Weißenseer Blätter

                                        Heft 2/2004


 

 

 

Aus dem Inhalt                                                                                                                    2/2004

 

   Zu diesem Heft 

   Klugheit und Weisheit / Gert Wendelborn

   Der Gott der EU-Verfassung / Ulrich Duchrow

   Dokumentation der Stellungnahme von Bischof Huber und Kardinal Lehmann zur Einigung über den europäischen Verfassungsvertrag

   Probleme der strategischen Orientierung des Kampfes der Arbeiterklasse / Hans Kölsch

   Der „Röhm-Putsch“, der keiner war Legenden und Tatsachen um den 30. Juni 1934 / Kurt Gossweiler

   Aufruhr des Gewissens oder imperialistische Palastrevolte? Zur Ambivalenz des 20. Juli 1944 / Hanfried Müller

   Eine Stimme deutscher Kommunisten aus Moskau vom 20. 8. 1944 / Heinz Keßler

   Wie sich DDR und BRD zu den Männern des 20. Juli verhielten / Horst Schneider

   Betrachtung zu einer Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes über führende Generale der Nationalen Volksarmee / Gerhard Feldbauer

   Leben wir im Computer-Zeitalter? / Manfred Sohn

   Resonanz zu dem Nachdruck von Werner Seppmann aus jW (WBl 1 / 4 , S. 45)

Konsequenzen der sozialen Spaltungen für die Klassentheorie / John Norden

   Postscriptum betr.: Bischof Dr. Wolfgang Huber / Hanfried Müller


 

 

Zu diesem Heft 

 

Er könne gar nicht so viel essen, wie er kotzen möchte, soll Max Liebermann 1933 gesagt haben. Nicht anders als Liebermann damals geht es uns heute wenn wir in der junge Welt vom 22. Juli 2004 unter der Überschrift „Der Antrag auf Armut“ den sechzehnseitigen - „Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)“ lesen, den 2,2 Millionen Bezieher von Arbeitslosenhilfe und später auch die als arbeitsfähig eingestuften Sozialhilfeempfänger bis Ende des Jahres ausfüllen sollen, um nicht von 2005 an ohne Einkommen existieren zu müssen. Dieser Fragebogen füllt diese gesamte Ausgabe der jungen Welt abgesehen von einem einspaltigen Kurzkommentar.

Tatsächlich bedürfte es dieses Kommentars nicht einmal, wenn jedermann Gelegenheit hätte, diese 16 Seiten des Fragebogens zu lesen, in denen es um die Enteignung der ohnehin nahezu Eigentumslosen geht. Aber bisher ist er anscheinend nur in jener Ausgabe der jungen Welt allgemein zugänglich. Und wäre er es auch darüber hinaus, so würde der eintönige Katalog von Kästchen, die zur Beantwortung von Fragen mittels Kreuzchen vorgegeben sind, viele langweilen, am Weiterlesen und erst recht an der Prüfung hindern, was von der im Grundgesetz doch so pathetisch gerühmten „Menschenwürde“ für diejenigen übrig bleibt, die weder über Kapital verfügen noch einen sicheren Arbeitsplatz haben..

Die junge Welt hebt hervor: „Das Dokument ist Ausdruck einer sozialpolitischen Zäsur, die noch vor wenigen Jahren als unvorstellbar galt“ und fährt fort: „Die Betroffenen müssen sich mit detaillierten Angaben über Einkommen, Vermögen, Wohn- und Familienverhältnisse faktisch vor der Behörde ausziehen. Wer mehr als zweihundert Euro pro Lebensjahr gespart hat, wird vom Bezug des Arbeitslosengeldes II ausgeschlossen. Einkommen von Ehepartnern, Lebensgefährten, Partnern in Wohngemeinschaften und im Haushalt lebenden Verwandten werden angerechnet. Nach Schätzungen der Gewerkschaften werden dadurch eine halbe Million bisherige Arbeitslosenhilfebe­zieher von jedweder staatlichen Unterstützung ausgeschlossen. Einige Arbeitslosen­initiativen rechnen gar damit, daß jeder zweite von ihnen mit dieser Konsequenz leben muß. Wer die Stütze bekommt, bleibt selbstverständlich ebenfalls arm. 345 Euro im Westen, 331 im Osten reichen nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Die Bezieher sind verpflichtet, jede Arbeit anzunehmen ... Dieser gigantische Demokratieabbau, der mit der staatlichen Etablierung von Zwangsarbeit verbunden ist, hat in der öffentlichen Darstellung bisher so gut wie keine Rolle gespielt.“

Liest man den Fragebogen mit der gebotenen Sorgfalt, dann zeigt sich, daß die viel gerühmten Bürger- Grund- und Menschenrechte des Grundgesetzes für ökonomisch Mit­tellose nicht einmal mehr der Form nach gelten. Zwar ist zu erwarten, daß dieser Fragebogen aus verfassungsrechtlichen Gründen noch revidiert wird; aber diese Revisi­onen werden kosmetisch bleiben und nur dazu dienen, den äußeren Schein der Erhal­tung des bürgerlichen „Rechtsstaates“ während seiner tatsächlichen Liquidation zu wahren.

Zwar ist jeder Klassenstaat per definitionem Exekutor der Interessen der herrschenden Klasse; verlieren aber diese Klasseninteressen aus ökonomischer Gewinnsucht jeg­lichen gesellschaftlichen Charakter, so hört der Staat auf, Staat zu sein und wird darauf reduziert, bloß noch der Büttel zu sein, der ausschließlich die Profitmaximierung vor allen sozialen, politischen und kulturellen Interessen der Gesamtgesellschaft schützt.

Von einem Rechtsstaat, geschweige denn von einem sozialen Rechtsstaat, kann - so demagogisch diese Begriffe seit jeher verwendet worden sind - nunmehr in Deutsch­land überhaupt nicht mehr die Rede sein! Die Zäsur, die die faktische große Koalition in der Bundesrepublik zu vollziehen im Begriffe ist, ist mindestens ebenso tiefgreifend wie die von 1933, und es ist bedauerlich, daß uns bisher noch die Begriffe fehlen, um sie eindeutig zur definieren. Wir hoffen, zu diesem Thema weiterführende Beiträge für das nächste Heft der WBl angeboten zu bekommen.

Verglichen mit dem Alarmruf, mit dem wir die Einleitung zu diesem Heft beginnen mußten, nimmt sich der Aufsatz von Gert Wendelborn, zu Klugheit und Weisheit wohltuend kontemplativ aus, und es ist sicher gut, auch diesmal - wir haben uns schon oft auf Karl Barths Eingangssätze zu seiner „Theologischen Existenz heute!“ („als ob nichts geschehen wäre...“) bezogen - in der Unruhe der Zeit Ruhe zu bewahren.

Dann allerdings gehen wir vom Irenischen wieder zum Polemischen über, indem wir die, wie uns scheint, ausgezeichnete Kritik des europäischen Verfassungsentwurfes von Ulrich Duchrow aus Transparent übernehmen: Der Gott der EU-Verfassung. Damit sind wir mitten in den Problemen, vor die uns der „Neoliberalismus“ stellt. Freilich ist der „Neoliberalismus“ so wenig „liberal“, wie der Faschismus „soziali­stisch“ war, obwohl er sich in Deutschland so nannte: Aber genau wie im Faschismus geht es hier um die Paralyse fast aller humanistischen Errungenschaften bürgerlicher Revolutionen seit Rationalismus und Aufklärung, nur fehlt uns für dies Phänomen ein treffender Begriff. „Neo-Faschismus“ hat sich zur Bezeichnung der antiquierten Reste des ursprünglichen Faschismus eingebürgert, und irreführend wäre es auch, den „Neoliberalismus“ einfach „Faschismus“ zu nennen, weil er viel elementarer mit ökonomischem als mit politischem Terror verbunden ist.

So ist auch die Reaktion der Kirchen auf diesen „Neoliberalismus“ nicht einfach mit dem Jubelschrei der Kirchen über den Sieg des Faschismus in Deutschland von 1933 gleichzusetzen, erinnert aber mit ihrem klerikalen Egoismus und ihrer Blindheit für die Preisgabe zwischenzeitlich gewonnener demokratischer und sozialer Rechte dennoch fatal daran. Das zeigt die Stellungnahme des EKD-Ratsvorsitzenden und des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zur Einigung über den europäischen Verfassungsvertrag, die wir anschließend dokumentieren. Es wäre dringend geboten, diesem Ungeist des über die Kirche herrschenden goldenen Kalbes - zynischerweise das Symbol der Börsenberichte im deutschen Fernsehen - mit einem klaren Bekenntnis zu begegnen.

Politisch ist es in dieser Situation nötig, sich unbeirrt weiterhin auf die Probleme der strategischen Orientierung des Kampfes der Arbeiterklasse zu konzentrieren. Theoretisch fundiert tut das Hans Kölsch in seinem Beitrag. Daran schließen geschichtliche Erinnerungen anläßlich runder Jahrestage an: Kurt Gossweiler analysiert die Hintergründe des 60 Jahre zurückliegenden „Röhm-Putsches“, das heißt der Durchsetzung der Interessen des Monopolkapitals, das die NSdAP an die Macht gebracht hatte, gegenüber deren lumpenproletarischer Soldateska.  Dann folgen drei Beiträge zur Erinnerung an den 20. Juli 1944, und zwar von Hanfried Müller, Aufruhr des Gewissens oder imperialistische  Palastrevolte. Zur Ambivalenz des 20. Juli 1944, Eine Stimme deutscher Kommunisten aus Moskau vom 20. 8. 1944 von Heinz Keßler und der Rückblick von Horst Schneider, Wie sich DDR und BRD zu den Männern des 20. Juli verhielten. Nicht ganz ohne Zusammenhang mit diesem Thema, nämlich mit Funktion und Charakter der Streitkräfte in beiden Deutschen Staaten ist auch die kritische Betrachtung Zu einer Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes über führende Generale der Nationalen Volksarmee von Gerhard Feldbauer.

Am Ende des Heftes findet sich eine knappe Überlegung von Manfred Sohn: Leben wir im Computer-Zeitalter?, die vielleicht in mancherlei Weise zur Diskussion anregt, und eine Resonanz auf den Nachdruck von Werner Seppmann in WBl 1 / 4, S. 45 von John Norden: Konsequenzen der sozialen Spaltungen für die Klassentheorie, die, wie wir meinen, in vielerlei Weise nachdenkenswerte Beobachtungen enthält.

 

 

 

Klugheit und Weisheit

von Gerd Wendelborn

Vorbemerkung des Autors:

Ich habe bewußt darauf verzichtet, der Einladung Hanfried Müllers folgend seine Entgegnung auf meinen Beitrag „Konsens und Dissens“ in den WBl (Heft 2/2003) zu beantworten, tat dies aber in einem langen persönlichen Brief. Öffentlich wollte ich nicht - was in einem Streitgespräch fast un­vermeidlich erfolgt - das Unterscheidende zwischen uns ungebührlich in den Vordergrund rücken, weil dies meiner Grundintention völlig widerspräche. Ich folge aber gern der Einladung, einen Beitrag zu obigem Thema zu schreiben, denn ich meine gut verstanden zu haben, daß in diesem Vorschlag List der Vernunft wie Weisheit waltet, das Sachgespräch doch fortzusetzen. In der Tat dürfte gerade dieses Thema es mir ermöglichen, ganz unpolemisch-konstruktiv Verbindendes wie mein spezifisches Anliegen darzuzulegen. Natürlich kann es sich dabei nur um einen Diskussionsbeitrag und um einen Versuch handeln.

Nichts ist schwieriger als eine Definition. Was genau sind Klugheit und Weisheit? Was verbindet und was unterscheidet sie? Mir scheint, daß eine feste Begrifflichkeit in der Literatur der letzten Jahrhunderte hier nicht vorhanden ist. Manche theologischen Denker sprechen von Klugheit und beziehen dabei die Weisheit ein. Tatsächlich könnte man Weisheit wohl am besten als Lebensklugheit beschreiben, so daß sie ein Teil der Klugheit wäre. Doch scheint es mir auch sinnvoll, beide begrifflich zu unterscheiden. Man darf sie nicht trennen, zumal beide als Gottes Gaben an uns durchaus positiv zu beurteilen sind; aber man sollte sie unterscheiden, was dem Erkenntnisgewinn und Lebensvollzug dienen dürfte.

Ich verzichte freilich bei der Klugheit anders als bei der Weisheit auf eine biblische Grundlegung, obgleich man im alten wie im neuen Testament und gerade auch bei Jesus und Paulus manches finden kann - explizit wie implizit - was auf ihre selbstverständliche Einbeziehung in die Argumentation und gerade auch in die theologische Beweisführung hinweist. In der christlichen Dogmengeschichte ist es besonders die Rede vom Naturgesetz, die die grundlegende Verbindung des Vernünftigen und des Ethischen postuliert.

Mir scheint, Klugheit sei die sachgemäße Einstellung zur Wirklichkeit überhaupt. Dietrich Bonhoeffer meint denn auch in seiner „Ethik“ (S. 14f.), klug sei, wer die Wirklichkeit sieht, wie sie ist, der den Dingen auf den Grund geht. Die Erkenntnis der Wirklichkeit sei nicht dasselbe wie die Kenntnis der äußeren Vorgänge, sondern das Erschauen des Wesens der Dinge. Nicht der Bestinformierte sei der Klügste, denn gerade er stehe in Gefahr, über dem Vielerlei das Wesentliche zu verkennen. Klugheit sei, im Tatsächlichen das Bezeichnende zu erfassen. Klug ist mithin der, der sich in vollem Maße seines Verstandes bedient.

Für mich als lutherischen Theologen ist naturgemäß bedeutsam, was Luther zur Sache sagte,[1] und ich bin dankbar dafür, daß Hanfried Müller anders als die meisten seiner Barthianischen Freunde die positiven Elemente von Luthers Zwei-Reiche- bzw Zwei-Regimenter-Lehre nie übersah, wenn er auch wie ich stets um die Möglichkeit ihres Mißbrauchs wußte. Luther rühmte die Vernunft als das entscheidende Mittel, alle in­nerweltlichen Tatbestände zu begreifen. In diesem Bereich sei der Christ nicht Inhaber eines göttlich inspirierten Sonder- oder gar Geheimwissens, sondern er sei wie sämt­liche anderen Menschen auf den Gebrauch seiner Vernunft angewiesen. Er ist in die­sem ganzen Bereich nicht klüger als jeder andere auch. Das war im noch tief religiösen 16. Jahrhundert eine erstaunliche Feststellung, die sich nur aus Luthers Frontstellung gegen den römischen Klerikalismus erklärt. Insofern ist die Zwei-Regimenter-Lehre wie Luthers Arbeits- und Wirtschaftsethos [2] Bestandteil der frühbürgerlichen Elemente seiner Überzeugung. Freilich konnte Luther zugleich von der Hure Vernunft sprechen, die sich also beliebig nutzen und ausnutzen läßt. Aber das eben ist dann kein legitimer Gebrauch, sondern Mißbrauch der Vernunft als Folge dessen, daß der Sünder auch Gottes gute Gabe ihrer eigentlichen Bestimmung entfremden und in selbstsüchtige Dienste stellen kann.

Erst recht gehört die uneingeschränkte Bejahung der Vernunft zu den irreversiblen Erkenntnisgewinnen der Aufklärung. Bonhoeffer schreibt in seiner „Ethik“ (S. 27), die intellektuelle Redlichkeit in allen Dingen, auch in den Fragen des Glaubens, sei das hohe Gut der befreiten Ratio. Die Verachtung der Zeit des Rationalismus sei deshalb ein verdächtiges Zeichen für Mangel am Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit. Daß die Helle des Verstandes oft auf Kosten der Tiefe der Wirklichkeitssicht gehe, hebe doch nie mehr die innere Verpflichtung zum ehrlichen und sauberen Gebrauch der Ratio auf. Hinter Lessing und Lichtenberg könnten wir nicht mehr zurück. Die gleiche Auf­fassung vertrat nachdrücklich Albert Schweitzer.[3] Beide Denker leiteten daraus kriti­sche Folgerungen für ihre Stellung zu irrationalen, sich bewußt von der Aufklärung absetzenden Tendenzen im Geistesleben seit ca. 1900 ab. Beide wußten um den Zu­sammenhang von Hochschätzung der Vernunft und Humanitätspostulaten in der Aufklärung und umgekehrt von Irrationalismus und Absage an die Humanität in den zum Faschismus führenden geistigen Strömungen.

Die Aneignung von Wissen schafft die Möglichkeit, die menschlichen Lebens­bedingungen zu verbessern, wie dies in der Neuzeit auch vielfältig erfolgte, wodurch die Lebenserwartung des Menschen in unserem Kulturkreis in ungeheurem Maße stieg. Hier machte sich der Mensch - freilich in unterschiedlichem Maße und entsprechend den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen - den Reichtum der göttlichen Schöp­fung zu eigen. Zugleich steigt mit dem Wissen aber die Gefahr des Mißbrauchs. Das dürfte auch Bonhoeffer in seinen auf das zuvor Dargelegte folgenden Ausführungen meinen, wenn er auf die ganz neue Macht der Technik hinweist, durch die der Mensch viel stärker als zuvor die Natur beherrscht, leider auch im Sinne ihrer Unterdrückung, so daß es Wohltaten wie Dämonien der Technik gebe (S. 38). Wir alle wissen: Die Massenvernichtungswaffen sind das wohl eindeutigste Zeichen für den möglichen Mißbrauch neuer Erkenntnisse, durch die der Mensch heute anders als in allen frühe­ren Epochen sich selbst vernichten kann - eine Gefahr, die weniger denn je gebannt ist, da es die Eingrenzung imperialistischen Abenteurertums durch den Sozialismus nicht mehr gibt.

