiligen Schrift begegnet uns das Gebot Gottes nicht in Gestalt von Regeln, Prinzipien, Grundsätzen, allgemeinen moralischen Wahrheiten, sondern in Form von lauter geschichtlich eigenartigen und einmaligen konkreten Befehlen, Verboten und Weisungen“.18 Der Mensch ist darauf angewiesen, den singulären Anruf in seinem unverwechselbaren, einmaligen Inhalt zu vernehmen, und wissend um seine eigenen äußeren Bedingtheiten kann er nicht wissen, ob er richtig gehört hat. Von Augustinus über Pascal bis zu Kierkegaard zieht sich dieses Problem durch die christliche Religiosität. Der handelnde Mensch verwickelt sich in die Aporie, indem er handelt, ein Bild von sich selbst zu schaffen 19 und damit zugleich ein Bild Gottes zu schaffen: Ist der Mensch ein Spiegel Gottes – imago Dei, dann erscheint im Tun des Menschen kraft seiner Wahl und Entscheidung das gespiegelte Bild Gottes als Erzeugnis des Menschen. Die ontologische Beschreibung des existentiellen Ereignisses enthält das Paradoxon.

Barths Radikalität legt die dialektische Struktur des religiösen Verhältnisses frei, das unter Verzicht auf ein materiales (mythologisches) Widerlager in der Transzendenz rein als Verhältnis erfahren und gedacht werden soll. Im Unterschied zu allen anderen Religionen gründet das Christentum die religiöse Beziehung des Menschen ganz auf und in die Subjektivität. In dieser Wendung zur Innerlichkeit als Raum der religiösen Erfahrung ist es die „absolute Religion“ 20 Diese müßte an sich selbst unmittelbar und unmitteilbar bleiben. Die großen theologischen Probleme erwachsen aus dem Übergang der absoluten Religion in ihre weltliche Erscheinung: Inkarnation, Trinität, Transsubstantiation. Die Bildlosigkeit des „ganz Anderen“ unangetastet zu lassen und doch das Verhältnis zum ganz Anderen beschreibbar zu machen, das heißt ihm ein Bild zu entwerfen, wird zur Aufgabe, die sich untrennbar mit der Predigt verbindet, die an sich selbst den Anspruch stellt, logos zu sein, das heißt sich zu begründen. Als ancilla theologiae erringt die Philosophie den Sieg des Knechts über den Herrn.

Anders als durch die (ihrer Denkstruktur nach philosophische) theologische Dogmatik ist der Inhalt jenes reinen Verhältnisses, der religio a se, nicht zu bestimmen. Es gehe in der Heilsbotschaft, sagt Barth, um „das große, allgemeine, jeden Menschen auf jeder Stufe belastende Geheimnis der ‘Gerechtigkeit Gottes’“.21 Aber was ist die „Gerechtigkeit“ Gottes? Bei Barth fällt der Begriff bedenklich mit dem der Willkür zusammen: „Gottes Wille kennt kein ‚Warum?‘. Er will, weil er Gott ist. [...] Gerechtigkeit Gottes ist justitia forensis, justitia aliena: Der an nichts als an sein eigenes Recht gebundene Richter spricht. Und wie er spricht, daß es ist, so ist es“.22 Da ist iustitia Dei ganz das aktive Sein Gottes, der Genitiv ist ein Genitivus subjectivus. Aber wenn der Mensch im Stande der Gnade gerecht (iustus) ist, dann ist er nicht aktiv Gerechtigkeit Übender (denn er bleibt ja in der Gnade des Vergebens ein Sünder), sondern er ist gerecht vor Gott, und iustitia Dei ist ein Genitivus objectivus. Augustinus und mit ihm Luther fassen beide Aspekte in eins: „Gerechtigkeit heißt darum Gerechtigkeit Gottes, weil er damit, daß er sie mitteilt, Menschen zu Gerechten macht“.23 Und Luther meint dazu: „Die Gerechtigkeit Gottes ist die Ursache des Heils. Wiederum darf man hier unter der Gerechtigkeit Gottes nicht die verstehen, durch die er selbst gerecht ist in sich selbst, sondern die, durch die wir von ihm her gerecht gemacht werden“.24

Was tatsächlich gemeint ist, ergibt sich nicht aus dem Wort allein. Iustitia deutet auf Gott, den Richter, der über den Sünder als Angeklagten ein Urteil fällt; so sehen es die Darstellungen des Jüngsten Gerichts – der Weltenrichter, der die Erlösten und die Verdammten scheidet. Dikaiosyne läßt eher die Idee einer Weltordnung anklingen, die darum gerecht ist, weil sie die Sünde, die doch in der Unvollkommenheit der Menschen ihren Ursprung hat, also privatio boni ist, aus der Vollkommenheit Gottes zu vergeben und aufzuheben vermag, indem sie die Strenge des Gesetzes durch Gnade aufwiegt. Gottes Gerechtigkeit zeigt sich (tritt in Erscheinung) getrennt vom Gesetz [8] , die Menschen sind Gerechtfertigte durch Gnade.25 Das ist keine iustitia forensis, sondern das vorbehaltene Recht des Souveräns, der den sich gehorsam Unterwerfenden annimmt. Der Unterwerfungsakt ist der Glaube – Glaube ist Gehorsam gegen Gottes Wort; der Rechtfertigungsakt ist die Gnade – Gnade ist die Barmherzigkeit Gottes gegen seine Geschöpfe. Unterwerfung und Rechtfertigung, Glaube und Gnade, Gehorsam und Barmherzigkeit stehen in einem symmetrischen Verhältnis zueinander. Aber sie haben keinen Bezug auf das im Tun manifeste Sein des Menschen, der Person, sondern sind formale Relata des reinen Verhältnisses. „Ist Abraham durch die Werke gerecht, so hat er wohl Ruhm, aber nicht vor Gott“.27 Aus den Koordinaten Glaube und Gehorsam, Rechtfertigung und Gnade läßt sich keine Bestimmung der Inhalte von Tun und Werk gewinnen, das Evangelium gibt kein System einer materialen Wertethik 28 und einer ihr zugeordneten Anthropologie her, Ethik löst sich ganz in das Ethos auf, dessen einziger Maßstab der Glaube ist. Darin und nur darin wird der „neue Mensch“ erkannt. „Sofern wir es wagen, mit unserm Glauben zu rechnen, müssen wir es wagen, auch mit dem durch den Glauben charakterisierten ‚Wir‘, mit dem neuen Menschen, dem Menschen des noch nicht angebrochenen, aber nahe herbeigekommenen Gottestags zu rechnen. Durch den Glauben treten wir ein in den Stand der von Gott für gerecht Erklärten. Wir sind nicht nur, was wir sind, wir sind durch den Glauben, was wir nicht sind. [...] Das ist der neue Mensch, das Subjekt des Prädikats ‚Glauben‘“.29 Das ist korrekte Auslegung von Röm. 5, 1-2: „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Friede mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christ, durch welchen wir auch einen Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade, darinnen wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll“. Der eschatologische Charakter der Verkündigung tritt hier klar hervor. Es ist nicht mehr diese Welt der Sünde, in die der neue Mensch eintritt, sondern jenes Reich Gottes, das verheißen ist und das der Messias bringen soll, also Jesus gebracht hat. Heraustretend aus dieser Welt, des Heils gewärtig durch den Glauben, bedarf es keiner Lehre vom Menschen und seinen Eigenschaften mehr, sondern nur noch des Wandels von dem, was er jetzt ist, zu dem, was er jetzt (noch) nicht ist. Die Heilsbotschaft des Evangeliums ist die vom Nicht-Sein dieser sündhaften Welt, von Sterben und Tod dieser Welt als dem Beginn des „ewigen Lebens“. Immer wieder spricht Luther davon, daß unser Leben im Geiste der Tod des Fleisches ist, daß uns im Glauben an die Erlösung durch Jesus Christus die Sünden ersterben. Das irdische Leben ist der Tod und das jenseitige das wahre Leben, die hiesige Welt ist Finsternis und die jenseitige Licht. Wir seien der Sünde weggestorben – mortui sumus peccato (Dativ!), heißt es Röm. 6,2 und noch einmal appellativ bekräftigend Röm. 6, 11: „Haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid, und lebet Gott in Christo Jesu unserm Herrn“. Die Erweckung des Glaubens, ausgedrückt im Taufakt, ist bereits der Anbruch des neuen Lebens 30 , der Eintritt in die Endzeit: „Das Gericht Gottes ist das Ende der Geschichte, nicht der Anfang einer neuen zweiten Geschichte. Die Geschichte ist erledigt, sie wird nicht fortgesetzt“.31 Die eschatologische Erwartung prägt die Denkweise des Neuen Testaments, sie entschlägt sich der Vernunft, deren Gegenstand und Inhalt nur die Wirklichkeit dieser Welt sein kann. „So stinkt die Philosophie aus unserem Munde, als ob die Vernunft immer zum Besten riete, und wir fabulieren vieles über das Gesetz der Natur. Es ist wohl wahr, daß das Gesetz der Natur allen bekannt ist und die Vernunft zum Besten rät. Aber zu was für einem Besten? Zu dem, was nicht im Sinne Gottes, sondern nach unserem Geschmack das Beste ist, d.h. sie rät uns zu dem, was im schlimmen Sinne gut ist. Denn sie sucht sich und das Ihre in allem, nicht aber Gott. Das tut allein der Glaube in der Liebe. [...] Darum sind auch die Kenntnisse und Tugenden und alle Güter, die man in natürlicher Weise begehrt, sucht und findet, Güter im schlimmen Sinne, weil sie nicht auf Gott bezogen werden, sondern auf die Kreatur, d.h. aber auf sich selbst“.32

Die Erwartung des nahe bevorstehenden Heilsereignisses versetzte den frühen Christen in eine Unmittelbarkeit des Glaubens, aus dem keine Reflexion mehr entspringt; denn Reflexion impliziert die Distanz des Reflektierenden zum Reflektierten. Das Spiegelbild ist stets unterschieden und unterscheidbar vom Urbild. Die dialektische Form des Urteils, die Subjekt und Prädikat trennt und dann zur klassifikatorischen Analytik des logischen Aufbaus der Welt fortschreiten kann, ist das Äquivalent der zerstreuten, „durcheinandergeworfenen“ (diabolischen), heillosen Welt. Gott ist das Gegenteil einer durch Prädikationen darstellbaren Wirklichkeit. Philosophie ist Asebie, systematische Rekonstruktion der Schöpfung ist blasphemische Anmaßung. Denn die Welt als ganze ist, wie sie ist, Gottes Gedanke und also gerade uneinsehbar, unbegreiflich. Erst das Ausbleiben der Parousie zwingt wieder zur Reflexion, die aus der Distanz zur geglaubten Verheißung den Glauben rechtfertigt. Der Enthusiasmus schlägt um in Theologie. Sie spricht von Gott (logos theou), sie spricht vom Heil, das heißt sie setzt prädikativ auseinander, was der Glaube als reines Verhältnis erfahren hatte. Sie macht sich ein Bild von Gott und der Welt. Dazu nimmt sie Anleihen auf bei alttestamentlicher Mythologie und bei griechischer philosophischer Spekulation.

Rudolf Bultmann hat die geistesgeschichtlichen Wurzeln des Christentums auseinandergelegt und die aus verschiedenen Kulturtraditionen sich mischenden Motivreihen der christlichen Lehre kenntlich gemacht.33 Das Urchristentum erscheint in dieser Darstellung als ein „merkwürdiges synkretistisches Gebilde“, und Bultmann hat daran die Frage geknüpft: „Ist nun das Urchristentum wirklich eine synkretistische Religion? Oder liegt allen verschiedenen Formen eine einheitliche Anschauung zu Grunde?“ 34 Ich denke, der Terminus Synkretismus läßt sich erst da anwenden, wo eine einheitlich auftretende Lehre verschiedene Konzeptionen mehr oder weniger additiv miteinander zusammenführt. Dies ist sicher in der Frühphase der Dogmenbildung der Fall und löst den Kampf um den Ausschluß inkompatibler Lehrmeinungen aus, der die alte Kirche anfüllt und schließlich in der Fixierung einer konziliär dekretierten Orthodoxie endet, die allerdings im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder in Frage gestellt und reinterpretiert wird. Die in der Tat uneinheitlichen und widersprüchlichen Auffassungen in den vorpaulinischen Urgemeinden, die aus verschiedenen Quellen gespeist wurden und durchaus sektiererische Züge tragen,35 sind noch nicht Zeugnisse einer Lehre, sondern Zeugnisse spontaner Glaubensergriffenheit, für die Konsistenz nicht gefordert werden darf und auch nicht erwartet wurde. Nicht die Lehre oder „das Gesetz“ bestimmte die Zugehörigkeit zur Christengemeinde, sondern die Überzeugung, zur „Gemeinde der Endzeit“ zu gehören, als der „Gemeinde der Heiligen und Auserwählten, als das wahre Gottesvolk“,36 die durch eine im Glauben an den Messias, Retter, Herrn (Chrestos, Sotêr, Kyrios) begründete „neue und eigenartige Grundauffassung von der menschlichen Existenz“ konstituiert ist.37 Was diese Urgemeinde und den Gehalt der neutestamentlichen Verkündigung ausmacht, ist ein ganz singuläres Ethos der Gottesbeziehung, das im stellvertretenden Opfer des Kreuzestodes Jesu und nicht in innerweltlichen Verhaltensweisen und -regeln sein Maß besitzt.

Nirgends in der neutestamentlichen Verkündigung handelt es sich um den Menschen und die Welt gleichsam „neben“ oder „gegenüber von“ Gott, auf den diese bezogen werden; sondern immer geht es um Gott, zu dem die Menschen in Beziehung stehen, weil er sein Wort an sie richtet. „Ihr Thema ist das Wort Gottes und nichts sonst, aber das Wort Gottes freilich als Beantwortung nicht nur, sondern als Ursprung der menschlichen Existenzfrage“.38 Aber im Menschenleben, das nicht schon in der Endzeit steht, sondern noch in der Geschichtszeit andauert, kann das Gotteswort nicht nur als Anruf zum Glauben angenommen werden, es muß auch Weisungen zum rechten Leben, d.h. zum rechten Handeln erteilen, denn „weil es das Wort Gottes an den wirklichen Menschen und weil der wirkliche Mensch der im Wirken, in der Tat seines Lebens begriffene Mensch ist, hört man es nicht abseits, sondern im Akt, und zwar nicht in irgendeinem Akt, sondern im Lebensakt, im Akt seiner Existenz, oder man hört es gar nicht“. Was der Mensch vernimmt, „stellt die Wirklichkeit des Wortes Gottes dar nicht direkt, aber in ihrem Reflex in der allseitigen Bewegung des frommen Menschenworts durch seinen Gegenstand“. 39 Der in sich zeitlose und prädikationslose Glaube 40 entläßt aus sich in der Zeitlichkeit der Existenz die Systematik prädizierbarer Verhaltensnormen, in denen sich Gottes Anspruch an den Menschen konkretisiert und im Gehorsam des Menschen sich sein Glaube, sein Betroffensein von der Gnade erweist. „Die ethische Frage [...] ist im eminentem Sinn die menschliche Existenzfrage. Es ist nicht so, daß der Mensch existiert und dann u.a. auch noch handelt, sondern er existiert, indem er handelt. Sein Handeln, sein existere, sein Hervortreten ist seine Existenz“.41 Die das Handeln bestimmenden Verhaltensnormen können aber in ihrer zeitlich-weltlichen Konkretion nicht unmittelbar Gottes Wort sein, sondern nur dessen Widerhall im Menschen. Ihre Systematik ist „die Wirklichkeit des vom Menschen wirklich gehörten, den Menschen wirklich angehenden, in Anspruch nehmenden und mit Beschlag belegenden Wortes. Den Menschen, nämlich den existierenden, d.h. also nicht bloß denkenden, sondern, indem er denkt, lebenden, handelnden, irgendwie in der Tat seines Denkens begriffenen Menschen. Nur der Täter des Wortes [...] ist sein wirklicher Hörer“. Hier bricht die kontingente Welt in die absolute Exklusivität des Glaubens ein, das reine Verhältnis des glaubenden Menschen zu Gott verwandelt sich in ein durch menschlich-weltliche Verstrickungen vermitteltes Verhältnis.

Mit dem Übergang von der Endzeit-Gemeinde der Evangelien zur Kirch-Gemeinde der Sanctorum Communio 42 tut sich der Widerspruch auf zwischen der Gerechtigkeit sola fide und der Werkgerechtigkeit in der Welt, zwischen dem Ethos des Glaubens und der Ethik des Handelns, zwischen der unerforschlichen absoluten Wahrheit Gottes (dem „Geheimnis“) und dem bedingten, begründungsbedürftigen Meinen der Menschen.43 Die trinitarisch in Christus aufgehobene Gattungsverschiedenheit von Gott und Welt stellt sich in der Kirche als dem innerweltlichen Ort und Medium der Glaubensgemeinschaft wieder her und verlangt reflexive Vermittlungen, die immer nur kontingent sein können, weil sie sich auf kein substantielles Bild und begriffliches Wissen von Gott beziehen dürfen.44 „Denn die Wirklichkeit des Menschen, den das Wort Gottes anredet, befindet sich, so gewiß die Theologie sie keinen Augenblick aus dem Auge verlieren darf und kann, mit der Wirklichkeit des Wortes Gottes selber keineswegs auf derselben Ebene [...]. Sondern die Wirklichkeit des durch das Wort Gottes angeredeten Menschen verhält sich zu der Wirklichkeit des Wortes Gottes selbst wie das Prädikat sich zum Subjekt verhält, d.h. sie ist diese Wirklichkeit nie und nirgends und in keiner Hinsicht an sich, sondern eben nur als mitgesetzt in jener. Sie ist nur von jener aus ausfindig zu machen; man kann von ihr nur reden, indem man von jener redet“.45

Es bleibt der Widerspruch, die Christologie der authentischen Gemeinde mit der Ekklesiologie der Institution in eins führen zu wollen. Die Dogmatik des Christentums ist ganz auf den soteriologischen Gehalt der Verkündigung abgestellt, die Ethik des Christentums muß eine gottgefällige Ordnung im Reich der Sünden entwerfen. Paulus und Johannes bieten Lösungen für den Umgang mit diesem Widerspruch an.

Die Rekonstruktion der urchristlichen Gottesbeziehung mit Bezug auf Karl Barths theologische Systemgrundlage ist kein geistesgeschichtlicher Anachronismus. Der situative Charakter der Herrenworte – Jesu Logien als logoi theou – trägt in sich die Disparität von existentiell singulärem Verhaltensgebot und ethisch allgemeiner Normengeltung; eine problemgeschichtlich durchgehende, in sich widersprüchliche Struktur christlicher Verkündigung und Dogmatik ist darin angelegt, die die Theologie immer wieder aufs neue und immer wieder zu typischen Denkmustern zurückkehrend auflösen muß. In extremis treten diese Lösungen als materialistisch äußerliche Religionskritik und als subjektiv-idealistische Verinnerlichung der Religion auseinander – Feuerbach und Kierkegaard stellen im 19. Jahrhundert die Antipoden dar.46 Aber diese Antipoden sind durch dieselbe Ursprungsbewegung aneinander gebunden. Sie begründen das religiöse Verhältnis im Menschen und müssen ein Bild des Menschen entwerfen, um den Gegenstand der religiösen Beziehung „erblicken“ zu können.47 Das Desiderat einer theologischen Anthropologie entspringt aus der Transformation der Herrenworte in eine Lehre, die für eine Gemeinde oder gar für eine weltumspannende Kirche, für die Oikumene, verbindlich ist. Die Dichotomie von Ethos und Ethik bei Barth drückt diesen Selbstwiderspruch aus; Barth schreibt eine „Ethik“, die das System der Ethik im Ereignischarakter des Ethos verdampfen will und dabei doch wieder die Systematik restituiert. Diese Problemkonfiguration ist der Grund für die Denkbewegung, die die Entwicklung der christlichen Theologie und Philosophie seit der Spätantike bestimmt und in den dichotomischen Konflikten Gestalt gewinnt.48

Die Entgegensetzung von („existentiellem“) Ethos und (axiologischer, normativer) Ethik findet ihre Begründung und Rechtfertigung in den Schriften des Neuen Testaments. Sowohl die Evangelien wie die paulinischen Briefe stellen die Haltung aus dem Glauben über die Befolgung des Gesetzes, also das Ethos über die Ethik. Aber sie sind nicht etwa anarchistisch in dem Sinne, daß sie das Gesetz (in beiderlei Gestalt als das Gesetz Gottes und das Gesetz der Obrigkeit) verwerfen würden. Vielmehr steht auch der Anhänger Jesu in den judenchristlichen Gemeinden unter der Verpflichtung, dem Gesetz des Herrn, wie es in der Tora verkündet ist, zu gehorchen – und die Kontroverse um die Akzeptanz der Heidenchristen entspann sich gerade an der Frage, ob auch die rituellen Gebote (wie z.B. die Beschneidung) des Judentums einzufordern seien – also eigentlich jeder der christlichen Gemeinde sich Anschließende auch zum jüdischen Proselyten gemacht werden müsse. Das Sich-Einrichten in der Welt, die noch in Erwartung der Endzeit fortdauerte, konnte auf allgemeine Regeln nicht verzichten. Die Spannung zwischen Ethos und Ethik ist eine Aporie, in die sich die christliche Glaubenseinstellunng von Anfang an verstrickte.

Diese Aporie hat in der Neuzeit zu einem Subjektivismus in der christlichen Glaubenslehre geführt, gegen die Barth mit Leidenschaft, mit Ironie und mit bissiger Polemik kämpfte. In Schleiermacher fand Barth den Gegner, dessen Zauberkraft es zu zerstören galt, um den Glaubensinhalt der Psychologie des Religiösen zu entreißen. Zu Schleiermachers zentraler These, daß die Beziehung zu Gott „weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls“ sei, stellt Barth die Frage nach dem Ursprung dieses Gefühls: „Aber dieser Frage entzieht sich nun Schleiermacher mit zwei eleganten Sprüngen. Denn, so begründet er nämlich jene Behauptung: da uns das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl ‚nirgends anders als im Menschen gegeben ist: so können wir auch nur darum wissen, sofern es in uns selbst ist.‘ Könnte die Voraussetzung von Sünde und Gnade, nach der in der Tat zu fragen ist, nicht etwa auch etwas ganz Anderes sein als etwas im Menschen Gegebenes, z.B. Gericht und Barmherzigkeit des erwählenden Gottes oder des Menschen Abfall und Versöhnung?“ 49 Gegen die Frömmigkeit aus dem Gefühl hält Barth: „Der Einwand Hegels: die Ehre und das Heil des Menschen liege darin, daß er Gott erkenne, bei dem jeder Kundige unwillkürlich an den Anhang des calvinistischen Katechismus denkt, könnte auch als der christliche Einwand auftreten, daß es ein Ursprüngliches geben könnte, das nicht Apriori, sondern Offenbarung wäre, aber darum etwas durchaus Anderes als die Bewußtseinstatsache, die Schleiermacher in Joh. l, 14 hineingelesen hat“.50

Schleiermacher vollzieht in der Theologie die cartesische Wende.51 Wenn die einzige unbezweifelbare Gewißheit die unseres Selbstbewußtseins ist, so muß auch die Gotteserfahrung aus dem Selbstbewußtsein entspringen. Daß dies auf dem rationalen Weg des Gottesbeweises nicht logisch einwandfrei gezeigt werden kann, hat Kant dargetan.52 Also sucht Schleiermacher eine andere Gewißheitsquelle – eben das Gemüt, und damit verschiebt er das Problem von der erkenntnistheoretischen Begründungsebene auf die anthropologische. „Es findet der Glaube das Gottesbewußtsein aus der christlichen Erfahrung entstanden. Es findet die Wissenschaft dasselbe in der allgemeinen Menschennatur begründet“.53 Und Barth hält dem entgegen, „das Gottesbewußtsein auf dem Umweg über die christliche Erfahrung in das Selbstbewußtsein als solches hineinzubringen“ bedeute, „ein Ich zu setzen, im Verhältnis zu dem das ganze positive Christentum nur ein einzelnes Daseinsmoment neben anderen ist“.54

Es ist der heillose Subjektivismus der Moderne, gegen den Barth sich wehrt. Diese Einstellung kulminiert in Schleiermachers Prinzip, „was Bibel und Kirche objektiv sagen, auf das Subjektive zurückzuführen [...]. Die Dogmatik ist eigentlich nur eine Rede des Gefühls über sich selbst“.55 Das Selbst wird als schlechthinnige Abhängigkeit (psychologisch gesprochen: als Minderwertigkeit) gefühlt, von ihm aus wird Gott erfahren. Die Verkündigung ist damit ihres Sinnes beraubt, Verkündigung zu sein, sie wird zum bloßen Anlaß der Selbstbestätigung.. „Wenn nun das Gefühl redet und sogar lehrt, so ist doch sein Gegenstand kein anderer als – es selbst“.56 Gott wird dann nichts anderes als die Projektion des Minderwertigkeitsgefühls („schlechthinnige Abhängigkeit“) auf einen äußeren Gegenstand, der (wissenschaftlich-kausal) als dessen Ursache gesetzt wird.57

Und das soll Theologie sein? Barth hat recht, wenn er Hegels Bosheiten gegen Schleiermacher in Schutz nimmt. Aber täuschen wir uns nicht: Barth hat auch mit Hegel nichts im Sinn, denn Hegel stellt die Aufgabe, Gott zu erkennen; das heißt er transformiert die Theologie in Religionsphilosophie – und die kann, wie sich von Scotus Eriugena über Spinoza bis zu Hegel selbst zeigt, Gott nur von der Welt her fassen. Die Denkfigur der analogia entis, die imago Dei ausgeweitet auf die Welt als Ganze soll diese Erkenntnis Gottes aus dem Spiegel dem Glauben implantieren. Aber der Glaube – darauf insistiert Barth und kann sich auf die Verkündigung Mosis und Jesu berufen – ist von der Erkenntnis gattungsverschieden. Er kann gepredigt und erweckt werden 58 , aber nicht deduziert und bewiesen.

Damit bezeugt Barth aber – entgegen dem subjektivistischen Irrationalismus Schleiermachers – einen anderen Irrationalismus, der sich objektiv dem Wahrheitsproblem verpflichtet weiß; und das ist das Problem, dem sich die christliche Philosophie, vorab also die mittelalterliche, prinzipiell konfrontiert sieht. „Es handelt sich im christlichen Glauben um eine Erleuchtung der Vernunft [...] Zur Natur Gottes des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes gehört es nun allerdings, daß er nicht erkennbar ist auf Grund des Vermögens des menschlichen Erkennens, sondern vernehmbar ist und vernommen wird allein auf Grund Gottes eigener Freiheit, Entscheidung und Aktion. [...] Dieses absolute und höchste Wesen, dieses Letzte und Tiefste, dieses ‚Ding an sich‘ hat mit Gott nichts zu tun. Es gehört zu den Intuitionen und Grenzmöglichkeiten menschlichen Denkens, menschlichen Konstruierens. Dieses Wesen denken kann der Mensch, aber er hat damit nicht Gott gedacht. Gott wird gedacht und Gott wird erkannt, wenn Gott in seiner eigenen Freiheit sich vernehmbar macht“.59 Das ist etwas ganz anderes als die spekulative Erkenntnis des Absoluten, des Dings an sich, der Grenzüberschreitung zum Unendlichen.60 Es ist eine Erfahrung, die als Erfahrung mit dem Inhalt der Gewißheit ihrer „Richtigkeit“, also der „Wahrheit“ versehen ist.61 „Es ist nicht an dem, daß der christliche Glaube ein dunkles Gefühl wäre, ein alogisches Fühlen, Erleben und Erfahren. Der Glaube ist Erkenntnis, er bezieht sich auf Gottes Logos und ist darum eine durchaus logische Sache. Die Wahrheit Jesu Christi ist auch im schlichtesten Sinne Tatsachenwahrheit. Ihr Ausgangspunkt, die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, ist eine Tatsache, im Raum und in der Zeit geschehen, wie das Neue Testament sie beschreibt. Die Apostel haben sich nicht damit begnügt, eine innerliche Tatsache festzuhalten, sondern sie haben von dem geredet, was sie gesehen und gehört und was sie mit ihren Händen betastet haben“.62 Natürlich ist das keine „bewiesene“ Wahrheit, weder argumentativ noch in sinnlicher Gegebenheit. Der Bericht der Evangelisten muß als objektiv zutreffend ohne weitere Beweisgründe gelten, der Ausspruch Jesu, Gottes Sohn zu sein und Gottes Wort zu verkünden (was vielleicht dasselbe meint), muß anerkannt werden. „Der christliche Glaube ist die Begegnung mit Jesus Christus und in ihm mit dem lebendigen Wort Gottes“.63 Das aber ist ein Dilemma: Wir müssen alle Zweifel, die wir berechtigt haben können, alle Einwände der Vernunft und die Kriterien der Erkenntniskritik hinter uns lassen, um dieses Credo aufrichtig zu bekennen. Wir müssen der Verkündigung der Heiligen Schrift vertrauen und aufgrund dieses Vertrauens eine Meinung als Erkenntnis der Wahrheit bekennen. Glauben ist Erkenntnis aufgrund von Vertrauen und als Bekenntnis.64 Das ist aber ein Modus von Erkenntnis, der das genaue Gegenteil rationaler, wissenschaftlicher, weltlicher Erkenntnis ist, also in diesem Sinne gerade keine Erkenntnis. Die Glaubenseinstellung credo ut intelligam läßt sich nicht einfach in das intelligo ut credam überführen. Aber beide Einstellungen treffen aufeinander, wo Theologie als Systematik der Glaubensinhalte ausgearbeitet wird. Sie sind sozusagen die Indices der in der Theologie sich durchsetzenden Dialektik – des Selbstunterschieds der Theologie, die Theologie nur sein kann, wenn sie Theologie ist; oder anders gesagt: nur Theologie ist, wenn sie die Form der Philosophie annimmt (ohne sich deren Maß unterwerfen zu dürfen). Aber es gibt keine Form der Philosophie, die nicht an ihrem Maß Gestalt gewönne, also gemäß den Apriorien der Vernunft gebaut zu sein hätte. Diesem Anspruch unterwirft sich auch theologische Dogmatik in ihrer Architektur, aber nicht in ihren Fundamenten.