Klugheit ist dem Menschen also nicht immer förderlich. Sie kann ja auch kalt sein und an legitimer menschlicher Sehnsucht vorbeigehen. Sie muß abgegrenzt werden auch gegen cleverness und Schlauheit, wie wir sie im Kapitalismus angesichts der wirkli­chen oder vermeintlichen Notwendigkeit der Durchsetzung gegen andere täglich fin­den. In der „Wende“-Zeit konnten wir diese ebenfalls en masse beobachten. Es war die Schlauheit der „Wendehälse“, die im letzten Augenblick noch zu den angeblichen Siegern der Geschichte überlaufen und so ihre Haut retten wollten, was in vielen Fällen trotzdem nicht gelang, denn das Kapital ist nicht nur scheu wie ein Reh, son­dern auch nachtragend wie ein Elefant. Insofern muß man auch bei den Lebenskünstlern vorsichtig sein. Charakterlumpen sollte man nicht Lebenskünstler nennen. „Hier stehe ich, ich kann auch anders“ war Luthers Losung bekanntlich nicht. Falsche Schlauheit ist auch überall dort im Spiel, wo Menschen manipuliert werden, worauf sich die spätbürgerliche Gesellschaft ja bis in die Werbung hinein bestens versteht.

Schlauheit, Gerissenheit und Verschlagenheit passen in Wahrheit nicht zur Vernunft, wohl aber das eindeutige und uneingeschränkte Stehen zur Wahrheit ohne Rücksicht auf die Folgen im persönlichen Leben. Das hat Bonhoeffer in seiner antifaschistischen Kampfposition besonders tiefgründig durchdacht, als er gleich zu Anfang seiner „Ethik“ (S. 12 ff) auf den Zusammenhang von Klugheit und Einfalt im Wortsinn des vollständig Eindeutigen ohne alle Winkelzüge hinwies. Er schreibt es angesichts des wahrgenommenen erschütternden Versagens vieler bisher als vernünftig Geltenden, die den Abgrund des Bösen nicht zu sehen vermögen, die beiden Seiten Recht widerfahren lassen wollen, wo es um Tod oder Leben geht, und die so zwischen den Gewalten zerrieben werden, ohne das Geringste ausgerichtet zu haben. Sie seien zur Unfrucht­barkeit verurteilt, seien enttäuscht, resignierten und verfielen dann mehrheitlich haltlos dem Stärkeren. Der Einfältige erscheint dagegen als der Mann des ungeteilten Herzens, der schlicht seinen Weg weitergeht, ohne sich durch taktische Erwägungen aus Streben nach Absicherung aus seiner Bahn bringen zu lassen.

Die positive Einstellung zu den Naturwissenschaften und ihren Neuerkenntnissen ist seit langem für die meisten Christen kein Problem mehr. Sie lernten daraus, daß Kir­chen zunächst einen unsinnigen Kampf gegen die Abstammungslehre von Charles Darwin im Namen eines falsch verstandenen biblischen Schöpfungsglaubens führten. Nur „Fundamentalisten“, z.B. rechtsevangelikale Kreise in den USA, setzen diesen unsinnigen Kampf immer noch fort. Ganz anders aber verhält es sich mit der Einstel­lung der übergroßen christlichen Mehrheit zu gesellschaftswissenschaftlichen Erkennt­nissen, wie sie uns der Marxismus vermittelt. Die schwere Niederlage des Sozialismus hat die Christen in dieser Frage zusätzlich zurückgeworfen. Dabei ist es für mich keine Frage, daß auch die Aussagen des Historischen Materialimus wie sämtliche wissen­schaftlichen Aussagen ständig neu überprüft werden müssen. Darüber gibt es seit fünf­zehn Jahren einen sehr intensiven und auch streitbaren Dialog der politischen Linken. Generell gilt, daß auch die Wissenschaft in ständiger Veränderung begriffen ist. Trotzdem gibt es grundlegende gesellschaftswissenschaftliche Einsichten, die gültig bleiben. Ihre Aneignung ist die Voraussetzung für rechtes Handeln in Solidarität mit vielen anderen zugunsten einer qualitativ neuen Zukunft, einer Welt des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und verwirklichter Menschenrechte. Daß so viele Christen sich solchen Einsichten verweigern, ist nicht nur in ihrer Manipulierung durch das herrschende Kapital und seine politischen Diener begründet, sondern auch darin, daß sie eigene Lebensinteressen dadurch gefährdet sehen, obgleich dies nicht den Tatsachen entspricht, wenn es ihnen um Gleichberechtigung statt um Privilegien geht. Christen und Kirchen sehen allzu oft durch revolutionäre Veränderungen der Gesellschaft ihre Existenz gefährdet, weil sie sich eine allein auf Gottes Verheißung gegründete Kirche ohne Stützung durch eine irdische Macht nicht vorstellen können. Dies zeigt, daß gerade ein recht verstandener starker Glaube im Sinne vollen Vertrauens auf Gottes Kraft und des vollen Gehorsams gegen seine Gebote auch dem Festhalten an der Vernunft beziehungsweise ihrer Freisetzung und dem unverstellten Blick in die Wirklichkeit, der die Marginalisierten und ins Elend Getriebenen nicht ausblendet, eine wertvolle Hilfe für kluges Verhalten sein kann.

Eine solche Haltung aber wäre im Grunde schon Weisheit als praktizierte Lebens­klugheit, zu der ich nunmehr übergehen möchte. Im Hinblick auf die Weisheit besitzen wir anders als bei der Klugheit eine explizite biblische Grundlegung in den Weisheits­schriften des Alten Testamentes. Besonders erhellend waren für mich die Darlegungen von Gerhard von Rad [4], auf die ich mich im folgenden beziehe.

Im Mittelpunkt unseres Interesses steht dabei das Salomo zugeschriebene Buch der Sprüche (Proverbien), die ein eindrucksvolles Beispiel für den ausgeprägten Wirklich­keitssinn des alttestamentlichen Menschen sind. Sie weisen immer wieder darauf hin, daß jede Tat ausstrahlt, Auswirkungen zum Guten oder zum Bösen hat. Die böse Tat schlägt unheilvoll auf den Täter zurück, die gute aber heilvoll. Israel verstand unter Weisheit das ganz praktische, auf Erfahrung gegründete Wissen von den Gesetzen des Lebens und der Welt. Der Weise ist der Sachkundige. Dabei war Israels Weisheit sehr vielschichtig, so bunt wie das Leben selbst. Sie ging anfangs immer von elementaren Erfahrungen aus, und ihre Offenheit war zunächst auch nicht durch eine falsche Dog­matisierung verstellt. Sie sollte der Lebensbewältigung dienen. Zu diesem Zweck aber durfte der Weise nicht aufhören, zu beobachten und zu lauschen, ob sich in der Wirrnis der Geschehnisse eine Ordnung erkennen lasse. In großem Maße nahm man Sprichwörter als immer bestätigte Erfahrungen auf, wobei die Liebe des Orientalen zu anschaulichem Denken, das auch Paradoxie und Witz nicht scheut, ihnen sehr zugute kamen, während man eine Systematisierung zunächst scheute. Die Weisheit sollte Steuermannskunst sein, Hilfe zur Orientierung. Die gewonnenen Erfahrungen blieben zunächst korrigibel, erweiterungsfähig, offen und bewußt unabgeschlossen. Es gab Beziehungen zu altägyptischer Weisheit, doch die israelitische blieb viel mehr dem allgemein Menschlichen verbunden, versagte sich weithin dem Standesdenken, das in Ägypten bei der Ausbildung der künftigen Beamten im Vordergrund des Interesses stand.

Ziel war im Grunde von Anfang an die Formung des ganzen Menschen, auch bei spielerischer und verschmitzter Aussageform, war aber auch das Wissen um Gott, seine Offenbarung und seine Gebote. Darum wurde die Furcht des Herrn, verstanden als Gehorsam gegen Gottes Willen, als Anfang der Weisheit bezeichnet. Der Weis­heitslehrer wollte mit seinem Rat Entscheidungen erleichtern. In erstaunlichem Maße berief er sich dabei auf den gesunden Menschenverstand, was prinzipiell sehr positiv zu werten ist, auch wenn sich gelegentlich ein opportunistischer Zug einschlich. Der Weise läßt sich in seinem Verhalten nicht treiben. Er weiß, daß Gott die Herzen prüft, daß also der Mensch ständig der göttlichen Beurteilung ausgesetzt ist. Durch Gottes­furcht meidet man das Böse. So wird auch verständlich, daß es allmählich zu einer Theologisierung der Weisheit kam, wie besonders Spr. 1-9 zeigen. Die Weisheit wurde jetzt zur Täterin zentraler Glaubensinhalte. Sie fragte nach dem Sinn der Schöpfung und wurde sogar zur bestimmenden Ausprägung des nachexilischen Theologisierens. Die Weisheit wurde zum göttlichen Offenbarungsmittler, zur großen Erzieherin, zu dem der Welt bei der Schöpfung eingegebenen göttlichen Prinzip erklärt, wenige Ge­nerationen später im Buch Jesus Sirach mit der Thora identifiziert. Sie galt als Ver­gegenwärtigerin Gottes, Erstling aller seiner Geschöpfe (Spr. 8,22), durch die sich alles Geschaffene auf Gott hin ausrichten könne. Diese Weisheit gibt es nur in Nachfolge und Jüngerschaft, und der Mensch hat Anteil an ihr nur im Hören und Gehorsam.

Höher konnte man über die Weisheit gar nicht denken. Wer von der Weisheit spricht, der befindet sich also im Zentrum des Glaubens. Was sollten wir daraus folgern?

Ich kann nur einige Überlegungen anstellen. Weisheit bezieht sich speziell auf das menschliche Zusammenleben und auf die Eigenart des menschlichen Lebens als Existenz, die qualitativ vom bloßen Vorhandensein der Dinge unterschieden ist. Der Mensch ist zwar Schöpfer großer Dinge, aber er ist primär anders als Gott Geschöpf, als solcher Adressat von Gottes Güte und Liebe und also ein beschenkter, zugleich aber auch ein unter Verantwortung Stehender und Verpflichteter. Weil der Mensch vorrangig Geschöpf ist, gehört zur Weisheit das Wissen um die eigene Begrenztheit, von der auch die griechischen Tragödien eindrucksvoll zu reden wußten. Daß Hochmut vor dem Fall kommt, wissen gerade auch die Proverbien. Dies nicht hinreichend zu beachten, ist die Problematik des Prometheischen, so gewiß Prometheus Helfer der Menschen sein wollte.

So sehr im AT Gottesfurcht und Weisheit gekoppelt werden, gibt es doch in der Weisheitsliteratur keine Aussagen, die die Möglichkeit der Weisheit auf den Kreis der Rechtgläubigen beschränken. Heute erst recht dürfte klar sein: Da jeder Mensch Lebenserfahrungen machen kann, kann auch jeder weise sein. Nicht jeder Christ ist weise, wie die Kirchengeschichte hinlänglich beweist und ebenso gewiß mangelt es vielen human denkenden und empfindenden Atheisten - unseren Bündnispartnern - nicht an Weisheit.

Wenn ich im folgenden in gebotener Anschaulichkeit Handeln aus Weisheit auf­zuweisen suche, so kann es sich dabei nur um Beispiele handeln, die von den Lesern aufgrund ihrer täglichen Lebenserfahrung beliebig angereichert, aber auch korrigiert werden können. Vollständigkeit kann hier gar nicht erreicht werden, da wir mitten im Leben stehen und schon der nächste Tag uns mit ganz neuen Erfordernissen konfrontieren kann. Als weise erscheint mir zum Beispiel Albert Schweitzers Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben als Konkretion des biblischen Liebesgebotes. Auch alle von Jesu oder Paulus gegebenen Gebote kulminieren ja im Liebesgebot, das bei Schweitzer geradezu kosmisch ausgeweitet wird. Weise ist demnach alles, was Leben erhält, fördert und entwickelt, dem Leben beisteht. Vieles, was die spätbürgerlichen Medien vermitteln, ist auf keinen Fall weise, sondern recht töricht. Eine oberflächliche Einstellung zum Leben kann nicht weise sein. Auch wer immer mehr besitzen und an sich raffen will und dies ohne Berücksichtigung der Anliegen seiner Mitmenschen, ist unmöglich weise. Es ist nicht weise, wenn man seinem Körper durch Alkohol, Nikotin oder gar Drogen schadet. Es ist ebenso wenig weise, Sex mit Liebe zu verwechseln, so gewiß sich auch Liebe körperlich ausdrückt. Es ist nicht weise, einer Macher-Ideologie zu verfallen und die Menschen in verachtete Verlierer und bestaunte Gewinner einzuteilen. Echte Liebe wird dagegen als Geschenk, ja als Wunder erlebt. Zu ihr steht man dann freilich auch mit dem ganzen Menschsein. Darum sind Reinheit und Treue untrennbar mit ihr verbunden. Sie kann schlechthin nicht erzwungen, schon gar nicht gewaltsam durchgesetzt werden, denn das ist Vergewaltigung.

Weise ist die Einsicht, daß wir zwar einerseits mit voller Konsequenz für die sozialen Anliegen und Bedürfnisse aller einzutreten haben, andererseits aber in unserem Lebensvollzug zeigen sollten, daß zum Reichtum des Lebens nicht nur das Materielle gehört. Weise ist man, wenn man dankbar ist auch für scheinbar Geringes und All­tägliches. Erst der Kranke zum Beispiel weiß wirklich, welches Gut Gesundheit ist. Der Weise kann aber auch verzichten, weil er nach nichts süchtig ist. Das ist das Wahrheitsmoment stoischer Ethik, die insgesamt recht differenziert zu beurteilen ist. Der Weise tritt ohne falsche Kompromisse für die Wahrheit ein, aber er will nicht in jedem Fall Recht behalten. Er weiß um die eigene Problematik, so daß er nicht rechthaberisch ist. Er muß also auch nicht immer das letzte Wort haben so gewiß er sich von der Wahrheit um keinen Preis abbringen läßt. Er weiß, wann Zeit zum Reden und wann Zeit zum Schweigen ist. Er hat Humor, kann auch über sich selbst lächeln, verabscheut dagegen Zynismus. Es gibt - ich darf das als fast Neunundsechzigjähriger sagen - auch eine spezifische Weisheit des Alters, die gelassen auf das verzichtet, was für immer dahin ist, sich dessen aber von Herzen freut, was ihm - vielleicht erstmals im Leben - zuteil wird. Für mich als Christ gehört zur Weisheit des Alters auch die unbändige Freude darauf, daß der Tag nun näher rückt, wo ich allem Streit entnommen bin und vom Glauben zum Schauen von Gottes Herrlichkeit gelangen werde. Der Weise weiß jedenfalls um das Für und Wider eines jeden Lebensalters. Er verfällt nicht dem Kult der Jugend, begegnet aber jungen Menschen verständnisvoll und sucht, ihr Vertrauen zu gewinnen.

Weise kann wohl immer nur der Einzelne sein, als welcher er ja auch in der Weisheitsliteratur des AT bereits angeredet wird, aber eine Gesellschaft kann Weisheit fördern oder behindern. Im Unterschied auch zu vielen Linken sehe ich die Gefahr der spätbürgerlichen Gesellschaft auch darin, daß sie durch die von ihr suggerierte Le­bensweise die menschliche Gemeinschaft und die Gemeinchaftsfähigkeit der Einzelnen hemmt und behindert. Wo Freiheit als Freiheit zu Beliebigen mißverstanden wird - was ohnehin ja kein Staat durchhält und was gegenüber der politischen Linken auch nie gegolten hat, - wird das Menschsein gefährdet.

In diesem Sinne meine ich, daß Klugheit der Ergänzung und Bereicherung durch Weisheit bedarf. Die Weisheit bedarf aber auch der Klugheit, damit sie erdverbunden und realistisch bleibt und nicht in elitär-idealistischer Verstiegenheit in ein Wol­kenkuckucksheim fern vom realen Leben und den Sorgen zahlreicher Zeitgenossen ausweicht.

Im übrigen hat es viel mit dem Interesse an der Weisheit zu tun, wenn ich zu allen Zeiten meines Lebens mich der Belletristik widmete, auch wenn diese nicht nur von menschlicher Weisheit, sondern oft noch mehr und in der Gegenwart wohl vorrangig von der Torheit handelt. Insofern könnte ich auch von meinen belletristischen Lese­früchten her, zum Beispiel durch die Interpretation von Hermann Hesses reifem Alterswerk „Das Glasperlenspiel“, Weisheit zu verdeutlichen suchen.