Jede Theologie, die diesem Widerspruch ausweicht, indem sie die Glaubensgewißheit in der Subjektivität des Selbstbewußtseins begründet verwandelt sich in Anthropologie. Der logos tou theou wird dann zur Rede des Menschen über Gott, Gott wird zum Gegenstand menschlichen Bewußtseins und in allem, was von ihm ausgesagt wird, durch die Form menschlichen Bewußtseins programmiert. Der Mensch ist dann nicht imago Dei, sondern Gott ein Bild nach Art der menschlichen Vorstellung. Das ist die Konsequenz der Theologie Schleiermachers und darin „liegt „die Quelle des unvermeidlichen Anthropomorphismus in allen Aussagen über Gott“.65 Darum verwendet Barth seinen ganzen Scharfsinn auf die Widerlegung, stärker noch: auf die Destruktion Schleiermachers. Da bleibt von dem Gebäude, in dem die „moderne“ Theologie sich eingerichtet hatte, kein Stein auf dem anderen. Aber zugleich stürzt auch damit das ganze, in labilem Gleichgewicht sich auspendelnde Stützensystem der natürlichen Theologie und spekulativen Philosophie, das die Kathedrale des mittelalterlichen Denkens gehalten hatte und auch in die Systematik des nachlutherischen Protestantismus eingegangen war.66 Das ist die Aporie, in die christliches Denken als Denken des Glaubens in der Unterscheidung „zwischen Evangelium und Gesetz, Geist und Buchstaben, Glauben und Schauen (und mithin zwischen Offenbarung Gottes und Anschauung der Welt, zwischen Glauben und Wissen, Theologie und Wissenschaft“ immer wieder gerät und dessen sich die Glaubensinstitution als „ecclesia semper reformanda“ stets wieder im Rückgriff auf ihren Ursprung vergewissern muß. Wir erkennen hier die Problemkonfiguration, aus der von der Patristik bis zur Spätscholastik eine dialektische Denkbewegung hervorgeht.

In der Radikalität seiner Rückwendung zum neutestamentlichen Ursprung des Christentums erneuert Barth die Ausgangslage der christlichen Theologie und Philosophie – die Situation der fides quaerens intellectum. Die Leistung des intelligere ist es, aus rationaler Klärung und Ordnung der Sachverhalte die Welt so zu verstehen, daß man sich in ihr richtig, das heißt der natürlichen und wesensgemäßen Ordnung entsprechend, verhalten kann. Der Glaube, der das Weltwissen erstrebt, weil er seiner bedürftig ist, wenn er praktisch konkret werden und sich bewähren soll, muß mit dem Widerspruch umgehen, „das Geheimnis Gottes“ mit der fortschreitenden Offenlegung der Welt, dem Erkenntnisprogreß, zusammenzusehen und in Einklang zu bringen, das heißt die Form des Widerspruchs zu denken und seine Realität auszuhalten. Gott und Welt in dieser Spannung zu erfahren und dieses Verhältnis nicht nur zu erleben, sondern in ihm zu leben, ist das Thema der christlichen Philosophie. Barth hilft uns, dieses Thema in seinen geschichtlichen Gestalten aus der Vergegenwärtigung zu begreifen.

67 Hanfried Müller, Dogmatik, a.a.O., S. 31.            68 Ebd., S. 29.            69 Barth, Dogmatik im Grundriß, a.a.O., S. 19.

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Antwort von Peter Franz an Rosemarie Müller-Streisand

 
Sehr geehrte Frau Professor,

liebe Schwester Müller-Streisand,

daß Sie mich falscher Theologie zeihen, obgleich wir in unseren politischen Grundeinschätzungen gar nicht weit auseinander liegen, könnte man auch auf sich beruhen lassen, denn mein theologischer Einfluß auf Christen dieses Landes tendiert seit meinem erzwungenen Berufsverbot als Pfarrer gegen Null. Allerdings treten Sie in Ihrem Beitrag auch mit dem Anspruch auf, den wahren Glauben, der der Ihrige ist, gegen einen falschen in den von mir vorgetragenen Äußerungen, den RotFuchs-Lesern kundzutun. Der wichtigste Grund für Sie, zur Feder zu greifen, ist wohl in Ihren letzten Sätzen zu suchen, in denen Sie von Fehleinschätzungen der DDR-Behörden schreiben, die damals in der Einengung der Bündniszuverlässigkeit auf den Kreis "religiöser Sozialisten" zum Ausdruck kamen. Hier kann ich freilich überhaupt keine aktuelle Gefahr sehen, da doch der RotFuchs kaum mit dem Anspruch irgendeiner Machtfülle aufzutreten in der Lage ist.

Wie dem auch sei - Ihre öffentlich vorgetragene kritische Anfrage erfordert wohl auch eine öffentliche Entgegnung. Und die soll in der bescheidenen Feststellung gipfeln, daß mein durch historisch-kritische Betrachtungsweise geschulter theologischer Verstand (und das nicht erst seit heute) bei der kritischen Sichtung der Dokumente mich nicht vor dem Endergebnis der neutestamentlichen Kanonbildung Halt machen läßt. Mit Franz Hinkelammert sehe ich manche Grundentscheidungen oder Glaubensthesen, die eine christliche Dogmatik aus diesen Schriften herausdestilliert, als prinzipiell hinterfragbar oder anzweifelbar. Z.B. die These von der Einzigartigkeit der Gottessohnschaft Jesu, die die alte Kirche meinte festschreiben zu sollen. Mir leuchtet sehr ein, was Hinkelammert [9] im Nachdenken über den Johannesevangelisten in Joh. 10  schreibt: Sollte er nicht gerade seine Freunde davor bewahrt haben, in ihm den "einzigen" Gottessohn zu sehen? Könnte er nicht geradezu Anhänger wie Gegner vor seiner von manchen (je nach Interessenlage) erhofften oder befürchteten Exklusivität, also vor seiner "Vergottung" gewarnt haben? Mit dem Verweis Johannes und dessen Rekurrieren auf Psalm 82,6 erklärt H. überzeugend, daß Jesus die Menschen in ihren von Gott zugedachten Existenz als seine Söhne und Töchter angesprochen hat. Indem sich jeder und jede von ihnen als authentisches Kind Gottes erkennen darf, hat er sie in ihr eigentliches Recht als Subjekt eingesetzt. Das ist nichts anderes als die Fortschreibung oder Aktualisierung der Befreiunggeschichte der Exodus-Überlieferung in die damalige Situation.

Sie haben mich in der zweiten Fußnote Ihres Artikels mit einem Pauluswort hingewiesen auf den alleinigen Grund, auf dem unsere Glaube ruht. Ich frage mich allerdings, was dieser Grund konkret bedeutet, wenn seine Zitierung keine deklamarorische Leerformel bleiben soll. Für den jüdischen Lehrer Jesus war zweifellos der gelegte Urgrund seines befreienden Glaubens Vers 1 der Zehn Gebote: Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland,aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (Ex. 20, 2) Dieser Jesus wollte nichts anderes als befreiende Menschen um sich sehen. In seinem Handeln hat er sich in diese Befreiungstradition gestellt. Darin war er ein hervorragender Sohn Gottes, der auch und Töchtern und Söhnen Gottes heute Mut und Zuversicht dafür gibt, an der Befreiungsgeschichte seiner Menschheit mitzuwirken - und das heißt heute an der Bekämpfung und endlichen Überwindung des menschenverachtenden Kapitalsystems.

Um die große Distanz zwischen dem Gottessohn Jesus aus Nazareth und dem Gottessohn Peter Franz aus Taubach herauszustellen, schreiben Sie: „Jesus nannte die Seinen ‘Brüder’. Niemals aber nennen seine Jünger ihn ‘Bruder’ ... Den ‘Bruder Jesus’ kennt das Neue Testament jedenfalls nicht.“ Da tröste ich mich als Lutheraner mit der Strophe des Lutherliedes „Nun freut euch, liebe Christen G’mein“, in der es heißt: (6.) „Der Sohn dem Vater g’horsam ward, / Er kam zu mir auf Erden / von einer Jungfrau rein uns zart, / Er sollt’ mein Bruder werden.“ Und in einem anderen Lutherlied („ermuntre dich, mein schwacher Geist“) wird ähnlich von unserem Bruder Jesus gesungen: (10) „Lob, Preis und Dank Herr Jesu Christ, / Sei dir von mir gesungen, / daß du mein Bruder worden bist / und hast die Welt bezwungen; / Hilf, daß ich deine Gütigkeit / stets preis in dieser Gnadenzeit / Und mög hernach dort oben / in Ewigkeit dich loben.“

Da war der gute Luther nicht so zimperlich, nur Worte und Wendungen zu gebrauchen, die kanonifiziert sind.

Was die „Auferstehung“ anbetrifft, so halte ich mich nicht so gerne an Paulus, sondern lieber an die Aussage eines Synoptikers, der immerhin kanonisch ist. In seinem Sondergut überliefert Lukas die schöne Geschichte „Vom verlorenen Sohn“ und läßt darin den Vater über den Wiedergfundenen jubelnd ausrufen: „Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.“ Von Gott gefunden worden und zum Dienst am Leben berufen zu sein, ist mir persönlich Auferstehung genug. Ich brauche keine weitere.

Wenn Sie den Begriff „Kumpel“ nicht mögen (den ich nicht verwendete, sondern den Sie mit der Überschrift in diese Diskussion einführen), könnte das an der Mehrdeutigkeit seiner Semantik liegen. Aber in seiner positiven Bedeutung meint Kumpel den Menschen, der neben mir die Schätze aus der Erde befördert und darin ein „Kumpel“ ist. In diesem Sinne wünsche ich mir, daß Sie mir als eine Schwester unter uns Kindern Gottes wohlgesonnen bleiben. Lassen wir uns von unserem „großen Bruder“ Jesus inspierieren in unserem Kampf für eine gerechte Welt, die zu bewohnen der alleinige Gott des Exodus uns verheißen hat. ...

gez. Peter Franz

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Zum Disput zwischen Peter Franz und Rosemarie Müller-Streisand

von Wolf Dieter Gudopp


Von Peter Franz habe ich vielleicht drei Aufsätze gelesen; ich kenne ihn also nicht, und die Basis meiner Wahrnehmung und Überlegung ist äußerst schmal. Dennoch drängt es mich, eine Frage vorzubringen. Es kommt mir so vor, als würde ich seine Äußerungen anders als Rosemarie Müller-Streisand lesen. Peter Franz Satz „Christsein heißt Jesuaner sein“, mit dem er (ungefähr so lautete die Formel) in einem RotFuchs-Heft des vergangenen Jahres seine confessio zusammengefaßt hat, hat mich, wenn auch mehrfach gespaltenen Gemüts, bewegt. Zweifellos kann er schnurstracks in eine liberale Theologie führen, muß es aber nach meinem Dafürhalten nicht. Kann er nicht auch die Orientierung eines Christentums, einer christlichen Existenz ohne Theologie sein? Ist das nicht auch ein möglicher und achtenswerter Weg von der Kirche zur Welt? Rosemarie Müller-Streisand argumentiert als Theologin gegen eine (in nuce vorliegende oder doch potenzielle) Theologie.

Wenn es sich im Wesentlichen aber nicht um unterschiedliche oder gegensätzliche Theologien, sondern um die Differenz oder den Gegensatz Theologie (als der rationalen, in sich schlüssigen Reflexion des Glaubens) einerseits und Nicht-Theologie (nicht unreflektierte, aber „unsystematische“ Nachfolge) andererseits handelt? Beide Methoden, Gehalte und Haltungen haben ein Entscheidendes gemeinsam: Die Theologie Müller’scher Prägung in der Konsequenz und Radikalisierung Bonhoeffer’ scher Einsichten wie auch auf ihre Weise die Nicht-Theologie von Peter Franz sind ganz und gar nichtreligiös und, was in zentraler Hinsicht letztlich ein- und dasselbe ist, uneingeschränkt solidarisch mit der „Welt“, sich vom menschlichen xunòn durch keinerlei Unterscheidung einer „Religion“ abhebend. Religion, denke ich, ist im genauen Sinn a-sozial; sie stört und zerstört, was den Menschen gemeinsam ist; sie trennt die Menschen - der eine hat’s, der andere nicht. (Dagegen sagt Heraklit: gemeinsam ist allen die Vernunft, das Denken.) Wenn die Bemerkung einem Nicht-Christen, einem Griechen, erlaubt ist: Ich sehe in beiden Möglichkeiten, der Müller’schen Theologie und dem Franz’schen Jesuanertum, zwei zusammengehörende Momente christlicher Existenz, die nicht miteinander und schon gar nicht gegeneinander konkurrieren, sondern sich mit innerer Notwendigkeit ergänzen?

Ein vor nicht langer Zeit zwischen Martin Niemöller und mir geführtes Kurzgespräch verlief so:

Ich: Martin, ich wundere mich, daß du trotz der wenigen systematischen Theologie, die du getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst!

Er: Karl, ich wundere mich, daß du trotz der vielen systematischen Theologie, die du getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst!

(Karl Barth,  in: Bekennende Kirche, Martin Niemöller zum sechzigsten Geburtstag, München 1952, S. 9)

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Ein Leserbrief zu Rosemarie Müller-Streisands Kritik an Peter Franz

von Dieter Kraft

 

Liebe Frau Müller,

ich habe mich schon lange nicht mehr in den WBl zu Wort gemeldet, doch Ihre Kritik an dem Beitrag von Peter Franz ist so erfrischend ambivalent, daß ich mich geradezu verführt fühle, eine Wortmeldung abzugeben. Ambivalent war zunächst auch mein ganz unmittelbarer Eindruck, den ich von Ihrer Kritik hatte, denn „irgendwie“ haben sie mit ihr ja Recht, aber schließlich wiederum auch nicht. Zuerst dachte ich, mein zwiespältiger Eindruck beruhe vielleicht nur darauf, daß Sie in Ihrer Überschrift suggerieren, Peter Franz habe vom „Kumpel Jesus“ gesprochen, von „unserem Genossen“. Das hat er aber nun wirklich gar nicht getan, auch wenn ich verstehe, daß man vom Stichwort „Wanderprediger“ sehr schnell auch auf die „Walze“ und zu den „fahrenden Gesellen“ kommen kann. Ganz abgesehen davon, daß der Nazarener auch in weit weniger ehrenwerten Kreisen verkehrte, daß er durchaus als Wanderprediger gewirkt hat, läßt sich doch nicht bestreiten. Wohl aber, daß allein schon ein solcher exegetischer Befund einen „liberalen Theologen“ ausmacht.

Wenn ich Peter Franz richtig verstanden habe, dann ging es ihm um die unglaubliche Diskrepanz zwischen der anspruchslosen Existenz eines Wanderpredigers (und seinen ihm nachfolgenden Jüngern) und einer Kirche, die schließlich als Welt-Macht reüssiert. Nun konzedieren Sie ihm zwar, daß er mit seiner Beschreibung des „Christentums“ im Blick auf die römische Staatskirche „weithin Recht“ habe, doch die Verweltlichung dieser Kirche setzt ja durchaus nicht erst, wie Sie meinen, mit der konstantinischen Wende ein. Diese „Wende“ war doch nur möglich, weil sie an Deformationen anknüpfen konnte, die sich über die Zeit „entwickelt“ hatten. Das haben alle „Wenden“ so an sich.

Damit erwächst nun aber auch ein grundsätzliches Problem, das ja nicht nur Peter Franz hat und das, soweit ich sehe, in fast jeder evangelischen Dogmatik einfach ausgeblendet wird. Wenn sich die „Theologie- und Dogmengeschichte“ innerhalb einer Kirche entfaltet, die schließlich zum römischen Kaiser überläuft und sich ausgerechnet von diesem (Ungetauften!) ein ökumenisches Glaubensbekenntnis verordnen läßt, dann wird „Orthodoxie“ ein höchst zwiespältiger Begriff. Gottfried Arnold - ein Pietist, kein Liberaler - gehört zu den wenigen protestantischen Theologen, die es gewagt haben, aufgrund dieses Befundes die Theologie- und Dogmengeschichte der „Alten Kirche“ auch grundsätzlich in Frage zustellen. Man muß Arnolds „Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie“ ja nicht in allem folgen, aber seinem kritischen Ansatz kann man sich nur um den Preis einer Tabuisierung des historischen Kontextes dieser Geschichte entziehen.

Nun hat Peter Franz keine kritische Dogmengeschichte geschrieben, wohl aber wartet er mit einer die Dogmengeschichte betreffenden These auf, die auf den ersten Blick tatsächlich sehr irritierend wirkt: Indem die christlichen Gemeinden auf ihrem Wege zur römischen Staatsreligion „die jesuanische Hoffnung auf eine Welt der ‚Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude im heiligen Geist’ aufgegeben und daraus den mystifizierenden Glauben an einen ‚auferstandenen, regierenden und richtenden Christus’ gemacht haben, wurde das Gegenteil dessen, was jener sich erhofft hatte.“

Darauf könnte man nun tatsächlich „erschrocken“ und auch „allergisch“ reagieren und konfessorisch 1. Kor. 15,4 zitieren. Man könnte aber andererseits auch danach fragen, ob nicht vielleicht doch irgendein Zusammenhang besteht zwischen dem kaiserlich verordneten Credo und jener römischen Reichskirchlichkeit, die sich nachgerade im Widerspruch zur neutestamentlichen Botschaft befindet. Es läßt sich ja nicht leugnen, daß dieses Credo mit einer unheimlichen Hypothek belastet ist. Schließlich diente es primär einem politischen Zweck, nämlich der vom Kaiser angestrebten staatsreligiösen Kircheneinheit, die der römischen Reichseinheit zu entsprechen hatte, um die religionspolitischen Funktionen des obsolet gewordenen Götterolymps übernehmen zu können. Ein ungeheuerlicher Vorgang, dessen Abgründigkeit nur zu gut verstehen läßt, warum manch einem dieses Credo suspekt werden kann. Und eigentlich hat die protestantische Theologie insgesamt dabei versagt, eine seriöse Hilfestellung bei der Bewältigung dieser eklatanten Problematik zu geben. Sie hat den Skandal einfach verdrängt und ihn, wenn überhaupt, der Kirchengeschichtsschreibung überlassen. Vielleicht ja auch deshalb, weil sie selbst keine stimmige Antwort auf die Frage hatte, wie viel Glaubenswürdigkeit einem christlichen Bekenntnis zukommt, das nach Maßgabe rein imperialpolitischer Interessen zustande gekommen ist.

Peter Franz hat durchaus einen neuralgischen Punkt angesprochen, der noch immer schmerzt. Deshalb würde ich es nicht für allzu „gravierend“ halten, daß er in diesem Zusammenhang vom „auferstandenen, regierenden und richtenden Christus“ in Anführungszeichen spricht. Vielleicht sind die in diesem Zusammenhang sogar angebracht. Das neutestamentliche Bekenntnis zu Christus als dem Auferstandenen, Regierenden und Richtenden ergeht immer in statu confessionis und also im radikalen Widerspruch zu einer Welt, die Paulus den „alten Äon“ nennt und die in der Johannes-Apokalypse mit dem römischen Reichsimperialismus koinzidiert. Und so ist es ein Bekenntnis auf Leben und Tod - und gerade darin ein wahrhaftiges Christusbekenntnis. Ein Nero und ein Diokletian wußten nur zu gut, warum sie den Christen nach dem Leben trachteten. Und das Neue Testament rechnet ja auch damit, daß die Nachfolge an das Kreuz führt (Mk. 8,34). Jedenfalls führt sie in die Opposition zu dem „Reich dieser Welt“, weil Christi Reich nicht von dieser Welt ist (Joh. 18,36).

Gemessen an dem neutestamentlichen Verständnis von Nachfolge, ist es schon etwas anderes, womöglich sogar etwas Grundverschiedenes, wenn in Nicäa unter dem Vorsitz des römischen Kaisers vom „auferstandenen, regierenden und richtenden Christus“ gesprochen wird. Nachfolge im Zeichen des nicänischen Christus ist in dem „Reich dieser Welt“ wirklich nur schwer als ein Skandalon und eine Torheit auszumachen (1.Kor. 1,23). Der Kaiser jedenfalls hatte keine Probleme, einen solchen „Herrn“ neben sich zu wissen. Einem zur Umkehr rufenden Wanderprediger allerdings hätte er wohl nicht einmal eine Audienz gewährt.

So wahrhaftig Christus unser Herr ist, und hier, liebe Frau Müller, lese ich (und Peter Franz doch sicher auch) Paulus und die Evangelien wie Sie - aber schon Matthäus weiß darum, daß nicht jeder, der da „Herr, Herr sagt“ in das Himmelreich eingehen wird, „sondern wer den Willen meines Vaters tut“ (Matth. 7,21). Und so dürfte es denn auch gar nicht prinzipiell ausgeschlossen sein oder werden, daß sich etwa mit einem „Hoheitstitel“ „Bruder“ unter Umständen mehr neutestamentliche Authentizität verbinden kann als mit einer Herren-Rede, die dem römischen Herren Konstantin durchaus systemkompatibel erschien.

Ganz sicher war Peter Franz nicht gut beraten, mit der Überschrift „Ungeist aus uralten Quellen“ den Eindruck zu erwecken, bei diesen Quellen meine er das Neue Testament selbst. Aber mit Überschriften ist das ja auch immer so eine Sache. Auch bei der Überschrift zu Ihrer Kritik könnte man, mutatis mutandis, mit Karl Barth sagen: Dialektischer sollten mir die dialektischen Theologen sein, wenn sie der Orthodoxie die Ehre geben wollen. Denn „Messias Jahwes oder Wanderprediger“ ist einfach eine falsche Alternative. Ich lese im Neue Testament, daß der Messias ein Wanderprediger ist (Matth. 4,23; Mk. 1,39) und daß eben dieser Wanderprediger als der verheißene Messias verkündet wird (Joh. 1,41). Ich denke, Peter Franz hat das auch so gelesen.

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Theorie und Praxis der nationaldemokratischen Revolution am Beispiel Afghanistans

 von Matin Baraki

 

Die Wahrheit ist so wenig bescheiden als das Licht …Bildet die Bescheidenheit den Charakter der Untersuchung, so ist sie eher ein Kennzeichen der Scheu vor der Wahrheit als vor der Unwahrheit. Sie ist eine der Untersuchung vorgeschriebene Angst, das Resultat zu finden, ein Präservativmittelvor der Wahrheit.“

Karl Marx

 

Vorbemerkung

Sind wir, wie manche Apologeten der Bourgeoisie behaupten, angesichts der vorläufigen historischen Niederlage des „real existierenden Sozialismus“ Ende der achtziger Jahre in Europa, an das Ende der Geschichte gelangt, oder gibt es Möglichkeiten eines neuen Anlau

Sind wir, wie manche Apologeten der Bourgeoisie behaupten, angesichts der vorläufigen historischen Niederlage des „real existierenden Sozialismus“ Ende der achtziger Jahre in Europa, an das Ende der Geschichte gelangt, oder gibt es Möglichkeiten eines neuen Anlaufes hin zu einer sozialistischen Orientierung? In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, die in den Hintergrund geratene Diskussion über die Umgehung des kapitalistischen Entwicklungsweges zum Sozialismus für die in „Unterentwicklung gehaltenen Länder“ [10] wieder aufzunehmen und die praktische Umsetzung dieser Theorie am Beispiel Afghanistan zu untersuchen. Dabei sollen Schlußfolgerungen für die Perspektiven der in Unterentwicklung gehaltenen Länder unter den neuen Rahmenbedingungen, d.h. ohne Existenz des Sozialismus, gezogen werden.

I. Die Theorieansätze bei den marxistischen Klassikern

Die marxistischen Klassiker haben unter anderem im Rahmen ihrer Hauptuntersuchung der kapitalistischen Produktionsweise Westeuropas auch die Entwicklungsprobleme der vorkapitalistischen Gesellschaften, bevorzugt Indiens, Rußlands, Chinas, Persiens, Ägyptens und der Türkei, behandelt. Marx und Engels legten ihre Auffassungen über die Möglichkeit einer Vermeidung des kapitalistischen Entwicklungsweges zum ersten Mal ausführlich und explizit bezüglich Rußlands dar. Marx kam zu dem Resultat: „fährt Rußland fort, den Weg zu verfolgen, den es seit 1861 eingeschlagen hat, [11] so wird es die schönste Chance verlieren, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat, um dafür alle verhängnisvollen Wechselfälle des kapitalistischen Systems durchzumachen,“ [12] wie er 1877 in einem Brief an die Redaktion der „Otetschestwennyje Sapiski“ hervorhob. In einem Schreiben an Vera Sassulitsch von Februar 1881 erläuterte Marx: „Es [das Gemeineigentum] ist mit dem gesellschaftlichen Fortschritt überall verschwunden. Warum sollte es demselben Schicksal allein in Rußland entgehen? Ich antworte: Weil in Rußland, dank eines einzigartigen Zusammentreffens von Umständen, die noch in nationalem Maßstab vorhandene Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen befreien und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion in nationalem Maßstab entwickeln kann. Gerade auf Grund ihrer Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion kann sie sich deren positive Errungenschaften aneignen, ohne ihre furchtbaren Wechselfälle durchzumachen. Rußland lebt nicht isoliert von der modernen Welt, noch weniger ist es die Beute eines fremden Eroberers wie Ostindien.“ [13] Mit dieser Differenzierung zwischen Rußland und Ostindien weist Marx auf eine wesentliche Voraussetzung, nämlich die nationale Unabhängigkeit, für den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg (NKEW) hin. Marx hatte in einem Brief an Engels die Priorität der nationalen Revolution in Irland für den Aufschwung der englischen Arbeiterklasse betont, wobei er seine alte Auffassung, „daß das irische Regime durch den Aufstieg der englischen Arbeiterklasse zu stürzen“ [14] sei, korrigierte. Eine konkrete Konzeption, wie die Entwicklung vorkapitalistischer Gesellschaften sich gestalten könnte, wurde von Marx und Engels aber nicht vorgelegt. Engels schrieb im September 1882 an Karl Kautsky: „Welche sozialen und politischen Phasen aber diese Länder [gemeint sind die in Unterentwicklung gehaltenen Länder] dann durch zu machen haben, bis sie ebenfalls zur sozialistischen Ordnung kommen, darüber glaube ich, können wir heute nur ziemlich müßige Hypothesen aufstellen. [15] Im Vorwort zu 1. Auflage des „Kapitals“ konkretisierte Marx einen wesentlichen Aspekt seiner Vorstellung zum NKEW: „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist [...], kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern. [16] Am umfassendesten und genauer definierte Engels in seinem „Nachwort zu ‚Soziales aus Rußland’“ die Voraussetzungen zum NKEW. Hierin erklärte Engels, daß es nach dem „Sieg des westeuropäischen Proletariats über die Bourgeoisie“ [17] und nach der „Überführung der Produktionsmittel in Gemeinbesitz bei den westeuropäischen Völkern“ [18] , für andere in der Unterentwicklung gehaltene Völker „nicht nur möglich, sondern gewiß“ ist, „ihren Entwicklungsprozeß zur sozialistischen Gesellschaft bedeutend abzukürzen und sich den größten Teil der Leiden und Kämpfe zu ersparen, durch die wir in Westeuropa uns durcharbeiten müssen.“ [19]

Während in der Arbeit der Internationalen Arbeiterassoziation, der Ersten Internationale (1864-1876), die Entwicklungsprobleme der Kolonien noch kaum Beachtung fanden, rückten sie bald in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen der Zweiten Internationale (1889 -1914). Auf ihren Kongressen in London (Juli 1896) und Paris (September 1900) hatte die Zweite Internationale einhellig die Kolonialpolitik der europäischen Bourgeoisie verurteilt und die Selbstbestimmung der Nationen propagiert. Mit der Herausbildung von Revisionismus und Opportunismus in der Zweiten Internationale, vertreten durch ihre Hauptprotagonisten, den Niederländer Heinrich van Kol, den Deutschen Eduard Bernstein und den Österreicher Otto Bauer, wurde auf dem Amsterdamer (August 1904) und Stuttgarter Kongreß (August 1907) der Kolonialismus als eine logische Folge der Unterentwicklung einiger Länder dargestellt. Es wurde darauf hingewiesen, daß „der Kapitalismus in Europa eine Notwendigkeit ist, eine notwendige und unvermeidliche Entwicklungsstufe,“ [20] die auch von den Kolonien durchgemacht werden müsse. Daher „verwirft der Kongreß nicht jede Kolonialpolitik prinzipiell, weil diese unter sozialistischem Regime zivilisatorisch wirken kann“. [21] Dies war die Position der Mehrheit auf dem Kongreß, die von van Kol als deren Vertreter vorgetragen wurde.

In zwei Artikeln zum Stuttgarter Kongreß unterzog Lenin die Position der „sozialimperialistischen” Fraktion der Sozialdemokratie und der revisionistischen und opportunistischen Strömungen der Zweiten Internationale einer scharfen Kritik. [22] Er setzte die Thesen van Kols, Bernsteins und Bauers „mit einem offenen Rückzug in Richtung bürgerlicher Politik und bürgerlicher Weltanschauung, die koloniale Kriege und Greuel rechtfertigen“ [23] , gleich. Lenin stellte fest, daß expansive europäische Kolonialpolitik gerade dazu geführt hat, „daß der europäische Proletarier zum Teil in eine solche Lage geraten ist, daß die Gesellschaft als Ganzes nicht von seiner Arbeit, sondern von der Arbeit der fast zu Sklaven herabgedrückten kolonialen Eingeborenen lebt.“ [24] Schon der von Bernstein und seinen Freunden verbreitete Begriff „‘sozialistische Kolonialpolitik’ ist heillose Konfusion.“ [25] Die Position van Kols auf der Ersten Tagung des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel im Oktober 1908 verglich Lenin mit der Haltung eines richtigen gesinnungstreuen Beamten. „Das ganze Referat war nicht vom Geist des proletarischen Klassenkampfes erfüllt, sondern vom Geist des kleinbürgerlichsten, ja noch schlimmer, eines Beamten-Reformertums.“ [26] Lenin hob die Verbundenheit zwischen dem Proletariat Europas und den unterdrückten Völkern hervor: „Wir waren, wir sind und werden immer für die engste Annäherung und Verschmelzung der klassenbewußten Arbeiter der fortgeschrittenen Länder mit den Arbeitern, Bauern und Sklaven aller unterdrückten Länder sein. Wir haben allen unterdrückten Klassen in allen unterdrückten Länder, darunter auch in den Kolonien, immer geraten und werden ihnen immer raten, sich nicht von uns loszutrennen, sondern sich uns möglichst eng anzuschließen und sich mit uns zu verschmelzen.“ [27] .

Als wichtiges Diskussionsforum, auf dem die Perspektive der Kolonien thematisiert wurde, erwies sich die 1919 neu gegründete Kommunistische Internationale („Komintern“, KI) und ihr Exekutivkomitee. Die ersten vier Kongresse hatten noch unter unmittelbarer Mitwirkung Lenins stattgefunden. Aufgrund der russischen Erfahrungen wies Lenin auf die Spezifik der „national-demokratischen Revolutionen” bei den in Unterentwicklung gehaltenen Ländern hin. Er riet den Kommunisten der Länder des Ostens, die allgemeine kommunistische Theorie und Praxis unter den besonderen Bedingungen der jeweiligen Länder anzuwenden. Diese müßten berücksichtigen, daß „die Hauptmasse der Bevölkerung Bauern sind und wo es den Kampf nicht gegen das Kapital, sondern gegen die Überreste des Mittelalters zu führen gilt.“ Lenin hebt hervor, daß hier eine Aufgabe bevorsteht, „wie sie vor den Kommunisten der ganzen Welt bisher nicht gestanden hat.“ [28] Tatsächlich wurden damals gerade die ersten Schritte auf dem Wege zum NKEW für die Völker Transkaukasiens, Mittelasiens und Sibiriens sowie der Mongolei unternommen, ohne daß man schon auf gesicherte Erfahrungen hätte zurückgreifen können. Hier wird die Komplexität der bevorstehenden Aufgaben ganz nachdrücklich vor Augen geführt. Deswegen betonte Lenin die Notwendigkeit einer Einheitsfront aller antiimperialistischen Kräfte in den Kolonien, also eines breiten Bündnisses einschließlich der jeweiligen Nationalbourgeoisie. Die in Unterentwicklung gehaltenen Länder können mit Unterstützung der fortgeschrittenen Länder über bestimmte Entwicklungsstufen zum Sozialismus gelangen, „ohne das kapitalistische Entwicklungsstadium durchmachen zu müssen.“ [29]

Allerdings gab es dazu Widerspruch auf dem II. Kongreß der KI: Die Vertreter aus Indien, Persien und Italien, Manabendra Nath Roy, Sultan Sade und Serrati lehnten einige Thesen Lenins, vor allem jegliches Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie in der bürgerlich-demokratischen Revolution ab. [30] Roy plädierte für die führende Rolle der Kommunisten in der bürgerlich-demokratischen Revolution. [31] Hingegen wurde auf dem III. (22. Juni bis 12. Juli 1921) und IV. (4. November bis 5. Dezember 1922) Kongreß der KI die Notwendigkeit einer antiimperialistischen Einheitsfront in den Kolonien und Halbkolonien unterstrichen. Die kommunistischen Parteien und Gruppen wurden aufgefordert, „die Taktik der Einheitsfront auf das Strengste durchzuführen.“ [32] Für die Umsetzung der Einheitsfront wurde darauf hingewiesen, daß „es jetzt mehr denn je der strengsten internationalen Disziplin“ [33] bedürfe.

Die Hauptpunkte der Theorie der nationaldemokratischen Revolution wurden trotz gradueller Meinungsunterschiede beibehalten. Die kommunistischen und Arbeiterparteien entwickelten und konkretisierten diese Theorie dann ständig weiter, und sie fand ihren Niederschlag in den Programmen der antikolonialen Bewegungen in der Phase der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu wurden umfangreiche Untersuchungen, vor allem aus der Feder der Wissenschaftler aus den sozialistischen Ländern, vorgelegt. [34] Dank der fleißigen Übersetzungsarbeit und durch konspirative Lieferungen der Tudeh-Partei Irans, konnten wir afghanische Linken in der Illegalität mit großem Interesse das Programm der Front de Libération National (FLN) und die Verfassung der Demokratischen Volksrepublik Algerien studieren. Diese Dokumente wurden zur Pflichtlektüre innerhalb der Befreiungsbewegungen.

Zusammengefaßt beinhaltet die Theorie der nationaldemokratischen Revolution folgende Kernpunkte:

genaue Analyse der sozio-ökonomischen Verhältnisse des jeweiligen Landes,

Berücksichtigung der objektiven und subjektiven Faktoren,

Durchführung einer demokratischen Bodenreform,

Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung,

die Bündnisfrage,

die Stellung der Frau in der Gesellschaft,

Demokratisierung der Gesellschaft und Partizipation der gesellschaftlichen Gruppen, wie Gewerkschaften und anderer Interessenvertreter der Bevölkerung,

Möglichkeiten des Überganges von vorfeudalen, halbfeudalen bzw. feudalen Verhältnissen direkt zum Sozialismus,

können Entwicklungsetappen überhaupt übersprungen werden?

Frage der Unterstützung von außen durch fortgeschrittene Länder.

II. Die historische Mission der DVPA

Die Idee der nationaldemokratischen Revolution wurde auch in das Programm der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) vom Januar 1965 aufgenommen. Darin wurde Afghanistan im 19. Jahrhundert und bis Ende der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts als ein koloniales und halbkoloniales Land charakterisiert. „Die unterdrückte Nation dieses Landes hat die schwerste, tyrannischste Form des Despotismus und der Ausbeutung, der Unwissenheit und Armut im Würgegriff der herrschenden lokalen Feudalherren und britischen kolonialen Aggressoren erduldet.“ [35] Die Ursache der Unterentwicklung wurde zum einen in der „langsamen Entwicklung der Produktivkräfte und miserablen Lage der Völker Afghanistans, die in Armut, Unwissenheit und Krankheit ihr Leben fristen“, gesehen; zum anderen in der politischen und ökonomischen „Herrschaft der Feudalklasse, der Schichten der spekulierenden Großhändler und Kompradoren, der verdorbenen Bürokraten und Agenturen der internationalen imperialistischen Monopole, deren Klasseninteressen im Widerspruch stehen zu denen der Volkmassen Afghanistans“ [36] . Die Errichtung einer nationaldemokratischen Regierung wurde als strategisches Ziel formuliert. „Das politische Fundament der nationaldemokratischen Regierung in Afghanistan wird in einer nationalen Einheitsfront aller fortschrittlichen, demokratischen und patriotischen Kräfte bestehen; diese umfaßt Arbeiter, Bauern, progressive Intelligenz, Handwerker, Kleinbürgertum (kleine und mittlere Eigentümer) und nationale Bourgeoisie (nationale Kapitalisten), die den nationalen und demokratischen Kampf führen für die nationale Unabhängigkeit, die Verbreitung der Demokratie im gesellschaftlichen Leben und die Vollendung des demokratischen, antiimperialistischen und antifeudalen Prozesses.“ [37] Angesichts der ethnischen Vielfalt Afghanistans wurde „der Kampf für die Einheit und Solidarität aller werktätigen Völker Afghanistans, auf der Basis der Gewährleistung der Interessen der entrechteten Klassen, des Prinzips der brüderlichen Gleichberichtigung und des allseitigen Kampfes gegen jegliche nationale Unterdrückung“ [38] als Aufgabe einer nationaldemokratischen Regierung proklamiert. Im ökonomischen Bereich sollte „die feudale und vorfeudale Produktionsweise“ abgeschafft, eine tiefgreifende demokratische Bodenreform durchgeführt und der staatliche Sektor ausgedehnt werden. Im Bildungsbereich wurde dem Analphabetismus im ganzen Land der Kampf angesagt. Der NKEW wurde auf der Grundlage der fortschrittlichen Ideologie und wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse [39] als Ziel angestrebt. [40]

 Afghanistan am Vorabend der April-Revolution

Afghanistan gehörte in allen Bereichen zu den am wenigsten entwickelten und ärmsten Ländern der Welt, laut UNO-Statistik schon damals das unterentwickeltste Land Asiens. Das jährliche Prokopf-Einkommen betrug 1977 rund 150 US-Dollar. Auf einer Fläche von 652660 qkm lebten ca. 17 Mio. Menschen, unter feudalen bzw. vorfeudalen Verhältnissen. Circa. 5% Großgrundbesitzer verfügten über ca. 50%, im Norden des Landes sogar 2% über 70% des Bodens. Nur etwa 5% der Landesfläche, d.h. drei bis vier Millionen ha, stellte bebaubares Ackerland dar. Annähernd 85% der Menschen lebten auf dem Land als Bauern, Landarbeiter, Tagelöhner, Viehzüchter usw., wobei der Anteil der Landwirtschaft am Bruttosozialprodukt 1975/76 etwa zwei Drittel ausmachte. Etwa zwei Millionen Menschen lebten nomadisch oder halbnomadisch und bestritten ihren Lebensunterhalt durch Tierzucht bzw. Saisonarbeit. Es existierte teilweise Leibeigenschaft, die Großgrundbesitzer verfügten über eigene Gefängnisse.

Der Analphabetismus stellte ein schwerwiegendes und entwicklungshemmendes Problem für Afghanistan dar. Etwa 97% der Menschen - bei Frauen lag die Quote noch darüber - konnten weder lesen noch schreiben. Von einer Stellung der Frau im öffentlichen Leben konnte daher - wie in allen traditionellen islamischen Gesellschaften - überhaupt keine Rede sein, erst nach dem April-Aufstand 1978 verbesserte sich die Stellung der Frauen spürbar. Desgleichen konnte in Afghanistan vom Bestehen einer Arbeiterklasse im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden. Im Jahre 1967 waren landesweit lediglich 88 Industriebetriebe registriert, in denen 23.436 Personen beschäftigt waren. Die Gesamtzahl aller arbeitenden Menschen betrug im Vergleich dazu ca. 3,8 Mio. Nur 0,6% aller Erwerbstätigen waren in der industriellen Produktion beschäftigt, deren Zahl bis 1978 auf 40.000 angewachsen war. [41] Babrak Karmal, Generalsekretär der DVPA und Vorsitzender des Revolutionsrates, gab 1982 die Zahl der Betriebe mit 300 und die der Arbeiter mit 150 000 an. [42] Präsident Hafisullah Amin sprach erst nach dem April-Aufstand von 5% Werktätigen in der afghanischen Industrie, worauf er seine Herrschaft als „Diktatur des Proletariats“ begründet haben wollte. Wegen der enormen Analphabetenrate, der Herkunft der Industriearbeiter [43] , fehlender Organisation und mangelnder Kampferfahrung, kann von keiner klassenbewußten Arbeiterschaft nicht ausgegangen werden.

Festzustellen bleibt noch, daß keine Regierung Afghanistans bis April 1978 auch nur annähernd die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen konnte. „Aufeinander folgende Regierungen waren daran gescheitert, die Völker Afghanistans zu alphabetisieren, hatten nicht vermocht, Respekt und eine bessere Lage für Frauen durchzusetzen, oder versäumt, dem Land irgend eine substantielle Regierungs- oder industrielle Infrastruktur zu geben.“ [44] Vor allem ist auch eine besonders hohe Kindersterblichkeit - fast jedes zweite Kind starb, bevor es ein Jahr alt wurde - hervorzuheben, außerdem waren Krankheiten wie Lepra, Pocken und Cholera an der Tagesordnung; die katastrophale Gesundheitssituation wird daran deutlich, daß es insgesamt nur 800 Ärzte im Land gab. Nur in Kabul gab es ein Militär-, ein Zivil- und ein Frauenkrankenhaus. In den Provinzen wurden Krankenstationen errichtet, aber als Krankenhäuser deklariert, die zum größten Teil nur von Pflegepersonal betreut wurden. Ärzte konnten nur per Regierungserlaß aus Kabul für kurze Zeit dahin verpflichtet werden.

Der Außenhandel Afghanistans bewegte sich auf einem recht niedrigen Niveau. Er war in allen Jahren defizitär, und sein Defizit kumulierte im Verlauf von 14 Jahren auf rund 2,7 Mrd. DM. Der Deckungsgrad der afghanischen Importe durch eigene Exporte lag nur zwischen 50 und 75%.

Exporte, Imorte und Handeslbilanzsalden Afghanistans in Mrd. DM [45]

Jahr Export Import Saldo Exp. in %
1963/64 217,9 378,2    
1964/65 240,8 481,6    
1965/66 291,4 545,,6    
1966/67 280.7 608,6    
1967/68 281,0 585,4    
1968/69 264,7 458,7    
1969/70 321,1 488,9    
1970/71 322,2 417,2    
1971/72 379,2 637,0    
1972/73 452,1 569,0    
1973/74 439,6 520,9    
1974/75 734,7 777,0    
1975/76 549,5 860,1    
1976/77 749,3 876,2    
Insgesamt 5.524,2 8204,4    

Die Kompensierung des afghanischen Handelsbilanzdefizits erfolgte überwiegend durch Auslandskredite. [46] Ebenso war auch die Finanzierung der Fünf- bzw. Siebenjahrpläne (Entwicklungspläne) für den Zeitraum von 1956 bis 1978 fast völlig von ausländischen Finanzmitteln abhängig. Davon ausgehend kann ohne weiteres von mehr als einer Verdoppelung der Verschuldung ausgegangen werden. So hatte Afghanistan allein im Jahre 1976 für bis dahin erhaltene Kredite 200 Millionen Dollar an Zinsen zu zahlen, eine Summe die die Jahreseinnahmen um mehr als zweimal überstieg.

Trotz der von den Staaten des Westens, allen voran die USA und BRD, an Afghanistan über Jahrzehnte gewährten sektorübergreifenden neokolonialistischen „Entwicklungshilfe“ hat sich die sozio-ökonomische Situation in Afghanistan von Jahr zu Jahr verschlechtert. Einzig die Verschuldung, nicht zuletzt für die zahlreichen, teilweise wenig erfolgreichen bzw. gescheiterten Entwicklungsprojekte [47] , nahm weiter kräftig zu, so daß die Lage für die Monarchie insgesamt immer bedrohlicher wurde.

Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung lebte ohnehin schon am Rande des Existenzminimums. Als der Hungersnot nach der verheerenden Dürreperiode von 1971/72 geschätzte anderthalb Millionen Menschen zum Opfer fielen, war damit das Ende der Herrschaft von König Mohammad Saher besiegelt. „Die Zeit für die Entscheidung, entweder über die Revolution derer, die im Schatten stehen, [...] oder aber durch einschneidende Maßnahmen zur modernen Demokratie zu kommen, war nicht mehr fern. Es mußte über kurz oder lang seitens der Monarchie etwas geschehen, oder es würde mit der Monarchie etwas passieren.“ [48] Für eine politische Kanalisierung der Krise waren aber keine Mechanismen geschaffen worden. Obwohl das Parteiengesetz von der Nationalversammlung (Schorae Melli) verabschiedet worden war, wurde es von König Mohammad Saher nie ratifiziert. Dennoch kam es zur Bildung von Parteien, die sich auf Artikel 32 der Verfassung vom 9. Misan 1343 [9. Oktober 1964] beriefen. Darin steht u.a.: „Afghanische Staatsbürger haben das Recht, in Übereinstimmung mit dem Gesetz politische Parteien zu gründen, unter der Voraussetzung, daß 1. die Ziele und Aktivitäten der Parteien und die Ideen, auf denen die Organisation der Parteien basieren, nicht zu den in der Verfassung verankerten Werten in Widerspruch stehen. 2. Die Organisation und die Finanzierungsquellen der Parteien offengelegt werden. Eine in Übereinstimmung mit den Vorschriften des Gesetzes gebildete Partei kann nicht ohne ordentliches Gerichtsverfahren und ohne Anordnung des Obersten Gerichtshofes aufgelöst werden.“ [49]

Die Krise in Afghanistan spitzte sich soweit zu, daß das gesamte System erfaßt wurde. König Mohammad Saher verlängerte per Dekret die 13. Legislaturperiode des Parlaments, um einen eventuellen Aufstand des Volkes im Verlaufe des bevorstehenden Wahlkampfes zu vermeiden. Es half nichts. Um die Dynastie zu retten, mußte die Monarchie geopfert werden.

Am 17. Juli 1973 putschten die der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) zugehörigen Militäroffiziere gegen die Monarchie und verhalfen Mohammad Daud (von 1953-1963 Ministerpräsident, außerdem Schwager und Cousin des Königs) zur Macht. Die Regierung M. Dauds führte aber keine der nennenswerten Reformen durch, die er in seiner ersten „Rede an die Nation“ versprochen hatte. Außenpolitisch warf er die traditionelle Politik der Blockfreiheit Afghanistans über Bord, in dem er die Beziehungen zum Schah von Iran, Anwar Al Sadat von Ägypten, Saudi-Arabien und Pakistan intensivierte. Zunächst schloß M. Daud alle linken Kräfte peu à peu von allen wichtigen Positionen aus, darüber hinaus ging er im Frühjahr 1978 zur offenen Repression gegen die Parteiführung der DVPA über. Hinzu kam noch der politische Terror der Islamisten bzw. des Geheimdienstes, dem namhafte Politiker und Repräsentanten der DVPA zum Opfer fielen. Mir Akbar Chaibar, Gründungsmitglied der Partei und Mitglied des Politbüros, war am 18. April auf offener Straße erschossen worden. Außerdem ließ M. Daud die gesamte Parteiführung bis auf wenige Ausnahmen verhaften; sie sollte liquidiert werden. Als diese Meldung in den Abendsendungen des afghanischen Fernsehens verbreitet wurde, kam es am 27. April 1978 zum militärischen Aufstand gegen das Daud-Regime unter der Führung von Teilen der DVPA und infolgedessen auch zum Beginn eines revolutionären Prozesses. Die Militärs befreiten die Parteiführung und übertrugen ihr die Leitung des Staates: Generalsekretär Taraki wurde Vorsitzender des Revolutionsrates und Ministerpräsident, Karmal sein Stellvertreter und Hafisullah Amin Außenminister.

Objektiv war Afghanistan längst reif für eine gründliche Umgestaltung, innenpolitisch gesehen bestand jedoch das Hauptproblem in der Nichtbeachtung der subjektiven Faktoren, die dann bei der Durchführung der Reformen den Boden für Konterrevolution und ausländische imperialistische Einmischung bereitete und letztendlich das Scheitern des revolutionären Prozesses zur Folge hatte.

IV. Das historische Versagen der DVPA

Die aus der volksdemokratischen Bewegung hervorgegangene DVPA war am 1. Januar 1965 in der Illegalität gegründet worden, mit Nur Mohammad Taraki als Generalsekretär und Babrak Karmal als zweitem Sekretär. Vor der April-Revolution 1978 hatte die Partei ca. 18.000 Mitglieder, hauptsächlich städtische, kleinbürgerliche Intellektuelle mit vagen Vorstellungen von marxistischer Theorie. Man kann sogar von einem theoretischen Analphabetismus in der DVPA bis in hohe Ränge sprechen. Das war eine ihrer größten Schwächen, die die gesamte Partei erfaßt, lahm gelegt und schließlich zum Scheitern verurteilt hat. Das führte schon am 4.5.1967 wegen aufgebrochener Rivalitäten in der Führung um hohe Posten, wegen Meinungsverschiedenheiten über den Charakter einer künftigen Revolution, über die Bündnisfrage in der Etappe der nationaldemokratischen Revolution und über die nationale Frage, d.h. die Paschtunistanfrage - also lauter „Kinderkrankheiten“ - zu ihrer Spaltung, die erst am 3. 7. 1977 mit einer Wiedervereinigungsvereinbarung formal beendet werden konnte. Aber weder war die psychologische Schwelle überwunden, noch waren die Wunden geheilt, die der ein Jahrzehnt dauernde Kampf gegeneinander geschlagen hatte.

Nach dem erfolgreichen Aufstand vom 27. April 1978 begann die Revolutionsregierung unmittelbar mit der Realisierung von Reformmaßnahmen wie der Regelung von Ehe- und Scheidungsangelegenheiten (Dekret Nr. 7 vom 17.10.1978), der Bodenreform (Dekret Nr. 8 vom 28.11.1978) sowie mit einer umfassenden Alphabetisierung, um die feudalen und halbfeudalen Strukturen aufzubrechen. [50] Die Bekämpfung des Analphabetismus war zunächst sogar so erfolgreich, daß in einem halben Jahr ca. 1,5 Mio. Menschen das Lesen und Schreiben lernten, wofür Afghanistan einen Preis von der UNESCO erhielt. Im ganzen Land wurde 27 000 ständige Kurse eingerichtet, an denen gleichzeitig 600 000 Menschen teilnahmen. [51] Erst als die Alphabetisierungsmaßnahmen auf die ländlichen Regionen ausgedehnt wurden, kam es zu gravierenden Fehlern. Sie wurden ohne Berücksichtigung der sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen im ländlichen Afghanistan durchgesetzt. U.a. kam es zu zwangsweisen Alphabetisierungen. Weil es an Lehrkräften mangelte, erklärten sich Studierende bereit, in den Semesterferien als Lehrkräfte auf das Land zu ziehen, wobei viele von der Konterrevolution ermordet wurden. Mädchen und Frauen wurden gezwungen, gemeinsam mit den Männern an den Kursen teilzunehmen. „Mit Gewalt kann man die Bevölkerung nicht alphabetisieren,“ [52] stellte Anahita Ratebzad, Mitglied des Politbüros der DVPA fest. Bei der Umsetzung der Bodenreform wurden gleichfalls schwerwiegende Fehler gemacht, insbesondere wurden die Bauern weder politisch noch materiell darauf vorbereitet. Die Stammesstrukturen blieben unberücksichtigt. Des öfteren sind die Großgrundbesitzer zugleich auch Stammes- bzw. Religionsführer, von daher ist es wesentlich problematischer, ihr Land an Stammes- bzw. Gemeindemitglieder zu verteilen. Von den wichtigsten Reformmaßnahmen waren insbesondere die Großgrundbesitzer, Feudalherren und Feudaltheokraten betroffen, die dann die Konterrevolution angeführt haben.

Eine weitere Fehlentscheidung war, daß sämtliche Regierungsfunktionen an Parteimitglieder vergeben wurden, ohne Rücksicht auf deren Qualifikation. Ein Geologe wurde z.B. Präsident der Industrie- und Handelskammer, Ingenieure oder Mathematiker wurden auf gut dotierte Posten als Botschafter gehievt, wie der Schwiegersohn von Taraki, Ingenieur Nazar Mohammad in Bonn, der Mathematiker Dr. Machan Schinwari, erster Sekretär der Botschaft in Bonn [53] oder der Halbbruder von Karmal, Ingenieur Zalmai Damun, als UN-Botschafter in Genf, um nur einige zu nennen. Es gab zahlreiche im Ausland studierte Naturwissenschaftler und Ärzte, die in der Abteilung für internationale Beziehungen der DVPA arbeiteten, da diese als Sprungbrett in den diplomatischen Dienst galt. Zahlreiche Lehrer wurden Leiter von Bezirken und von Kreisverwaltungen, obwohl Afghanistan an chronischem Lehrermangel litt. Aber in der Verwaltung gab es vielseitigere Möglichkeiten der Korruption. Für die lukrativen Posten gab es eine Art „Schlüsselgeld“. Die Korruption hatte ein Ausmaß erreicht, daß der Generalsekretär der DVPA, Babrak Karmal, dies sogar öffentlich ansprach. Der Premierminister Sultan Ali Keschtmand [54] hatte Babrak Karmal einen Bericht des Präsidialamtes für Kontrolle und Revision vorgelegt, in dem durch Fakten belegt war, daß auf höchster Ebene im Staatsapparat Korruption verbreitet sei, was Karmal als beschämend bezeichnete. [55] Der Partei- und Staatsapparat wurde zu einem Postenbeschaffungs- und Selbstbedienungsladen [56] für Freunde und Verwandte von Mitgliedern der Parteiführung. „Aber mit Bedauern will ich Euch mitteilen, daß manche Genossen, die der Partei auch Dienste erwiesen haben, zu mir kommen und kategorisch, klar und unverblümt Privilegien und Posten verlangen.“ [57] Einer von diesen Genossen war der spätere Außenminister, Mitglied des ZK der DVPA und langjährige Kampfgefährte außerdem ein Cousin von Karmal, Abdul Wakil.

Die meisten der tausende Stipendien, die aus den sozialistischen Ländern an afghanische Hochschulen und Institutionen vergeben wurden, erhielten Söhne, Brüder und weitere Verwandten der Partei- und Staatsführung, unabhängig von ihrer Qualifikationen. [58]

Da faktisch nur für Mitglieder der DVPA die Möglichkeit einer Karriere bestand, strömten alle Karrieristen in die Partei. Die Zahl der Parteimitglieder nahm rapide zu. Während die DVPA vor der Revolution 1978 ca. 18 000 Mitglieder hatte, erreichte sie im Juli / August 1982 mehr als 70 000 [59] , im November / September 1982 mehr 80 000 [60] , im Juni / Juli 1983 mehr als 90 000 [61] und im Februar / März 1985 schon mehr als 130 000. [62] Es ist also eine kontinuierliche Steigerung zu verzeichnen. Viele Parteifunktionäre trachteten danach, sich Posten und Autos zu verschaffen. Die Genossen stritten sich darüber, warum die Farbe ihres Autos nicht mit der Farbe ihrer Krawatte übereinstimme, und warum der eine nur einen sowjetischen Jeep, der andere aber einen Wolga fahren dürfe, berichtete uns der erste afghanische Botschafter der Demokratischen Republik Afghanistan in Bonn, Ing. Nazar Mohammad am 27. April 1979 während eines nichtöffentlichen Beisammenseins der Parteigruppe. [63] Viele Fachkräfte, die nicht der Partei angehörten, wurden nicht befördert oder gar ihrer Funktion enthoben und zum Teil in die Emigration getrieben. Entgegen den im Parteiprogramm formulierten Grundsätzen wurde ein breites Bündnis der national-demokratischen Kräfte nicht angestrebt. Zwar wurde mit der Hilfe von erfahrenen Politikern aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) Ende Dezember 1980 eine „Nationale Vaterländische Front“ (NVF) gebildet, jedoch blieben alle wichtige Funktionen bei der DVPA. Zum Beispiel wurde Saleh Mohammad Zeray, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der DVPA, ihr Präsident. [64] Auch bei den anderen gesellschaftlichen Organisationen, wie Gewerkschaften, Frauenverbänden, Genossenschaften und der Jugendorganisation, sah es nicht anders aus. Daher fühlten sich die Bündnispartner nicht ernst genommen und ließen sich nicht von der DVPA instrumentalisieren. Ihre Passivität hat die ohnehin schmale Basis der Revolution weiter minimiert.

Als Fehler mit besonders verhängnisvollen Konsequenzen erwies sich die Spaltung der Partei von 1967-1997, die kurz nach der Revolution zu einem erneuten Machtkampf der beiden Parteifraktionen innerhalb der DVPA führte. Zunächst wurde die Partscham-Fraktion unter Babrak Karmal schon im Juli / August 1978 entmachtet. Die führenden Persönlichkeiten wurden als Botschafter ins Ausland geschickt und später von ihren Posten entfernt, weil sie angeblich einen Putsch hätten organisieren wollen. Anschließend wurden sie auch aus der Partei ausgeschlossen. Der afghanische Botschafter in Bonn, Ing. Nazar Mohammad, der 1978 die DVPA auf dem DKP-Parteitag in Mannheim vertrat, verleumdete die Fraktion von Karmal mit folgenden Worten: „Sie haben das Haupt in den Reihen der Feinde der Revolution erhoben, an ihrer Spitze der Lakai des Imperialismus und des Adels, der afghanische Trotzki, Babrak Karmal, und eine begrenzte Anzahl anderer pseudorevolutionärer nationaler Verräter.“ [65] Es wurden auch tausende „einfache” Parteimitglieder verhaftet, gefoltert und in großer Zahl ermordet. Amin verfolgte jede Opposition innerhalb und ausserhalb der Partei, 2 500 DVPA-Mitglieder und weitere 12 000 Menschen wurden ermordet. Am 16. September 1979 ließ er auch ihren Generalsekretär Taraki ermorden. Amin sprach von der „Diktatur des Proletariats“ in Afghanistan, und jeder, der diese gefährdete, wurde eliminiert. In seinen Reden berief er sich unentwegt auf irgendwelche Aussagen von Lenin, die niemand überprüfen konnte. Damit instrumentalisierte er Lenin als Kronzeugen und Legitimation für seine persönliche Ambitionen und sektiererischen politischen Positionen. Amin verkörperte in sich sowohl Machiavelli als auch Pol Pot. Ihm hätten für den Aufbau des Sozialismus auch einige wenige Millionen Afghanen ausgereicht.

Taraki besaß keine Führungsqualitäten und war von Anfang an nicht in der Lage gewesen, die Partei zusammenzuhalten. Seine Neigung zum Personenkult wurde von Amin gnadenlos instrumentalisiert und gegen die Karmal-Anhänger und gegen Taraki selbst eingesetzt. „Nach der April-Revolution entfernte sich die Parteiführung leider vom Volk. Unrealistische Programme und Maßnahmen schufen eine Kluft zwischen der Führung und dem Volk. Die Volksmassen sahen keine Führung und die Parteiführung keine Masse hinter sich. Deshalb konnte der Gegner in dieser Kluft und in diesem Vakuum leicht sein Unwesen treiben.“ [66] Es entstand eine Klima der Angst, des Duckmäusertums und des Opportunismus. Alle Entscheidungen kamen von der sich selbst rekrutierenden Führung, und die Basis hatte so gut wie keinen Einfluß auf die Gestaltung der Politik und vor allem auf die Auswahl der Spitzenfunktionäre. Die Folge davon war dann, daß Personen in die Führung von Partei und Staat aufstiegen, die der Revolution den Todesstoß versetzen konnten.