Statt dessen möchte ich noch einmal auf Dietrich Bonhoeffer zurückkommen. Er fordert uns in seiner „Ethik“ (S. 82f.) zum Beispiel dazu auf, den rechten Weg zwischen falschem Radikalismus und Kompromißlertum zu gehen. Nicht alle seine Äußerungen in dieser Hinsicht überzeugen mich, aber er ist im Recht, wo er sich gegen den Haß auf Gottes Schöpfung und gegen ihre Verachtung wendet, eine Haltung, die er als pharisäisch verwirft. Das Kompromißlertum entspringe dagegen dem Haß auf das Letzte, das noch aussteht. Hier gelte jede Kritik am Bestehenden als Weltfremdheit. Statt dessen werde kritiklose Anpassung gefordert. Der Radikalismus hasse die Zeit, der Kompromiß die Ewigkeit, der Radikalismus die Geduld, der Kompromiß die Entscheidung, der Radikalismus das Maß, der Kompromiß das Unermeßliche. Rechte christliche Existenz aber sei weder Zerstörung noch Sanktionierung des „Vorletzten“, also unseres irdischen Lebens in seiner Vorläufigkeit.

In diesem Zusammenhang tritt Bonhoeffer auch für das Recht des Natürlichen ein. Es gebe relative Unterschiede innerhalb des Menschlich-Natürlichen, die nicht vergleich­gültigt werden dürften, und das Natürliche sei vom Sündhaften wohl zu unterscheiden. In der relativen Freiheit des natürlichen Lebens gebe es echten und verfehlten Ge­brauch der Freiheit (S. 93 ff.). Das Natürliche verhält sich zur Vernunft wie das Sein zum Bewußtsein, und beide sind grundlegend positiv zu sehen, obgleich die Vernunft wie das Natürliche der Sünde unterliegt. Zerstörung des Natürlichen aber sei Zerstörung des Lebens, denn das Unnatürliche sei lebensfeindlich. Zum legitim Natürlichen gehöre auch ein legitimer Optimismus.

Der Einzelne dürfe nicht nur in seinem Nutzwert für das Ganze und für eine übergeordnete Idee gesehen werden (S. 98 ff.). Überhaupt müsse zuerst von den Rechten des natürlichen Lebens gesprochen werden und erst dann vom Geforderten. In den Rechten des natürlichen Lebens werde der Reichtum von Gottes Gaben anerkannt. Bonhoeffer nennt diese Rechte einen Abglanz der Schöpfungsherrlichkeit Gottes mitten in der gefallenen Welt. Die Pflichten entspringen aus den Rechten wie die Aufgaben aus den Gaben, sind in die Rechte Gottes eingeschlossen. Doch gebe es ein eigenes natürliches Recht nur unter Beachtung des fremden. Der Leib sei primär nicht dazu da, um geopfert, sondern um erhalten zu werden. Das leibliche Leben sei sowohl Mittel zum Zweck als auch Selbstzweck.

Besonders eindrucksvoll sind Bonhoeffers Ausführungen über die Freude, in der sich  die Selbstzwecklichkeit des Leibes ausdrückt. Der Mensch habe ein Recht auf Freude bei Wohnen, Ernährung, Kleidung, Erholung, Spiel und Geschlechtlichkeit. Diese dürften nicht ohne weiteres einem höheren Zweck untergeordnet werden. Es liege im Wesen der Freude selbst, daß sie durch den Zweckgedanken verdorben werde. Die Wohnung des Menschen hat nicht wie der tierische Unterschlupf nur den Sinn eines Schutzes vor Unwetter und Nacht und der Pflegestätte für die Jungen. Die Kleidung soll nicht nur den Körper notdürftig bedecken, sondern zugleich eine Zierde des Kör­pers sein. Erholung ermöglicht nicht nur eine höhere Arbeitsleistung, sondern gewährt dem Leib Ruhe und Freude. Das Spiel ist fern aller Zweckbestimmtheit deutlichster Ausdruck für die in sich ruhende Selbstzwecklichkeit leiblichen Lebens. Die Ge­schlechtlichkeit ist nicht nur Mittel zur Fortpflanzung, sondern Ausdruck der Freude der Liebenden aneinander. Der Leib ist jeweils mein Leib und kann selbst in der Ehe nicht in demselben Sinne einem anderen gehören. Die Ehrerbietung voreinander drückt sich gerade auch in gewahrter Distanz zum leiblichen Leben des andern, auch des Partners aus. Das dem Leben innewohnende Recht ist von seinem sozialen Nutzwert gänzlich unabhängig. Deshalb gibt es kein lebensunwertes Leben. Dessen Behauptung ist Ausdruck einer falschen Biologisierung des menschlichen Lebens. Nie wird der menschliche Leib zu einem Ding, das in die uneingeschränkte Gewalt eines anderen geraten und von ihm ausschließlich als Mittel zu seinen Zwecken gebraucht werden darf. Das Geheimnis der Leiblichkeit ist zu hüten, womit sich eine zynische Offenheit verbietet.

Unsere Verantwortung ist nach Bonhoeffer eine eingegrenzte (S. 181 f.). Unsere Aufgabe ist es nicht, die Welt aus den Angeln zu heben, sondern am gegebenen Ort das im Blick auf die Wirklichkeit Notwendige zu tun. Es gehört zur Begrenztheit verantwortlichen Lebens und Handelns, daß es auch mit der Verantwortlichkeit der anderen, ihm begegnenden Menschen rechnet. Überhaupt hat im menschlichen Dasein alles seine Zeit (S. 205). Das Leben darf nicht krankhaft überbürdet werden, wie sich auch platte Moralisierung und hausbackener Pädagogisierung des ganzen Leben verbieten (S. 207).

In seinen Gefängnisbriefen [5] macht Bonhoeffer wichtige Aussagen zur Dummheit: Sie sei ein noch gefährlicherer Feind des Guten als die Bosheit. Wir seien gegen sie eigenartig wehrlos. Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, würden hier einfach nicht wahrgenommen. Der Dumme ist selbstzufrieden. Ihn durch Gründe überzeugen zu wollen, sei sinnlos und gefährlich. So sei die Dummheit im Kern nicht ein intellektueller, sondern ein den Menschen insgesamt betreffender Defekt. Bonhoeffer weist auf die gesellschaftlichen Umstände hin, die Menschen massenhaft verdummen, eine deutliche Bezugnahme auf die Naziherrschaft. Die Macht der einen brauche die Dummheit der anderen. Dem Menschen wird hier sein innere Selbständigkeit geraubt. Er verzichtet mehr oder weniger bewußt auf ein eigengegründetes Verhältnis zur Situation. Der Dumme ist oft bockig, aber nicht selbständig. Schlagworte und Parolen gewannen Macht über ihn. Er ist verblendet, wurde zum willenlosen Instrument degradiert. Er ist zu allem Bösen fähig, aber unfähig, dies als Böses zu erkennen. Nicht Belehrung, sondern nur Befreiung kann die Dummheit überwinden. In den meisten Fällen muß die äußere Befreiung vorangehen. Doch erweist sich das Böse oft in überraschend kurzer Zeit als dumm und unzweckmäßig.

Ganz wichtig ist auch das von Bonhoeffer über den Optimismus Gesagte. Es gibt zwar einen dummen und feigen Optimismus, der keinen Anhalt an der gegebenen Wirklichkeit hat, aber der rechte Optimismus ist Lebenskraft, Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, die Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner überläßt, sondern sie für die Wahrheit und die für sie Eintretenden in Anspruch nimmt. Diesen Opti­mismus als Willen zur Zukunft solle niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irre, denn er sei die Gesundheit des Lebens. (S. 29). Schließlich weist Bonhoeffer darauf hin, wie wichtig es sei, die Mehrdimensionalität und Polyphonie des Lebens zu durchschauen und zu erhalten (S. 210), damit aber ein Leben tiefer Diesseitigkeit voller Zucht anstelle der platten und banalen Diesseitigkeit der nur scheinbar Aufgeklärten, Betriebsamen, Bequemen und Lasziven (S. 248). In ihr wird mir der jeweils gegebene Nächste zur Erfahrung des Transzendenten (S. 260), während man sich nicht von Augenblickseindrücken, und seien sie noch so schockierend und beängstigend, auffressen läßt (S. 262 f.).

Es geht mir um diese tiefgründige Diesseitigkeit bewußter Lebensgestaltung, die zugleich das Leiden und die aufgenötigte Passivität erträgt, wenn ich dafür plädiere, Klugheit und Weisheit gleich ernst zu nehmen. Bonhoeffers Worte jedenfalls waren noch in bedrückendster Situation, wo der Erfahrungsbereich auf ein Minimum ein­geschränkt war, Zeugnisse stets wacher Hinwendung zum Leben und großer Weisheit.

 


Der Gott der EU-Verfassung *

von Ulrich Duchrow

„Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas ... sind die Hohen Vertragsparteien wie folgt übereingekommen: ...“ - so heißt es u. a. in der Präambel zu dem im Juli 2003 von Europäischen Konvent abgeschlossenen Entwurf der "Verfassung für Europa". Verschiedenen Staaten ist das nicht genug. Sie fordern die Erwähnung des „christlichen Erbes“. Der Vorsitzende der Kommission der EU-Bischofskonferenzen (COMECE), Bischof Josef Homeyer, der vormalige Ratsvorsitzende der EKD, Präses Koch, sowie die CDU/CSU plädierten darüber hinaus für einen ausdrücklichen Bezug auf „Gott“ in der Verfassung. [6]

Wie immer man diese Diskussion beurteilen mag, interessant wäre es gewesen, wenn die Kirchen sich auch einmal gefragt hätten, welcher Gott denn inhaltlich in dem vorliegenden Entwurf der Verfassung angebetet wird. Auch die europäischen Kreuzzüge beriefen sich auf Gott. Auch Herr George W. Bush, auch Herr Osama Bin Laden führen Gott im Munde und meinen damit imperialen Staats- und antiimperialen Gegenterror. Und der europäische Verfassungsentwurf?

Er beginnt zunächst mit hehren Grundsätzen und Zielen. Unter den genannten "Wer­ten" finden sich Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität (I,2). Unter den Zielen fällt bereits auf, daß nach den allgemeinen Zielen, Frieden, Werte und Wohlergehen zu fördern (I.3.1), als oberstes konkretes Ziel „Freiheit ... ohne Binnengrenzen“ und ein Binnenmarkt „mit freiem unverfälschten Wettbewerb“ angegeben wird (I.3,2). Als Grundlage für die Entwicklung Europas wird dann zwar noch von der „sozialen Marktwirtschaft“ gesprochen, aber qualifiziert als „wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ (I.3.3).

Die dann folgende Zielbestimmung im internationalen Bereich beginnt lapidar mit dem Satz: „In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen“ I.4.4). Auch will sie beitragen zu „Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung etc.“, aber gekoppelt mit „freiem und gerechtem Handel“. Innerhalb der Union werden „der freie Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit“ garantiert. Was dies alles konkret bedeutet, wird an den weiteren Teilen des Entwurfs zu prüfen sein.

Immerhin ist es nach harten Kämpfen im Konvent gelungen, als Teil II der Verfassung die Charta der Grundrechte der Union zu integrieren. Zu ihnen gehören die Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, bürgerliche und justizielle Rechte. Ohne in alle Einzelheiten gehen zu können, sind doch einige Beobachtungen angebracht.

Als neues Grundrecht wird die unternehmerische Freiheit eingeführt (Art.II.16). Die Brisanz dieser Neuerung wird aber erst deutlich, wenn man sie zusammensieht mit dem Artikel zum Eigentumsrecht (II,17). Im deutschen Grundgesetz[7] heißt es in einem ersten Abschnitt (Art. 14, 1): „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“ Hier wird also Eigentum von vornherein nicht absolut gesetzt, sondern im Blick darauf relativiert, was vom Gesetzgeber als Inhalt und Grenzen bestimmt wird.

Unternehmerische Freiheit

Im EU-Verfassungsentwurf dagegen steht ohne wenn und aber: „Jeder Mensch hat das Recht, sein rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben.“ Im Grundgesetz folgt dann Art. 14.2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. Daraus wird in der EU-Verfassung (II.17.1): „Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.“

Wenn man auf diesen Unterschied aufmerksam macht, so geht es nicht um belanglose Spitzfindigkeiten, sondern um eine fundamentale Verschiebung der Gewichte weg von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die der Gesetzgeber die Pflicht hat durchzusetzen („soll“!) hin zur grundsätzlichen Herrschaft des Eigentums, dessen Nutzung der Gesetzgeber allenfalls in Richtung auf Gemeinwohl beeinflussen kann - wenn denn die politischen Kräfteverhältnisse dazu ausreichen, um ihn dazu zu zwingen. Für die internationalen Beziehungen wird dann noch eins draufgesetzt, indem ausdrücklich hinzugefügt wird: „Geistiges Eigentum wird geschützt“ (II.17.2). Damit bekommen die TRIPS-Abkommen der WTO mit ihren verheerenden Folgen für die Grundversorgung der Völker, z. B. mit Saatgut und Medikamenten, in Europa Verfassungsrang!

Solidarität

Unter den Grundrechten findet sich auch die Solidarität. Im Teil I der Verfassung war dieses Stichwort nur allgemein in den Werten und Zielen aufgetaucht und konkret im Zusammenhang der Terrorismusbekämpfung (I.42). Nun wird es als soziales Grundrecht angesprochen und kommentiert (II.27-38). Dabei ist zunächst festzustellen, daß ein wichtiges soziales Recht fehlt: das garantierte Recht auf Rente. Der Zugang zu allen anderen sozialen Rechten und Diensten wird unter einen Vorbehalt gestellt: „nach Maßgabe des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“. Was das konkret bedeutet, zeigt sich in Teil III, der Darlegung der Politikbereiche.

Die internen Politikbereiche (Titel III) führt an - was anderes wäre zu erwarten? - der Binnenmarkt. Dabei werden entfaltet: 1. Freizügigkeit und freier Dienstleistungsverkehr, 2. freier Warenverkehr, 3. freier Kapital- und Zahlungsverkehr. 4. die Wettbewerbsregeln, 5. die steuerlichen und 6. die Rechtsvorschriften.

Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr

Zu 1: Ausländische Arbeitnehmer von außerhalb der Union sind von der Freizügigkeit ausgenommen (III.25). Damit bleibt das Problem ausgeklammert, daß Kapital global mobil sein darf, nicht aber die Menschen, die Opfer jener Mobilität sind. Was mögliche Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs von Anbietern innerhalb der Union betrifft, so sind sie „verboten“ (III,29). Dieses Verbot kann durch Gesetze auf Anbieter aus Drittländern ausgedehnt werden. Die Liberalisierung der mit dem Kapitalverkehr verbundenen Dienstleistungen der Banken und Versicherungen soll „im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt“ werden (III.31). Im Thema der Dienstleistungen liegt ein massives Problem verborgen, das sowohl die soziale Zukunft Europas wie auch der Entwicklungsländer betrifft. Es hängt zusammen mit den GATS-Verhandlungen im Rahmen der WTO. Hier hat die EU von allen Ländern die Liberalisierung (und damit Privatisierung) auch in den „sensiblen“ Bereichen der Grundversorgung gefordert (Wasser, Energie, Bildung, Gesundheit, Transport etc.), im Blick auf das Angebot der eigenen Liberalisierung aber diese Bereiche (zunächst) angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks ausgeklammert.

Die Wirkungen auf die Entwicklungsländer sind bekanntlich verheerend (im bekanntesten Beispiel von Cochabamba/Bolivien kam es zu bürgerkriegsartigen Zuständen, weil die Armen das privatisierte Trinkwasser nicht mehr zahlen konnten und wollten).

Aber auch in Europa selbst würde die weitere Liberalisierung und Privatisierung der grundlegenden Dienstleistungen, die die EU offenbar anstrebt und die bereits im Verfassungsentwurf enthalten ist, die Tendenz zu einer Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen verschärfen. Kaufkräftige könnten sich dann die Grundversorgung leisten. Nicht-Kaufkräftige nicht.

Waren- und Zahlungsverkehr - Wettbewerb

Zu 2: Im Abschnitt über freien Warenverkehr stecken mindestens zwei Probleme. Einmal kann der Warenverkehr aus Drittländern beschränkt werden (III.36.2) - ein bekannter gravierender Nachteil für die Agrarprodukte der Entwicklungsländer. Zum anderen läßt sich ein Druck  auf öffentliche Einrichtungen in Richtung Privatisierung feststellen: „Die Mitgliedsländer formen ihre staatlichen Handelsmonopole derart um, daß jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedsstaaten ausgeschlossen ist“ (III.44).

Zu 3: Im Kapital- und Zahlungsverkehr sind Beschränkungen nicht nur zwischen den Mitgliedsstaaten sondern auch zwischen ihnen und dritten Ländern verboten. Damit wären nun endgültig politische Instrumente, z. B. gegen spekulative Angriffe auf die Währung, ausgeschlossen.