V. Die Sowjetunion in der afghanische Falle

„Aber es hat uns auch neun Jahre gekostet, die polnische Solidarnosc-Bewegung zu unterstützen, und 1980 sah es absolut nicht so aus, als ob sie 1989 in Polen an die Macht kommen würde.“ [67] (James Woolsey, Ex-CIA-Chef)

Alle genannten Punkte zusammengenommen und die de facto weiter bestehende Spaltung der Partei führten zwangsläufig zur Stärkung der Konterrevolution. Ende 1979 war die Lage der Regierung so hoffnungslos, daß sowjetische Militärhilfe unumgänglich wurde, um zu verhindern, daß Afghanistan zu einem zweiten Chile (Militärputsch gegen die Regierung Allende am 11.9.1973) gemacht wurde. [68] Aus einer Mini-Revolution wurde eine Mega-Konterrevolution. Unmittelbar nach der Revolution begannen die konterrevolutionären Banden, die von den westlichen Politikern und Medien als Modjahedin (Heilige Krieger) bzw. sogar Freiheitskämpfer gefeiert wurden, mit ihrem erbitterten Kampf gegen die neue Regierung und versuchten mit allen Mitteln, die Reformen zu verhindern. Sie terrorisierten Politiker und Parteiaktivisten, die an der Umsetzung der Reformen unmittelbar beteiligt waren. Bevorzugt wurden Bildungseinrichtungen, vor allem Mädchenschulen, zerstört, die Lehrkräfte umgebracht und das Trinkwasser der Schulen vergiftet. Bis Ende 1362 [1983/84] wurden 1814 Schulen, das ist die Hälfte aller Schulen in Afghanistan, und 130 Krankenhäuser zerstört. [69] Der Gesamtschaden belief sich auf 35 Milliarden Afghani. Das entsprach etwa 50% der gesamten Investitionen des Landes in den letzten 20 Jahren. [70] Solange sie die afghanischen Kinder umbrachten, waren sie „Freiheitskämpfer“, heute, da sie sich gegen ihre einstigen Förderer wenden, sind sie zu Terroristen mutiert. Die Konterrevolutionäre verlagerten unmittelbar nach der Ausrufung der Republik 1973, verstärkt jedoch nach der Revolution 1978, ihre Zentralen nach Pakistan, wo sie zunächst in der Regierungszeit der sozialdemokratischen People Party Pakistans (PPP) unter Zulfiqar Ali Bhutto und seit dem Putsch am 5. Juli 1977 verstärkt unter dem islamistischen Diktator General Mohammad Zia Ul-Haq, ideologisch, propagandistisch und militärisch massiv unterstützt wurden. In der pakistanischen Nordwestfrontprovinz (NWFP) an der Grenze zu Afghanistan wurden 2500 Ausbildungslager für die afghanischen Konterrevolutionäre errichtet. „Die Existenz von Trainingslagern ist wohl nicht mehr ernsthaft zu bezweifeln, denn nicht nur kommunistische Quellen sprechen von ihnen. Die Aufständischen selber verweisen stolz auf amerikanische, chinesische und islamische Finanz-, Ausbildungs- und Waffenhilfe. Der große Plan scheint aber zumindest vorerst wegen der sowjetischen Einmischung undurchführbar geworden zu sein: über Kabul und anderen Städten, die noch als Stützpunkte der Regierung dienten, hätten in Laufe des Januars oder Februars mit Fallschirmen eine große Zahl von Rebellen abspringen sollen und dem verhaßten kommunistischen Regime endgültig den Garaus machen sollen. Woher die dazu benötigten Flugzeuge hätten kommen sollen, darüber schweigt man sich allerdings geflissentlich aus,“ [71] berichtete Mitte Januar 1980 die großbürgerliche Neue Zürcher Zeitung aus Peschawar. „Das ist nach Art. 3f) und g) der UN-Resolution 3314 vom 14.12.1974 (Definition der Aggression) eine eindeutige Aggressionshandlung, gegen die der afghanischen Regierung das Recht auf kollektive Selbstverteidigung im Verbund mit den sowjetischen Truppen zusteht. Nach Art. 3f) ist eine solche Aggressionshandlung‚ die Erlaubnis eines Staates, sein Territorium, das er einem anderen Staat zur Verfügung gestellt hat, durch diesen für Aggressionshandlungen gegen einen dritten Staat verwenden zu lassen’ und nach Art. 3g)‚ die Entsendung durch einen Staat oder im Namen eines Staates von bewaffneten Banden, Gruppen, Irregulären oder Söldnern, die bewaffnete Gewalt gegen einen anderen Staat von solcher Schwere anwenden, die den oben genannten Handlungen gleichkommt, oder die maßgebende Verwicklung dieses Staates darin.’ Danach sind alle Unterstützungshandlungen für die Organisierung des Bürgerkrieges in Afghanistan, wie sie von verschiedenen Staaten vom Boden Pakistans aus geleitet werden, ein Verstoß gegen das geltende Interventionsverbot des Völkerrechts. [...] Die von Pakistan aus militärisch operierenden Gruppen können sich auch nicht auf den Status einer Befreiungsbewegung berufen. [...] Der legitime Kampf der afghanischen Regierung gegen diese Gruppen umfaßt auch das Recht zur kollektiven Selbstverteidigung unter Zuhilfenahme befreundeter Truppen. Im Rahmen dieser Bitte um Entsendung von Truppen war die Sowjetunion völkerrechtlich legitimiert, der Bitte nachzukommen. [...] Die völkerrechtlichen Schlußfolgerungen sind eindeutig und klar. Sie würde es der afghanischen Regierung sogar gestatten, gegenüber Pakistan militärisch vorzugehen.“ [72] Bekanntlich hat die afghanische Regierung darauf verzichtet und eher auf eine politische Lösung des Konfliktes hingearbeitet.

Obwohl das Ersuchen der afghanischen Führung, zunächst unter Taraki später auch unter seinem Nachfolger H. Amin, um Militärhilfe der Sowjetunion in den bürgerliche Medien als Propaganda der afghanischen und vor allem der sowjetischen Regierung abgetan wurde, wissen wir nun seit Ende des Kalten Krieges, daß insgesamt 21 mal [73] von afghanischer Seite - u.a. in einem Telefongespräch am 18. März 1979 zwischen N. M. Taraki und dem Vorsitzenden des Ministerrates der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), Alexej N. Kossygin - die Sowjetunion um Hilfe gebeten worden ist. [74]

Übersicht [75]

Gesuche der afghanischen Regierung an die UdSSR um Militärhilfe und Truppenentsendung

 

1 17.03.79 Hilfe „zu lande und aus der Luft“
2 20.03.79 Kampfhubschrauber, Transporthubschrauber mit Besatzung, Nachrichtentechnik
  3 14.04.79 15-20 Kampfhubschrauber mit Besatzung
  4 16.06.79 Panzer und Schützenpanzer zum Schutz der Regierung
  5 11.07.79 Mehrere Specnaz-Verbände in Bataillonstärke
  6 12.07.79 Hubschrauberstaffel für Aufklärung
  7 19.07.79 Zwei Divisionen
  8 20.07.79 Eine Division Luftlandetruppen nach Kabul
  9 21.07.79 8-10 MIG-24 Hubschrauber mit Besatzung
10 24.07.79 Drei Armee-Einheiten nach Kabul
11 02.08.79 Schnellstmögliche Entsendung von Truppeneinheiten
12 12.08.79 Drei Specnaz-Bataillone, Transporthubschrauber mit Besatzung
13 21.08.79 1500-2000 Fallschirmspringer
14 25.08.79 Truppen nach Afghanistan entsenden
15 02.10.79 Wachbataillon zu Amins persönlichen Schutz
16 17.11.79 Wachbataillon zu Amins persönlichen Schutz
17 20.11.79 Wachbataillon für Amins persönlichen Schutz
18 02.12.79 Verstärktes Regiment in die Provinz Badachschan

 

19 04.12.79 Polizeieinheiten in die nördlichen Regionen Afghanistans
20 12.12.79 Garnisonen in die nördlichen Städte zum Schutz der Straßen
21 17.12.79 Garnisonen in die nördlichen Städte zum Schutz der Straßen

 

Mit dem sowjetischen Militärengagement seit dem 27.12.1979, basierend auf Art. 4 des afghanisch-sowjetischen Freundschaftsvertrages vom 5. 12. 1978 und Art. 51 der UN-Charta, gewann der innerafghanische Konflikt eine neue Qualität. Er wurde internationalisiert und zunächst verdeckt, später ganz offensichtlich von den meisten westlichen Ländern, einschließlich der BRD und ihrer regionalen Verbündeten vor Ort, geschürt. Alle afghanischen Konterrevolutionäre hatten in den westlichen Metropolen, u.a. auch in Bonn, ihre Verbindungbüros, die stillschweigend wie eine diplomatische Vertretung behandelt wurden, eröffnet. Durch diese Einrichtungen wurden Reisebegegnungen zwischen Modjahedin-Kommandanten und hochrangigen westlichen Politikern, Medienredakteuren, Geheimdienstlern, Wirtschaftsmanagern und Waffenlobbyisten sowie Rekruten für den Widerstand organisiert. Die Konterrevolutionäre wurden demonstrativ von BRD-Politikern, wie dem damaligen Niedersächsischen Ministerpräsidenten, Ernst Albrecht (CDU), dem Bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU), dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger, Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und sogar dem Vorsitzendem der Sozialdemokratischen Partei Willy Brandt empfangen. Bundeswehroffiziere wurden vom Dienst beurlaubt und dann als Privatpersonen getarnt zum Einsatz nach Afghanistan bzw. Pakistan geschickt, um die afghanischen Konterrevolutionäre auszubilden. [76] Der damalige Sprecher der CDU/ CSU Bundestagsfraktion, Jürgen Todenhöfer plädierte vehement für die Aus- und Aufrüstung der Konterrevolutionäre mit modernsten Waffen und motivierte vor Ort die Fanatiker zum Kämpfen und zur Zerstörung Afghanistans.

Norbert Blüm, Jürgen W. Möllemann und Todenhöfer marschierten in der ersten Reihe der Demonstration gegen Afghanistan und Sowjetunion; so wurden aus Hinterbänklern bekannte Politiker, die es dann zu Ministern bzw. bis zum Vizekanzler brachten. [77]

Hier soll noch auf zwei weitere Aspekte hingewiesen werden, die die sowjetische Intervention begünstigt haben: 1.) Babrak Karmal hielt sich nach seiner Entlassung von seinem Posten als Botschafter Afghanistans in Prag und nach dem Parteiausschluß in der Sowjetunion auf. Er hatte der sowjetischen Führung versprochen, die begangenen Fehler unter Taraki und Amin zu korrigieren, die Einheit der Partei wiederherzustellen und die Bevölkerung erneut für die Ziele der Revolution zu gewinnen, wenn die Sowjetunion ihm dabei helfen würde. 2.) Schon lange vor dem vom sozialdemokratischen BRD-Bundeskanzler Helmut Schmidt erfundenen sogenannte „Doppelbeschluß“ wurde in der NATO-Zentrale die Stationierung von US-amerikanischen Atomraketen „Cruise Missile“ und „Pershing II“ in Westeuropa debattiert. Die sowjetische Führung wartete die Ergebnisse der Verhandlungen ab. Als die Stationierung beschlossene Sache, und das internationale Klima vergiftet war, sollte zumindest ein Blutbad durch die Konterrevolutionären in Afghanistan, mit unabsehbaren Folgen an der Südgrenze der Sowjetunion, verhindert werden.

Unmittelbar nach der sowjetischen Intervention reiste KGB-Chef Jurij Andropow nach Kabul. Er wollte den afghanischen Revolutionären zwar helfen: „Politisch, ökonomisch, mit Waffenlieferungen unterstützen - ja, für die Afghanen kämpfen - nein“ [78] . Andropow hat der afghanischen Führung deutlich vorgetragen, daß die sowjetischen Einheiten „bis zum Frühjahr fertig zu werden“ [79] beabsichtigten, dann müßten die Afghanen selbst in der Lage sein, sich zu verteidigen. Karmal, der sich bei Großdemonstrationen in Kabul äußerlich wie Lenin kleidete und von sich sehr überzeugt war, konnte sein Versprechen nicht halten. Durch kosmetische Korrekturen konnten weder die zutiefst beleidigte und verletzte afghanische Bevölkerung und Intelligenz noch die bis aufs Blut verfeindeten, äußerst sektiererischen Parteifraktionen für die Ziele der Revolution gewonnen werden. Das Versagen der afghanischen Revolutionäre war unübersehbar geworden. Nun mußte die Sowjetunion für die unfähige afghanische Führung die Kohlen aus dem Feuer holen. „Der Eindruck war deprimierend. Immer tiefer rutschten wir in Afghanistan in einen politischen Sumpf. Aus ‘Helfern’ wurden wir zu Söldnern gemacht. Für wen und weshalb wird das Blut unserer Soldaten und das der Afghanen vergossen? Finden sich denn in ganz Afghanistan keine patriotisch gesinnten Menschen mit moderner Weltsicht, die imstande sind, mit uns zu sprechen, ohne sich in tiefen Bücklingen zu ergehen, und die nicht den Ausländern ihre eigenen Sorgen aufhalsen wollen?“ [80] , beschreibt der Diplomat Valentin Falin, Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU (1988-1991) seine Eindrücke von der letzten Begegnung des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), Leonid Breschnew, mit Babrak Karmal.

Die imperialistischen Länder waren hoch erfreut, die Sowjetunion in eine Falle gelockt zu haben, aus der sie schwer entkommen konnte. In seinen Memoiren gab der ehemalige CIA-Direktor Robert Gates, zu: „Die amerikanischen Geheimdienste haben den afghanischen Modjahedin sechs Monate vor der sowjetischen Intervention zu helfen begonnen.“ [81] Vom ehemaligen Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter (1977-1981), Zbigniew Brzezinski, wurde das auf Anfrage eines Journalisten von „Le Nouvel Observateur“ wie folgt bestätigt: „Ja. Nach der offiziellen Version der Geschichte hat die Hilfe der CIA an die Modjahedin angefangen im Laufe des Jahres 1980, d.h. nachdem die sowjetische Armee am 24. [sic!] Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert war. Aber die Realität, bis jetzt geheimgehalten, ist eine ganz andere. Es war tatsächlich der 3. Juli 1979, an dem Präsident Carter die erste Direktive über die geheime Unterstützung für die Opponenten des prosowjetischen Regimes in Kabul unterzeichnet hat. [82] Und an diesem Tag habe ich dem Präsidenten eine Notiz geschrieben, in der ich ihm erklärte, daß meiner Ansicht nach diese Hilfe eine militärische Intervention der Sowjets zur Folge haben würde.“ Er führt weiter aus: „Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren, aber wir haben die Möglichkeit, daß sie es tun, wissentlich erhöht.“ [83] Ab 1979 wurde gegen Afghanistan „die größte Geheimoperation in der Geschichte der CIA durchgeführt.“ [84] Es wurden unmittelbar unter der Regie des US-Geheimdienstes CIA und dessen pakistanischer Bruderorganisation Inter Service Intelligence (ISI) etwa 35 000 radikale Islamisten aus 40 islamischen Ländern [85] zu schlagkräftigen, bewaffneten Organisationen umstrukturiert und auf Afghanistan losgelassen. [86] Über 100 000 Islamisten wurden direkt von dem Krieg gegen Afghanistan beeinflußt. [87] Es wurden Propagandisten, wie der blinde ägyptische Prediger, Abdul Rahman, der 1993 das World Trade Center in die Luft sprengen wollte und immer noch in US-Haft sitzt, sowie der Al Qaida Chef Osama Ben Laden, mit Hilfe der CIA nach Afghanistan gebracht. Der Führer der Islamischen Partei, Gulbudin Hekmatjar, „der Mann, der für alle wichtigen Geheimdienste dieser Welt arbeitete, der Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen hat,“ [88] war der Favorit von CIA/ ISI unter allen sieben aus Pakistan operierenden islamischen Gruppen. Die CIA hat die afghanische Konterrevolution im Rechnungsjahr 1985 „mit der Rekordsumme von 250 Millionen Dollar“ [89] unterstützt. Dies machte „über 80 Prozent des CIA-Budgets für geheime Operationen aus,“ [90] das der CIA für weltweite Wühltaten zur Verfügung stand. Dem „Spiegel“ zu Folge sind die Islamisten in den ersten zehn Jahren des Bürgerkrieges in Afghanistan offiziell mit „mehr als zwei Milliarden US-Dollar hochgerüstet worden.“ [91] Der Löwenanteil dieser für das afghanische Volk todbringenden Hilfe, nämlich „60 Prozent der jährlich bis zu 700 Millionen Dollar US-Hilfe für den afghanischen Widerstand“, [92] ging bis Ende 1991 über ISI an G. Hekmatjar. [93] Die einzige Modjahedin-Gruppe, die mehr als 1000 US-amerikanische Stinger-Raketen und 300 britische Blowpipes erhielt, die zuvor nur an NATO-Länder geliefert wurden, war die Islamische Partei von Hekmatjar. [94] Diese tragbare Raketen können, von der Schulter abgefeuert, ihre Ziele automatisch verfolgen. Dadurch wurden nicht nur Militär-, sondern auch zahlreiche Zivilflugzeuge abgeschossen.

Dieser umfangreiche und vielfältige Einsatz der USA und ihrer Verbündeten gegen die afghanische Revolution hing mit der geostrategischen Lage des Landes, unmittelbar an der sowjetischen und iranischen Grenze und nur einen Katzensprung entfernt von den Ölreichtümern des Nahen Ostens, zusammen. Afghanistan durfte keinesfalls Schule machen. Ansonsten würden die Herrscher der gesamten Region, angefangen von dem engsten Verbündeten der USA in Iran bis hin zu den despotischen arabischen Potentaten, von revolutionären Stürmen hinweggefegt werden. Die iranische Februar-Revolution 1979 war dafür ein Paradebeispiel, bei welcher der Schah von Iran, einer der mächtigsten Herrscher der Region und neben dem NATO-Partner Türkei der wichtigste Verbündete der westlichen Welt, vertrieben wurde. Die USA wurden daraufhin gezwungen, ihre Spionagestationen von der iranisch-sowjetischen Grenze in die Türkei zu verlegen, ihre rund 40 000 Militärberater abzuziehen und den Sitz der regionalen Zentrale der CIA in Teheran zu schließen. [95] Wenn schon der afghanische Monarch es abgelehnt hatte, die Wirtschaftshilfe der USA, die von einem Beitritt Afghanistans zum Militärpakt CENTO abhängig gemacht wurde, unter diesen Bedingungen anzunehmen, würde eine revolutionäre Regierung das Land niemals unter ein Diktat der USA stellen. Afghanistan, Mitbegründer der Blockfreien Bewegung, berief sich auf die Neutralität seiner Außenpolitik, die jedoch im Rahmen der „Dulles-Doktrin“ [96] für unmoralisch erklärt wurde. 88  Die Außenpolitik Afghanistans stand, zumindest in diesem Punkt, in diametralem Gegensatz zur US-Asien-Strategie. [97] „Es [Afghanistan] ragte daher wie ein Keil in den Gürtel der mit dem Westen verbündeten Staaten hinein, die an der sowjetischen Südflanke liegen,“ [98] hob der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Günter Nollau, hervor.

Sowohl die afghanischen Konterrevolutionäre als auch ihre Unterstützer in den westlichen Medien behaupteten, es handele sich hier um eine nationale Widerstandsbewegung, die ihre Waffen von der afghanischen Armee erbeute. Diese Lügen wurden entlarvt, als der damalige ägyptische Präsident Anwar Al Sadat im ägyptischen Fernsehen Waffenlieferungen an die afghanischen Konterrevolutionäre zugab. [99] In einem Interview mit der US-Fernsehgesellschaft NBC bestätigte Sadat dann ägyptische Waffenverkäufe an die USA unter der Präsidentschaft Jimmy Carters, die dann die Ausrüstung an die afghanische Konterrevolution weitergaben. „Ich habe mein Lager für sie [die USA] geöffnet. Doch sie waren sehr großzügig“ [100] , betonte Sadat. Die FAZ war sehr verärgert über „das Lüften eines Geheimnisses“ durch Sadat, das sie als „Prahlerei“ und „Geschwätzigkeit“ abtat und weiter fragte: „Aber muß er darüber reden, sich damit brüsten? Bestimmte Dinge tut man, aber schweigt darüber.“ [101] Diese Enthüllungen Sadats brachten das westliche Lager zu Beginn einer Afghanistan-Debatte in der UNO in Bedrängnis: „Die Russen können nun Sadat als Kronzeugen für ihre These anführen, der Bürgerkrieg in Afghanistan wäre längst zu Ende, wenn er nicht von außen immer wieder angefacht würde“ [102] .

Die westlichen Medien, die den Konterrevolutionären propagandistisch zu Hilfe eilten, verbreiteten gezielt präparierte Meldungen über die Lage in und um Afghanistan. „Jeden Dienstag erhalten Journalisten in Neu-Delhi und Islamabad ein ‚Briefing’, wie eine Unterrichtung heutzutage heißt, ‘aus diplomatischen Kreisen’. Tatsächlich handelt es sich wohl um einen Veranstaltung des amerikanischen Geheimdienstes, der auf diese Weise ausgewählte Informationen an die Öffentlichkeit gelangen läßt. Niemand ist in der Lage, solche Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Ein unbefriedigendes Verfahren, das nun schon Jahre immer gleich abläuft, ohne daß bisher eine westliche Nachrichtenagentur gewagt hätte, sich dieser fragwürdigen Prozedur zu entziehen.“ [103] Aber genau die Zeitung, der diese entlarvenden Äußerungen entnommen sind, war selbst seit Jahren in gleicher Art und Weise an der Verbreitung von Unwahrheiten gegen Afghanistan beteiligt und hat dies trotz dieser Erkenntnis auch weiterhin fortgesetzt.

 Afghanistan: Gorbatschows erstes Geschenk an den Westen

„Das Ziel meines ganzen Lebens war die Vernichtung des Kommunismus.“ [104] (Michail Gorbatschow).

Von der Umorientierung der sowjetischen Außenpolitik [105] unter Präsident Michail Gorbatschow blieb auch der Afghanistan-Konflikt nicht unberührt. Babrak Karmal, der mit dem Eintreffen des sowjetischen Militärkontingentes und mit der Beseitigung des Terrorregimes von H. Amin an die Spitze von Partei und Staat getreten war, der als Garant der Einheit der Partei und für die Versöhnung mit dem von Amin verfolgten Teil des Volkes galt, wurde nunmehr als Hemmnis für die Lösung des Konfliktes in und um Afghanistan angesehen. Am 5. Mai 1986 wurde er als Generalsekretär der DVPA und am 21. November desselben Jahres von all seinen anderen Funktionen entbunden. An seiner Stelle wurde der Favorit von Michail Gorbatschow, Dr. Nadjibullah, zuvor Präsident des Staatlichen Nachrichtendienstes ChAD, zum Vorsitzenden des Revolutionsrates und zum Generalsekretär der DVPA gewählt. Auf dem zweiten Parteitag der DVPA im Juli 1990 wurde die DVPA sozialdemokratisiert, entideologisiert und in Hesbe Watan (Partei der Heimat) umbenannt. Dies war die Konzeption Gorbatschows für die KPdSU, [106] die auch in Afghanistan umgesetzt worden ist. Damit war den rechten Opportunisten in der Partei der endgültige Durchbruch gelungen. Alle wesentlichen Ziele der Revolution wurden aufgegeben. Es ging nur noch um den reinen Machterhalt.

In einem zweiten Schritt wurde der Abzug der sowjetischen Armee aus Afghanistan angeordnet, der am 15. 2. 1989 abgeschlossen wurde. Aufgrund dieser neu entstandenen Situation glaubten die Konterrevolutionäre und ihre internationalen Auftraggeber, ihre Stunde wäre gekommen, die nun allein stehende afghanische Armee besiegen und damit die so ungeliebte Regierung in Kabul hinwegfegen zu können. „Nadjibullah würde sich ohne sowjetische Armee keine vier Wochen an der Macht halten können“, so lauteten die Prognosen der internationalen Presseagenturen. „Die Mudschahedin ‘kontrollieren’ große Teile des Landes, waren aber bisher nicht in der Lage, auch nur eine einzige bedeutende Stadt in Afghanistan zu erobern. Die im pakistanischen Exil von Peshawar gebildete ‘Afghanische Interims-Regierung’ der sieben wichtigsten Mudschahedin-Parteien konnte daher nicht ihren Sitz in Afghanistan nehmen. Die Autorität dieser ‘Regierung’ schwindet von Monat zu Monat. [...] Von den Machenschaften der Politiker in der Etappe zunehmend angewidert, haben viele Mudschahedin-Kommandeure in Afghanistan damit begonnen, in den von ihnen beherrschten Gebieten eigene Verwaltungen aufzubauen und sich um die Exil-Politiker in Peshawar nicht mehr zu scheren.“ [107]

Hätten die Konterrevolutionäre ihren „Regierungssitz“ nach Afghanistan verlegen können, wären sie zumindest von den westlichen Staaten und ihren regionalen Verbündeten international anerkannt worden - mit allen völkerrechtlichen Konsequenzen. Dazu waren sie offensichtlich nicht in der Lage. Im Gegenteil, bei ihrer groß angelegten Offensive zur Eroberung der ostafghanischen Provinzhauptstadt Djalal Abad im März 1989, an der mindestens 20.000 Mann teilnahmen, obwohl „mit Panzern, schwerer Artillerie und Raketenwerfern“ ausgerüstet und „unterstützt von arabischen Freiwilligen, angeleitet vom pakistanischen Geheimdienst“ [108] , waren sie vernichtend geschlagen worden und auch weitere Großangriffe gegen Kabul (Anfang Oktober 1990), gegen die Stadt Chost in der Provinz Paktia (März 1991) und nochmals gegen Djalal Abad (Ende Juli 1991) scheiterten kläglich. [109]

Um diese verhängnisvolle Situation zu beenden und dem UN-Plan zur politischen Lösung des Konfliktes zum Erfolg zu verhelfen, [110] stellte Präsident Nadjibullah sein Amt zur Disposition und erklärte seine Bereitschaft, das Land zu verlassen. Als Teile der Partei-, der Staats- und der Armeefunktionäre seine Weisungen nicht mehr befolgten - hier sei die Parteigruppe um Außenminister Abdul Wakil, Mahmud Barialei (Bruder von B. Karmal) und der Milizenführer Abdul Raschid Dostum hervorgehoben - und ihn an der Ausreise hinderten, flüchtete er in die Kabuler UN-Vertretung, wo er bis zu seiner Ermordung durch die Taleban im September 1996 lebte. Die inner-afghanische Ursache des Scheiterns der Politik von Nadjibullah lag darin, daß er es nicht vermocht hatte, die verschiedenen Fraktionen der Partei zu einen; ganz im Gegenteil, fast jedes Politbüro-Mitglied der Partei hatte seine eigene Clique bzw. Fraktion gebildet. Dieser Zustand untergrub die Autorität des Präsidenten sowohl bei der Armee als auch bei der Volksmiliz. Der bewaffnete Aufstand des Verteidigungsministers Schah Nawas Tani in Zusammenarbeit mit Teilen der Parteiführung [111] gegen Nadjibullah am 6. März 1990, der jedoch niedergeschlagen wurde, macht die Qualität der Krise und die Tragik der Politik der DVPA-Führung deutlich. Als Nadjibullah seinen besten Milizenführer General Abdul Raschid Dostum brüskierte, in dem er dessen Stellvertreter, General Mohmen, durch den aus Paktia (Heimatprovinz von Nadjibullah) stammenden Paschtunen, General Abdul Satar, ersetzte, verlor er weiteren, entscheidenden Rückhalt in der Armee. Damit war sein Schicksal besiegelt.

 Die Kapitulation der Führung der Hesbe Watan

Die neue Führung um Außenminister A. Wakil, Nadjmudin Kawiani, Farid Masdak (alle drei waren Mitglieder des Politbüros) und Nadjibullahs früherem Stellvertreter und Nachfolger Abdul Rahim Hatef hatte beschlossen, die Macht an die Konterrevolutionäre zu übertragen. [112] So geschah es auch am 27. April 1992, genau am Tag des Sieges der Aprilrevolution von 1978, nachdem ihnen die Stadt Kabul kampflos und nahezu unzerstört überlassen worden war. Bei diesem Komplott zwischen der genannten Personengruppe und der Konterrevolution ging es um die Rettung ihrer eigenen Person und ihres Besitzes. Daraufhin wurde Sebghatullah Modjadedi, der Exil-Präsident der Konterrevolutionäre, erster Präsident des Islamischen Staates Afghanistan.

Die afghanische Führung, insgesamt 95 Personen, verließ in einem Flugzeug von Kabul aus das Land. Seitdem tun diese ehemals hohen Funktionäre so, als ob sie mit der ganzen Angelegenheit, dem ganzen politischen Schlamassel, der in Afghanistan in all den Jahren angerichtet worden ist, nichts zu tun hätten. Aus Angst vor den vielen Fragen von Tausenden aufrechten Mitgliedern, wurde kein Parteitag einberufen, wo Rechenschaft abgelegt, die Fehler analysiert und eine neue Führung hätte gewählt werden können. Die Parteimitglieder wurden zurückgelassen wie Waisenkinder und zersplitterten sich in alle Himmelsrichtungen, in Dutzende Räte, Kulturvereine und Gruppen, ohne nennenswerte politische Bedeutung. Das ist historisches Versagen, ein verantwortungsloses Verhalten, wenn nicht Verbrechen der Führung der DVPA (bzw. Hesbe Watan) vor den Parteimitgliedern und vor dem afghanischen Volk, das nicht wieder gut zu machen ist. Es gibt kaum eine Familie in Afghanistan, die keine Opfer zu beklagen hat. Aber nicht die Familien der Partei- und Staatsführung. Während einfache ehrenhafte Mitglieder und Söhne des einfachen Volkes im Kampf für die Verteidigung der Revolution ihr Leben gaben, wurden die Söhne, Töchter und Verwandten der hohen Funktionäre mit Staatsstipendien zum Studium ins Ausland geschickt, die dann später die entsprechenden Ämter übernahmen. Mir ist nicht bekannt, daß jemand von ihnen heute gegen die imperialistischen Besatzer Afghanistans, zumindest auch nur verbal kämpfen würde.

In einem Rundschreiben an ihre Mitglieder wurde durch die Leitung der Parteigruppe für die Bundesrepublik sogar jegliche Diskussion über die Parteipolitik untersagt. [113] Bei meinen vielfältigen persönlichen Gesprächen mit Führungsmitgliedern der Partei wurde das Scheitern der Revolution den Sowjets in die Schuhe geschoben. Daß die sowjetischen Berater jedoch zum größten Teil die Aufgaben für die Afghanen zu erledigen hatten, ist nur ein weiterer Beweis für die Unfähigkeit und das Versagen der afghanischen Parteiführung.

Nach dieser Kapitulation der Führung der Hezbe Watan und der Machtübertragung an die Konterrevolutionäre gelang es ihnen wegen der Priorität eigener politischer und ökonomischer Interessen jedoch nicht, das Land gemeinsam zu regieren. Der vom Volk so heiß ersehnte Frieden kehrte infolgedessen mit dieser Machtübertragung nicht zurück. Im Gegenteil, der Krieg wurde im wahrsten Sinne des Wortes gegen das afghanische Volk und unter den Islamisten selbst mit einer nie da gewesenen Brutalität fortgesetzt. Die Weltöffentlichkeit hat dies kaum wahrgenommen, aber „die letzten Nachrichten aus der afghanischen Hauptstadt Kabul lassen selbst den Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina beinahe als harmlosen Konflikt erscheinen: 3000 bis 4000 Tote [114] , 200.000 Flüchtlinge, eine Stadt ohne Wasser, Strom und Lebensmittel.“ [115] Die großen Städte, darunter Kabul, wurden in Schutt und Asche gelegt. Beobachter sprachen gar von der Einäscherung Kabuls. [116] Was von ihr noch übrig geblieben war, wurde in sechs Einflußbereiche der verschiedenen Islamisten zerlegt, die Grenzen der Einflußbereiche vermint und die Stadt bombardiert, bis nur noch Ruinen übrig waren. [117] Die Bevölkerung stand diesen Geschehnissen macht- und fassungslos gegenüber und konnte nicht verstehen, warum ausgerechnet die glühenden Verteidiger des angeblich zuvor so gefährdeten Islam nun gegen einander Krieg führten, mit allen Folgen für die Zivilbevölkerung.

Die Islamisten registrierten dies und befürchteten, ihren Einfluß und ihre Autorität bei der Bevölkerung ganz zu verlieren und sich somit zu isolieren. Die „Islamische Karte“ stach nicht mehr, was die Konterrevolutionäre bewog, jetzt auf die „Nationalitäten-Karte“ zu setzen. Aber sie führte ebenfalls in die Sackgasse, denn der Krieg ging unvermindert weiter, nun unter der Flagge des Stammes bzw. der Volksgruppe, jedoch ohne Perspektive und ohne der Erfüllung des Auftrages näher zu kommen, der den Konterrevolutionären seitens ihrer internationalen Mentoren übertragen worden war: Die völlige Kontrolle über das Land zu erreichen, und sei es in Form einer „Friedhofsruhe“, die eine Öffnung der Handelswege von Pakistan nach Mittelasien ermöglichen würde. Dieses historische Versagen der Islamisten stand im Widerspruch zu den politisch-ökonomisch und strategischen Interessen ihrer ausländischen Auftraggeber. Denn nach deren Auffassung sollte ein mit den USA und Pakistan eng kooperierendes Regime in Afghanistan, stabile politische Verhältnisse schaffen, um die Konzeption des US- und des pakistanischen Kapitals in der Region des Mittleren Ostens - insbesondere in den mittelasiatischen Republiken - zu realisieren. Damit war die Geburtsstunde für die Taleban gekommen, deren Geburtshelfer die USA waren.

VIII. Schlußfolgerungen

Die Geschichte der afghanischen Revolution und ihres Scheiterns ist nüchtern zu analysieren und entsprechende Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Ansonsten besteht die Gefahr, daß bei einem neuen Anlauf zum Sozialismus die begangenen Fehler wiederholt werden könnten. Damit wären die Millionen an menschlichen Opfern und die Milliarden an materiellen Verlusten umsonst gewesen. Aus Fehlern wären dann Verbrechen geworden. „In jeder Revolution geschehen unvermeidlich eine Menge Dummheiten, gerade wie zu jeder andern Zeit, und wenn man sich endlich wieder Ruhe genug gesammelt hat, um kritikfähig zu sein, so kommt man notwendig zum Schluß: Wir haben so viel getan, was wir besser unterlassen hätten, und wir haben so viel unterlassen, was wir besser getan hätten, und deswegen ging die Sache schief.“ [118] Die „Dummheiten“, die die afghanische Partei im Verlaufe ihrer Revolution gemacht hat, übertreffen sicherlich bei weitem solche, an die Friedrich Engels damals gedacht haben könnte.

„Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte“ [119] , stellte Karl Marx in seiner Analyse „Die Klassenkämpfe in Frankreich“ fest. Die Konterrevolutionen sind auch Lokomotiven, nur in umgekehrter Richtung, das afghanische Beispiel führt es uns deutlich vor Augen. Afghanistan machte einen Umweg über Berge von Leichen und grenzenlose Zerstörung vom Feudalismus zum Klerikal-Feudalismus mit mafiosen Strukturen, verlor dabei seine politische und nationale Souveränität und wurde zum Protektorat des internationalen Imperialismus, unter der Führung der USA.

Die DVPA war keine revolutionäre Partei, dafür fehlten ihr alle Voraussetzungen, sowohl fundiertes ideologisches Wissen als auch kampferfahrene Kader. Sie war eher eine kleinbürgerliche, in Teilen nationalistische Partei. Die afghanische Revolution hätte eine so erfahrene und gebildete Partei gebraucht, wie es die Tudeh-Partei Irans war.

Die Frauen, zunächst Gewinner der Revolution, waren schließlich nach ihrem Scheitern die Hauptverliererinnen. Sowohl aus ideologischen Gründen, aber auch aus Not - da die Männer für den Kampf gebraucht wurden - erhielten sie eine gute Ausbildung und damit zum ersten Mal in der afghanischen Geschichte Aufstiegschancen in der Berufswelt und im öffentlichen Leben. Die Handelsbourgeoisie hat in allen Phasen der Revolution sowie in den Jahren des Bürgerkrieges bei der Wareneinfuhr eine wichtige Rolle gespielt und damit für die Versorgung gesorgt; sie wurde gefördert und militärisch geschützt. Man kann sogar sagen, daß sie die eigentliche Gewinnerin der Revolution war.

XI. Thesen

Zum Schluß sollen einige Thesen formuliert und zur Diskussion gestellt werden: Die nationaldemokratischen Parteien im Allgemeinen und die DVPA im Besonderen hatten Angst davor, im Verlaufe des revolutionären Prozesses die Macht zu verlieren. Daher haben sie nach der Regierungsübernahme, entgegen ihren Programmen, auf ihrem Machtmonopol bestanden. Bürgerliche Kräfte, aber auch linksorientierte Bewegungen wie die Maoisten, die heute in Afghanistan sogar mit der US-Marionette Abdul Hamid Karsai zusammenarbeiten, wurden von der Mitarbeit ausgeschlossen. Die DVPA erhob den Anspruch, das Wahrheitsmonopol gepachtet zu haben. Ein Wettstreit um die besten politischen Ideen und Initiativen wurde nicht nur verhindert, sondern mögliche Verbündete sogar als Gegner der Revolution verfolgt.

Marxistisch orientierte Kräfte oder solche, die den Anspruch erheben, marxistisch zu sein, sollten auf das Führungsmonopol in der Phase der nationaldemokratischen Revolution verzichten. Eine solche Führungsfähigkeit ist erst durch entsprechenden Kampf im Laufe der Zeit zu erringen. Ansonsten wird dem Voluntarismus, Sektierertum und der Ignoranz Tür und Tor geöffnet, was zur Niederlage der Revolution und darüber hinaus zur unvermeidlichen Katastrophe für das Volk führen muß, wie am Beispiel Afghanistans in erschreckender Weise deutlich wurde.

Was spricht dagegen, auch im Kampf auf dem Wege zum Sozialismus, zwei Parteien zu haben, die für dieselbe Idee kämpfen, z.B. eine sozialistische und eine kommunistische? Die bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften haben nachweislich gute Erfahrungen damit gemacht.

Marx und Lenin irrten, indem sie die Gewaltenteilung im Sozialismus ablehnten [120] , für die Periode der Nationaldemokratischen Revolution wäre ein solcher Verzicht völlig kontraproduktiv, da die gesellschaftlichen Verhältnisse noch weiter von feudalen, patriarchalischen und tribalen Strukturen geprägt sind. Auch und gerade in dieser Situation wäre die Gewaltenteilung einer von vielen notwendigen Schritten zur Demokratisierung der Gesellschaft.

Die Trennung von Staat und Partei ist m.E. eine unverzichtbare Notwendigkeit, um Machtmißbrauch und Fehlentwicklungen vorzubeugen. In Staat und Verwaltung sollten nicht Parteifunktionäre, sondern ausgebildete Fachkräfte tätig sein, die Partei in konzeptioneller und beratender Funktion. Als ich diesen Vorschlag bezüglich Afghanistan schon 1979 in einer Redaktionssitzung des Antiimperialistischen Informationsbulletins (AIB) unterbreitete, bemerkte ein gerade von einer politischen Reise aus Kabul zurückgekehrter Redakteur: „Sei froh, daß Du diese Idee nicht in Afghanistan vorgetragen hast. Das hätte Dich den Kopf gekostet“.

Das Prinzip des demokratischen Zentralismus als Organisationsprinzip der revolutionären Arbeiterpartei, das das einheitliche Handeln aller Mitglieder und die Durchführung der von der Leitung gefaßten Beschlüsse gewährleistet, wurde sträflich mißachtet bzw. teilweise mißbraucht. Dem Zentralismus wurde gegenüber der Demokratie Vorrang geben und damit die Mehrheit der Parteimitglieder zum bloßen Befehlsempfänger degradiert. Es muß künftig unbedingt beachtet werden, daß es eine Balance gibt; daher sollte es besser mehr Demokratie als Zentralismus geben, um möglichen Machtmißbrauch zu vermeiden.

Einer grundsätzlich neuen Theorie der NKEW für die in Unterentwicklung gehaltenen Völker bedarf es nicht. Weder sollte auf die wichtigsten Elemente dieser Theorie verzichtet, noch dürfen sie ignoriert oder wesentliche Etappen übersprungen werden. Die Theorie der NKEW ist bisher noch nicht einmal ansatzweise umgesetzt worden. Daher behalten m.E. die allgemeinen Aussagen dieser Theorie auch weiterhin ihre Gültigkeit, wenn sie im einzelnen auch der heute gegebenen Situation angepaßt werden müssen. Denn die wichtigsten natürlichen Verbündeten der Länder der NKEW waren die sozialistischen Länder, die heute nicht mehr existieren. Auf die Notwendigkeit einer solchen Unterstützung durch fortschrittliche Länder hatten schon die Klassiker des Marxismus hingewiesen. Die VR China heute als sozialistisches Land und damit als Verbündeten einer nationaldemokratischen Revolution anzusehen, wäre eine fatale Illusion.

Wir müssen zurück zu Marx und nicht zu Lenin. Denn Lenin ging von einer Möglichkeit des sozialistischen Aufbaus in einem Land aus, was heute angesichts der totalen Beherrschung der Welt durch den aggressiven Imperialismus nicht möglich ist. Es wird jeder Ansatz zum NKEW im Keim erstickt werden. Während Marx von einer revolutionären Bewegung in Europa ausging, also im Zentrum des Kapitalismus. Unter derzeitigen Bedingungen muß der Kapitalismus in seinem Herz getroffen und seine tragenden Säulen erschüttert werden, möglicherweise flankiert aus den Peripherien. „Der Weltimperialismus muß fallen, wenn der revolutionäre Ansturm der ausgebeuteten und unterjochten Arbeiter im Innern jedes Landes den Widerstand der kleinbürgerlichen Elemente und den Einfluß der wenig zahlreichen Oberschichten der Arbeiteraristokratie besiegt, sich mit dem revolutionären Druck von Hunderten von Millionen der Menschheit vereinigt, die bisher außerhalb der Geschichte standen, nur als Objekt betrachtet wurden“ 113 stellt Lenin in seinem Bericht auf dem zweiten Kongreß der Komintern am 19. Juli 1920 in Moskau fest.

Trotz des jetzigen Widerstandes gegen die Besetzungen und die Besatzungsmächte, wie in Afghanistan und Irak, haben die in Unterentwicklung gehaltenen Länder alleine keine Chance, die Konzeption der NKEW umzusetzen. Ob über die Restauration des Kapitalismus, wie in der VR China, Vietnam, Laos, Kampuchea, oder durch den Umweg über den kapitalistischen Entwicklungsweg, wie in Angola oder Moçambique, der Übergang zum Sozialismus führen kann, wird die Zukunft erweisen.

Mit der Vorstellung dieser Thesen erhoffe und wünsche ich mir, eine produktive Diskussion über das Thema der Möglichkeit einer „Nichtkapitalistischen Entwicklung“ angestoßen zu haben.

113 Der zweite Kongreß der Kommunist. Internationale, a.a.O., S.38

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Eine Preisfrage. - Wo mag das wohl stehen?

 

Es könnte scheinen: die marxistisch-leninistische Theorie gemeistert zu haben bedeute, einzelne Schlußfolgerungen und Leitsätze aus den Werken von Marx-Engels-Lenin gewissenhaft auswendig lernen, um sie zur rechten Zeit zu zitieren, und sich damit zufrieden zugeben in der Hoffnung, daß die auswendig gelernten Schlußfolgerungen und Leitsätze für jede Situation, für alle Wechselfälle des Lebens tauglich seien. Aber ein solches Herangehen an die marxistisch-leninistische Theorie ist völlig unrichtig. Man darf die marxistisch-leninistische Theorie nicht als eine Urkundensammlung, als einen Katechismus, als eine Glaubensformel betrachten, noch die Marxisten selbst als Wortklauber und Schriftgelehrte. Die marxistisch-leninistische Theorie ist die Wissenschaft von der Entwicklung der Gesellschaft, die Wissenschaft von der Arbeiterbewegung, die Wissenschaft vom Aufbau der kommunistischen Gesellschaft. Als Wissenschaft bleibt sie nicht auf einer Stelle stehen und kann es auch nicht, sie entwickelt sich und vervollkommnet sich. Es ist verständlich, daß sie sich in ihrer Entwicklung durch neue Erfahrungen, durch neues Wissen bereichern muß, daß ihre einzelnen Leitsätze und Schlußfolgerungen sich im Laufe der Zeit ändern müssen, daß diese notwendig durch neue, den neuen historischen Verhältnissen entsprechende Schlußfolgerungen und Leitsätze ersetzt werden müssen.

Die marxistisch-leninistische Theorie meistern bedeutet durchaus nicht, alle ihre Formeln und Schlußfolgerungen auswendig zu lernen und sich an jeden Buchstaben dieser Formeln und Schlußfolgerungen zu klammern. Um die marxistisch-leninistische Theorie zu meistern, muß man vor allem lernen, zwischen ihrem Buchstaben und ihrem Geist zu unterscheiden. ...

Die marxistisch-leninistische Theorie meistern, heißt verstehen, diese Theorie durch die neuen Erfahrungen der revolutionären Bewegung zu bereichern; sie durch neue Leitsätze und Schlußfolgerungen zu entwickeln und weiterzuführen, und nicht davor zurückzuschrecken, ausgehend vom Wesen der Theorie einzelne ihrer Lehrsätze und Schlußfolgerungen, die bereits veraltet sind, durch neue, der neuen historischen Situation entsprechende Leitsätze und Schlußfolgerungen zu ersetzen. ...

Opportunismus bedeutet nicht immer die direkte Verneinung der marxistischen Theorie oder ihrer einzelnen Leitsätze oder Schlußfolgerungen. Der Opportunismus äußert sich mitunter auch in Versuchen, sich an einzelne, bereits überholte Leitsätze des Marxismus zu klammern, sie in Dogmen zu verwandeln, um dadurch die Weiterentwicklung des Marxismus aufzuhalten ..

„Unsere Lehre ist kein Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln“ - das betonten Marx und Engels ständig, wobei sie sich mit vollem Recht über das Einochsen und einfache Wiederholen von ‘Formeln’ lustig machten, die bestenfalls geeignet waren, die allgemeinen Aufgaben vorzuzeichnen, die durch die konkrete ökonomische und politische Situation in jedem besonderen Zeitabschnitt des geschichtlichen Prozesses notwendig modifiziert werden ... Es gilt, sich die unbestreitbare Wahrheit zu eigen zu machen, daß der Marxist mit dem lebendigen Leben, mit den exakten Tatsachen der Wirklichkeit rechnen muß, statt sich an die Theorie von gestern zu klammern.“

Die Geschichte unserer Partei lehrt weiter, daß die Partei ihre Rolle als Führer der Arbeiterklasse nicht erfüllen kann, wenn sie, von Erfolgen berauscht, überheblich zu werden beginnt, wenn sie aufhört, die Mängel ihrer Arbeit zu bemerken, wenn sie sich fürchtet, ihre Fehler einzugestehen, sich fürchtet, diese rechtzeitig offen und ehrlich zu korrigieren ...

Die Partei geht zugrunde, wenn sie ihre Fehler verheimlicht, wunde Punkte vertuscht, ihre Unzulänglichkeiten bemäntelt, indem sie ein falsche Bild wohlgeordneter Zustände zur Schau stellt, wenn sie keine Kritik und Selbstkritik duldet, sich von dem Gefühl der Selbstzufriedenheit durchdringen läßt und auf ihren Lorbeeren auszuruhen beginnt. ..

Schließlich lehrt die Geschichte der Partei, daß die Partei der Arbeiterklasse ... ohne die Fähigkeit, auf die Stimme der Masse zu lauschen und ihre brennenden Nöte zu verstehen, ohne die Bereitschaft, nicht nur die Massen zu belehren, sondern auch von ihnen zu lernen, keine wirkliche Massenpartei sein kann ...

Die Partei geht zugrunde, wenn sie sich in ihrem eng parteilichen Gehäuse abkapselt, wenn sie sich von den Massen loslöst, wenn sie sich mit einer bürokratischen Kruste bedeckt.

      Antwort auf die „Preisfrage“  


 

Rechtsfragen des Potsdamer Abkommens.

Zur Überwindung des Faschismus (Forsetzung von Heft 1/06, S. 64)

von Erich Buchholz

 

II.

Im Potsdamer Abkommen wurden Vereinbarungen über verschiedene Gegenstände getroffen, darunter - in Durchführung der Krim-Konferenz nach der Besetzung ganz Deutschlands durch die Alliierten Armeen - über Deutschland (III.), über Kriegsverbrecher (VII) und über die ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile (XIII).

Zu den substantiellen Bestimmungen des Potsdamer Abkommens gehört das absolute Verbot der Nazipartei und ihrer Gliederungen, sowie das Verbot einer Wiederauferstehung einer solchen.

Unter III A 3 (III) heißt es: „Die nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen Gliederungen und Unterorganisation ist zu vernichten; alle nationalsozialistischen Ämter sind aufzulösen; es sind Sicherheiten dafür zu schaffen, daß sie in keiner Form wieder auferstehen können; jeder nazistischen und militaristischen Betätigungen und Propaganda ist vorzubeugen “ (Hervorgehoben von mir).

Dazugehört auch, wie unter Ziff. 6 bestimmt: „Alle Mitglieder der nazistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben, und alle anderen Personen, die den Alliierten Zielen feindlich gegenüberstehen, sind aus den öffentlichen oder halböffentlichen Ämtern und von den verantwortlichen Posten in wichtigen Privatunternehmen zu entfernen. Diese Personen müssen durch Personen ersetzt werden, welche nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften fähig erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in Deutschland mitzuwirken.“

Weiterhin wird unter Ziff. 7 festgelegt: „Das Erziehungswesen in Deutschland muß so überwacht werden, daß die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich gemacht wird.“ Damit war in Potsdam bestimmt worden, was durch den 2+4-Vertrag nicht berührt wird, daß in Deutschland Faschismus keinen Platz haben darf. Folgerichtig enthielten die Verfassungen der DDR strafbewehrte Verbote faschistischer Aktivitäten, auch der Wiederbelebung und des Wiedererstehens des Faschismus, so - Art. 5 und 6 der Verfassung von 1949 sowie Art. 6 und 8 der Verfassung von 1968.

Vergleichbare Bestimmungen sind im bundesdeutschen Verfassungsfunktion erfüllenden Grundgesetz nicht zu finden.

Im politischen Alltag der Bundesrepublik spielen die verbindlichen Vorgaben des Potsdamer Abkommens von 1945 für Deutschland keine Rolle. Sie werden einfach verschwiegen.

Die Festlegungen des Potsdamer Abkommens wurden in Westdeutschland zunehmend immer weniger eingehalten. Die gebotene konsequente Abrechnung und Auseinandersetzung mit dem Faschismus unterblieb.

Als undefinierte und unscharfe Reaktion auf die NS-Verbrechen wurden im bundesdeutschen Grundgesetz im Art. 1 der Schutz der Menschenwürde, im Art. 2 die (persönlichen) Freiheitsrechte, im Art. 3 die Gleichheit vor dem Gesetz (unter ausdrücklicher Hervorhebung des Diskriminierungsverbotes im Hinblick auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glaubens, religiöse oder politische Anschauungen), im Art. 4 die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und im Art. 5 die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft verankert.

So sehr dies zu begrüßen ist, kann nicht übersehen werden, daß diesen Vorschriften die gebotene klare antifaschistische Stoßrichtung fehlt. Durch ihre bewußt formal gehaltene Abfassung erwiesen sie sich des Öfteren als Bestimmungen, die alten und neuen faschistischen Kräften verfassungsrechtlich gesicherten Entfaltungsraum gewährten, dem Faschismus also gerade keine Grenzen setzen.

Die entsprechenden Strafbestimmungen der §§ 86, 86 a und 130 des bundesdeutschen StGB sind ähnlich formal abgefaßt.

Die Strafbestimmung des § 86 dieses Strafgesetzbuches mit der Überschrift „Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen“ stellt zunächst die Propaganda von für verfassungswidrig erklärten Parteien unter Strafe, also namentlich die der KPD!

Unter Ziff. 4 des Abs. 1 dieser Vorschrift werden auch Propagandamittel erfaßt, „die nach ihrem Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen“, sofern deren Verbreitung in der BRD erfolgt oder sie zur Verbreitung in dieser hergestellt, eingeführt oder vorrätig gehalten werden.

Abgesehen davon, daß der bundesdeutsche Gesetzgeber geflissentlich den umfassenden Begriff „Faschismus“ vermeidet, schränkt er die Reichweite dieser Strafbestimmung durch eine Legaldefinition der Propagandamittel insofern maßgeblich ein, als darunter „nur solche Schriften“ fallen, „deren Inhalt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist.“

Damit werden augenscheinlich ganz wesentliche Bereiche faschistischer Propaganda ausgenommen, die nicht gegen die Völkerverständigung sind, wie insbesondere deren Rassismus und Antikommunismus beweist. Außerdem werden bereits dem Wortlaut des Gesetzes nach solche Handlungen der gebotenen strafrechtlichen Verfolgung entzogen, die sich als Aktivitäten „der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge der Zeitgeschichte oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken“ dienend darstellen lassen!

Im Übrigen hat die Rechtsprechung (des BGH) betont, daß von Propaganda nur bei „aktiv kämpferischen, aggressiven Tendenzen“ die Rede sein könne; „soft faschism“, also zahmer Faschismus, ist straffrei; im Übrigen würden „vorkonstitutionelle“ Schriften, also faschistische Originalschriften aus der Zeit vor 1945 (auch unveränderte Nachdrucke!) nicht erfaßt; die bloße Verherrlichung des NS-Regimes und seiner Ideologie genüge zur Strafverfolgung nicht.

Ähnlich formal-kasuistisch abgefaßt ist § 86 a des bundesdeutschen Strafgesetzbuches, der die Überschrift trägt „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“. Diese Vorschrift bezieht sich ausdrücklich auf den vorgenannten § 86 und stellt lediglich auf betreffende „Kennzeichen“, wie „Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen“, ab. Immerhin werden das „Hakenkreuz“, auch ein „Führerbild“ sowie das „Horst-Wessel-Lied“ von der Rechtsprechung als solche Kennzeichen angesehen. Im Übrigen sei der Symbolgehalt solcher „Kennzeichen“ vielfach umstritten.

Schließlich könnte auch die Strafbestimmung des § 130 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches als eine Strafbestimmung gegen Faschismus angesehen werden. Nach dieser macht sich strafbar, „wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er

1. zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt (etwa gegen Juden),

2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder

sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet.“

Da in dieser Bestimmung der maßgebliche Begriff „Faschismus“ nicht vorkommt, ent-behrt sie der antifaschistischen Stoßrichtung. Zu besorgen ist, daß sie gemäß bekannten Klischees von „Gewalt- und Willkürmaßnahmen“ sogar gegen die entschiedensten Gegner des Faschismus, gegen Kommunisten, angewandt wird.

Die in den drei vorgenannten Strafgesetzen praktizierte Kasuistik (und die dazu gehörige Rechtsprechung) sind geeignet, den alten und neuen Nazis Anleitung dafür zu geben, wie sie ihre faschistische Propaganda abfassen und gestalten müssen, um straffrei zu bleiben.

So erweisen sich derartige Gesetze des bundesdeutschen Strafrechts im Unterschied zu den vorerwähnten Strafbestimmungen des DDR-Strafrechts nicht als Gesetze zu einer entschiedenen Bekämpfung des Faschismus, sondern als solche, die ihm hinreichend Raum zu Entfaltung und Aktivität geben.

Im ganzen Grundgesetz gibt es nur eine einzige spezielle Vorschrift zum „Nationalsozialismus“, nämlich den Art. 139 mit der Überschrift „Befreiungsgesetze“ bzw. „Fortgelten der Vorschriften über Entnazifizierung“, nach der die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften von den Bestimmungen des Grundgesetzes „nicht berührt“ werden.

Anderes war ja auch nicht möglich; denn das Grundgesetz von 1949 bedurfte der Genehmigung der drei westlichen Alliierten.

Der in diesem Artikel 139 enthaltene Vorbehalt (!) gilt ausdrücklich nur für das beim Inkrafttreten des Grundgesetzes vorhandene Entnazifizierungsrecht, dessen Grundzüge besatzungsrechtlichen Ursprungs sind. Die von den Alliierten geschaffenen Entnazifizierungsvorschriften konnte der bundesdeutsche Grundgesetzgeber im Jahr 1949 wahrlich nicht außer Acht lassen.

Klarheit besteht indessen unter Juristen der Bundesrepublik, daß der Zweck dieser „Übergangsbestimmung“ (!) sich darin erschöpft, die vorbehaltenen Vorschriften „unabhängig von ihrer rechtsstaatlichen Problematik und ihrer Übereinstimmung mit den Grundrechten“ (!) in den neu geschaffenen Verfassungszustand zu überführen und den planmäßigen Abschluß der Entnazifizierung ohne Gefährdung ihrer Rechtsgrundlagen zu ermöglichen. Allerdings will das Grundgesetz diese Entnazifizierungsvorschriften nicht „konservieren, d.h. nicht auf Dauer in ihrem Bestand schützen“.

Mit dem letzten Entnazifizierungsabschlußgesetz im Jahr 1953 sei dieser Artikel 139 gegenstandslos geworden!

Die Vorschrift des Artikels 139 enthält somit, wie in Kommentaren ausdrücklich betont wird, keine fortdauernde antinationalsozialistische Grundentscheidung der Verfassung.

Soweit nationalsozialistische Bestrebungen im Parteien-, Vereins- oder Versammlungsrecht eine Rolle spielen, argumentiert die Rechtsprechung daher nicht mit Art. 139 GG! Soweit gegen faschistische Bestrebungen und Aktivitäten überhaupt juristisch vorgegangen wird, so geschieht dies ausschließlich mit den formalen Elementen des Parteien-, Vereins- und Versammlungsrechts.

Ansonsten ist dem Grundgesetz, nicht einmal seiner Präambel, anzusehen, daß es nach der Befreiung auch des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus in Kraft gesetzt wurde.

Die Väter des Grundgesetzes gingen von einem Fortbestehen des Deutschen Reiches aus - als hätte es keinen Hitlerfaschismus mit seinen verbrecherischen Aggressionskriegen und seinen beispiellosen Verbrechen gegeben.

Aufgrund dessen kam es nicht zu einer hinreichend scharfen und eindeutigen Abgrenzung vom Hitlerfaschismus. Die Bundesrepublik sieht sich vielmehr als Rechtsnachfolger des unter den Schlägen der Alliierten Armeen untergegangenen Deutschen Reiches, auch des Dritten Reiches, und in dessen Tradition.

Jedenfalls gab es für die Väter des Grundgesetzes mit dem Ende des Hitlerfaschismus weder eine Zäsur, noch eine Abhebung oder gar einen Bruch mit der Vergangenheit.

In diesem Sinne regelt das GG (im Art. 123) die Fortgeltung alten Rechts und im Art. 129 fortgeltende Ermächtigungen. Mehr noch, den Vätern des GG war es wichtig, in ihrem GG nicht nur mit der Abschaffung der Todesstrafe in Art. 102 den Naziverbrechern den Kopf zu retten, sondern mit Art. 131 auch den früheren Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die die Naziverbrechen zumindest toleriert, wenn nicht aktiv unterstützt hatten, eine hinreichende Versorgung zu sichern.