Zu 4: Der Abschnitt über Wettbewerbsregeln verbietet in Artikel III.55 ausdrücklich, daß Staaten im allgemeinen Interesse öffentliche Unternehmen besonders fördern können. „Die Mitgliedsstaaten werden in Bezug auf öffentliche Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, keine den Bestimmungen der Verfassung und insbesondere deren Artikel I.4.2 (gegen die Diskriminierung von ausländischen Firmen) und den Artikeln III.55 bis III.58 widersprechende Maßnahmen treffen oder beibehalten.“

Nach III.56 „sind Beihilfen der Mitgliedstaaten oder aus staatlichen Mittel gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar.“

Hierbei handelt es sich faktisch um einen Anschlag auf das innerhalb der EU besonders in Deutschland ausgeprägte Prinzip der „öffentlichen Daseinsvorsorge“ etwa in Form von Subventionen für das staatliche Bildungswesen, öffentliche Medien etc. Dieser Aspekt steht in unmittelbarem Zusammenhang mit GATS und der von der EU unterstützten Liberalisierung des Handels mit (bis heute öffentlichen) Dienstleistungen.

Zu 5: Nur die indirekten Steuern sollen harmonisiert werden (III.62), nicht jedoch die direkten Steuern wie z. B. die Unternehmenssteuern. Gerade aber hier müßte auf EU-Ebene das Steuerdumping der Konzerne gestoppt werden, einer der Hauptgründe für die Überschuldung der öffentliche Haushalte.

Insgesamt wird also der Binnenmarkt nicht nur als oberster Politikbereich behandelt, sondern in ihm steht das private, nicht das soziale und öffentliche Interesse an oberster Stelle.

Privatwirtschaftliches Interesse an erster Stelle

Dieser Trend wird noch einmal verschärft mit dem zweithöchsten Politikbereich, der Wirtschafts- und Währungspolitik. Art. III.69.1 stellt fest, daß sie nur einem einzigen Grundsatz verpflichtet ist, dem „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Damit ist die Katze aus dem Sack. Kein Wort mehr von „sozialer“ Marktwirtschaft. Diese gehört in die Lyrik der allgemeinen „Werte und Ziele“.

III.69.2 setzt noch eins drauf durch die „Geld- und Wechselkurspolitik, die beide vorrangig das Ziel der Preisstabilität verfolgen und unbeschadet dieses Zieles die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unter Beachtung des Grundsatzes einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb unterstützen sollen“. Was das alles impliziert, wird in den folgenden Artikeln in aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgeführt. Dazu gehört u. a. das Verbot, öffentliche Einrichtungen besonders zu fördern (III.74).

Damit soll nun eine reine „freie“ Marktwirtschaft mit monetaristischer Geldpolitik für Europa in der Verfassung festgeschrieben werden. Neoliberalismus als Verfassungsgut. Das ist es, was auf uns zukommt, wenn diese Verfassung in Kraft treten sollte.

Beschäftigung und Sozialpolitik neoliberalen Vorstellungen unterworfen.

Nachdem Binnenmarkt sowie Wirtschafts- und Geldpolitik mit gewichtigen eigenen Kapiteln an erster Stelle behandelt wurden, wendet sich nun der Verfassungsentwurf allem übrigen unter der verräterischen Bezeichnung „Die Politik in anderen Einzelbereichen“ zu.

Das erste „Andere“ ist Beschäftigung. Gleich im Einleitungsartikel III.97 werden wir belehrt, wozu in der EU eine Beschäftigungspolitik dient: „Die Union und die Mitgliedstaaten arbeiten ... insbesondere auf die Förderung der Qualifizierung, Ausbildung und Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer sowie der Fähigkeit der Arbeitsmärkte hin, auf die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wandels zu reagieren.“ Das heißt im Klartext, Arbeitende und Arbeitsmärkte werden ausschließlich im Blick auf die Anpassung an die (neoliberal globalisierte) „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb gefördert“. Dabei wird „das Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus ... berücksichtigt“ (III,99.2).

Wie tröstlich angesichts der Tatsache, daß die Durchführungsmaßnahmen der Wirtschaftsliberalisierung und der monetaristischen Geldpolitik in den vorrangigen Kapiteln der Verfassung alle mit Verboten und Sanktionen eisernes Gesetz sind!

Das zweite „Andere“ ist die Sozialpolitik. Auch sie wird komplett der neoliberal-monetaristischen Wirtschafts- und Geldpolitik untergeordnet. Denn die Union und die Mitgliedsstaaten - so wird in Art. III.103 festgestellt - tragen bei der Verfolgung der Sozialpolitik „der Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union zu erhalten, Rechnung“. Damit kann sowohl Lohndumping wie das Entlassen der Kapitalseite aus den paritätischen Verpflichtungen der solidarischen Sozialsysteme begründet werden.

Geradezu zynisch mutet es an, wenn im gleichen Artikel festgestellt wird, daß das Wirken des Binnenmarktes die Abstimmungen der Sozialordnungen der verschiedenen Mitgliedstaaten „begünstigen“ wird. Denn in der Realität heißt dies, daß sie alle dem Globalisierungsdruck des Sozialabbaus unterworfen werden.

Für den „Europäischen Sozialfonds“ wird darüber hinaus die Flexibilisierung des Men­schen im Interesse der Wirtschaft als Ziel angegeben, nämlich „die berufliche Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Mobilität der Arbeitnehmer zu fördern sowie die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme insbesondere durch berufliche Bildung und Umschulung zu erleichtern“ (Art.III.113).

Beim Abschnitt über die Landwirtschaft (III.121 ff.) sucht man vergeblich nach Hinweisen auf Verträglichkeitsmaßnahmen hinsichtlich Ökologie und „Dritte Welt“. Als oberstes Ziel wird nach wie vor angegeben: „die Produktivität ... durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräfte, zu steigern“ (III.123).

Aus den übrigen „anderen“ Politikbereichen noch eine Bemerkung zu 5., Umwelt (Art. III.129 ff.) und 10., Energie (Art.III.157). Franz Alt hat darauf aufmerksam gemacht, daß über ein Zusatzprotokoll zum Euratom-Vertrag nun auch die Atomenergie als privilegierte Energiequelle Verfassungsgut werden soll.[8] Obwohl nur noch vier EU-Staaten langfristig auf Atomstrom setzen, wurde im Verfassungsentwurf die Chance nicht genutzt, für die Zukunft die erneuerbaren Energien zu privilegieren.

Das auswärtige Handeln der Union (Titel V des III. Teils der Verfassung) hat mehrere Unterkapitel. Auch hier ist deren Hierarchie nicht uninteressant: 1. Allgemein anwendbare Bestimmungen, 2. Außen- und Sicherheitspolitik, 3. Handelspolitik, 4. Zusammenarbeit mit Drittländern und humanitäre Hilfe usw.

Umwandlung der EU in eine Militärmacht

Zu 1: Die angeführten Grundsätze sind insgesamt zu begrüßen. Sie reichen von Demokratie über Menschenrechte und Solidarität bis zur Anerkennung des Völkerrechts gemäß den Grundsätzen der UN-Charta. Auch gegen die Ziele wie die Förderung von Sicherheit, Demokratie, Völkerrecht, Frieden usw. läßt sich nichts einwenden. Ausdrücklich heißt es dann unter Ziel d): „die nachhaltige Entwicklung in Bezug auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt in den Entwicklungsländern zu fördern mit dem vorrangigen Ziel, die Armut zu beseitigen“ (III.193.2).

Wie aber verhält sich dazu Ziel e) „die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den allmählichen Abbau von Beschränkungen des internationalen Handels“? Was, wenn die Ziele d) und e) in Widerspruch zueinander treten? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang Ziel h), „eine Weltordnung zu fördern, die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen Weltordnungspolitik beruht“? Analysieren wir zur Beantwortung dieser Fragen die einzelnen Politikbereiche.

Zu 2: Gleich Abschnitt 1, Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik gibt einen ersten Hinweis. Schon in Teil I hieß es unter Zuständigkeiten der Union: „Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Es wird ein Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten eingerichtet, dessen Aufgabe es ist, den operativen Bedarf zu ermitteln und Maßnahmen zur Bedarfsdeckung zu fördern, zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Grundlage des Verteidigungssektors beizutragen“ (Art.I.40).

Im Klartext: Die Verfassung soll einen Aufruf an die Mitgliedsstaaten zur permanenten Aufrüstung enthalten und gemeinsam soll ein Amt für Aufrüstung geschaffen werden, obwohl unter dessen Aufgaben auch Abrüstung genannt wird. Wozu soll die Umwandlung der EU in eine Militärmacht dienen? Dazu heißt es in Art III.210.1: „Die in Art.I.40.1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus.“

Die EU soll also per Verfassung in eine weltweit operierende militärische Interventionsmacht umgewandelt werden. Was das bedeutet, kann man unschwer an den Strategieentwicklungen und faktischen Kriegen des vergangenen Jahrzehnts ablesen. Die NATO hat sich bereits das Recht der Selbstmandatierung genommen. Auch Angriffskriege wie gegen das ehemalige Jugoslawien und Afghanistan wären nun in Europa verfassungsmäßig legitimiert. So wird man sich wahrscheinlich auch bald der Präventivkriegsstrategie der USA anschließen.

Entwicklungspolitik, die Armut schafft

Damit wird das deutsche Grundgesetz endgültig ausgehebelt. Es erlaubt nur Verteidigungskriege und enthält das Friedensgebot. Freilich hat es sich die deutsche Öffentlichkeit seit den neuen Richtlinien des Verteidigungsministeriums gefallen lassen, auch die weltweite Sicherung der eigenen wirtschaftlichen Interessen und die „Aufrechter­haltung des freien Welthandels“ als Legitimation für militärisches Eingreifen zuzulassen. Aber mit der EU-Verfassung erhielte das Brechen des Grundgesetzes nachträglich und für alle voraussehbare Zukunft seine volle Rechtfertigung.

Bei Kapitel 3, Gemeinsame Handelspolitik, überrascht es kaum, daß noch einmal ein umfassendes Bekenntnis zur Liberalisierung abgelegt wird: „Durch die Schaffung einer Zollunion zwischen den Mitgliedstaaten beabsichtigt die Union, im gemeinsamen Interesse zur harmonischen Entwicklung des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Beschränkungen im internationalen Handelsverkehr und bei den ausländischen Direktinvestitionen sowie zum Abbau der Zoll- und anderer Schranken beizutragen“ (III.216). Im Artikel III.217 werden dann ausdrücklich Dienstleistungen, inklusive der kulturellen und audiovisuellen, eingeschlossen.

Wie kommt in dem allem die in Kapitel 4 nur sehr kurz behandelte „Entwicklungs­zusammenarbeit“ zu stehen? Zwar wird hier als Hauptziel „die Bekämpfung und auf längere Sicht die Beseitigung der Armut“ festgestellt (III.218). Die Erreichung dieses Hauptziels kann aber nur scheitern, wenn man die zwei fundamentalen Widersprüche ins Auge faßt, die ihm im Rahmen dieser Verfassung entgegenstehen. Der erste besteht in der überragenden, die ganze Verfassung durchziehenden Priorität der Liberalisierung. Denn die Entwicklung von schwächeren Ländern im Rahmen der Weltwirtschaft kann nur mit Hilfe von Schutzmaßnahmen der eigenen Wirtschaft gelingen.

Das ist eine Binsenweisheit, die in der Geschichte des Kapitalismus hundertfach belegt werden kann. Der zweite Widerspruch besteht darin, daß die Entwicklungszusammenarbeit im gleichen Artikel III.218 ausdrücklich an die Politik der zuständigen internationalen Organisationen gebunden wird, d.h. u.a. an IWF, Weltbank und WTO. Auch hier ist empirisch feststellbar, daß deren Politik Armut schafft, statt sie zu beseitigen.

Rückfall hinter das deutsche Grundgesetz

Wirft man zum Schluß noch einen Blick auf die Artikel zur Arbeitsweise der Union (III.232ff.), so stellt man zwar eine vorsichtige Aufwertung des Europäischen Parlaments fest, aber von einer eindeutig demokratisch-parlamentarischen Ordnung kann im Verfassungsentwurf keine Rede sein. Weder darf das Parlament den Kommissionspräsidenten wählen, noch hat es das Recht zu eigenen Gesetzesinitiativen. Die Verfassung besiegelt auf absehbare Zeit das massive Demokratiedefizit der Europäischen Union.

Zusammenfassend kann man feststellen, daß der Verfassungsentwurf auf keine Weise dem Standard des deutschen Grundgesetzess entspricht. Weder ist die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ausdrücklich erwähnt, noch das Sozialstaatsgebot, noch die Beschränkung des Militärs auf Verteidigung, noch das Friedensgebot, um nur einige entscheidende Punkte zu nennen. Auf seiner Basis hätte man eine europäische Verfassung entwickeln können, die - angesichts der immer völkerrechtswidriger und unverantwort­licher handelnden US-Regierungen und angesichts der Übermacht der Finanzmärkte über demokratisch gewählte Regierungen (nach dem früheren Präsidenten der Bundesbank, Tietmeyer, sollen die Finanzmärkte als Fünfte Gewalt die Regierungen kontrollieren) - die Vision eines Europa der sozialen und internationalen Gerechtigkeit, des Friedens und der Nachhaltigkeit in Rechtsformen faßt. Konkrete Vorschläge in dieser Richtung lagen dem Konvent vor.[9]

Welcher Gott wird statt dessen in dem Entwurf der EU-Verfassung angebetet, welcher Gott soll uns in Zukunft regieren? Es ist der Gott der Neoliberalen. Er ist der Gott der Konzerne, der Gott der militärischen Stärke zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Er ist der Gott der Starken im absoluten Wettbewerb. Er ist nicht der Gott, für den das Leben aller Menschen und darum das Leben der Armen zuerst wichtig ist. Es ist nicht der Gott des Friedens auf der Basis der Gerechtigkeit. Es ist nicht der Gott, der die Schöpfung liebt und sie darum in all ihrer Vielfalt und Schönheit erhalten will.

Im Gegenteil: Wie es im Klartext eines der Väter des Neoliberalismus, Friedrich von Hayek, heißt, können Menschen, die nicht den Kriterien des Eigentums und Vertrags als Grundelementen des konkurrenzgesteuerten Markts (zur Kapitalakkumulation) genügen, geopfert werden: „Eine freie (Markt-)Gesellschaft benötigt moralische Regeln, die sich letztendlich darauf zusammenfassen lassen, daß sie Leben erhalten: nicht die Erhaltung aller Leben, weil es notwendig sein kann, individuelles Leben zu opfern, um eine größere Zahl von anderen Leben zu erhalten.

Deshalb sind die einzig wirklich moralischen Regeln diejenigen, die zum 'Lebenskalkül' führen: das Privateigentum und der Vertrag.“5 Genau dies aber tut die EU-Verfassung, sie opfert die Menschen dem Götzen der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, deren zentrales Ziel die Vermehrung des Eigentums der Kapitaleigner ist.

Götze Marktwirtschaft

Um diese Gottesfrage hätten sich die europäischen Kirchen kümmern sollen. Dabei hätte ihnen der ökumenische Prozeß zu den Fragen der Globalisierung helfen können. In dem Brief an die Kirchen in Westeuropa von 2002 in diesem Zusammenhang heißt es: „Kirchen, die an dem ökumenischen Prozeß ... teilgenommen haben, bekräftigen, daß die Ideologie des Neoliberalismus unvereinbar ist mit der Vision der oikumene, der Einheit der Kirche und der ganzen bewohnten Erde. Weitreichende und wachsende Ungerechtigkeit, Ausschluß und Zerstörung sind der Gegensatz zum Teilen und zur Solidarität, die unabdingbar dazugehören, wenn wir Leib Christi sein wollen. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Qualität kirchlicher Gemeinschaft, die Zukunft des Gemeinwohls der Gesellschaft sowie die Glaubwürdigkeit des Bekenntnisses der Kirchen und ihrer Verkündigung Gottes, der mit den Armen und für die Armen da ist. Um der Integrität ihrer Gemeinschaft und ihres Zeugnisses willen sind Kirchen aufgerufen, gegen die neoliberale Wirtschaftslehre und -praxis aufzutreten und Gott zu folgen."6

Praktisch würde das für die Kirchen heißen, gemeinsam mit Attac und dem Europäischen Sozialforum zu fordern, daß der vorliegende neoliberale EU-Verfassungsent­wurf einer Volksabstimmung unterworfen wird, und dann dafür zu arbeiten, daß eine Mehrheit mit Nein dagegen stimmt.


Dokumentation*

Zur Einigung über den europäischen Verfassungsvertrag

Stellungnahme des EKD-Ratsvorsitzenden, Bischof Wolfgang Huber, und des

Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, und der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, begrüßen, daß sich die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel auf den Text eines europäischen Verfassungsvertrages geeinigt haben. Der vom Europäischen Rat in der Nacht von Freitag auf Samstag verabschiedete Verfassungsentwurf kann so zu einer neuen einheitlichen rechtlichen Grundlage der Europäischen Union werden. Dies ist ein wichtiger Schritt der europäischen Integration zur Sicherung des Friedens und zum Wohlergehen der Menschen. Zur endgültigen Verbindlichkeit des europäischen Verfassungsvertrages ist die Zustimmung durch die Parlamente und in einigen Ländern durch Volksabstimmungen notwendig. Wir hoffen, daß dies gelingen wird.

Von besonderer Bedeutung ist, daß im neuen Verfassungsvertrag die Wertgebundenheit der Europäischen Union deutlich zum Ausdruck kommt. So ist die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den Vertragstext integriert, viele demokratische Elemente sind gestärkt und das Subsidiaritätsprinzip ist weiter ausgestaltet worden - Anliegen, die die Kirchen immer wieder vorgetragen haben. Ebenso wurde unser Anliegen, die Vielfalt Europas auch dadurch anzuerkennen, daß die Union den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedsstaaten achtet und sie als Partner im gesellschaftlichen Dialog ansieht, im Verfassungsvertrag berücksichtigt.

Wenn es nun am Beginn des Textes heißt, daß die Europäische Union unter anderem aus dem religiösen Erbe schöpft, aus dem sich die Menschenrechte, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit entwickelt haben, dann ist damit angesichts seiner Prägekraft für Europa vor allem das jüdisch-christliche Erbe gemeint. Wir bedauern deshalb, daß die Staats- und Regierungschefs sich nicht darauf einigen konnten, diese historische Tatsache auch ausdrücklich zu benennen. Ebenso bedauern wir es, daß es nicht möglich war, angesichts der leidvollen Erfahrungen von Kriegen und Diktaturen in Europa durch einen Bezug auf die Verantwortung vor Gott deutlich zu machen, daß jede menschliche Ordnung vorläufig, fehlbar und unvollkommen und Politik nie absolut ist. Es wird nun darauf ankommen, diese Vorläufigkeit jeder politischen Ordnung immer wieder bewußt zu machen und den Menschen stets ins Zentrum europäischer Politik zu rücken. Ebenso wird es immer wieder notwendig sein, sich der Herkunft unseres Kontinentes zu vergewissern, um seine Zukunft gestalten zu können. Als Kirchen werden wir im Rahmen unserer Möglichkeiten dazu beitragen.

Hannover/Bonn, den 19. Juni 2004

 



Probleme

der strategischen Orientierung des Kampfes der Arbeiterklasse

von Hans Kölsch


Eine strategische Orientierung ist davon abhängig, daß konkret historisch analysiert worden ist, von welchen Klassenkräften mit ihren Institutionen und ihrer Politik die Hauptgefahr für die Interessen der Arbeiterklasse und den gesellschaftlichen Fortschritt ausgeht Die sozialistische Strategie orientiert dann darauf, unter den gegebenen Bedingungen den Interessen der Arbeiterklasse und anderer Volkskräfte gesellschaftliche Geltung zu verschaffen. Das ist nur zu verwirklichen, wenn den volksfeindlichen Kräften mit ihrer Politik wirksamer Widerstand entgegengesetzt wird, diese Kräfte mit ihrer Politik politische isoliert und letztlich auch entmachtet werden. Dazu ist es gleichfalls erforderlich, auch jene Elemente und Methoden der volksfeindlichen Kräfte aufzudecken, die in ihrer Politik strategisches Gewicht haben. Gegenwärtig sind das Maßnahmen und Lügen, die unter den Volkskräften politische Passivität fördern und Maßnahmen, die mit ökonomischer Erpressung Ver­änderungen erzwingen und durchsetzen, die den Plänen und Interessen der herrschenden Klasse dienen.

Strategisches Denken und Handeln besteht zunächst in der Fähigkeit, durch Analysearbeit aus der Fülle der Widersprüche im Klassenkampf das zentrale Problem herauszufinden und eine Konzeption zu erarbeiten und durchzusetzen, die zur Lösung dieses Problems im Interesse der Arbeiterklasse und des gesellschaftlichen Fortschrittes in der gegebenen konkreten Situation führt oder aber auch geeignet ist, einen strategischen Rückschlag zu verhindern. Auf dieser Grundlage läßt sich ermitteln, welche Klassen und Schichten für diese Politik gewonnen werden können. Die strategische Konzeption kann zwar nicht für alle Aufgaben, die sich im Klassenkampf ergeben, die Lösung vorgeben; denn die verlangen zeitlich, inhaltlich und örtlich bedingt Entscheidungen sehr unterschiedlicher Art, aber die Strategie sichert, daß alle diese Entscheidungen und Aktivitäten zur Lösung des zentralen Problems beitragen. Sie sichert auch, daß die mitunter aus der Tagespolitik oder dem medialen Druck des Zeitgeistes erwachsenden  Scheinlösungen der strategischen Orientierung nicht entgegenwirken.

Die Kommunistische Partei verfügt über Erfahrungen und Erkenntnisse über den Klassenkampf, über die Machtfrage und das Kräfteverhältnis im Klassenkampf, über mögliche Etappen und Übergangsprozesse auf dem Weg zum Sozialismus, aber alles das kann nur in schöpferischer Arbeit, durch Analyse der konkreten Lage und Schlußfolgerungen für die sozialistische Strategie erschlossen und nutzbar gemacht werden. Im Unterschied zur theoretischen Arbeit, die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Analyse schafft, die geschichtliche Erfahrungen des Klassenkampfes zu Lehren für die aktuelle Politik nutzbar macht, Einblick in Gesetzmäßigkeiten des Klassenkampfes und  in Bewegungsgesetze der Klassen eröffnet, zielt die Strategie der Partei darauf, die Arbeiterklasse und mögliche Bündnispartner in ihren politischen Erkenntnissen und Handlungen dadurch voranzuführen, daß sie wesentliche Erfordernisse des Klassenkampfes in ihrer konkreten Erscheinungsform den politischen Erfahrungen der Volksmassen zugänglich macht. Volksfeindliche Politik und Entwicklungen haben ihre Ursache letztlich im kapitalistischen System der Profitproduktion. Aber diese wesentliche Tatsache wird nur in ihren Erscheinungsformen und Tendenzen für die Volksmassen spürbar, sichtbar und ihren Erfahrungen zugänglich. Gestützt auf die Politik der revolutionären Partei der Arbeiterklasse  können Proteste und Aktionen an Zielstrebigkeit, Organisiertheit und Wirksamkeit gewinnen und zur Lösung anstehender Aufgaben führen. Die richtige Strategie und Taktik der Partei ist die Voraussetzung und Bedingung dafür, daß sozialistische Theorie die Massen ergreifen und zur materiellen Gewalt werden kann.

Eine strategische Konzeption kann unter Bedingungen geraten, die ihre Verwirklichung begünstigen oder aber auch erschweren, das stellt sie jedoch nicht in Frage, sondern verlangt entsprechende  Ergänzungen.. Entscheidend ist, daß die Kommunistische Partei für die erarbeitete Strategie ihre Kräfte einheitlich einsetzt, daß ihre Strategie massenpolitisch an Einfluß gewinnt, die gegnerische Strategie an Einfluß verliert und ein Kräfteverhältnis erkämpft wird, das die Lösung des zentralen Problems ermöglicht.

Unter unseren gegenwärtigen Bedingungen ist die Analyse der strategischen Situation und die Erarbeitung der strategischen Konzeption durch zwei Tatsachen erschwert

Die erste besteht darin, daß die antikapitalistischen Kräfte gespalten und zerstritten sind und die DKP zur Zeit nur unzureichend in strategischer Weise wirk­sam wird. Sie ist die einzige Partei, von der eine Strategie erwartet werden kann, die den gegenwärtigen Anforderungen gerecht wird. Ihre Geschichte, Mitgliedschaft und Einsatzbereitschaft sprechen dafür. Bei den Wahlen im Juni dieses Jahres ist es ihr gelungen, durch die Aktivität vieler Genossen an der Basis Stimmen zu gewinnen und in den neuen Bundesländern die Stimmenzahl sogar zu verdoppeln, was durch eine revolutionäre Strategie weiter vorangeführt werden kann. Gleichzeitig werden jedoch in Programmentwürfen und in Publikationen einiger Genossen zum Teil reformistische Positionen vertreten, die den weiteren Zusammenschluß antikapitalistischer Kräfte erschweren und strategischen Erfordernissen hinderlich sind. Konkretes dazu später.

Die zweite Tatsache besteht darin, daß wir uns am Anfang von Prozessen tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Veränderungen befinden, deren Endkonsequenz von den herrschenden Klassenkräften verschleiert wird. Doch bereits in diesem Anfangsstadium sind schwerwiegende Folgen für das Leben der Arbeiterklasse und andere Volkskräfte nicht nur in Deutschland zu erkennen. Erschwerend für die Analyse und eine strategische Orientierung wirkt auch, daß gezielt und manipulativ die besondere Verantwortung der Kräfte des deutschen Großkapitals für die dramatischen Veränderungen auf politischem, sozialen, kulturellen, nationalen und internationalen Gebiet verschleiert wird. Zeugnisse für so geförderte Unklarheiten über Freund und Feind sind auch in manchen linken Publikationen zu finden.

Die Kräfte des deutschen Großkapitals gründen ihre ökonomische Macht auf ihre Dominanz in verschiedenen transnationalen Konzernen, die sich auch durch  unterschiedliche internationale Kapitalverflechtungen unterscheiden. Wesentliche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen werden in der Tätigkeit der Unternehmerverbände sichtbar und in politischen Aufträgen an die jeweilige Regierungsmannschaft. Vom Ausmaß ihrer ökonomischen Macht ist es unter anderem auch abhängig, welchen Anteil sie an den barbarischen Prozessen der kapitalistische Globalisierung haben. Die periodischen internationalen Abstimmungsgespräche zwischen imperialistischen Führungskräften, die auch durch Organisationen wie IWF, WTO und Weltbank erfolgen, erwecken zum Teil den Eindruck, als würde die Globalisierung von einem Monstrum allein, wie von einer Riesenkrake, vorangetrieben, deren Freßleib nur durch internationale Aktionen geschwächt und überwunden werden könnte. In Wirklichkeit ist hier ein Dutzend solcher Monster am Werk, die in der Regel auch ihr territorial begrenztes und durch Banken abgesichertes Zentrum haben, das seinen beherrschenden Einfluß auf den zuständigen Staat dieses Gebietes hat. So wichtig internationale Protestaktionen gegen die Spitzentreffen imperialistischer Führungskräfte auch sind, der Hauptbeitrag zur Schwächung und letztendlichen Überwindung der Monster erfolgt im Kampf gegen ihr Machtzentrum, von dem aus sich ihre Fangarme international und aggressiv ausbreiten.

Worin bestehen nun die Veränderungen mit ihren strategisch bedeutsamen Auswirkungen ?

Wichtiges dazu kann hier nur skizziert werden. In Erklärungen politisch führender Beamter des deutschen Großkapitals ist das Problem in der Feststellung angedeutet, daß die Etappe oder Periode der Nachkriegszeit zu Ende sei und eine neue begonnen habe. In solchen Wunsch­feststellungen ist enthalten, daß die Zeit beendet sei, in der die Frage der Schuld „Deutschlands“ an Faschismus und Krieg aus der Nachkriegspolitik nie ganz ausgeblendet werden konnte, obwohl ständig starke Interessenverbände in dieser Richtung Druck gemacht haben. Vor allem war und ist eine starke Lobby bemüht, das deutsche Großkapital von seiner Verantwortung für Faschismus und Krieg frei zu sprechen. Dem ist nach wie vor entgegen zu wirken.

Für die neue Periode scheinen den Kräften des deutschen Großkapitals die Bedingungen günstig, die im faschistischen Anlauf um Weltmachtpositionen erlittenen Niederlagen revanchistisch aufzuarbeiten und nun für einen erneuten Anlauf zu nutzen und auszubauen. Der Ausgangspunkt dafür wurde mit der Zerschlagung des Sozialismus in europäischen Ländern, vor allem in der Sowjetunion geschaffen, verbunden mit einer strategischen Schwächung der internationalen Potenziale kommunistischer Theorie und Politik. Mit der als Wende umschriebenen Konterrevolution war jedoch der konterrevolutionäre Prozeß nicht abgeschlossen. Er wird in vielfältiger Weise zur Stärkung der revanchistischen Pläne der Kräfte des deutschen Großkapitals im erneuten Kampf um Weltmachtpositionen bei der Neuaufteilung der Welt fortgesetzt. Gestützt auf geschichtliche Erfahrungen soll das „Hinterland“ für diesen Kurs sicher gemacht werden. Dafür werden die noch verbliebenen bescheidenen Errungenschaften der Arbeiterbewegung, aber auch bürgerlich demokratischer Bestrebungen und Revolutionen aufs Korn genommen und abgebaut.

Sichtbar ist das in Angriffen auf die gewerkschaftliche Organisiertheit und auf tarifliche Rechte der Arbeiterklasse, in revanchistischen Funktionsänderungen antifaschistischer Gedenkstätten, in der revanchistischen Aufbereitung des Vertriebenenproblems, im von der CDU geplanten „Gedenkstättengesetz“, in der staatlich gelenkten Verfolgung antifaschistischer Aktivitäten und Organisationen, in den geduldeten und staatlich gesicherten Aktivitäten neofaschistischer Organisationen und in der Konzentration der antikommunistischen Wirksamkeit auf die Kriminalisierung der DDR. In jüngster Zeit wurden auch die Gedenkveranstaltungen an die Landung der Alliierten in der Normandie umgewertet. Die Massenmedien in der BRD haben diese Militäraktion aus ihrem Zusammenhang in der Antihitlerkoalition herausgelöst. Hier ging nicht nur verloren, daß die Sowjetunion den Hauptbeitrag für die Befreiung Europas vom Faschismus geleistet hat. Die zeitgleichenTrauerfeiern für Reagan wurden genutzt, von dessen militanten Antikommunismus die Brücke zur Landung in der Normandie zu schlagen und sie als den Beginn der Befreiung Europas von einer kommunistischen Gefährdung zu deuten. Die Churchill-These feierte Auferstehung, daß man im Krieg den Feind und die Bündnispartner falsch bestimmt habe. Das alles dient den neuen Weltmachtplänen des deutschen Großkapitals.

In den skizzierten Anfängen der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zeichnet sich ab, daß die Konzeption und Politik der Kräfte des deutschen Großkapitals für den dritten Anlauf im Kampf um Weltmachtpositionen der Ausgangspunkt für alle bereits sichtbaren Gefahren und das zentrale Problem im Klassenkampf ist, dem mit der strategischen Konzeption der revolutionären Partei der Arbeiterklasse begegnet werden müßte, diesen Kurs, diese Politik zu stoppen und im Interesse der Volksmassen umzukehren, mit Aufgabenstellungen, die der konkreten Lage entsprechen und den gesellschaftlichen Fortschritt in Richtung Sozialismus näher bringen. Die dafür erforderlichen Zeiträume und Etappen lassen sich nicht im Voraus bestimmen. Unbekannt ist, ob oder wann das imperialistische Herrschaftssystem durch eine Krisensituation erschüttert und geschwächt wird. Unbekannt ist auch, wie sich die Kräfteverhältnisse in Europa entwickeln werden. Einschätzbar dagegen ist, welche Widersprüche in Deutschland zur Lösung drängen und für politisches Handeln nutzbar zu machen sind. Vergleichbare Probleme lassen das erneute Studium der Dokumente des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale nützlich erscheinen, auch wenn der Klassenfeind diesmal seine Politik nicht unter dem Hakenkreuz vorantreibt.

Für die Einschätzung des zentralen Problems im Klassenkampf und der entsprechenden strategischen Orientierung spre­chen auch die folgenden Tatsachen: Für Deutschland besteht weder in Europa noch außerhalb Europas ein Gefahrenherd, dem durch Aufrüstung, Umrüstung und Aufbau der Interventionsfähigkeit entsprochen werden müßte. Die in Gang gesetzte Rüstung und Militarisierung dient eindeutig der militärischen Absicherung der Expansionspläne der Kräfte des deutschen Großkapitals mit ihren friedensgefährdenden und sozialen Belastungen.

Auch die gesteigerte Ausbeutung, der So­zialabbau, die Umverteilung von Unten nach Oben leiten sich nicht nur aus der reaktionären Konzeption ab, daß kapitalistisches Eigentum mit seinem Streben nach größtmöglichen Profiten und bestmöglichen Akkumulationsbedingungen nur sich selbst verantwortlich sei und frei sein müßte von Verantwortung gegenüber denen, die mit ihrer Arbeit die Lebensfähigkeit der Gesellschaft sichern, frei von Verantwortung auch den Menschen und Einrichtungen gegenüber, die nicht der Kapitalverwertung dienen. Die rasche Mehrung und Zentralisation ökonomischer Macht soll die Chancen der Expansion und der internationalen Einflußnahme gegenüber der Konkurrenz anderer Großmächte erhöhen, was die antisoziale Politik noch zuspitzt.