So ist der bundesdeutschen Rechtsordnung, wie sie 1949 geschaffen bzw. bestätigt wurde, nicht zu entnehmen, daß ein Fortleben faschistischen Gedankenguts mit ihr unvereinbar sei.

Diese Rechtsordnung entbehrt seither des gebotenen juristischen Arsenals zur wirksamen Bekämpfung faschistischer Aktivitäten und des Wiedererstarkens des Faschismus in Deutschland. Namentlich fehlt im Grundgesetz eine eindeutige und klare Antifaschismusklausel, wie wir sie in den DDR-Verfassungen kennen.

Demgegenüber wurde in Ostdeutschland gründlich mit dem Faschismus abgerechnet und wurde er mit seinen ökonomischen, politischen und ideologischen Wurzeln ausgerottet.

Ergänzend wurde jedes Wiederaufleben des Faschismus nicht nur durch die Verfassung verboten, sondern mit Art. 6 der Verfassung von 1949 auch absolut und eindeutig unter Strafe gestellt.

Im Art. 6 der Verfassung von 1968 wurde festgestellt, daß die DDR „getreu den Interessen des Volkes und den internationalen Verpflichtungen auf ihrem Gebiet den Militarismus und Nazismus ausgerottet“ hat.

Durch § 92 des StGB der DDR, eine Vorschrift im Kapitel über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, wurde uneingeschränkt jede „faschistische Propaganda“, wie auch jegliche „Völker- und Rassenhetze, die geeignet ist, zur Vorbereitung oder Begehung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit aufzuhetzen“, streng bestraft, und zwar auch bereits jede Vorbereitung zu solchem Verbrechen.

Als ein Fall staatsfeindlicher Hetzte gem. § 106 StGB/DDR wurde streng bestraft, „wer die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR angreift oder gegen sie aufwiegelt, indem er ... den Faschismus oder Militarismus verherrlicht oder Rassenhetze treibt“, wobei auch bei diesen Verbrechen bereits die Vorbereitung unter Strafe gestellt war.

Schließlich wurde gemäß § 220 Abs. 3 StGB / DDR wegen „Öffentlicher Herabwürdigung“ auch bestraft, „wer in der Öffentlichkeit Äußerungen faschistischen, rassistischen, militaristischen oder revanchistischen Charakters kundtut oder Symbole dieses Charakters verwendet, verbreitet oder anbringt.“

Diese Strafbestimmungen waren gewollt umfassend - und nicht kasuistisch - gestaltet, um jegliche relevante faschistische Propaganda oder Hetze erfassen und verfolgen zu können. Solche Strafbestimmungen trugen dazu bei, daß dem Faschismus in der DDR kein Entfaltungsraum gelassen wurde.

Da demgegenüber die herrschenden Kräfte der Bundesrepublik zu keiner Zeit eine hinreichend scharfe Abgrenzung zu Nazis und Faschisten vorgenommen hatten, statt dessen aber „Linksextremisten“ und „Rechtsextremisten“ formal gleichbehandeln, erlangen die alten und neuen Nazis einen von dieser bundesdeutschen Rechtsordnung gewährten Freiraum. In der polizeilichen Praxis läuft diese Gewährung nicht selten darauf hinaus, gestützt auf den Rechtsanspruch auf Versammlungsfreiheit, Nazidemonstrationen vor Antifaschisten zu schützen!

Als schon vor Jahren die Wiederbelebung faschistischen Gedankenguts unübersehbar wurde, sah sich der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, genötigt zu erklären: „Wehret den Anfängen, heißt es oft, wenn es um den Kampf gegen den Rechtsextremismus geht. Doch wir sind längst über dieses Stadium hinaus. Was wir fast täglich erleben, hat nichts mehr mit ‚Anfängen’ zu tun“.

Angesichts dieser Situation in Deutschland brachte die Fraktion der PDS Anfang 2001 in den Bundestag eine Vorlage ein, um eine Antifaschismusklausel in das Grundgesetz zu bringen, nämlich einen „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes“.

Dieser Antrag wurde nicht nur, wie bekannt, von der Mehrheit des Bundestages abgelehnt und verworfen, womit er auch in jüngerer Zeit erneut bekräftigte, gegen Neonazis und Faschisten nicht konsequent sein zu wollen. Vor allem wurde in der Debatte dieses Antrags am 16. Februar 2001 von Vertretern anderer Fraktionen verbreitet die Auffassung vertreten, dann bedürfe es auch einer entsprechenden Bestimmung gegen den „Linksextremismus“. Ein solcher Vortrag, gleichermaßen gegen „Linksextremisten“ und „Rechtsextremisten“ zu sein und vorgehen zu wollen, erweist sich im Ergebnis als überdeutliche Hilfestellung für Neonazis und Faschisten. (Siehe meinen Beitrag „Antifaschismusklausel ins Grundgesetz?“ in den WBl. 1/2001,S. 27 ff.)

Der Faschismus lebt, blüht und gedeiht in Deutschland, weil er aus der Mitte der Gesellschaft gespeist, unterstützt und toleriert wird. Die „politische Klasse“, die herrschenden politischen Klassenkräfte, wollen keinen Antifaschismus und verleumden den Antifaschismus; weil sie mit dem Faschismus liebäugeln. Unter dem Deckmantel der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die als hohes Gut der freiheitlich-demokratischen Ordnung der BRD gewürdigt und gefeiert werden, wurde und wird es den alten und den neuen Nazis erlaubt, politisch zu agieren, Nazipropaganda und -hetze zu betreiben. Man gab vor, gerade nach den Zeiten der Hitlerdiktatur jedem diese Freiheiten garantieren zu müssen, auch den ausgewiesenen Feinden der Demokratie.

So blieb man gegenüber alten und neuen Nazis zurückhaltend, während gegenüber Kommunisten und anderen Gegnern der Adenauerpolitik die „wehrhafte Demokratie“ mit allen staatlichen Gewaltmitteln zur Geltung gebracht wurde,. Wie schon in der Weimarer Republik blieb die bundesdeutsche Justiz - wie Tucholsky wußte - auf dem rechten Auge blind.

Während die Partei der Kommunisten aufgrund eines Antrags der Bundesregierung vom 22.11.1951 nach Art. 21 GG am 17. August 1956 regelrecht - durch das Bundesverfassungsgericht - verboten wurde, können neofaschistische Parteien heutzutage Abgeordnetensitze in deutschen Landtagen einnehmen, ohne mit der Rechtsordnung in Konflikt zu geraten.

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß zu den ersten politischen Aktivitäten der Bundesregierung, der Regierung Adenauer, auch das Einbringen des offen gegen die Kommunisten gerichteten 1. Strafrechtsänderungsgesetzes, des „Blitzgesetzes“, gehörte.

In heuchlerischer Weise stellte diese Regierung beim BVerfG gleichzeitig auch einen Antrag auf Verbot einer politisch unbedeutenden rechten Partei, der „Sozialistischen Reichspartei“, SRP, um den Anschein zu erwecken, man wende sich sowohl gegen „Linksextremismus“ wie auch gegen „Rechtsextremismus“.

Nach dem bewußt formal gehaltenen, nur Verfahrensregeln enthaltenen Parteiengesetz darf jeder, auch ein Nazi, eine Partei gründen, die unter dem Schutz des Art. 21 des Grundgesetzes steht. Denn die Gründung einer Parte ist frei. So dürfen auch Nazis oder Neonazis, wie es im ersten Satz dieses Artikels heißt, „an der politischen Willensbildung des Volkes“ teilnehmen und faschistisches Gedankengut propagieren, in die Köpfe der Bürger bringen.

Ob eine solche dem Faschismus huldigende Partei irgendwann später einmal ob nachweisbarer faschistischer Aktivitäten, weil sie „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“, vom Bundesverfassungsgericht gem. Art. 21 Abs. 2 GG in einem entsprechenden Verfahren gem. §§ 43 ff. für verfassungswidrig erklärt werden wird, ist eine andere Frage. Nach den Erfahrungen mit dem Verbotsantrag bezüglich der NPD ist ein Verbot keineswegs sicher.

Als ein besonders markantes Beispiel, wie die Bonner Justiz die Verbreitung faschistischen Gedankenguts erlaubt, stellt ein Urteil des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes vom 25. Juli 1979 - Az. 3 Str 182/79 (S) - dar. Es ging um den Vertrieb von Hitlers Buch „Mein Kampf“, in dem Völkermord, Krieg, Terror und freislerische Gerichtsbarkeit ideologisch vorprogrammiert worden waren. Die Karlsruher Richter befanden: Hitlers Kampfwerk sei schon vor der Ausarbeitung des Grundgesetzes gedruckt worden und deswegen rechtlich als „vorkonstitutionelle Schrift“ anzusehen. Folglich könne von ihrer Verbreitung keine Gefahr für die grundgesetzliche Ordnung ausgehen. Im übrigen habe der Gesetzgeber zu solcher nazistischer vorkonstitutioneller Literatur keine eindeutigen Aussagen gemacht!

Auf der gleichen Linie liegt - die geistige Kontinuität dieses 3. Strafsenats des BGH bewahrend - seine jüngste am 28. Juli 2005 verkündete Entscheidung, nach der die Verwendung der faschistischen Parole „Ruhm und Ehre der Waffen-SS!“ nicht strafbar sei, so daß die drei Angeklagten, Angehörige der „Karlsruher Kameradschaft“, freigesprochen wurden. Bei ihrem Ausspruch bestehe keine Verwechslungsgefahr (!) mit nazistischen Originalparolen der Hitler-Jugend oder der Waffen-SS.

Geht es denn eigentlich um eine Verwechslungsgefahr bestimmter Äußerungen oder Parolen? Der Präsident des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, nannte das Urteil unglaublich.

Daß die Neonazis und andere Rechtsextremisten durch eine derartige Entscheidung des höchsten Strafgerichts der BRD zu noch stärkerem Agieren ermutigt und ermuntert werden, liegt auf der Hand. Jüngst erklärte der Bundesinnenminister Schily, die neu formierte „Linke“ müsse - wie zuvor die PDS - deshalb weiterhin vom Verfassungsschutz überwacht werden, weil sie in ihrem Bestand das „Marxistische Forum“ dulde. Offensichtlich ist dem derzeitigen Bundesinnenminister das GG nicht geläufig, das im Art. 5 nicht nur die Meinungsfreiheit schlechthin, sondern ausdrücklich auch die Freiheit der Wissenschaft garantiert.

Schily hält es mit dem GG ähnlich wie einer seiner Vorgänger im Amt, der bei entsprechenden Nachfragen über polizeiliches Handeln im Bundestag erklärte, seine Beamten könnten doch nicht ständig mit dem GG unterm Arm herumlaufen!

Schily befindet sich in guter Gesellschaft, denn das BVerfG hatte im KPD-Verbotsprozeß maßgeblich auf den „Marxismus-Leninismus“ abgestellt und über ihn Beweis erhoben!

Das Potsdamer Abkommen gebot, den Faschismus zu vernichten und nicht, ihn wiederauferstehen zu lassen! Was daraus in der BRD - nun im größer gewordenen vereinigten Deutschland - wurde, liegt auf der Hand.

Nach Einverleibung der DDR und nach Wegfall des Antipoden DDR ist ein Wiederaufleben faschistischen Gedankenguts sowie eine verstärkte Aktivität und Propaganda zu beobachten.

III.

Zu weiteren substantiellen und nicht zeitbedingten Bestimmungen des Potsdamer Abkommens gehört die Ächtung und das strafbewehrte Verbot von Aggressionskriegen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.

Das Potsdamer Abkommen als das maßgebliche Dokument über die Folgerungen aus den Verbrechen des Hitler-Faschismus enthält juristische Definitionen, die in der Folgezeit in den Tatbeständen des Londoner Statuts über den Internationalen Militärgerichtshof (IMT-Statut) vom 8. August 1945, im Nürnberger Urteil vom 1. Oktober 1946 und im Kontrollratsgesetzes Nr. 10 völkerstrafrechtlich als Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit und die Kriegsverbrechen beschrieben wurden.

All diese juristischen Definitionen stellen klar: Faschismus ist nicht eine „andere Meinung“, sondern ein Verbrechen.

Diese Festlegungen im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß wurden von der ersten Vollversammlung der Vereinten Nationen am 11.12.1945 durch die Resolution 95 (I) ausdrücklich bestätigt. Hierzu gehört auch die Völkermordkonvention von 1948.

Diese Festlegungen sind Marksteine auf dem Weg zu einem universellen Völkerstrafrecht. Zuvor hatte der Versailler Vertrag vom 7. 05. 1919 in seinen Strafbestimmungen gegen Kriegsschuldige, in Gestalt der Art. 227 - 230, insbesondere hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des deutschen Kaisers, erste Schritte in diese Richtung gewagt.

In der DDR wurden im Sinne des vorgenannten Londoner IMT-Statuts in den §§ 85- 89 StGB Strafbestimmungen geschaffen, die die drei Hauptverbrechen des Völkerstrafrechts - Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfassten.

Immerhin kennt das GG in seinem Art. 26 das Verbot des Angriffskrieges, wenngleich der durch Absatz 1 Satz 2 dieses Artikels erteilte Gesetzgebungsauftrag durch den bundesdeutschen Gesetzgeber in Gestalt des § 80 StGB nur sehr unzureichend erfüllt wurde.

Seit Nürnberg werden Völkerrechtsverbrechen, namentlich die Verbrechen der Aggression gemäß dem Briand-Kellogg-Pakt von 27.08.1928 über die Ächtung des Krieges, nicht mehr nur als Völkerrechtsdelikte von Staaten, insbesondere eines Aggressorstaates verfolgt. Es können nun auch Individuen, die an der Spitze eines solchen Staates standen, persönlich strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

So kann sich das Individuum eines Staatsmannes als individueller Urheber derartiger Verbrechen nach Völkerrecht nicht mehr hinter der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates verstecken, die allenfalls zu Reparationsleistungen dieses Staates führt, aber nicht auch zu einer persönlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Bestrafung solcher Staatsmänner.

Nürnberg war ein ad-hoc-Gerichtshof - so wie in der Folgezeit aufgrund entsprechender Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mehrere ad-hoc-Gerichtshöfe eingerichtet wurden, namentlich für Völkermord mit einer Million Toten im Jahre 1994 in Ruanda und in Bezug auf das frühere Jugoslawien durch die Resolution Nr. 827 (1993) des Sicherheitsrates vom 25.05.1993 mit einer spezifischen Zuständigkeit für „schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die seit 1991 im Hoheitsgebiet des ehemaligen Jugoslawien begangen wurden“. Eine Verfolgung der gegen Jugoslawien durch die USA und andere NATO-Staaten vorgenommenen Aggression und anderer Verbrechen nach Völkerrecht blieben von vornherein ausgeklammert.

Einen ständigen internationaler Strafgerichtshof für Völkerrechtsverbrechen einzurichten steht seit Nürnberg auf der Tagesordnung.

Noch im Jahre 1946 war durch die Resolution Nr. 177 der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossen worden, durch die internationale Rechtskommission (International Law Commission, ILC) rechtliche Grundlagen des Völkerstrafrechts und insbesondere ein Statut eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes zu erarbeiten.

Es hat noch bis zum Jahre 1998, also mehr als 50 Jahre, gedauert, bis in einem zähen diplomatischen und juristischen Ringen in Gestalt des „Rome Statute of the International Criminal Court“ (ICC) die Einrichtung eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) vereinbart werden konnte.

Durch die Einrichtung eines solchen ständigen Internationalen Strafgerichtshofes können manche Probleme und Gefahren eingeschränkt werden, die bei ad-hoc-Gerichtshöfen dadurch entstehen können, daß ihre Einrichtung und damit ihre Tätigkeit von der jeweiligen aktuellen internationalen Situation, vom aktuellen internationalen Kräfteverhältnis bestimmt wird.

Das gilt insbesondere für die beiden vorgenannten, Ruanda und Jugoslawien betreffenden, Gerichtshöfe. Denn bei diesen war von vorn herein zu besorgen, daß sie - auch wegen ihrer Zusammensetzung und Finanzierung - nicht das gebotene objektive und universelle Herangehen an die Be- und Verurteilung von Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beweisen würden.

Insofern leiden einige nach Nürnberg und Tokio tätig gewesenen Gerichtshöfe gegen Völkerrechtsverbrechen daran, daß die Universalität, das universelle Rechtsprinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und vor dem Gericht nicht eingehalten oder sogar pervertiert wird, wie dies bei dem Jugoslawien-Tribunal besonders deutlich hervortritt.

Deswegen ist es als ein Sieg des Rechts, des Völkerrechts und auch des Völkerstrafrechts, zu würdigen, daß schließlich ein internationaler Strafgerichtshof geschaffen werden konnte.

Am 17. Juli 1998 haben 120 Länder in Rom (bei 21 Stimmenenthaltungen und sieben Gegenstimmen) auf einer diplomatischen Bevollmächtigtenkonferenz in Gestalt des „Rome Statute of the International Criminal Court“ (ICC) den grundlegenden multilateralen Vertrag für den Gerichtshof verabschiedet. Er trat am 1. Juli 2002 in Kraft. Mitte August 1998 hatten diesen Vertrag bereits 29 Staaten, vornehmlich aus der „Dritten Welt“ unterschrieben; inzwischen haben ihn 89 Staaten ratifiziert, darunter alle Staaten der Europäischen Union. Es fehlt vor allem die Unterschrift der USA als einem ständigen Mitglied des Sicherheitsrates, aber auch die Israels.

Ohne den Sieg über Hitlerdeutschland und ohne das Potsdamer Abkommen wäre es zu diesem einen Meilenstein in der Entwicklung des Völkerstrafrechts darstellenden Kodex nicht gekommen. Nach diesem Statut ist der ICC zuständig für die internationale Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie für das Verbrechen der Aggression, des Angriffskrieges.

Der Gerichtshof, der seinen Sitz in Den Haag in den Niederlanden hat, wird als unabhängig charakterisiert; insbesondere ist er - im Unterschied zu den beiden vorgenannten ad-hoc-Tribunalen - auch vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unabhängig; er ist somit kein Organ der UNO.

Inzwischen wurden am 11. März 2003 in Den Haag die 18 Richter dieses Gerichtshofs, des „International Criminal Court“ (ICC) im Beisein des UN-Generalsekretärs Kofi Annan und der niederländischen Königin Beatrix vereidigt.

Die in Rom zustande gebrachten vertraglichen Grundlagen bieten gute Möglichkeiten zur Durchsetzung des Völkerstrafrechts; ob dies auch Wirklichkeit wird oder ob es mehr nur Symbolik bleibt, muß sich erst erweisen. Letztendlich hängt auch dies wiederum davon ab, wie stark die Kräfte des Friedens sind und werden, inwieweit sie den Aggressoren und all denen wirksam entgegentreten, die das vornehmlich auf der UN-Charta basierende Völkerrecht mit Füssen treten, wie jüngst in Afghanistan und im Irak.

Die im Statut verankerte Konzeption der Tätigkeit des Gerichts stellt, wie meist im Völkerrecht, einen Kompromiß dar. Auf maßgeblichen Einfluß der USA hin ist sie so angelegt, daß in erster Linie die Staaten die Verfahren gegen entsprechende Kriegsverbrecher nach dem räumlichen Geltungsbereich ihres Strafrechts durchführen, insbesondere wenn sich die Täter auf ihrem Staatsgebiet befinden oder die Verbrechen - zumindest teilweise - auch auf dem Staatsgebiet der betreffenden Staaten ausgeführt worden waren.

Der Internationale Strafgerichtshof ist deshalb als so genanntes Komplementärgericht gestaltet; es darf nur tätig werden, wenn der zuständige Staat ein bestimmtes Verbrechen nicht verfolgen will oder nicht verfolgen kann. Der ICC soll das Wirken der nationalen Strafgerichte der Staaten ergänzen, aber nicht ersetzen.

Der Hauptmangel der Vereinbarung über den Internationalen Strafgerichtshof und über seine Befugnis und Tätigkeit besteht darin, daß die USA als die derzeitige Weltmacht sich nach Kräften dem Zustandekommen des Abkommens von Rom entgegenstellte, es auch nicht ratifizierte, sondern sich davon ausdrücklich deutlich distanzierten und nach wie vor distanzieren.

Die USA waren nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg und in Tokio bei der Verfolgung der Kriegsverbrecher treibende Kraft. In der Folgezeit haben sie alle diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt, um ihre Militärs und Politiker vor der Anklagebank eines Internationalen Strafgerichtshofs zu bewahren.

Hatte Präsident Clinton noch die römischen Statuten wenigstens unterzeichnet, so schloß sein Nachfolger Bush eine Ratifizierung kategorisch aus. Die USA tun alles in ihren Kräften Stehende, daß niemals US-Bürger vor dieses Gericht gebracht werden können. Um auszuschließen, daß US-Bürger, namentlich US-Militärs, vor dieses Gericht gebracht werden können, sind die USA bestrebt, bilaterale Abkommen mit anderen Ländern abzuschließen, um Staatsangehörige der USA von der Gerichtsbarkeit dieses Internationalen Strafgerichtshofes auszunehmen; mehr als 20 Staaten haben solche bilateralen Verträge mit den USA abgeschlossenen, die insbesondere die Auslieferung von US-Bürgern an den Gerichtshof in Den Haag untersagen.

Mehr noch: sollte doch einmal ein US-Militär vor den Schranken des Internationalen Strafgerichtshofes gebracht werden, dann hat für diesen Fall der Senat in Washington ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubt, selbst eine „militärische Befreiung“ solcher Person(en) aus dem Gewahrsam des Gerichtshofes in Den Haag in den Niederlanden, einem NATO-Staat, auszuführen.

Die Motive der Haltung der USA zu dem Internationalen Strafgerichtshof liegen auf der Hand. Als die Weltmacht wollen sich die USA in keiner Weise Schranken auferlegen oder Schranken auferlegen lassen, die ihren Weltherrschaftsplänen entgegenstehen.

Die USA setzen auf eine Strategie der Weltherrschaft, die auch auf völkerrechtlich verbotene Präventivkriege und atomare Erstschläge nicht verzichten will.

Die Haltung der Bush-Regierung ist derzeit das größte Hindernis für eine allumfassende Wirksamkeit des Internationalen Strafgerichtshofes. Die USA wollen für ihre Staatsangehörigen eine Ausnahmesituation, ein Sonderrecht; sie widersetzen sich damit den allgemein anerkannten Rechtsprinzipien der Gleichheit vor Gesetz und vor Gericht, auch der gleichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines jeden.

Waren in den frühen 50er Jahren die USA darauf aus, daß nicht ihre Soldaten die „Kastanien aus dem Feuer“ holen, weshalb es damals hieß: „Not our boys!“, so gilt heute für die USA, daß nicht ihre Soldaten vor diesen Weltgerichtshof gebracht werden, also wiederum „Not our boys!“.

IV.

Nach dem Potsdamer Abkommen ist Faschismus nicht lediglich eine andere Meinung, sondern ein außerordentlich schweres Verbrechen, das strafrechtlicher Verfolgung bedarf, wie nach 1945 auch tatsächlich strafrechtliche Verfolgungen stattfanden.

Die militärische Niederlage Hitlerdeutschlands, die in der bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945 manifestiert wurde, gebot - wie es im Potsdamer Abkommen in Übereinstimmung mit den Forderungen der aus der Emigration, den Konzentrationslagern und Zuchthäusern oder der Illegalität zurück- oder hervorgekommenen deutschen Antifaschisten festgelegt wurde -, auf dem Gebiete des Strafrechts und in der Strafjustiz vordringlich drei außerordentlich umfängliche und komplizierte Aufgaben zu lösen:

Aufhebung der Nazigesetze und ungerechter, vielfach verbrecherischer Urteile von Nazigerichten;

Entfernung der Nazis aus der deutschen Justiz und ihre Neugestaltung,

Strafverfolgung von Nazi - und Kriegsverbrechern.

Den ersten Teil der erstgenannten Aufgabe haben die Alliierten kraft ihrer obersten Gewalt in Deutschland größtenteils selbst geleistet. Deutsche Justizbehörden haben in Einzelfällen ergänzend geklärt, welches überkommene Recht jeweils der Strafrechtsprechung zugrunde zu legen ist. Für die Aufhebung ungerechter, vielfach verbrecherischer Urteile von Nazigerichten schufen die Alliierten die entsprechende Rechtsgrundlage.

Die als zweite genannte Aufgabe haben die Besatzungsmächte bereits in den ersten Monaten gemeinsam mit deutschen Demokraten und Antifaschisten - in unterschiedlichem Maße - erfüllt; dabei ist ein unterschiedliches Herangehen an die Entfernung nazistischen Justizpersonals und ihre Ersetzung nicht zu übersehen.

Die dritte Aufgabe wurde durch die Alliierten ebenfalls eingeleitet, in erster Linie durch den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß, aber auch durch weitere Verurteilungen; einige deutsche Behörden nahmen diese Strafverfolgung ebenfalls sofort in Angriff, im übrigen setzten sie sie - in unterschiedlicher Weise - später fort.

Die Alliierten, die gemäß III A 1 des Potsdamer Abkommens die oberste Gewalt in Deutschland übernommen hatten, vereinbarten in diesem Abkommen unter III A 4, daß „alle nazistischen Gesetze, welche die Grundlagen für das Hitlerregime geliefert haben oder eine Diskriminierung auf Grund der Rasse, Religion oder politischen Überzeugung errichteten, abgeschafft werden.“ Es dürfe „keine solche Diskriminierung ... geduldet werden“.

Durch die Kontrollratsgesetze Nr. 1, Nr. 11 und Nr. 55 wurden bestimmte Vorschriften des Strafrechts, des Strafprozeßrechts und der Gerichtsverfassung aus der Nazizeit namentlich aufgehoben. Sie können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Ich beschränke mich auf die Vermittlung eines illustrativen Einblicks in das durch Nazi-Gesetze geschaffene terroristische Unterdrückungssystem.

Mit dem Gesetz Nr. 1 (Aufhebung von - faschistischen - Nazigesetzen) vom 20. September 1945 wurden einige „Gesetze politischer Natur oder Ausnahmegesetze, auf welchen das Naziregime beruhte“, ausdrücklich aufgehoben, so diejenigen, die unmittelbar nach der „Machtergreifung“ zur Sicherung der Macht der Nazis erlassen wurden, wie das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933, Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24. April 1934, das die Bestimmungen über Hoch- und Landesverrat verschärfte, Gesetz zum Schutze der nationalen Symbole vom 19. Mai 1933, Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutze der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934, sog. Heimtückegesetz, und Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935, das sog. Blutschutzgesetz, das schwerste Strafen für nichtig erklärte Eheschließungen und außerehelichen Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes vorsah.

Am 30. Januar 1946 erließ der Kontrollrat das Gesetz Nr. 11 (Aufhebung einzelner Bestimmungen des deutschen Strafrechts), mit dem bestimmte aufgelistete Vorschriften des Strafgesetzbuches in der Fassung, die am 8. Mai 1945 vorgefunden wurde, aufgehoben wurden. Dazu gehörte vor allem die Änderung des § 2, mit dem die Nazis das Prinzip der Strafgesetzlichkeit und das Analogieverbot abgeschafft und durch die Analogie zu Ungunsten eines Täters ersetzt hatten; nunmehr konnte bestraft werden, „wer eine Tat begeht, die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient“.

Demgemäß war in der RStPO ein § 268 a eingefügt worden, der folgenden Wortlaut hatte: „Ergibt die Hauptverhandlung, daß der Angeklagte eine Tat begangen hat, die nach gesunden Volksempfinden eine Bestrafung verdient, die aber im Gesetz nicht für strafbar erklärt ist, so hat das Gericht zu prüfen, ob auf die Tat der Grundgedanke eines Strafgesetzes zutrifft und auch durch entsprechende Anwendung diese Strafgesetzes der Gerechtigkeit (!) zum Siege verholfen werden kann.“

Übrigens wurde dieser Vorschrift des Prozeßrechts durch die Alliierten nicht ausdrücklich aufgehoben, aber in Ost und West wurde dieser § 268 a als gegenstandslos und damit als unanwendbar angesehen.

Aufgehoben wurden durch Kontrollratsgesetz Nr. 11 die Strafgesetze, die der Vorbereitung des verbrecherischen Hitlerkrieges gedient hatten, so die Verordnung über das Sonderstrafrecht im Krieg und bei besonderem Einsatz (Kriegssonderstrafrechtsverordnung) vom 17. August 1938; sie enthielt Sondertatbestände für Spionage (das Beschaffen von Nachrichten im Kriegsgebiet der Wehrmacht, insbesondere durch Zivilpersonen, wurde mit dem Tode bestraft), Freischärlerei (womit den Partisanen und anderen Widerstandskämpfern gegen eine deutsche Besatzung der Tod angedroht wurde) und Zersetzung der Wehrkraft (durch Auffordern, die Dienstpflicht in der deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder „Zersetzen“ des Willens des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung, wofür ebenfalls die Todesstrafe drohte).

Ebenso wurde durch KG 11. die besonders bösartige Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten vom 4. Dezember 1941, die „Polen-VO, aufgehoben. Diese sah gegenüber Polen und Juden per Gesetz die Verhängung der Todesstrafe auch bei Bagatelldelikten vor. Durch diese Verordnung habe „der Ministerrat für die Reichsverteidigung in nur 18 Bestimmungen für Polen und Juden der eingegliederten Ostgebiete ein Sonderstraf- und Verfahrensrecht geschaffen“, rühmten sich die Nazis.

Ausdrücklich wurde erklärt: „Dieses Strafrecht steht im Gegensatz zu dem allgemeinen Strafrecht - das einen Appell an die Treuepflicht des Volksgenossen enthält - unter dem Leitgedanken der unbedingten Gehorsamspflicht der der deutschen Reichsgewalt unterworfenen Polen und Juden.“

Bei Deutschen galt eine Treuepflicht, bei Polen und Juden nur Gehorsamspflicht.