Zugespitzt wird die volksfeindliche Politik vor allem durch ein System ökonomischer Erpressungen, mit denen Lohnabbau und Arbeitszeitverlängerungen erzwungen werden, mit denen Existenzunsicherheit, Gesundheitsrisiken und Armut wachsen. Grundlagen für die möglichen Erpressungen sind millionenfache Arbeitslosigkeit, deren Abbau gezielt verhindert wird, die mit Hilfe des Euro eröffnete europaweite schrankenlose Kon­kurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die Schwächung gewerkschaftlicher Widerstandspotentiale durch die parteipolitische Einbindung gewerkschaftlicher Füh­rungskräfte in die Politik der Regierung und alle Formen der politischen Spaltung antiimperialistischer Kräfte. Konterrefor­men erhöhen die kapitalnützige Wirkung des Euro. An Stelle einer notwendigen Gesundheitsreform wird eine gesundheitsgefährdende Gebührenordnung eingeführt. Ein System von Verbrauchersteuern erweitert den betrieblichen durch den staatlichen Lohnraub. Die Agenda 2010 ist der Anfang eines Systems von Maßnahmen, mit denen die imperialistische Großmachtpolitik vorangetrieben wird. Vieles, was in der Zeit des Faschismus mit politischer Gewalt geregelt worden ist, wird heute mit ökonomischer Erpressung vorangetrieben. Mit der Aus­weitung der Billiglöhne wird Kaufkraft vernichtet und der Binnenmarkt geschwächt. Solche Ergebnisse kapitalnütziger Politik dienen dann der Lüge von Standortnachteilen, die hilft, Schlimmes noch schlimmer zu machen.

Mitunter wird die Konsequenz des Kampfes gegen die sozialen Ungerechtigkeiten als politisch wenig nützlich eingeschätzt, wenn sie nur auf Veränderungen im Bereich der Distribution zielt. Hier wird übersehen, welche Veränderung im Kräfteverhältnis erreicht werden muß, um den Widerstand gegen soziale Ungerechtigkeiten zu überwinden. Den ökonomischen und politischen Zwängen kann auf Dauer nur mit organisatorisch gestärkter Solidarität begegnet werden. Das generelle Problem besteht darin, wie die Politik der Partei auf allen Gebieten und in allen Formen strategisches Gewicht erlangen kann. Es geht nicht darum, aus der Not einer kleinen Partei mit begrenzten Mitteln durch Schwerpunkt­arbeit eine Tugend zu machen. Notwendig ist, daß die Schwerpunkte strategisch begründet sind.

Theoretische Arbeiten über den „Im­perialismus heute“ gewinnen zum Beispiel dann strategisches Gewicht, wenn sie in neuen Strukturen, Formen und Funktionsweisen aufdecken, wie sich Bekanntes im Kampf um Weltmachtpositionen wiederholt. Es geht doch darum, daß nicht erst Soldatenfriedhöfe wie bei Verdun oder Halbe die Aggressivität und Gefährlichkeit der Politik belegen sollen, die von den Kräften des deutschen Großkapitals erneut ausgeht. Strategisch geleitete wissenschaftliche Arbeit ist in der Lage, Gefahren einer Politik aufzudecken, bevor sie zu noch katastrophaleren Ergebnissen führt, als sie jetzt schon sichtbar sind. In Arbeiten zur Geschichte gewinnen die Erfahrungen des Kampfes vergangener Jahrzehnte gegen die Weltmachtpolitik der Kräfte des deutschen Großkapitals erneut an Bedeutung, besonders jene aus der Zeit des Kampfes gegen Faschismus und Krieg.

Protestaktionen, die ja bereits vielfach gegen die volksfeindliche Politik gerichtet sind, erlangen unabhängig von ihrem unmittelbaren Ergebnis bereits dadurch politische Bedeutung, daß sie unter den Bedingungen der vom Klassenfeind gezielt geförderten politischen Passivität die Schlammsperren dieser Passivität durchbrechen, das Kraftgefühl der Solidarität erlebbar machen und Erfahrungen für nachfolgende Kämpfe vermitteln, wenn Parteiarbeit das fördert. Strategisch bedeutsam ist eine dauerhaft wirksame Argumentation, die mit den Lügen des Klassenfeindes aufräumt, mit denen der Gegner versucht, die volksfeindliche Politik als einzig mögliche und alternativlose Politik darzustellen. Wenn Vorstellungen davon beherrscht sind, daß es keine Alternative gebe, ist auch der Sinn von Widerstand und Protesten in Frage gestellt, was sich ja massenhaft in der Wahlverweigerung zeigt.

Der faschistischen Lüge vom Volk ohne Raum ist die vom Staat ohne Geld gefolgt, der sich demzufolge unvermeidlich als Geldeintreiber betätigen müßte. Tatsache ist, daß die Führungskräfte des Staates mit ihrer Einnahmen- und Ausgabenpolitik die Haushaltsdefizite selbst organisieren und mit der staatlichen Schuldenmacherei den Bankgesellschaften dauerhafte und erträgliche Zinseinnahmen sichern. Der „Rentenklau“ wird mit der Lüge „begründet“, daß immer mehr Rentner von immer weniger Arbeitern am Leben erhalten werden müßten. Unterschlagen wird, daß immer weniger Arbeiter immer mehr produzieren, so daß nicht nur alle Menschen dieser Gesellschaft am Leben erhalten werden können, sondern daß zusätzlich die Kapitalisten so viel Profit machen, daß sie gewinnträchtige Anlagen suchen, gemeinnützige Einrichtungen privatisieren und im Inland wie im Ausland andere Profitmacher aus dem Feld zu schlagen versuchen, also expandieren. Auch von der Standortlüge wird die volksfeindliche Politik gestützt. Eine revolutionäre Strategie bringt solche Stützen zum Einsturz, macht sichtbar, daß eine andere Politik möglich ist und Aktionen dafür Sinn haben. Das Lügengebäude begräbt wie eine Schlammlawine oppositionelle Regungen unter sich. Eine richtige Öffentlichkeitsarbeit der Partei schafft hier Luft und neue Einsichten. Flugblattartige Argumentationen mit statistischen Belegen, kurz gefaßt und allgemeinverständlich, auch als Beilagen in der UZ, können den Genossen Material für die Auseinandersetzung mit den Lügen des Klassenfeindes in die Hand geben und langfristig wirksam werden.

Die Kräfte des deutschen Großkapitals, die mit der Faschismuskonzeption gescheitert sind, sich die Machtpotentiale Europas mit militärischer Gewalt unterzuordnen, europäische Konkurrenz im Weltmachtstreben auszuschalten, versuchen das gegenwärtig mit der Europa-Ideologie und Europa-Politik. Die 1952 im kalten Krieg geschaffene Europa-Union als ein Staatenblock des Kampfes gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten wird gegenwärtig von transnationalen Konzernen zu einem multinationalen Machtzentrum ausgebaut, in dem Deutschland und Frankreich die stärksten Militärmächte mit entsprechendem ökonomischen Potential sind. Lenins Kritik an der vor neunzig Jahren publizierten Losung von den Vereinigten Staaten von Europa als der angeblichen Friedenslösung für Europa [10] trifft noch immer zu. Dieses Machtzentrum dient nicht nur im Übereinkommen kapitalistischer Mächte zur gemeinsamen Niederhaltung des Sozialismus in Europa und in anderen Regionen der Welt, sondern auch zur Niederhaltung aller Aktivitäten und Bewegungen, die dem imperialistischen Expansionskurs hinderlich sein könnten. Die Zentralisation und Konzentration der Kräfte und Mittel für den anvisierten Weltmachteinfluß soll auch das Selbst-
bestimmungsrecht der Völker Europas außer Kraft setzen. Dem dient eine janusköpfige Politik, mit der einerseits die größtmögliche Zentralisation imperialistischer Macht erreicht werden soll, während andrerseits den Opfern der expansiven Politik gegenüber eine nationale und ethnische Separation vorangetrieben wird, die Konflikte, Kriege und Massenmorde provoziert. Auf diese Weise wurde Jugoslawien zunächst aufgespalten und geschwächt, um den Weg zu ebnen für den Krieg der „Friedensmacht Europa“ gegen Jugoslawien. So wurde der Zugang für die Expansionsbedürfnisse des Großkapitals freigebombt und die Lage auf dem Balkan im hegemonialen Interesse Deutschlands „geordnet“, was in ähnlicher Weise auch für andere Gebiete angedacht ist. Der Kampf für die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker wird trotz seiner nur widersprüchlich genutzten Möglichkeiten zu einem wichtigen Bestandteil der strategischen Orientierung

Die Kräfte des deutschen Großkapitals versuchen, die Diktatur der Kommissare der Europa-Kommission für ihre Großmachtpläne zu nutzen. Das faktisch rechtlose Europaparlament dient dazu, die Diktatur der Eurokratie zu tarnen. Dieses Parlament hat keine Rechte, Gesetze zu erarbeiten und zu verabschieden; es hat auch keine Rechte, Gesetze abzulehnen oder zu korrigieren, die von nicht gewählten Führungskräften verabschiedet werden. Strategisches Denken und Handeln zeigt sich bei den Wahlen zum Europaparlament zum Beispiel darin, daß über die hier bestehenden Herrschaftsverhältnisse aufgeklärt wird und keine Illusionen über die Möglichkeiten dieses Parlamentes verbreitet werden. Eine Strategie jedoch, die den Versuch stoppen will, daß imperialistische Großmächte mit Hilfe der Verfassung ihre volksfeindliche Politik zum Verfassungsgebot für alle Mitgliedsländer machen, wird nicht die Möglichkeit ausschließen, sondern gegebenenfalls dafür zu sorgen, daß in Straßburg kritische Parlamentarier vertreten sind und zusammenwirken. Wenn die Herrschenden die Politik ihrer Kommissare und ihres Ministerrates gegen kritische Einflußnahme abschirmen wollen, dann steht kritischen Parlamentariern in Straßburg die Möglichkeit offen, die Kommunikation und Zusammenarbeit mit außerparlamentarischen Bewegungen und Organisationen zu suchen. Straßburg könnte so an politischer Wirksamkeit gewinnen und auch auf die Zusammenarbeit oppositioneller Kräfte in Deutschland zurückwirken, wo die imperialistische Spaltungspolitik noch dominiert und auch von „Mitte-links-Kräften“ betrieben wird.

Ein solcher Kampf ist aber unmöglich, wenn der Platz der Europa-Union in der Strategie des deutschen Großkapitals „übersehen“ wird. Die von deutschen Führungskräften mitverfaßten Vorgaben aus Brüssel dienen als Rechtfertigung für den Sozialabbau, für den Demokratieabbau zum angeblichen Terrorismusschutz, für Militarisierung, Rüstung und militärische Intervention in anderen Ländern und dem Ausbau der eigenen Vormachtstellung. Mit der Europatarnung wird in Deutschland verdeckt, daß die entscheidende Aktionsbasis für diese volksfeindliche Politik die Diktatur der großen Koalition im Bundestag und Bundesrat in Berlin ist, die sich faktisch auf fünf Parteien stützt. Partielle Meinungsverschiedenheiten täuschen darüber hinweg, daß es zur Zeit keine parlamentarische Opposition zur volksfeindlichen Großmacht­politik des deutschen Großkapitals gibt. Partielle Meinungsverschiedenheiten in der großen Koalition betreffen vor allem die Frage nach dem bestmöglichen Weg zu Weltmachtpositionen.

Einige Kräfte des Großkapitals setzen auf die SPD. Sie sehen in deren Einfluß auf die Gewerkschaften den Vorteil, daß dadurch Proteste gegen die Großmacht­politik besser abgebremst werden können oder daß mit gewerkschaftlicher Zustimmung sogar Verlängerungen der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich möglich werden. Die „Sozialistische Internationale“ kann eventuell Vorbehalten gegen „deutsche“ Hegemonie in Europa wirksam begegnen. Die Distanz zum USA-Krieg gegen den Irak kann einer reaktionären Politik eventuell den Schein der Friedensfähigkeit verleihen. Vorgetäusch­te Friedensfähigkeit nutzt zum Teil Erfahrungen aus dem ersten gescheiterten Anlauf um Weltmachtpositionen unter Kaiser Wilhelm II. Damals ist sichtbar geworden, daß die Friedensinteressen der Volksmassen zu einem antiimperialistischen Machtfaktor werden können, der sogar den Weg zu einer erfolgreichen sozialistischen Revolution gebahnt hat.

Andere Kräfte des Großkapitals setzen mehr auf die Parteien der Union, die den Sozialabbau und den Demokratieabbau beschleunigen und verschärfen wollen, um die sich noch formierenden außerparlamentarischen Bewegungen vor vollendete Tatsachen zu stellen. In engerer Verbindung zu den USA und den konservativen Kräften des neuen Europa haben sie zur Zeit größeren Einfluß auf die Besetzung von Spitzenpositionen in Brüs­sel. Letztlich ergeben sich die genannten Meinungsunterschiede aus den Unterschieden in der internationalen Verflechtung der Kapitale in den transnationalen Konzernen

Die Diktatur der parlamentarisch getarnten großen Koalition und die ökonomischen Erpressungen fördern bei Volkskräften das Gefühl der Machtlosigkeit und verbreiten politische Resignation, weil selbst größere Protestaktionen scheinbar keine Wirkung haben. Stimmenthaltung bei Wahlen ist zum zahlenmäßig stärksten, politisch aber schwächsten Protest geworden. Das zu verändern verlangt eine strategische Konzeption, die geeignet ist, auch diese Form politischer Passivität zu überwinden, um anspruchsvolleren Formen politischer Aktivität den Weg zu bereiten und den Schein einer demokratischen Legitimation der volksfeindlichen Politik der Kräfte des Großkapitals zu zerstören. Dazu müssen auch Tendenzen überwunden werden, mit linksradikalem Antiparlamentarismus revolutionäre Absichten vorzutäuschen. Der sozialistische Charakter einer Strategie zeigt sich unter den gegebenen Bedingungen nicht so sehr in revolutionär klingenden Bekundungen, sondern oft in Losungen und Aufgabenstellungen, die Schlimmes verhindern, Errungenes verteidigen sollen und deren revolutionärer Charakter erst erkennbar wird, wenn die erforderlichen Kräfte gefordert sind, politische Widerstände zu überwinden, Errungenes zu sichern und das Kräfteverhältnis in Richtung der strategischen Orientierung zu verändern.

Der revolutionäre Charakter der Strategie steht aber auch im Gegensatz zu einer Politik, die sich in der Erklärung erschöpft, die Europa-Verfassung abzulehnen, dieses Nein aber als ausreichenden Ersatz für den Kampf gegen die Politik des deutschen Großkapitals zu werten oder in Koalitionen auf Landesebene diese Politik sogar zu unterstützen. Die große Koalition wird ohnehin darauf einwirken, daß die geforderte parlamentarische Zustimmung zur Verfassung in Deutschland zu keiner Basis für die Aufklärung der Bevölkerung und für eine aktionswirksame Ablehnung werden kann. Möglich ist eventuell, daß die Verfassung in einer Postwurfsendung an die politikverdrossene Bevölkerung auf ihrem Weg ins ungelesene Altpapier als ausreichende Information und Legitimation für die Zustimmung der großen Koalition gewertet wird. Strategisch wirksam ist die Kritik an der Verfassung nur in ihrem untrennbaren Zusammenhang mit einer aktionswirksamen Kritik an der großen Koalition und deren Politik, die auch dazu führt, antidemokratische Schran­ken der Meinungsbildung zu überwinden.

Die von den Kräften des deutschen Großkapitals betriebenen Politik ist mit einigen systeminternen Reibungsflächen konfrontiert. Ein Widerspruch ergibt sich aus der Europa-Konzeption der USA, die deren Hegemonie in Europa sichern soll. Sie wurde im Kampf gegen den Sozialismus entwickelt und praktiziert. Dem dienten die Zerstörung der Antihitler-Koalition und des Potsdamer Abkommens, der Marshallplan, der Aufbau der NATO, die Annexion Westberlins und die führende Rolle im Kampf zur Liquidierung des Sozialismus. Die Reibungen dieser Europa-Konzeption mit der des deutschen Großkapitals um die Beherrschung der europäischen Expansionspotentiale wurde offen sichtbar in der Stellung zum Krieg gegen den Irak. Sie zeigt sich in der Unterscheidung zwischen den Kräften eines „neuen“ und eines „alten“ Europa, in dadurch bedingten Differenzen in der NATO, im Aufbau von Streitkräften, die unabhängig von der NATO operieren können und einer eigenständigen Rüstungszentrale usw.

Der Widerspruch zwischen den zwei Europa-Konzeptionen führt zu einer Auseinandersetzung besonderer Art, die für antiimperialistische Politik schwer nutzbar ist. Die Kontrahenten haben gemeinsame Interessen in der Auseinandersetzung mit antiimperialistischen Kräften, zur Zeit vor allem unter dem Aushängeschild des Kampfes gegen den Terrorismus, der von beiden Mächten für einen rigorosen Demokratie-Abbau genutzt wird. Sie haben das gemeinsame Interesse, ihre Aggressionspotentiale nicht gegenseitig zu gefährden. Außerdem erscheint dieser Widerspruch auch geeignet, das Zustandekommen einer antiimperialistischen Strategie mit der Scheinalternative zu erschweren, als gebe es nur die Wahl zwischen der deutschen oder der USA-Vorherrschaft.

Eine sozialistische Strategie kann sich nicht dieser Alternative unterwerfen Für die sozialistische Strategie ist der Kampf für die Lösung des Widerspruches entscheidend, der zwischen den Interessen der Bevölkerungsmehrheit an Frieden, sozialem Fortschritt und eigenverantwortlicher Politikgestaltung einerseits und der volksfeindlichen Großmachtpolitik der Kräfte des deutschen Großkapitals andrerseits besteht. Mit der vorgeschobenen Spitze der Kritik an der Politik des USA-Imperialismus versuchen manche Kräfte aus dem Mitte-links-Spektrum vor einer notwendigen strategischen Entscheidung zu kneifen und das auch noch antiimperialistisch zu tarnen.

Der Europa-Konzeption der Kräfte des deutschen Großkapitals sind auch Widersprüche von kleinen Ländern der Europa Union hinderlich. Neben den Vorteilen europäischer „Zusammenarbeit“ sehen diese auch die Gefahr, im Widerspruch zu ihren eigenen Interessen von Großmächten über den Tisch gezogen zu werden. Das wurde unter anderem sichtbar in den Auseinandersetzungen um Verfassungstexte, die eine Vormachtstellung der Großmächte sichern sollen, und in den ausgehandelten Kompromissen, die eigentlich wenig am zentralistischen Machtgefüge ändern. Im Widerstreit mit diesem Zentralismus sind vordergründig keine antiimperialistischen Bestrebungen wirksam. Trotzdem können solche Tendenzen die Distanz der Bevölkerung kleiner Länder zum Europa-Pakt der Großmächte verstärken, die sich jedoch noch vorwiegend lediglich in Wahlenthaltungen gezeigt hat In Deutschland ist das verbreitete politische Desinteresse mit der Unkenntnis darüber verbunden, welche Partei, welche möglichen Bündnisse nicht nur in Worten gegen die volksfeindliche Politik der herrschenden Kräfte agieren.

Wenn eine strategische Konzeption unter Bedingungen gerät, die ihre Verwirklichung nicht begünstigen, sondern erschweren, wie das gegenwärtig durch die Europa-Ideologie und Europa-Politik im­perialistischer Kräfte der Fall ist, gewinnen geschichtliche Erfahrungen in mehrfacher Hinsicht an Gewicht. Das betrifft zum Beispiel auch die Erfahrungen mit Erschwernissen für die Strategie der antifaschistisch demokratischen Umwälzung nach 1945. Erschwernisse ergaben sich aus dem Bruch des Potsdamer Abkommens, aus der Spaltung Deutschlands und vor allem aus der Wiedererrichtung der Macht des deutschen Großkapitals in Westdeutschland und der von den West­mächten unterstützten Politik gegen eine antifaschistisch demokratische Umwälzung in ganz Deutschland. Neben diesen Erschwernissen gab es auch einen wichtigen begünstigenden Faktor für die antifaschistische Politik. Das war die politische und territoriale Position der Sowjetunion. Sie hat die antifaschistisch demokratische Strategie der deutschen Arbeiterpartei begünstigt, aber nicht ersetzt, wie das antikommunistische Geschichtsfälscher behaupten.

Eine wichtige Erfahrung aus dieser Zeit spricht gegen eine verbreitete opportunistische Anbetung bürgerlich parlamentarischer Regeln, die leider auch bei einigen führenden Genossen der DKP anzutreffen ist. Diese Regeln sind ja darauf ausgerichtet, das kapitalistische System und die Politik der herrschenden Kräfte sichern zu helfen. Als das Bündnis der antifaschistisch demokratischen Parteien und Massenorganisationen das Kräfteverhältnis so verändert hatte, daß die Kriegs- und Naziverbrecher in einem Teil Deutschlands auch ökonomisch entmachtet werden konnten, zielte die Politik der imperialistischen Kräfte darauf, dieses Bündnis zu spalten und zu zerstören. Sie organisierten Helfer, die das Bündnis mit Auffassungen konfrontierten, für die es nicht geschaffen war und die statt der aktuellen Gemeinsamkeiten vor allem Widersprüche zu den demokratischen Kräften im antifaschistischen Bündnis provozieren sollten, wofür auch Schwierigkeiten des Kampfes für die Überwindung von Kriegsfolge-nöten zu einer Waffe gegen den gesellschaftlichen Fortschritt gemacht wurden. Einen Erfolg für die Spaltungspolitik erhofften sich diese Kräfte vor allem bei Wahlen mit Hilfe bürgerlich parlamentarischer Regeln zu erreichen. Hier sollten die Gemeinsamkeiten der Verbündeten durch ihre Separierung und Entgegenstellung in den Hintergrund gedrängt und  politisch unwirksam gemacht werden.

Ein solcher Versuch war bereits bei den Gemeindewahlen 1946 daran gescheitert, daß der Zusammenhang zwischen politischen Spaltungen und faschistischem Unheil noch so im Vordergrund politischer Erfahrungen stand, daß Spalter schlechte Karten hatten. Außerdem hatten sie sich in der SBZ und den verbündeten Parteien organisatorisch noch unzureichend formiert, was sie recht bald nachholten. Die Spaltungspläne wurden dadurch vereitelt, daß auf der Grundlage der vereinbarten Gemeinsamkeiten die Bündnispartner. einen Wahlblock und eine Blockpolitik entwickelt haben, die das positive Kräfteverhältnis bewahrt und im Interesse der Verbündeten weiter vorangeführt hat. Eine solche Blockbildung ist keineswegs eine Erfindung sozialistischer Politiker. Sie ist seit langem ein erprobte Mittel der politischen Reaktion. Mit der Bildung einer großen Koalition schaffen sie einen politische Block, setzen sie faktisch die eigenen parlamentarischen Regeln auch ohne ein Ermächtigungsgesetz außer Kraft, wenn sie das für erforderlich halten. Neu ist bei sozialistischen Politikern allerdings, daß sie Blockpolitik im Interesse des gesellschaftlichen Fortschrittes begründet und dafür auch parlamentarische Regeln verändert haben. Diese Erfahrungen sind in dreifacher Hinsicht von aktueller Bedeutung.

Der erste Gesichtspunkt besteht darin, daß die gegenwärtige große Koalition in Deutschland auch ohne eine formelle Bekundung eine Blockbildung für notwendig hält, weil der große Gegensatz ihrer Politik zu den Interessen der Bevölkerungsmehrheit ein solcher politischer Schwachpunkt ist, daß die sich formierende außerparlamentarischen Op­position auch nicht noch durch eine parlamentarische Opposition Verstärkung erhalten soll. Daraus ergibt sich aus stra­tegischer Sicht der Schluß, einer solchen Verstärkung den Weg zu bereiten. und für die Kritik an der volksfeindlichen Politik auch eine parlamentarische Tribüne zu erkämpfen. Frei von der Illusion, allein durch parlamentarische Opposition Machtverhältnisse verändern zu können, ist das mögliche Zusammenwirken von außerparlamentarischer und parlamentarischer Opposition für positive Veränderungen des Kräfteverhältnisses von Vorteil.

Der zweite Gesichtspunkt besteht darin, programmatisches Denken und Handeln der Genossen von der bürgerlich parlamentarischen Illusion zu befreien, daß in diesen parlamentarischen Regeln für die Arbeiterklasse der kategorische Imperativ für demokratisches Denken und Handeln zu finden sei. Die herrschenden Kräfte formieren ihre Blockpolitik, wenn das für sie von Nutzen ist, ohne dafür ein parlamentarisches oder verfassungsgebendes Organ um Genehmigung zu bitten. Deshalb ist es politisch mehr als fragwürdig, wenn eine Kommunistische Partei plant, diesen Kräften eine programmatische Garantieerklärung für das Recht auf eine antisozialistische Blockbildung beim Aufbau des Sozialismus in Deutschland zu geben.

Die dem gesellschaftlichen Fortschritt dienende politische Blockbildung hat den Vorteil, die Kräfte der doch unterschiedlichen Bündnispartner auf Wesentliches zu konzentrieren, mögliche Differenzen zu minimieren und Tendenzen zur Spaltung des Bündnisses den Weg zu verbauen. Darin ist aber auch das Problem enthalten, daß im Bündnis enthaltene Initiativen und Aktivitäten begrenzt werden könnten, weil deren Risiken für den Fortschritt noch nicht überschaubar sind, die aber auch Triebkräfte für den Fortschritt in das noch unerforschte Neuland einer sozialistischen Gesellschaft enthalten können. Reformistische Vorstellungen zur Lösung des Problems reduzieren sich auf die Wiederherstellung parlamentarischer Verhältnisse und auf die Freisetzung von politischen Widersprüchen bis zur Gefährdung sozialistischer Existenzbedingungen. Auf ökonomischem Gebiet reduzieren sie sich auf die Anbetung der NÖP, die als Lösung aller Probleme eingeschätzt wird, wenn sie nicht mit der kontrollierenden sozialistischen Strategie verbunden gewesen wäre.

Die Lösung des Problems ist nur durch ein Kräfteverhältnis zu erreichen, daß einerseits jede Möglichkeit zu einer Restauration des Kapitalismus ausschließt, das andererseits aber die Kräfte sozialistischer Kollektivität in ihrer schöpferischen Vielfalt voll zur Entfaltung bringt Dazu gehört beim Aufbau des Sozialismus vor allem die Fähigkeit, den ökonomischen Nutzen für den Zeitgewinn zu erhöhen, der sowohl für die Befriedigung der vorhandenen Bedürfnisse wie für die Herausbildung neuer sozialistischer Bedürfnisse und Triebkräfte notwendig ist.

Der dritte Gesichtspunkt besteht schließlich darin, daß die geschichtlichen Erfahrungen im Blick auf politische Blockbildungen auch hilfreich sind, eine neuartige antisozialistische Blockbildung trotz eines „linken“ Firmenschildes zu erkennen und ihr nicht in die Falle zu gehen. Gefördert durch die Europa-Politik der herrschenden Kräfte wurde das Konzept von Europaparteien von Kräften aus der Taufe gehoben, die europaweit durchsetzen wol­len, was sie schon im eigenen Land praktizieren, den Ausschluß marxistischer Positionen und marxistischer Kräfte aus linken Bündnisbeziehungen. An Stelle eines Bündnisses imperialismuskritischer Kräfte, das für alle entsprechenden Organisationen und Personen offen ist und das zu einer ernstzunehmenden Kraft im Kampf gegen die volksfeindliche Politik der herrschenden Kräfte werden könnte, besteht das Ziel dieser Kräfte darin, die Kritik und Opposition in solchen Grenzen zu halten, daß sie für das imperialistische System keine Gefahr darstellen. Darum wird an Stelle eines Bündnisses ein politischer Block in Gestalt einer Partei geschaffen, der eine antisozialistische Orientierung durchsetzen kann. Speziell die PDS hat hierzu hinreichende Erfahrungen in einen solchen politischen Block einzubringen, in der sogar eine kommunistische Plattform nützlich sein kann.

Hieraus ergibt sich ein kompliziertes Problem. Einerseits lehren Erfahrungen, daß in der Mitgliedschaft einer solchen „linken“ Partei die antisozialistischen Konsequenzen mitunter nicht überall bis in die Basis hinein wirksam sind. Darum ist es territorial begrenzt möglich, mit einzelnen Mitgliedern einer solchen Par­tei in antiimperialistischen Aktionen ge­meinsam wirksam zu werden. Andrerseits ist es aber für die notwendige Aktionseinheit schädlich, wenn sich Kommunisten bei Wahlen für eine Spalterpartei als Kandidaten aufstellen lassen. Sie erlangen dadurch keinerlei Einfluß auf den Charakter und die politische Führung der Partei. Sie irritieren eher antikapitalistische Kräfte und begünstigen die Taktik der antisozialistischen Kräfte, einen Zusammenschluß der Linken unter Einschluß von Marxisten zu hintertreiben.

Im strategischen Lügengebäude der Kräf­te des deutschen Großkapitals ist auch die Lüge wirksam, daß die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Die Lüge gründet sich vor allem darauf, daß die DDR im Ergebnis einer antifaschistisch demokratischen und schließlich sozialistischen Politik entstanden ist, die das bürgerlich parlamentarische Regelwerk korrigiert und Eigentumsverhältnisse geschaffen hat, unter denen das Recht auf Faschismus, Krieg und Ausbeutung beseitigt und das Recht auf menschenwürdige Lebensverhältnisse zur Staatsdoktrin erhoben worden war. Von strategischer Bedeutung ist deshalb auch alles, was antikommunistischen Vorurteilen das Wasser abgräbt und den revolutionären Erfahrungen der DDR und der deutschen Arbeiterbewegung gerecht wird.

Diese Problemskizze kann nur ein Diskussionsbeitrag sein und Anregungen für strategisches Denken und Handeln geben. Eine strategische Konzeption, die allen Anforderungen des Klassenkampfes gerecht wird, kann nur das Ergebnis der Arbeit eines Kollektivs kampferfahrener Kommunisten sein. Hierbei ist auch das Problem aller Probleme einer Lösung näher zu bringen: die Aktionseinheit antikapitalistischer und marxistischer Kräfte, auf deren Grundlage die Aktionseinheit der Arbeiterklasse und das Bündnis antiimperialistische Kräfte erkämpft werden kann.

Aus der Fülle der erörterten Probleme leitet sich die zentrale und übergreifende Aufgabe ab, die politischen Bedingungen zu erkämpfen, durch die es möglich wird, die Kräfte des deutschen Großkapitals daran zu hindern, die menschenfeindliche Weltmachtpolitik zu wiederholen, die bereits zur Zeit des Hitlerfaschismus mit den bekannten Folgen prak­tiziert worden ist, auch wenn das in der Gegenwart nicht unter dem Hakenkreuz vorangetrieben wird. Die zu erkämpfenden politischen Bedingungen werden im Gegensatz zu den Zielen der Kräfte des deutschen Großkapitals die Möglichkeit eröffnen, für die Bevölkerung Deutschlands menschenwürdige Lebensbedingungen und ein anderes, besseres Deutschland zu schaffen, das auch zu einem anderen, besseren Europa beitragen kann. Eine richtige strategische Orientierung kann auch dazu beitragen, die Suche mancher „Theoretiker“ mit ihren Publikationsorganen nach Kontrahenten unter Linken durch die Suche nach Partnern in der Auseinandersetzung mit der Politik des Klassenfeindes zu ersetzen.

Die richtige strategische Orientierung zeigt ihre Wirksamkeit im Kampf der Arbeiterklasse und anderer Volkskräfte darin, wie zunehmend politische Einschüchterungen scheitern, wie ökonomische Erpressungsversuche erfolglos werden, wie politische Lügen an Einfluß verlieren und wie Versuche unwirksam werden, marxistische Linke politisch auszugrenzen.


 

 

Der „Röhm-Putsch“, der keiner war.

Legenden und Tatsachen um den 30. Juni 1934

von Kurt Gossweiler


Zum siebzigsten Jahrestag des Blutbades vom 30. Juni 1934 werden wir wieder überschwemmt werden mit Berichten darüber, wie Hitler an diesem Tage die von ihm lange geplante und sorgfältig vorbereitete blutige Abrechnung mit dem unbequem und lästig gewordenen Chef der „Sturm-Abteilungen“ (SA) der Nazipartei, Ernst Röhm, und dessen Unterführer befahl und sich entschlossen an ihre Spitze stellte.

Das ist die Legenden-Version des 30. Juni, mit der seit Anfang der fünfziger Jahre eine andere, damals in der BRD-Geschichtsschreibung dominierende und weitgehend an den Tatsachen orientierte Darstellung der Ereignisse um dieses Da­tum herum verdrängt wurde.[11] Zu den Hauptvertretern dieser verdrängten Darstellung gehörte auch der damalige wissenschaftliche Leiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, Hermann Mau. In seiner Arbeit „Die ‚zweite Revolution‘ – der 30. Juni 1934“, veröffentlicht in der Zeitschrift seines Instituts, in den „Vierteljahresheften für Zeitgeschichte“, Heft 2/1953, kam er aufgrund des von ihm durchforschten Materials zu einem Ergebnis, das – kurz zusammengefaßt – besagt:

Hauptinteressenten an der Entmachtung Röhms waren Göring, Himmler und die mit ihnen verbündete Reichswehrführung: Blomberg, und vor allem Reiche­nau. Sie drängten Hitler zum Vorgehen gegen Röhm, der selbst Kriegsminister werden wollte. Hitler aber schwankte lange zwischen Röhm und Göring, und erst ganz massiver Druck sowie die Drohung, die Armee werde die Exekutive übernehmen, brachten Hitler schließlich zum Handeln.

Mit welch durchschlagendem Erfolg diese tatsachengestützte Darstellung verdrängt und an ihre Stelle die Legendenversion zur fast alleinherrschenden Version gemacht wurde, zeigt sich unter anderem auch daran, daß sie selbst von antifaschistischen Autoren und Zeitschriften übernommen wird. So lesen wir in der „antifa“ vom April/Mai d. J. in einem Artikel zum 30. Juni 1934: „Dabei ging es ... um nichts anderes, als um die Ausschaltung innerfaschistischer Konkurrenten. ... Mit Unterstützung der Reichs­wehrführung und auf Befehl Hitlers schaltete die SS am 30. Juni 1934 die gesamte Führung der SA aus.“

Das ist leider die kritiklose Übernahme der Knopp’schen Art, den Kerngehalt der Legendenversion zur Grundlage der Darstellung der Geschichte des „Dritten Reiches“ zu machen, demzufolge es in Deutschland zwischen 1933 und 1945 nur ein einziges Willens- und Befehlszentrum gab: Adolf Hitler – womit die monopolkapitalistischen und militärischen Machthaber im „Dritten Reich“ aus Hauptverantwortlichen für die faschistischen Verbrechen in Opfer Hitlers verwandelt werden.