„Auch da, wo das Gesetz sonst Todesstrafe nicht vorsieht, wird sie gegen Polen und Juden verhängt, wenn die Tat von besonders niedriger Gesinnung zeugt oder aus anderen Gründen besonders schwer ist; in diesen Fällen ist Todesstrafe auch gegen jugendliche Schwerverbrecher zulässig.“

Das Strafverfahren stand ebenfalls unter dem Leitgedanken der unbedingten Gewaltunterworfenheit der Polen und Juden unter die deutsche Gerichtshoheit. Der Staatsanwalt hatte in der Verfolgung von Straftaten freie Hand und erhob Anklage, ,,wenn dies im öffentlichen Interesse liegt.“ Todesstrafe nach Belieben!

Die Aburteilung erfolgte vor dem Sondergericht oder dem Amtsrichter. Ausdrücklich bestimmt wurde: „Der Pole und Jude hat gegen Urteile deutscher Gerichte kein Rechtsmittel. Der Staatsanwalt kann gegen Urteile des Amtsrichters binnen zwei Wochen Berufung an das Oberlandesgericht einreichen. Deutsche Richter können von Polen und Juden nicht wegen Befangenheit abgelehnt werden. Verhaftung und vorläufige Festnahme sind bei dringenden Tatverdacht immer zulässig.“ „Polen und Juden werden in Strafverfahren als Zeugen nicht vereidigt.“

Privatklage oder Nebenklage kann von Polen und Juden nicht erhoben werden. Das Strafverfahren wird vom Gericht und Staatsanwalt nach Maßgabe des deutschen Strafverfahrensrechts nach pflichtgemäßem Ermessen gestaltet. Wenn es zur schnellen und nachdrücklichen Durchführung des Verfahrens zweckmäßig ist, kann von den Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes und des Reichs-Strafverfahrensrechts abgewichen werden.

Bemerkenswert ist weiterhin: „Das Strafrecht der Verordnung gilt nicht nur für alle Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten, sondern auch für solche Polen und Juden, die eine Straftat in einem anderen Gebiet des Deutschen Reiches begangen haben und am 1. September 1939 ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in dem Gebiet des ehemaligen polnischen Staates gehabt haben.“

Schließlich wurde in diesem Zusammenhang vermittelt, daß der Reichs-Statthalter in den eingegliederten Ostgebieten jeder Zeit anordnen kann, daß Polen und Juden wegen schwerer Ausschreitungen gegen Deutsche von Standgerichten abgeurteilt werden, die die Todesstrafe verhängen, soweit die Betreffenden nicht an die geheime Staatspolizei überwiesen werden. Der Tod war ihnen in jedem Fall sicher.

Als drittes ist das Gesetz Nr. 55 vom 20. Juni 1947 (Aufhebung von Vorschriften auf dem Gebiete des Strafrechts) zu nennen, durch das - zwei Jahre nach Ende des Nazi-Reiches - noch weitere Nazi-Gesetze aufgehoben wurden, die gleichfalls unmittelbar nach der „Machtergreifung“ erlassen worden waren, so verschiedene Notstandsverordnungen des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung, nämlich Abschnitt IV der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933, die Verordnung des Reichsministers des Innern über das Verbot kommunistischer Demonstrationen im Freistaat Sachsen vom 21. Februar 1933, § 5 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, die Verordnung des Reichspräsidenten gegen Verrat am deutschen Volk und hochverräterische Umtriebe vom 28. Februar 1933, die Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückische Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 - ein Vorläufer des o. g. „Heimtückegesetzes“ - und das Gesetz zur Abwehr politischer Gewalttaten vom 4. April 1933.

Unter dem 4. September 1941 hatten die Nazis das Strafgesetzbuch so geändert, daß Todesstrafe für gefährliche Gewohnheitsverbrechen und Sittlichkeitsverbrechen möglich wurde, „wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern“

Schließlich befreite die Verordnung vom 5. Mai 1944 die Richter von allen Beschränkungen bezüglich des Strafmaßes: „Bei allen Tätern, die durch eine vorsätzliche strafbare Handlung einen schweren Nachteil oder eine ernste Gefahr für die Kriegführung oder die Sicherheit des Reiches verschuldet haben, kann unter Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens die Strafe bis zur Höchstgrenze der angedrohten Strafart erhöht oder auf zeitliches oder lebenslanges Zuchthaus oder auf Todesstrafe erkannt werden, wenn der regelmäßige Strafrahmen nach gesundem Volksempfinden zur Sühne nicht ausreicht. Das gleiche gilt für alle fahrlässigen strafbaren Handlungen, durch die ein besonders schwerer Nachteil oder eine besonders ernste Gefahr für die Kriegführung oder die Sicherheit des Reiches verschuldet wurde.“

Das Nürnberger Juristen-Urteil, das der (us-amerikanische) Militärgerichthof Nr. 3 am 3. und 4. Dezember 1947 verkündete, enthält wichtige Feststellungen über den verbrecherischer Charakter der Nazijustiz, der Nazigesetze und zur gerichtlichen Praxis in Hitler-Deutschland.

Zur Rechtsstellung Hitlers im Justizsystem hatte Göring, wie in diesem Urteil wiedergegeben, in einer Rede vor der Akademie für deutsches Recht am 13. November 1934 seine Meinung zum Ausdruck gebracht: „In dieser Stunde höchster Gefahr“ - nach dem Röhm-Putsch - sei allein Hitler „oberster und alleiniger Gerichtsherr der deutschen Nation.“

Nach Rothenberger müsse ein Richter „wie der Führer urteilen“, während in gleichem Sinne Reichsjustizminister Dr. Thierack am 5. Januar 1943 erklärt hatte, daß „der Führer der oberste Gerichtsherr, der oberste Richter des deutschen Volkes ist.“ In einem Brief an Freisler erklärte Thierack: „Im allgemeinen muß sich der Richter des Volksgerichtshofes daran gewöhnen, die Ideen und Absichten der Staatsführung als das Primäre zu sehen, das Menschenschicksal, das davon abhängt, als das Sekundäre...“ und am 5. Januar 1943 äußerte er: „Das innere Gesetz des Rechtswahrers sei der Nationalsozialismus. Das geschriebene Gesetz sei nur die Hilfe zur Auslegung der nationalsozialistischen Idee.“

Im Ergebnis all dessen stellte das Militärgericht in diesem Juristenprozeß fest: „Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen“

V.

Ich möchte an dieser Stelle als Strafrechtswissenschaftler einiges zur NS-Rechtsideologie erläutern.

Im „Rechtswahrer“, einem „Soldatenbriefe zur Berufsförderung“, für „Frontsoldaten“, der „unter ständiger Beteiligung der Reichs-Rechtsanwaltskammer, der Reichs-Notarkammer, der Rechtsfakultäten der deutschen Universitäten und der Reichs-Studenten-Führung herausgebracht wurde, ist einleitend der Erlaß des Reichs-Justizministers Thierak vom 24. August 1942 abgedruckt, der mit den Worten endet: „Ich möchte im Urteil des Richters den deutschen Menschen erkennen, der mit seinem Volk lebt.“

Rothenberger vermittelt u. a. „Der Richter leitet im Gegensatz zu anderen Staatsdienern seine Befugnis unmittelbar von der Staatsführung ab.“ „Der Führer ist nach Überwindung der Gewaltenteilung nicht nur Gesetzgeber und Inhaber der vollziehenden Gewalt, sondern auch oberster Gerichtsherr.“ „Denn ein Richter, der in einem unmittelbaren Lebensverhältnis zum Führer steht, muß richten ‚wie der Führer’“.

Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuches vom 16. September 1939 trage „wegen seiner verfassungsrechtlichen Bedeutung ... die Unterschrift des Führers. “ „Aus der Stellung des Führers als oberster Gerichtsherr im Sinne von oberster Richter, die aus dem tiefsten Sinn des Führerstaates folgt, ergibt sich, daß jedes Urteil seiner Bestätigung bedarf. Diese ist an sich als im voraus für jedes Urteil erteilt anzusehen. Nur wenn schwerwiegende Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils bestehen, kommt im Einzelfall die allgemein in Aussicht gestellte Urteilsbestätigung nicht zum Zuge.“

Dann wird der außerordentliche Einspruch gegen Urteile und Gerichtsbeschlüsse erhoben, und zwar durch den Oberreichsanwalt beim Reichsgericht in allen Strafsachen der allgemeinen Gerichte und der Sondergerichte bzw. den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof.“

Zur Volksschädlings-Verordnung wird strafrechtstheoretisch besonders hervorgehoben: „Ein reines Tatstrafrecht in dem Sinne, daß nur das äußere Tatgeschehen Grund und Maßstab der Strafe bestimmen, hat es seit Einführung der Schuldhaftung und Ablehnung des Prinzips der Erfolgshaftung nicht mehr gegeben. Jede Straftat ist seitdem in ihrem Wertgehalt nach der Schuld des Täters bemessen und bestraft worden. Dennoch bedeutet dies noch kein Täterstrafrecht in dem neuzeitlichen Sinne ... Beim Täterstrafrecht geht es um die Kennzeichnung des Täters als Typ des Volksschädlings.“

Es geht nach nazistischen Täterstrafrecht also darum, ob der Täter ein Volksschädling ist, nicht darum, ob er in diesem Gesetz beschriebene Handlungen beging!

Weiterhin heißt es: „Das Täterstrafrecht bietet deshalb einen besseren Beurteilungsmaßstab, weil es nicht nur eine Tat auf die Waage der Justitia legt, sondern alle Taten dieses Menschen, die guten und die schlechten, zusammenträgt und nun von neuem wägt, ob gut oder böse überwiegt. (S. 70)

„Echte Reformgedanken“ - heißt es weiter - „enthält die Neuerung der Strafvorschriften über Mord und Totschlag mit der Neufassung der §§ 211,212 SGB“.

„Die Unterscheidung des Mörders vom Totschlag soll fortan nach Merkmalen erfolgen, die eine sittliche Bewertung der Täterpersönlichkeit in den Vordergrund stellen.“ „Motiv, Tatausführung und Zweck der Handlung bestimmen den Unwertcharakter der Tötungshandlung“.

In einer gesonderten „Einführung in das Strafrecht“ wird die Strafe als Mißbilligung und Verdammung des Verbrechens bezeichnet, die ihrem Wesen nach „Vergeltung“ sei und „das in uns allen lebendige Sühnebedürfnis“ befriedigt. „Verbrecher sollen abgeschreckt, gebessert oder unschädlich gemacht werden.“

„Die Arbeit des Richters“ - heißt es dann im Geiste der nazistischen Tätertypenlehre - „ist also das Gegenteil von Schema und Abstraktion, wenn er sie richtig auffaßt. Nicht nur das Typische an der Tat, sondern auch den Typ des Menschen, den er vor sich hat, muß er erkennen, um die richtige Strafe zu finden.“ Auch der „Schaeffer“, ein knappes, aber zuverlässiges, didaktisch vorzüglich aufgearbeitetes den Jurastudenten geläufiges Studienbuch „Der Staat im nationalsozialistischen Weltbild“ von Dr. Helmut Nicolai, Ministerialdirektor im Reichsministerium des Innern, verrät die Nazi-Rechtsideologie. Dort heißt es u. a.: „Die rassengesetzliche Rechtslehre des Nationalsozialismus hat folgende Grundgedanken: „1. das Recht ist mit dem Begriff und dem Vorhandensein einer Gemeinschaft von Menschen (Volksgemeinschaft) unmittelbar gegeben.“ „Das Recht ist angeboren. Es entspricht den natürlich gegebenen sozialen Instinkten der Menschen. Das Recht ist seinem Geiste nach bestimmt durch die Rasse der Menschen.“ „Zweck des Rechts ist die Erhaltung des Lebens der Volksgemeinschaft.“

Daraus folgt: Nur das ist Recht, was dem Leben der Volksgemeinschaft dient. Das Recht darf nicht international sein!! Dem Deutschen gebührt deutsches Recht.

Für den Begriff des Volkes ist die Abstammung maßgebend; Volk ist eine durch Blutsverwandtschaft zusammengehörige Menschengruppe. Deutscher ist, wer deutscher Abstammung ist, wobei das Blut (die Rasse) entscheidet.

Genau in diesem Sinne und auch in dieser Terminologie finden wir Aussagen der deutschen Strafrechtslehrer im Dritten Reich, die in ihrem Schrifttum die nazistische Ideologie offen vertraten und propagierten.

Friedrich Schaffstein, neben Dahm Vertreter der faschistischen „Kieler Schule“, erklärte: Beim „Übergang vom sozialliberalen zum nationalsozialistischen Strafrecht“ ist dieses Recht „auf die völkische Sittenordnung zurückzuführen, die das Verbrechen wesentlich als Verstoß gegen die Sittenordnung und erst sekundär als äußeren Schaden erscheinen läßt“. Dies sei „bedeutungsvoll, als es den Täter und seine Gesinnung... in den Vordergrund rückt.“

Noch deutlicher formuliert Wilhelm Gallas: „Die Ordnung der Gemeinschaftswerte, die den Sinngehalt des Verbrechens bestimmt, ist als völkische Sittenordnung mit der Einmaligkeit des Volkes als biologisch-geistiger Einheit immanent gegeben. Damit sind Wert und Wirklichkeit im Ursprungs vereinigt.“

Sehr engagiert hatte sich Hans Welzel für die Nazis ausgesprochen. Er stellte - schreibt er selbst - den Plan, die Beziehungen des Rechts und der Rechtswissenschaft zu den tragenden Ideen des 19. Jahrhunderts zu bearbeiten, zurück, „bis das ungeheure politische Geschehen der nationalsozialistischen Revolution uns allen die Frage nach unserem geschichtlichen Standort und die Auseinandersetzungen mit dem Vergangenen mit unmittelbarer Kraft aufzwang. Die Gewalt dieses Umsturzes gab dann den Mut, irgendwo in den Ring der Probleme hinein zu springen“ „Alles drängt auf eine neue Metaphysik hin, die ihren Mittelpunkt in einer metaphysischen Anthropologie hat ...“. Er begrüßte die Idee „einer alle Klassen umfassenden Volksgemeinschaft ..., die erst das gewaltige Programm des Nationalsozialismus wurde“ Dann geht es ihm um „die Volksgemeinschaft mit den Notwendigkeiten der konkreten historischen Situation, die auf rechtlichem Wege vor allem in dem geäußerten Führerwillen, d. h. im Gesetz, ihren sichtbaren Niederschlag finden“.

Auch Welzel begrüßte ausdrücklich die Einführung der Analogie und des „gesunden Volksempfindens“ durch den geänderten § 2 RStGB, obzwar diese Neufassung direkt und ganz offen gegen Art. 116 der Weimarer Reichsverfassung verstieß, also verfassungswidrig war! Die „ideellen Grundgedanken des neuen § 2“ wachsen „mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes und (es) wird gestaltet durch die Tat des Gesetzgebers. Beide Kräfte gestalten das Recht.“

Edmund Mezger spricht im Hinblick auf diesen § 2 RStGB vom „Standpunkt des lebendigen Rechts“, das zwei Erscheinungsformen habe, das Gesetz und das „gesunde Volksempfinden“. Wenn Metzger schreibt (S. 303) „Tätertypik liege ... überall dort vor, wo die Gesinnung des Täters bei der Beurteilung der Tat eine entscheidende Rolle spielt“, dann erkennen wir schon an der Terminologie die Rolle der Gesinnung, die im Nazi-Staat ein großes Gewicht hatte.

Die Tätertypik bzw. die Lehre vom Tätertyp kam in der Gesetzgebung der Nazis nicht nur in der täterstrafrechtlichen Neufassung des § 211 (Mord), sondern auch im Vokabular solcher Strafbestimmungen zum Ausdruck, wie der Verordnung gegen „Volksschädlinge“ vom 5. Sept. 1939, in der Verordnung gegen „Gewaltverbrecher“ vom 5. Dez. 1939 und in der Verordnung zum Schutze gegen „jugendliche Schwerverbrecher“ vom 4. Oktober 1939. Strafe war damit keine Tatstrafe mehr, sondern Täter„strafe“.

So haben diese Strafrechtswissenschaftler und viele andere auch mit den von ihnen vertretenen Lehren dazu beigetragen, die Herrschaft der Nazis zu fördern, deren Ideologie zu propagieren und die Jugend mit dem nazistischen Ungeist zu vergiften.

Auch wenn sie nicht direkt zum Kreis der Hauptschuldigen oder der Schuldigen zweiter Stufe im Sinne der Kontrollratsdirektive 38 gehören, und sich somit nicht der Verantwortlichkeit nach dieser Vorschrift der Alliierten ausgesetzt haben, darf ihr Beitrag zur Stärkung der nazistische Ideologien nicht unterschätzt werden.

Diese alten Nazi-Professoren lehrten nach 1945 im Westen Deutschlands wieder, als wäre nichts geschehen, auch wurden sie „ganz normal“ durch Festschriften geehrt.

Die oben vorgenommene Auflistung der von den Alliierten aufgehobenen Nazigesetze läßt erkennen, daß eine Reihe von Vorschriften des Dritten Reiches weiterhin galten, die als höchst bedenklich anzusehen sind, weil ihnen nazistischer Geist innewohnt.

Dazu gehört die Verordnung gegen Gewaltverbrecher (Gewaltverbrecher-VO) vom 5. 12. 1939 mit uneingeschränkter Rückwirkung, die die Todesstrafe obligatorisch vorsah und so nazistische Züge aufweist. Auch das Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) vom 6. 11. 1943 blieb in Geltung, obwohl es mehrere unzweifelhaft nazistische Bestimmungen enthielt. So konnte gegen einen Jugendlichen, der bei Begehung einer Straftat über 16 Jahre alt ist, Erwachsenstrafrecht angewandt werden, wenn der Täter nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung einer über 18 Jahre alten Person gleichzusetzen sei und wenn die bei der Tat gezeigte, besonders verwerfliche verbrecherische Gesinnung (!) oder der Schutz des Volkes eine solche Bestrafung erforderlich mache; auch diese Verordnung hatte rückwirkende Kraft.

Verweisen muß ich demgegenüber auf eine weitreichende Entscheidung des Obersten Gerichtes der DDR vom 23. Dezember 1952, wonach die in der Nazizeit am 24. 11. 1933 erlassenen Vorschriften des § 20 a RStGB gegen „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ und der §§ 42 a Ziff. 4 und 42 e RStGB über die Sicherungsverwahrung, in der DDR nicht anwendbar waren.

In der Folgezeit blieb das Strafrecht der DDR frei von einer Bestimmung über die Sicherungsverwahrung; das hatte zur Folge, daß auch nach dem 3. Oktober 1990 bei so genannten Alttaten (noch zur Zeit des Bestehens der DDR auf ihrem Boden begangene Straftaten) auf Sicherungsverwahrung nicht erkannt werden konnte.

VI.

In Erfüllung des Potsdamer Abkommens wurden auch die besonderen Nazigerichte abgeschafft, nämlich der Volksgerichtshof, die Gerichte der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und die Sondergerichte.

Zur Aufhebung ungerechter, vielfach verbrecherischer Urteile heißt es in der Präambel der Proklamation Nr. 3 des Alliierten Kontrollrates vom 20.10.1945, betr. Grundsätze für die Umgestaltung der Rechtspflege: „Mit der Ausschaltung der Gewaltherrschaft Hitlers durch die Alliierten Mächte ist das terroristische System der Nazigerichte abgeschafft worden.“

Obzwar auch die nazistischen Militärgerichte und die „ordentlichen Gerichte“ des Dritten Reiches mit ihrer „Rechtsprechung“ an dem terroristischen System der Nazigerichte ihren Anteil hatten, sahen die Alliierten keine Möglichkeit, auch diese Gerichtsbarkeit schlechthin abzuschaffen. Sie mußte, wie in der Präambel und in Artikel 1 des KG Nr. 4 vom 30.10.1945 festgelegt, umgestaltet werden.

In der Proklamation Nr. 3 wurde - unter II 5 - weiterhin bestimmt: „Verurteilungen, die unter dem Hitler-Regime ungerechterweise aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erfolgten, müssen aufgehoben werden.“

Die wohl komplizierteste praktische Aufgabe, die sich aus dem Potsdamer Abkommen ergab, war die der Entfernung von Nazis aus der Justiz und die Neu- und Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens.

Um eine neue demokratische Strafrechtspflege in Deutschland zu gestalten war es nicht nur unerläßlich, die Nazigesetze aufzuheben und die besonderen Nazi-Gerichte abzuschaffen. Es bedurfte auch einer grundlegenden Veränderung des Gerichtssystems und vor allem des Personals der Richter und Staatsanwälte.

In III A 6 des Potsdamer Abkommens war - wie bereits oben ausgeführt - als Konsequenz der Niederwerfung des verbrecherischen Hitlerregimes die Entfernung aller Mitglieder der nazistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben, und aller anderen Personen, die den alliierten Zielen feindlich gegenüberstehen, aus den öffentlichen und halböffentlichen Ämtern vorgesehen. Sie waren durch Personen zu ersetzen, die nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften fähig erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in Deutschland mitzuwirken.

Das Potsdamer Abkommen gab somit eine doppelte Aufgabe vor:

Entfernen von Nazijuristen aus der deutschen Justiz und ihre Ersetzung durch vom Nazismus unbelasteten Personen!

Für die Alliierten war die Entfernung dieser Nazis aus dem deutschen Gerichtswesen eine unerläßliche Bedingung.

Nachdem mit der Proklamation Nr. 3 (Grundsätze für die Umgestaltung der Rechtspflege) vom 20. Oktober 1945 das terroristische System der Nazi-Gerichte abgeschafft worden war und an seine Stelle eine Rechtspflege treten sollte, „die sich auf die Errungenschaften der Demokratie, Zivilisation und Gerechtigkeit gründet“, wozu das Gesetz Nr. 4 (Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens) vom 30. Oktober 1945 erlassen wurde, das im wesentlichen der Gerichtsverfassung von vor 1933 entsprach, kam es nun auf die personelle Seite dieser Umgestaltung an.

Nach der aufgrund des Potsdamer Abkommen erlassenen Kontrollratsdirektive Nr. 24 vom 12. Januar 1946 war die Entfernung von Nazis aus allen öffentlichen und halböffentlichen Ämtern, also auch aus der Justiz verbindlich festgelegt.

So war in Ziff. 10 dieser Direktive die „zwangsweise Entfernung“ bestimmter Kategorien von Personen vorgesehen, nämlich: „Kriegsverbrecher, d. h. Personen, die auf der Kriegsverbrecherliste der Alliierten Kommission für Kriegsverbrechen oder auf irgend einer Sonderlisten des Gegenspionagedienstes stehen oder eines Kriegsverbrechens verdächtig sind“ und NSDAP-Mitglieder verschiedener Ränge sowie Mitglieder in mit der NSDAP verbundene Organisationen, die im Einzelnen aufgezählt werden.

In der Unterziffer 87 ist der zu entfernende Personenkreis von Juristen im Einzelnen festgelegt, so alle diejenigen, die zu irgendeinem Zeitpunkt Präsident, Vizepräsident, Direktoren oder Schatzmeister der „Akademie für deutsches Recht“ waren, weiter alle Richter am Volksgerichtshof sowie der Oberreichsanwalt und alle anderen Staatsanwälte dort; alle Vorsitzenden und sonstigen ständigen Richter an Sondergerichten und alle Staatsanwälte; alle Richter, Staatsanwälte und Amtsträger an Partei-, SS- und SA-Gerichten; alle vorsitzführenden Richter und alle Staatsanwälte der Standgerichte.

Gemäß Unterziffer 88 werden weitere aus den „ordentlichen Gerichten“ als zu entfernende Juristen aufgelistet: Der Präsident des Reichsgerichts, die Richter des Sondersenats und alle Staatsanwälte; Präsident, Vizepräsident und andere leitende Beamte im Reichsjustizprüfungsamt; alle Präsidenten und Vizepräsidenten der Oberlandesgerichte und alle Generalstaatsanwälte; alle Präsidenten und Oberstaatsanwälte der Landgerichte, sowie leitende Juristen weiterer Gerichte, wie Erbhofgerichte, Dienststrafkammern, Reichsverwaltungsgericht, Reichsfinanzhof, Reichsarbeitsgericht, Reichspatentamt, Reichsversicherungsamt, Reichsversorgungsgericht, Reichsehrengerichtshof u.a. Schließlich gab es unter Ziff. 11, 12 und 13 noch Richtlinien für Entfernung und Ausschluß „nach Ermessen“. Auch dazu gibt es entsprechende Listen.

Wenngleich die Zahl der vorstehend aufgeführten obligatorisch zu entfernenden Juristen nicht gering ist, erschöpft ist der Kreis der nazistisch belasteten Richter und Staatsanwälte damit nicht. Es bedurfte daher weiterer Prüfungen. So ergaben sich sofort zwei nicht einfach zu lösende Probleme:

Wer war Nazi im Sinne dieser Bestimmungen? Wo sind die Personen zu gewinnen, die die Stellen der entfernten nazistischen Richter und Staatsanwälte einnehmen sollen und können?

Dabei sollte nicht übersehen werden, daß um die 80 % der Richter und Staatsanwälte Mitglieder der Nazipartei gewesen waren. Und es darf auch nicht vergessen werden, daß - wie das Oberste Gericht der DDR in seiner Entscheidung vom 13. Juni 1950 - 3 Zst 25/50 - zutreffend erkannte: „Das Vorhandensein der gleichen Tendenzen in der Justiz der Weimarer Republik wie der im Nazistaat gibt nur eine Erklärung dafür, daß die deutschen Richter in ihrer übergroßen Mehrzahl sich dem Nationalsozialismus als willige Werkzeuge zur Verfügung stellten.“

(Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)

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Weißenseer Blätter

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Antwort auf die „Preisfrage“

Entnommen aus der deutschen Übersetzung von 1945 der 1937 unter Stalins Anleitung entstandenen Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschwewiki)  - Das Zitat aus: Lenin/Stalin, Das Jahr 1917, S. 31 und 35


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* Anm. d. Red. d. WBl.: Der Raum reichte nicht, das englisches Original und die deutsche Übersetzung nebeneinander zu stellen. Übersetzt wurde so wörtlich wie möglich. So ist „leader“ stets mit „Führer“ wiedergegeben, obwohl man in Deutschland wegen der Terminologie der Deutschen Christen im Blick auf Kirchen lieber von „Leiter“ spricht. „Imperial“ ist mit „imperialistisch“ übersetzt, weil dies Wort im Deutschen am genauesten das Gemeinte trifft.

[1] Exodus 20,4 (2. Gebot).

[2] Die von innerweltlichem Wissen ausgehende Konstruktion eines Gottesbegriffs folgt dem Schema der analogia entis.

[3] Hanfried Müller, Evangelische Dogmatik im Überblick, § 8, Berlin 1989.

[4] Hier entspringt die Trinitätslehre.

[5] Gen. I, 26 in der Übersetzung von Martin Luther. Biblia, das ist die gantze Heilige Schrifft, Faksimile-Druck Leipzig 1983.

[6] Eugnostos-Brief, in: Werner Foerster (Hg.), Die Gnosis, Band II, Düsseldorf und Zürich 1997, S. 37 ff.

[7] Ebd., S. 39.                                                                        8 Ebd., S. 40.                                               9 Ebd., S. 41.

10 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1977 (7.Aufl.), S. 52

11 Origines Contra Celsum, deutsch von Paul Koetschau, 2 Bd. München o.J.

12 Vgl. Gershom Scholem, „Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum“, in: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt am Main 1970, S. 90 ff.

13 Das gilt nicht nur für die Menschen, die sündigen, sondern auch für Gott, dessen unverständliche, weil ungerechte Ungnade das Aufbegehren Hiobs auslöst.

14 Dieser Ereignis-Begriff berührt sich eng mit dem Jean Paul Sartres, wie dieser ihn zum Beispiel in der Schilderung seiner Freundschaft mit Maurice Merleau-Ponty gebraucht: „Das Ereignis hatte uns geschaffen und einander nahegebracht, es hat uns getrennt“. J. P. Sartre, Freundschaft und Ereignis. Begegnung mit Merleau-Ponty, deutsch von H. H. Holz, Frankfurt am Main 1962, S. 5. Wer sich einläßt auf eine Situation, trifft in ihr Entscheidungen, deren Wirkungen das Ereignis ausmachen; in diesem Engagement wählt und verwirklicht der Mensch sich selbst in seinem So-und-nicht-anders-sein. Vgl. Hans Heinz Holz, Jean Paul Sartre, Meisenheim/Glan 1951, S. 57 ff.

15 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, 3. Band, 4. Teil, Zollikon/Zürich 1951, S. 11 und 9.

16 Ebd., S. 11.        17 Ebd.                   18 Ebd.

19 „Tatsächlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie den Menschen schafft, nicht gleichzeitig ein Bild des Menschen schafft, der wir sein wollen“. Jean Paul Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, Paris 1946. „Der Mensch ist zuerst ein Entwurf, der subjektiv lebt“. Ebd. Vgl. H. H. Holz, Jean Paul Sartre, a.a.O., S. 87 ff.

20 Ulrich Mann, Das Christentum als absolute Religion, Darmstadt 1970. „Solange eine Religion nur eine partikulare Erlösung lehrt, solange sie also etwa behauptet: nur diejenigen, welche wie wir glauben, kommen in den Himmel, alles andere hat die Hölle zu erwarten, solange bleibt diese Religion Sekte, mag sie nun groß oder klein sein. [...] Absolutheit bedeutet dennoch immer eine Exklusivität. Wo Absolutheit gelebt und behauptet wird, kann man jedenfalls nicht einfach lehren, es spiele keine Rolle, ob einer ein Buddhist, ein Christ oder ein Muslim sei; das alles spiele keine Rolle, wenn man nur ein frommer Mensch sei. Wer so redet, ist lediglich ein Indifferentist, er kann in keiner Weise religiöse Absolutheit behaupten“. Ebd., S. 59.

21  Karl Barth, Der Römerbrief, 2. Auflage 1921, Nachdruck Zollikon-Zürich 1947, S. 15.

22 Ebd., S. 68. So auch Luther nach Röm. 4,5: „Gerechtsein bei Gott ist dasselbe wie Gerechtfertigtwerden bei Gott. Nicht weil er gerecht ist, wird er von Gott für gerecht angesehen, sondern weil er von Gott für gerecht angesehen wird, darum ist er gerecht“. Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief, lat.-deutsche Ausgabe, Darmstadt 1960, Band I, S. 109.

23 Augustinus, Von Geist und Buchstaben 11,8 (Migne 44, 211 ). Zur Interpretation der dikaiosyne vgl. Heinrich Schlier, Kommentar zum Römerbrief in Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Freiburg/Br. 1977, Neuausgabe 2002, S. 44 f. und 103 ff.

24 Luther, Römerbrief, a.a.O., I. Band, S. 43.

25 Paulus, Römerbrief 3, 21. Griechisch heißt es: dikaiosyne theou pephaner ôtai. lateinisch: iustitia Dei manifestata est. Im ersten Fall ist das in-Erscheinung-treten, im zweiten das Sich-kundtun artikuliert.

26 Paulus, Röm. 3,24: dikaioumenoi té autou chariti (Dativ) – also gerecht für seine Gnade – nämlich dia tês apolytrôseôs tês en Christô Hêsou – durch die Erlösung (= Einlösung – redemptio – der Schuld), die in Christus Jesus ist (stattgefunden hat).

27 Paulus, Röm. 4,2. Vgl. auch 4,16: „Derhalben muß die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen, auf daß sie sei aus Gnaden“.

28 Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle 1913/1916.

29 Barth, Römerbrief, a.a.O., S. 125.

30 Vgl. Ernst Bloch, „Die Formel Incipit vita nova“, in: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Gesamtausgabe, Band 13, Frankfurt am Main 1970, S. 357 ff.

31 Barth, Römerbrief, a.a.O., S. 51.

32 Luther, Römerbrief, a.a.O., Band II, S. 61 f. Siehe auch S. 65: „Vergeblich wird von einigen das Licht der Vernunft hoch erhoben und dem Lichte der Gnade gleichgestellt, während es doch vielmehr Finsternis ist und das Widerspiel der Gnade (contrarium gratie). [...] Die Gnade nämlich stellt außer Gott keinen Gegenstand vor sich hin, zu dem sie getrieben würde und hinstrebte. [...] Die Natur aber stellt außer sich selber keinen Gegenstand vor sich hin, zu dem sie getrieben würde und hinstrebte. Sich allein sieht sie und sucht sie in allen Dingen“. Das ist strikt entgegengesetzt einer aufklärerischen Parallelität von Natur und Gnade, wie sie im Titel der Leibniz-Schrift „Principes de la nature et de la grâce“ angesprochen wird. Gottfried Wilhelm Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik, franz./lat. und deutsch von Hans Heinz Holz, Darmstadt 1965, S. 414 ff. Auch Malebranche konstruiert eine Parallelität von Natur und Gnade. Nicolas de Malebranche, Traité de la nature et de la grace, ed. Ginette Dreyfus, Paris 1958.

33 Rudolf Bultmann, Das Urchristentum, Zürich 1949.

34 Ebd., S. 194, 195.

35 So auch Bultmann, ebd., S. 191: „Diese eschatologische Gemeinde scheidet nicht etwa aus dem Judentum aus in dem Bewußtsein, eine neue Religionsgemeinschaft zu sein. Für das Auge der Zeitgenossen mußte sie als eine jüdische Sekte erscheinen, und auch dem Historiker stellt sie sich zunächst als solche dar“.

36 Ebd., S. 191.               37 Ebd., S. 195.                  38 Karl Barth, Ethik I, Zürich 1973, S. 26.    39 Ebd., S. 23.

40 Clemens Alexandrinus, Stromateis, V, 71, 3 ff., hat dies „auf den Punkt“ gebracht: „Wir nehmen dem Körper die natürlichen Eigenschaften weg, berauben ihn auch der Ausdehnung der Tiefe, dann der Breite und schließlich auch der Länge. Denn der Punkt, der dann noch übrig bleibt, ist eine Einheit, die sozusagen nur noch eine Position hat; wenn wir aber von ihr auch noch die Position wegnehmen, so bleibt nur die gedachte Einheit übrig. Wenn wir also alles weggenommen haben, was den Körpern und den sogenannten körperlosen Dingen anhaftet, und uns dann in die Größe Chrsti versenken und von dort mit Heiligkeit ins Unendliche fortschreiten, dann werden wir uns irgendwie der Wahrnehmung des Allmächtigen nähern und erkennen, nicht, was er ist, sondern was er nicht ist“.

41 Barth, Ethik I, a.a.O., S. 25.             17 Ebd., S. 23.

43 Die parmenideisch-platonische Dialektik von aletheia und doxa reproduziert sich hier unvermittelbar und irreduzibel aus der Andersheit (alteritas) der Welt gegenüber der Transzendenz Gottes.

44 Hanfried Müller, Von der Kirche zur Welt, a.a.O., entwickelt diese Dialektik in der Auseinandersetzung mit Bonhoeffer.

45 Barth, Ethik I, a.a.O., S. 20.

46 Die ursprungsverbundene Antithese Feuerbach-Kierkegaard hat Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1950 (Erstauflage Zürich 1941) thematisiert. Der subjektivistische Ansatz beider Denker kommt dabei in der Konfrontation mit dem Hegelschen Objektivismus deutlich zur Darstellung. Indem Löwith allerdings Marx ganz in diese junghegelianische Wende einbettet, verfehlt er den neuartigen Charakter, den die materialistische Wende bei Marx annimmt.

47 Siehe Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 7. Auflage Tübingen 1977: „Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb und in diesem Sinne ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie. Da das Verhältnis Gottes zu Welt und Mensch von Paul aber [...] gesehen wird [...] als hergestellt durch das Handeln Gottes in der Geschichte und durch die Reaktion des Menschen auf Gottes Tun, so redet jeder Satz über Gott von dem, was er am Menschen tut und vom Menschen fordert, und entsprechend umgekehrt jeder Satz über den Menschen von Gottes Tat und Forderung, bzw. von dem Menschen, wie er durch die göttliche Tat und Forderung und sein Verhalten zu ihnen qualifiziert ist“. In der problemlos behaupteten Umkehrung der Lesart des Verhältnisses Gott-Mensch liegt der methodologische Grund für die Substitution einer genuinen Theologie durch Anthropologie. Dies ist, wie mir scheint, ein Mißverständnis, wenn auch ein in der Struktur der christlichen Überlieferung angelegtes Mißverständnis – das in einer separaten systematischen Reflexion dessen, was die Formel sola fide bedeutet, untersucht werden müßte.

48 Als Beispiele seien genannt: Die Antagonismen der frühen Gemeinden im 3. Jahrhundert, also der „Streit der beiden Dionyse“, die Kontroverse um die Vergebung für die vom Glauben Abgefallenen, der Dissens zwischen Cyprian von Karthago und Stephan von Rom über die Ketzertaufe; im 4. Jahrhundert die Streitfragen der Konzile von Nicäa und Konstantinopel; im 5. Jahrhundert der Konflikt des Konzils von Chalcedon, und langanhaltend der sich unterschwellig durch die ganze Kirchengeschichte hinziehende Gegensatz zwischen dem Augustinismus und dem Pelagianismus. Vgl. dazu die kurze Darstellung von Karl Suso Frank, Grundzüge der Geschichte der Alten Kirche, 3. Auflage, Darmstadt 1993. Und ausführlich dazu die dreibändige Geschichte des Christentums im Altertum, hg. von Luce Pietri, franz. Paris 2000, deutsch Freiburg/Wien/Basel 2003/2005.

49 Karl Barth, „Die Theologie Schleiermachers“, in: Gesamtausgabe II, 11, Zürich 1978, S. 353 f.

50 Ebd., S. 335.

51 Vgl. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch, Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit, Band I, Stuttgart/Weimar 1997, S. 131 ff.

52 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage Riga 1787 (B), S. 620 ff. Dazu bemerkt Schleiermacher in § 33: „Die Anerkennung, daß dieses schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl [...] nicht etwas Zufälliges ist noch auch etwas persönlich Verschiedenes, sondern ein allgemeines, Lebenselement, ersetzt für die Glaubenslehre vollständig alle sogenannten Beweise für das Dasein Gottes“. (Zitiert bei Barth, a.a.O., S. 357).

53 Barth, „Schleiermacher“, a.a.O., S. 364.      Ebd., S. 357            EBD., S. 347             Ebd. S. 373 f.

57 Barth referiert Schleiermachers Position zusammenfassend: „In Gott wie im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl, an und für sich keine Mannigfaltigkeit der Funktionen, kein Gegensatz, keine Differenz. Die Aufstellung der göttlichen Eigenschaften kann und soll also nur das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl erklären durch Rückgang auf die göttliche Ursächlichkeit, aber ohne mit den dabei auszusagenden Verschiedenheiten etwas Reelles in Gott auszusagen, wie ja auch im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl an und für sich (abgesehen von seinen Bestimmtheiten) keine reellen Verschiedenheiten sind. Die anzustrebende Vollständigkeit der göttlichen Eigenschaften ist nichts Anderes als die Vollständigkeit des Selbstbewußtseins in seinen verschiedenen Modifikationen.“ Ebd., S. 371.

58 Josef König, Sein und Denken, Halle 1937, S. 41 ff (§ 9), hat der Struktur des „Weckens“ eine phänomenologische Analyse gewidmet. Deren Konsequenzen für den Modus hermeneutischen Sprechens untersucht Volker Schürmann, Zur Struktur hermeneutischen Sprechens, Freiburg/München 1999, S. 223 ff.

59 Karl Barth, Dogmatik im Grundriß, 8. Aufl. Zürich 1998, S. 26.

60 Vgl. dazu Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion, Stuttgart und Weimar 2005, S. 73 ff. und 223 ff.

61 Über Evidenzerfahrung und deren Adäquatheit und Inadäquatheit vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Band I, den Haag 1950 (Husserliana III), S. 336 ff.

62 Barth, Dogmatik im Grundriß, a.a.O., S. 28. Barth, Dogmatik im Grundriß, a.a.O., S. 28.

63 Ebd., S. 18.        58 Ebd., § 2-4

65 Barth, „Die Theologie Schleiermachers“, a.a.O., S. 395.

66 Inwieweit bei Luther selbst schon der Übergang zu einer Zurücknahme des reformatorischen Glaubensverständnisses auf eine systematische philosophieförmige Dogmatik angelegt ist, kann hier außer Betracht bleiben. Vgl. dazu Rosemarie Müller-Streisand, Luthers Weg von der Reformation zur Restauration, Halle 1964.

[9] Franz J. Hinkelammert, Der Schrei des Subjekts. Vom Wlttheater des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung, Luzern 201, S. 123

[10] Diesen Begriff habe ich zum ersten Mal im August 1974 in einer Runde von afghanischen Studiereden in Bonn zur Diskussion gestellt.

[11] Hier handelte es sich um die eingeleitete Bauernreform.

[12] MEW, Bd. 19, S. 108.

5 MEW, Bd. 19, S. 385. Marx analysiert gründlich die Situation der „Ackerbaugemeinde“ in Rußland und weist auf die Möglichkeit des NKEW hin „ohne durch das Kaudinische Joch gehen zu müssen.“ Ebenda, S. 389.

[14] MEW, Bd. 32, 414f

[15] MEW, Bd. 35, S. 358

[16] MEW, Bd. 23, S.15 f

[17] MEW , Bd 22, S. 427

[18] MEW, Bd 22, S. 428

[19] MEW, Bd. 22, S. 428.

[20] Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907, Berlin, 1907, S. 26.

[21] Ebenda, S. 34.

[22] Vgl. Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart, in: Lenin Werke (LW), Bd. 13, Berlin/DDR, S. 66-85.

[23] LW, Bd. 13, S. 78. “Das ist ein Rückzug auf die Position Roosevelts“, stellte ein US-amerikanischer Delegierter auf dem Kongreß fest. LW, Bd. 13, S. 78.

[24] LW, Bd. 13, S. 68.

[25] LW, Bd. 13, S. 79.

[26] LW, Bd. 15, S. 241.

[27] LW, Bd. 23, S. 61.

[28] LW, Bd. 30, S. 146.

[29] LW, Bd. 31, S. 232.

[30] Vgl. Der zweite Kongreß der Kommunist. Internationale, Protokoll der Verhandlungen vom 19. Juli in Petrograd und vom 23. Juli bis 7. August 1920 in Moskau, Hamburg 1921, S. 170 und 216f.

[31] Vgl. Roy, Manabendra Nath: Die revolutionäre Bewegung in Indien, in: Die Kommunistische Internationale, Organ des Exekutivkommitees der Kommunistischen Internationale, Jg. 2, 1920, Nr. 12, Hamburg, S. 248; und seine Rede, in: Protokoll (Matin des V. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Bd. II, Erlangen 1973 (Reprint), S. 638ff.

[32] Thesen und Resolutionen des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Moskau, vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 14.

[33] Thesen und Resolutionen des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Moskau, vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 18.

[34] Klassen und Klassenkampf in den Entwicklungsländern, in 3 Bden, Berlin/DDR 1969; Tjulpanow, S. I.: Politische Ökonomie und ihre Anwendung in den Entwicklungsländern, Frankfurt/M. 1972; Uljanowski, R. A.: Der Sozialismus und die befreiten Länder, Berlin/DDR, 1973; Nichtkapitalistischer Entwicklungsweg, Berlin/DDR 1973; Ibrahim, Salim/Metze-Mangold, Verena: Nichtkapitalistischer Entwicklungsweg, Köln 1976; Brehme, Gerhard: Der nationaldemokratische Staat in Asien und Afrika, Berlin/DDR 1976; Baumann, Herbert: Staatsmacht, Demokratie und Revolution in der DVR Algerien, Berlin/DDR 1980; Uljanowski, R. A.: Komintern wa Chawar [Komintern und der Osten], Teheran 1360 [1981/82] (persisch); Enqelabe Demokratike Melli, Hegemonie Proletaria wa Samtgiri Sozialisti, Nationaldemokratische Revolution, proletarische Hegemonie und sozialistische Orientierung, o. O., 1358 [1979/80].

[35] Grundsatzprogramm der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, 1. Januar 1965, in: Chalq, Kabul, Nr. 1/2, 11.4.1966 (22.1.1345), Präambel (in Dari und Paschto, Archiv des Verf., eigene Übers.). Grundsatzprogramm der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, 1. Januar 1965, in: Chalq, Kabul, Nr. 1/2, 11.4.1966 (22.1.1345), Präambel (in Dari und Paschto, Archiv des Verf., eigene Übers.)

[36] Ebenda, S. 2.

[37] Ebenda

[38] Ebenda, S. 3.

[39] Hier wurde angesichts der herrschenden monarchistischen Regierung aus taktischen Gründen nicht von Marxismus-Leninismus gesprochen.

[40] Vgl. Grundsatzprogramm der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, a.a.O., S. 8.

[41] Vgl. Baraki, Matin: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1978, dargestellt anhand der wichtigsten entwicklungspolitischen Projekte der Bundesrepublik in Afghanistan, Frankfurt/M. 1996, S. 444.

[42] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem neunten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Asad 1361 [Juli/August 1982], S. 18, in Dari (Archiv des Verf.).

[43] Sie entstammten der Schicht der von Landflucht betroffenen Handwerker und Bauern, die eng mit dörflichen Traditionen und der Religion verbunden waren.

[44] Hippler, Jochen: Der Krieg geht weiter, in: Blätter des iz3w, Freiburg 1988, Nr. 152, S. 18.

[45] Quelle: Weltwirtschaft am Jahreswechsel: Afghanistan, in: Mitteilungen der Bundesstelle für Außenhandelsinformation, Köln, laufende Jahrgänge (eigene Berechnungen).

[46] Vgl. Schumacher, Hans: Außenhandel und Terms of Trade Afghanistans 1961-1975, in: Asiel, Murad (Hrsg.), Außenhandel und Terms of Trade Afghanistans 1961-1975, Bochum 1979, S. 32, Tabelle 6.

[47] Vgl. Baraki, M.: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1978, a.a.O., S. 201-548.

[48] Ackermann, Klaus: Stille Revolution in Afghanistan, in: Außenpolitik, Stuttgart, Jg. 16, 1965, H. 1, S. 34.

[49] Baraki, M.: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1978, a.a.O., S. 110.

[50] Vgl. Taraki, Nur Mohammad: Grundlinie der revolutionären Aufgaben der Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan, 9. Mai 1978, in: Brönner, Wolfram: Afghanistan, Revolution und Konterrevolution, Frankfurt/M. 1980, S. 203. Vgl. Taraki, Nur Mohammad: Grundlinie der revolutionären Aufgaben der Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan, 9. Mai 1978, in: Brönner, Wolfram: Afghanistan, Revolution und Konterrevolution, Frankfurt/M. 1980, S. 203. Vgl. Taraki, Nur Mohammad: Grundlinie der revolutionären Aufgaben der Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan, 9. Mai 1978, in: Brönner, Wolfram: Afghanistan, Revolution und Konterrevolution, Frankfurt/M. 1980, S. 203.

[51] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem neunten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, a.a.O.

[52] Islam, Revolution und Frauenbewegung - afghanische Erfahrungen: Anahita Ratebzad im Gespräch mit Mostafa Danesch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Jg. 26, 1981, H. 12, S. 1497.

[53] Es wurde unter DVPA-Mitgliedern in der BRD gemunkelt, daß Schinwari an den Außenminister Abdul Wakil für den Posten in Bonn Geld gezahlt hätte.

[54] Mir berichtete ein Mitglied der Revisionskommission beim ZK der DVPA, daß die Frau des Ministerpräsidenten Keschtmand, deren Gepäck als diplomatische Fracht galt und am Flughafen nicht kontrolliert wurde, westliche Waren in die Sowjetunion geschmuggelt habe.

[55] Vgl. Karmal, Babrak: Zusammenfassung der Rede in der Sitzung der führenden Mitarbeiter der Partei und des Staates, Kabul, 8. Qaus 1362 [29.11.1983], S. 41f., in Dari (Archiv des Verf.).

[56] Das afghanische Außenministerium hat 1366 [1987/88] 2000 qm Land, das unter König Amanullah Anfang der 20er Jahre des 20. Jh. In Berlin (West) gekauft worden war, ohne Ausschreibung für 950 000 DM verkauft, obwohl Anfang der 70er Jahre dafür vier Mio. DM angeboten worden waren. Die Einnahmen wurden nicht an den Staat überwiesen, sondern 350 000 DM wurden auf die Konto von Mohammad Daud Schahbas (Botschaftssekretär für Geheimdienstfragen in Bonn) und 80 000 DM auf das Konto des Geschäftsträgers überwiesen. Die Summe wurde dem Außenminister als Ausgaben mitgeteilt, jedoch ohne Belege. „Im Monat Qaus [November/Dezember] 1367 [1988] habe ich von der Angelegenheit erfahren [...], die Sachlage habe ich dem Präsidenten [Dr. Nadjibullah] mitgeteilt. Er befahl, die Akten sollen ihm vorgelegt werden, damit er persönlich mit solchen Personen abrechnen könne. Darüber, ob er das Geld zurückbekommen hat oder nicht, bin ich nicht informiert,“ schreibt der Ministerpräsident der Republik Afghanistan. Scharq, Mohammad Hassan: Karbas puschhaie Brahnapa [Barfüßige Leinwandträger], Peschawar 1991, S. 275f.

[57] Karmal, Babrak: Zusammenfassung der Rede in der Sitzung der führenden Mitarbeiter der Partei und des Staates, a.a.O., S. 40.

[58] Ich kenne Ärzte, die nicht einmal bereit waren, nach dem Zusammenbruch der CSSR, wo sie auf Kosten dieses Volkes studiert hatten, wenn schon nicht in Afghanistan, zumindest dort zu arbeiten. Sie gingen in die kapitalistischen Länder, z.B. die Niederlande, wo mehr zu verdienen war.

[59] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem neunten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, a.a.O., S. 12.

[60] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem zehnten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Aqrab 1361 [Oktober/November 1982], S. 5, in Dari (Archiv des Verf.).

[61] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem zwölften Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Saratan 1362 [Juni/Juli 1983], S. 5, in Dari (Archiv des Verf.).

[62] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem fünfzehnten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Hut 1363 [Februar/März 1985], S. 8, in Dari (Archiv des Verf.).

[63] Der Mitglieder der DVPA in der Bundesrepublik.

[64] Siehe dazu: Hundt, Walter: Nationale Vaterländische Front in Afghanistan, in: Deutsche Außenpolitik, Berlin/DDR, Jg. 26, 1981, H. 10, S. 47-57.

[65] Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Düsseldorf 1978, S. 553. Als Karmal 1980 die Partei- und Staatsführung übernahm, wurde Ing. Nazar Mohammad Mitglied des ZK der DVPA und Minister für Öffentliche Arbeit.

[66] Islam, Revolution und Frauenbewegung - afghanische Erfahrungen: Anahita Ratebzad im Gespräch mit Mostafa Danesch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Jg. 26, 1981, H. 12, S. 1499.

[67] Woolsey, James: „Schwache Politik, in: Die Woche, 6.3.1998, S. 25.

[68] „Ich sehe nicht ein, warum wir ein Land marxistisch werden lassen sollen, nur weil sein Volk verantwortungslos ist“, verkündete US-Außenminister Henry Kissinger am 27. Juni 1970 in vertrauter Washingtoner Runde im Hinblick auf seinen Beitrag beim Sturz der Regierung Salvador Allendes am 11.9.1973 in Chile, in: Dederichs, Mario R.: Reagan legt die Lunte an, in: Stern, Nr. 32, 4.8.1983, S. 102; Schmid, Thomas: Der andere 11. September, in: Die Zeit, Nr. 38, 11.9.2003, S. 90.

[69] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem dreizehnten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Hut 1362 [Februar/März 1984], S. 9, in Dari (Archiv des Verf.).

[70] Vgl. ebenda.

[71] Ratloses Pakistan in der afghanischen Krise, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 14.1.1980.

[72] Paech, Norman: Völkerrechtliches Gutachten zur Anwesenheit der sowjetischen Truppen in Afghanistan, Hamburg, 13.12.1982. (Hrsg.: Informationskreis Afghanistan, Bonn), S. 3f. (Archiv des Verf.).

[73] Vgl. Sapper, Manfred: Die Auswirkungen des Afghanistan-Krieges auf die Sowjetgesellschaft, Münster 1994, S. 68.

[74] Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des Zk der KPdSU, 18. März 1979, nach Sapper, M. Die Auswirkungen des Afghanistan-Krieges auf die Sowjetgesellschaft, Münster 1994, S. 385 ff.

[75] Quelle: Manfred Sapper, Die Auswirkungen des Afghanistan-Kriegses auf die Sowjetgesellschaft, Münster 1994, S. 68

[76] z.B. Kothny, Erik, Dayani, Khalid: Bundeswehr-Major am Hindukusch, Böblingen 1986.

[77] Ich habe seit 1978 auf mehr als hundert Vorträgen auf diese verhängnisvolle Kooperation der „freien Welt“ mit den afghanischen konterrevolutionären Banden und ihre Folgen für Afghanistan und die internationale Gemeinschaft aufmerksam gemacht.

[78] Falin; Valentin: Politische Erinnerungen, München 1993, S. 399.

[79] Ebenda, S. 401. Ebenda, S. 401.

[80] Ebenda, S. 410f.

[81] Les Révélations d’un Ancien Conseiller de Carter, „Oui, la CIA est entrée en Afghanistan avant les Russes...“, in: Le Nouvel Observateur, Paris 15-21 janvier 1998, S. 76 (eigene Übers. und Hervorhebungen durch den Verf.).

[82] Jimmy Carter erhielt am 10. Dezember den Friedensnobelpreis für das Jahr 2002, es wäre eher angebracht, Carter und Brzezinski als Kriegsverbrecher vor dem internationalen Tribunal in Den Haag zur Rechenschaft zu ziehen.

[83] Les Révélations d’un Ancien Conseiller de Carter, „Oui, la CIA est entrée en Afghanistan avant les Russes...“, a.a.O.

[84] Chossudovsky, Michael: Global brutal, Frankfurt/M., 02, S. 359.

[85] Ein Freund von mir, dessen Namen ich aus Sicherheitsgründen hier nicht nennen kann, ist Prof. an der Universität von Riad, Saudi-Arabien. Er berichtete, daß 5% von den Gehältern der saudischen staatlichen Angestellten und Beamten, ohne deren Einverständnis für den Djehad in Afghanistan abgezogen worden sind. Auch in anderen arabischen Scheichtümer war das nicht anders.

[86] Vgl. Baraki, A. M.: Nacht über Afghanistan, in: Marxistische Blätter. Essen, Jg. 31, 1993, Nr. 4, S. 17f.

[87] Chossudovsky, Michael: Global brutal, a.aO., S. 359.

[88] Othmerding, Heinz-Rudolf: Friedenshoffnung in Afghanistan: Taliban rücken nach Kabul vor, in: Deutsche Presse Agentur (DPA), 15.2.1995.

[89] CIA-Hilfe für afghanischen Widerstand höher den je, in: Frankfurter Rundschau, 14.1.1985, S: 2.

[90] Ebenda.

[91] Absolut blind, in: Der Spiegel, Nr. 38, 1989, S. 194.

[92] Eiserne Faust, in: Der Spiegel, Nr. 38, 1992, S. 204. Eiserne Faust, in: Der Spiegel, Nr. 38, 1992, S. 204.

[93] Vgl. ebenda.

[94] BND als Waffenkäufer, in: Der Spiegel, Nr. 45, 30.10.2004, S. 116.

[95] Vgl. Brönner, W.: Afghanistan, Revolution und Konterrevolution, a.a.O., S. 18.

[96] Dulles-Doktrin, die eine Eindämmung des Sozialismus mit allen Mitteln vorsah.

[97] Vgl. Andel, Horst: Die Neuzeit kommt auch nach Afghanistan, in: Deutsche Woche, München, 11, 1961, 13, S. 5.

[98] Nollau, Günther/Wiehe, Hans-Jürgen: Rote Spuren im Orient, Köln 1963, S. 166.

[99] Sadat: Mehr Waffen für die afghanischen Freiheitskämpfer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 27.12.1980.

[100] Sadats „peinliche Geschwätzigkeit“, in: Unsere Zeit (UZ), Neuss, 26.9.1981.

[101] Sadats Erzählungen, in: FAZ, 24.9.1981, S. 12.

[102] Ebenda.

[103] Immer nur Dienstag, in: FAZ, 8.8.1985, S. 10.

[104] Gorbatschow, Michail Sergejewitsch: “Das Ziel meines Lebens war die Vernichtung des Kommunismus”, in: Prawda Rossii, 26.7.-1.8.2000, zitiert nach UZ, 8.9.2000, S. 7.

[105] Sie hatte letztlich die Beseitigung des Sozialismus zum Ziel.

[106] Vgl. Gorbatschow, Michail S.: Lenin in meinem Leben, in: Der Spiegel, Nr. 29/1999, 19.7.1999, S. 151.

[107] Natorp, Klaus: „Umgestaltung“ auch in Afghanistan, in: FAZ,  25.1.1990.

[108] Denecke, Hermann: Ein Faß voll Leben, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt (DAS), Hamburg, 19.5.1989.

[109] Vgl. Mudjaheddin nehmen Kabul ins Visier, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), München, 6./7.10.1990, S. 12; Koydl, Wolfgang: Blutiges Patt am Hindukusch, in: SZ, 27.3.1991, S. 4; Neue Offensive gegen Jalalabad, in: Neues Deutschland (ND), Berlin, 1.8.1991, S. 4.

[110] Es wurden namhafte afghanische Persönlichkeiten in der ganzen Welt, u.a. der ehemalige bürgerliche Ministerpräsident, Dr. Mohammad Jossof, sein erster Stellvertreter, Dr. Abdul Samad Hamed, Finanzminister, Prof. Dr. Gholam Haidar Dawar, Minister für Stämme, Saien Masud Pohanyar, Staatssekretär im Planungsministerium, Mir Mohammad Sediq Farhang, General Abdul Karim Mostaghni und 53 weitere Personen, die sich in der BRD aufhielten, aufgefordert worden, sich an einer nationalen und politischen Lösung des Afghanistan-Konfliktes zu beteiligen, jedoch ohne Erfolg.

[111] Beteiligt waren neben Schah Nawas Tani, der auch Kandidat des Politbüros war, weitere Mitglieder des Politbüros, wie Mir Saheb Karwal, Nias Mohammad Mohmand, Gholam Dastagir Pandjscheri, Dr. Saleh Mohammad Zeray und Mitglieder des Zentralkomitees, wie Abdul Raschid Arian, Innenminister General Saied Mohammad Golabseu und General Qader Aka, Kommandant der Luftwaffe und der Luftverteidigung.

[112] Auf Basis neuer Informationen korrigiere ich mich hier insofern, als ich 1993 von der „Machtergreifung“ gesprochen hatte, vgl. Baraki, A.M.: Nacht über Afghanistan, a.a.O. S. 14.

[113] Weisung an alle Genossen der DVPA (Hesbe Watan) in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 11.8.1993, (vertraulich, Archiv des Verfassers), in Dari.

[114] Nach der völligen Zerstörung Kabuls waren über 50.000 Tote zu beklagen.

[115] Sichrovsky, Peter: Ein Land zerfleischt sich selbst, in: SZ, 31.8.1992, S. 4.

[116] Vgl. Gatter, Peer: Hoffnung in Trümmern, in: Mahfel, Berlin 1995, Nr. 5, S. 7. Zuvor war Kabul durch drei Sicherheitsringe der afghanischen bzw. sowjetischen Armee abgesichert.

[117] Das Inventar der Ministerien, der Universitäten, der Schulen und alles Wertvolle, das sich im Kabuler Museum befand, wurde geplündert und nach Pakistan verfrachtet; viele Bücher der großen Bibliotheken fielen „Bücherverbrennungen“ zum Opfer .

[118] MEW, Bd. 18, S. 534.

[119] MEW, Bd. 7, S. 85.

[120] Vgl. Gerns, Willi: Schlußfolgerungen für die Sozialismusprogrammatik, in: ZU, 9.10.1992, S. 15.