Es ist aber auch zu wenig gesagt, wenn die Mordaktion vom 30. Juni nur als Ausdruck eines Machtkampfes zwischen Reichswehrführung und SA-Führung dar­gestellt wird.

Sie stellt vielmehr den Versuch bestimmter Kreise der herrschenden Klasse und ihrer politischen und militärischen Exponenten dar, die Krise, in welche die Konsolidierungsphase der faschistischen Diktatur geraten war, mit einem Gewaltstreich zu beenden.

Die Konsolidierung wurde am stärksten gefährdet durch eine zunehmende Massenunzufriedenheit, die sogar die Massenbasis der Naziregierung unsicher wer­den ließ, ganz besonders auch deshalb, weil von ihr auch die bisher als stärkstes und zuverlässiges Terrorinstrument gegen die Arbeiterbewegung eingesetzte SA befallen wurde.

Besonders stark war die Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft, war sie doch ihrer Gewerkschaften beraubt und statt dessen in die faschistische Arbeitsfront (DAF) gepreßt worden, und wurde sie doch durch die faschistische Gesetzgebung, wie das „23. Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ („Arbeitsordnungsge­setz“ vom 20. Januar 1934) der Willkür der Unternehmer ausgeliefert.

Die großmäuligen Versprechungen über die rasche Beseitigung der Arbeitslosigkeit erwiesen sich infolge der durch wachsenden Rohstoff- und Devisenmangel verursachten großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten als uneinlösbar. Anfang 1934 gab es noch 4 Millionen offiziell ausgewiesene Arbeitslose, und die Unternehmer nutzten die Zerschlagung der Gewerkschaften zur weiteren Senkung der in der Weltwirtschaftskrise schon auf das Existenzminimum gedrückten Löhne aus.

Die Arbeiter nahmen all dies nicht widerstandslos hin.[12] Ihr Widerstand reichte von passiver Resistenz bis zu offenen Streiks. Eine deutliche Ohrfeige für das Regime war das Abstimmungsergebnis bei den Vertrauensrätewahlen im März/-April 1934: rund 75 Prozent der Arbeiter stimmten direkt oder indirekt – durch Wahlenthaltung – gegen die faschistischen Vertrauensratskandidaten. Die Hit­lerregierung sah sich gezwungen, Ende März die unbefristete Weitergeltung der noch laufenden Tarifverträge anzuordnen, obwohl diese nach dem Arbeitsordnungsgesetz am 1. Mai 1934 durch einseitig von den Unternehmern erlassene „Tarifverträge“ hätten abgelöst werden sollen.

So war es bisher den Hitler, Goebbels und Ley - (Führer der DAF) - nicht gelungen, die Mehrheit der deutschen Arbeiter auf ihre Seite zu ziehen. Und es zeichnete sich nun für die Naziführer sogar die Gefahr ab, das Vertrauen großer Teile ihrer kleinbürgerlichen Millionengefolgschaft zu verlieren.

Am schärfsten traten die Symptome der wachsenden Unzufriedenheit unter den Nazianhängern in der SA in Erscheinung. Die SA wurde zu einem Brennspiegel der Unzufriedenheit und Verbitterung großer Teile der kleinbürgerlichen und proletarischen Nazianhänger Die SA-Männer hatten nicht nur auf die Erfüllung der sozialen Versprechungen, auf die Enteignung der Banken und Konzerne und des Großgrundbesitzes gewartet, sondern auch auf die Einlösung der feierlichen Versicherungen aus der „Kampf­zeit“, sie würden dereinst zur Armee des „Dritten Reiches“ werden. Statt dessen war nach dem „Sieg“ am 30. Januar 1933 immer wieder die Reichswehr zum alleinigen Waffenträger erklärt worden, und im August 1933 waren die SA-Männer sogar ihrer Hilfspolizei-Funktionen wieder entkleidet worden.

In den Reihen der SA ging deshalb als Antwort auf Hitlers am 6. Juli 1933 erstmals ausgesprochene, danach aber mehrfach wiederholte Erklärung, die „nationale Revolution“ sei beendet, immer lauter der Ruf nach der „zweiten Revolution“ um. In der Berliner SA kursierte der Spruch:„Hitler, gib uns Arbeit und Brot, gibst Du es nicht, dann werden wir rot!“ Manche SA-Stürme erhielten den Spitznamen „Beefsteak-Sturm“: außen braun und innen rot.

Diese wachsende Unzufriedenheit unten trug dazu bei, daß sich die ständigen Interessenkollisionen und die Kämpfe um den herrschenden Einfluß oben, in den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse, und, als deren Reflex, auch in der Naziführung, im ersten Halbjahr 1934 gefährlich zuspitzten und immer mehr auf eine gewaltsame Lösung zudrängten.

Im Rahmen dieses Aufsatzes kann nur in Umrissen und an einigen besonders markanten Beispielen gezeigt werden, worum es in diesen Kämpfen ging.[13]

Im imperialistischen Deutschland kämpf­ten vor allem zwei große Hauptgruppen der großen Industriemonopole um die Vorherrschaft: Die Schwerindustrie, vor allem also die Kohle- und Stahlunternehmen auf der einen, die Elektro- und die Chemieunternehmen auf der anderen Seite.

Nach Deutschlands Niederlage 1918 waren sich beide Gruppen im Ziel einig: Revanche für die Niederlage in einem besser vorbereiteten zweiten Waffengang um die Weltherrschaft, und als ersten Schritt dazu: Beseitigung der Weimarer Republik und Herstellung eines Staates, in dem kein Parlament die Durchsetzung des Willens der Monopolherren behindern konnte.

Im Sektor der Großbanken bildeten sich nach dem ersten Weltkrieg mit dem Eindringen des amerikanischen Kapitals ebenfalls zwei Hauptrichtungen heraus: Mit der Deutschen Bank an der Spitze jene Richtung, die unverändert am Ziel festhielt, Deutschland wirtschaftlich und finanziell zur stärksten Macht zu machen, die es mit jeder anderen Macht, gegebenenfalls auch mit England und den USA, aufnehmen konnte. Und eine zweite Richtung, die sich eng mit dem US-Kapital verband und deshalb in der Außenpolitik darauf drängte, daß die Expansionsziele Deutschlands nur im Osten lagen und der Krieg gegen die Sowjetunion nur im festen Einvernehmen mit dem Westen, d.h. den USA und England, vorbereitet und durchgeführt würde.

Diese Richtung wurde in der Weimarer Republik vor allem von der Danat-Bank, (Darmstädter- und Nationalbank) und der Dresdner Bank vertreten. Die wichtigste Figur dieser Richtung, die man als „ame­rikanische Fraktion“ im deutschen Monopolkapital bezeichnen kann, war der Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht.

Diese Fraktion hatte auch einen Flügel im Lager der Industrie in jenen Unternehmen, die eng mit USA-Kapital verbunden waren. Das war vor allem der Thyssen-Konzern, einer der Gründer-Konzerne der Vereinigten Stahlwerke. Neben Hjalmar Schacht war Fritz Thyssen die zweite Hauptfigur der „ame­rikanischen Fraktion“.

Aber auch die beiden Bank-Gruppen waren im Ziel: weg mit dem Versailler Ver­trag und weg mit der Weimarer Republik! einig.

Uneinig waren sich die beiden Hauptgruppen im Industrie- und im Banksektor aber über den Weg zu diesen Zielen.

In der Schwerindustrie - zu nennen wären die Namen Stinnes und Kirdorf, - wurde als Weg zur Beseitigung der Wei­marer Republik der Weg der Gewalt, des Putsches oder des Staatsstreiches, bevorzugt. Hauptvertreter ihrer Linie in der Politik war die Partei Alfred Hugenbergs, die „Deutschnationale Volkspartei“ (DNVP). Auf das Konto von Schwer­industrie und Hugenberg-Partei und deren militärischen Verbündeten war der am Arbeiterwiderstand gescheiterte Kapp-Putsch im März 1920 gegangen.

Auf der Seite der neuen Industrien - Elek­tro-Chemie - setzte man von Anfang an – erst recht aber nach dem Scheitern des Kapp-Putsches – auf einen „legalen“ Weg der Beseitigung der Weimarer Republik, also auf den Weg der Ausnutzung der Bestimmungen der Weimarer Verfassung, um diese außer Kraft zu setzen und zu beseitigen. Nur auf diesem „legalen“, „verfassungsmäßigen“ Wege - so ihre richtige Einschätzung - würde der SPD die Duldung und das Stillhalten beim Übergang vom Parlamentarismus zur Diktatur ermöglicht werden. Das aber war notwendig, wollte man den gemeinsamen, sogar bewaffneten Abwehrkampf von Sozialdemokraten und Kommunisten, die Überwindung der Spaltung der Arbeiterklasse im gemeinsamen Kampf, verhindern.

Aber für die erfolgreiche Verwirklichung des „legalen“ Weges der Abschaffung der bürgerlichen Demokratie bedurfte es einer verfassungsändernden Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Die aber war nur mit der NSDAP, mit der Hitlerpartei, zu erreichen.

Die „Nationalsozialistische Deutsche Ar­beiter-Partei“ (NSDAP) – bei ihrer Grün­dung 1919 von ihrem Gründer Anton Drexler als „Deutsche Arbeiterpartei“ aus der Taufe gehoben – verdankte ihre Entstehung dem Bedürfnis der reaktionärsten Kreise der herrschenden Klasse Deutschlands und ihrer politischen Vertretung, der „Alldeutschen“, nach einer politischen Kraft, die imstande wäre, die Masse der Arbeiter dem Einfluß der mar­xistisch orientierten Arbeiterbewegung zu entziehen und sie für das Ziel der nationalistischen, antidemokratischen Rech­ten, der gewaltsamen Beseitigung der Weimarer Republik, zu gewinnen und einzuspannen.[14] Eine solche Kraft durfte, ja mußte sich als „Arbeiterpartei“ vorstellen. Dieser neuen „Arbeiterpartei“ wurden von der bayerischen Reichswehrführung – in welcher der Hauptmann Ernst Röhm eine gewichtige Rolle spielte, - Leute zugeführt, die ihr geeignet schienen, diese Partei in ihrem Sinne auszurichten. Auf diese Weise geriet auch Hitler in diese Partei. Es war vor allem Ernst Röhm, der ihn dort förderte und ihm den Weg an die Spitze der Partei bahnte.

Von ihrem Anfang an wurde diese Partei auch mit Spenden aus dem Großbürgertum bedacht.[15]

Angespornt von Mussolinis „Marsch auf Rom“ 1922 unternahmen es im November 1923 Hitler und seine Förderer, zu denen sich auch General Ludendorff gesellte, durch einen „Marsch auf Berlin“ die Macht zu übernehmen.

Nach dem kläglichen Scheitern dieses Putsches schien die NSDAP auf ewig zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 kam sie mit 810 000 Stimmen gerade mal auf 2,6 Prozent.

Dann aber brach im Oktober 1929 die Weltwirtschaftkrise auch über Deutschland herein, auf die die Herrschenden – wie auch in unseren Tagen – mit brutalstem Sozialabbau reagierten. Während der aber heute verschleiernd durch „Re­formen“ verordnet wird, gaben die Regierungen damals ihren Sozialabbau-Er­lassen den treffenden Namen „Notver­ordnungen“.

An denen waren alle bürgerlichen Parteien beteiligt, von Hugenbergs Deutschnationalen über die Deutsche Volkspartei - der Partei des 1929 verstorbenen Gustav Stresemann, - das katholische Zentrum, aus dem der Kanzler Heinrich Brüning sowie dessen Nachfolger als Reichskanzler, Franz von Papen, kamen, bis zur SPD, die eine Politik der Tolerierung betrieb und darüber hinaus alles tat, um einen gemeinsamen Widerstand von SPD, KPD und Gewerkschaften gegen die Kapitalsoffensive zu verhindern.

Das bot der NSDAP die Möglichkeit, aus ihrer Bedeutungslosigkeit herauszukommen, indem sie sich als die einzige Partei darstellte, die stets und ständig die Republik der „Novemberverbrecher“ bekämpft habe, während alle anderen Parteien „Systemparteien“ seien; die einzige Partei auch, die einen Ausweg aus der Krise zeige, nämlich die Beseitigung der „Judenrepublik“ durch eine „nationale Revolution“ und die Herstellung des „Dritten Reiches“, in dem ein „deutscher Sozialismus“ und eine „deutsche Volksgemeinschaft“ errichtet würden.

Ihre von den schlimmsten Arbeiterfeinden, wie Thyssen, Stinnes, Kirdorf finanzierte sozialdemagogische Propaganda hatte durchschlagenden Erfolg. Bei den Reichstagswahlen vom September 1930 erhielt die Nazipartei über 6 Millionen Stimmen und rückte damit hinter der SPD an die zweite Stelle. Bei den Juliwahlen 1932 verdoppelte sie ihr Wahl­ergebnis und wurde mit über 13 Millionen und 37 Prozent aller Stimmen zur stärksten Partei.

Damit war die Nazipartei zu der politischen Kraft geworden, die für beide Richtungen in der herrschenden Klasse gleichermaßen unentbehrlich war: sowohl für jene, welche die Weimarer Republik per Staatsstreich liquidieren woll­te, als auch und erst recht für jene, die sie „legal“, mit einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit, aus der Welt schaffen wollte.

Allerdings waren die Vorstellungen, wel­che Rolle die Nazipartei danach spielen sollte, bei fast allen sehr anders als bei den Naziführern selbst. Deren Vorbild war Mussolini-Italien: der Parteiführer als Staatsführer, und die Partei als die Staatspartei.

Mit der Ausnahme von Thyssen und Schacht war eine solche  Rolle den Nazis jedoch zunächst von keiner Gruppe ihrer monopolkapitalistischen Förderer zugedacht.

Einigen – wie Hugenberg, Brüning, Papen und dem Reichspräsidenten Hindenburg und den hinter ihnen stehenden Industriellen und Junkern - schwebte vor, nach der mit Hilfe der Nazipartei erfolgten Beseitigung der Weimarer Republik als nächsten Schritt die Wiedererrichtung der Monarchie durch den Reichspräsidenten proklamieren zu lassen.

Als Papen die Nachfolge Brünings als Reichskanzler antrat, (Juni 1932), setzte er am 20. Juli per Staatsstreich die sozialdemokratisch geführte Preußenregierung ab. Als er sich im November aber anschickte, auf gleiche Weise die Weimarer Verfasser für ungültig zu erklären und eine neue, das Parlament seiner Rechte völlig beraubende Ständeverfassung zu erlassen, hatte er den Bogen überspannt. Der Widerstand gegen seine brutalen Notverordnungen, den die Arbeiter mit einer großen Streikwelle im Herbst 1932, mit dem Streik der Berliner Verkehrsarbeiter als Höhepunkt, beantwortet hatten, sowie die Furcht vor einer Wiederkehr einer geschlossenen Front der Arbeiter zur Abwehr eines Putsches von oben machten seiner Kanzlerschaft ein Ende. Ihm folgte am 3. Dezember der Reichwehrminister Schleicher auf den Kanzlerstuhl

Der verfolgte einen anderen Plan, der im wesentlichen Interessen des Chemietrusts der IG Farben zum Ausdruck brachte. Ihm schwebte vor, die Weimarer Republik durch eine Militärdiktatur abzulösen, die sich aber nicht nur auf die Bajonette, sondern auch auf eine möglichst breite Massenbasis stützen sollte, die er aus den freien Gewerkschaften und dem der SPD nahestehenden „Reichsbanner“  auf der einen, auf der anderen Seite aus dem Gregor-Strasser-Flügel der NSDAP, der von Strasser gegründeten „National­sozialistischen Betriebszellen-Organisati­on“ (NSBO) und der von Röhm geführten SA bilden zu können hoffte. Schleicher hatte darüber schon Verhandlungen geführt mit Führern des Allgemeinen Deut­schen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und mit Gregor Strasser, und er hatte auch erreicht, daß die Reichsbannerführung mit Röhm Kontaktgespräche aufnahm.[16]

Diese aus so gegensätzlichen Lagern zusammenzuführende Massenbasis einer Militärdiktatur sollte zusammengehalten werden durch die Verwirklichung eines wirtschaftspolitischen Programms, wie es Interessenvertreter des Chemietrusts IG-Farben seit längerem propagierten und dessen Forderungen sowohl in der Sozialdemokratie als auch von der Strasser-Richtung  der NSDAP aufgenommen worden waren.

Dazu gehörten:

1.   Schluß mit der sogenannten „Osthil­fe“, d.h. mit der staatlichen Stützung bankrotter, nicht mehr sanierungsfähiger Junkergüter. Stattdessen deren Auf­teilung zugunsten der Schaffung rentabler Großbauernwirtschaften in Ost­elbien. (Einen solchen Plan hatte schon die Brüning-Regierung verkündet.)

2.   Endgültige Verstaatlichung der infolge der Wirtschaftskrise nur durch staatliche Gelder vor dem Zusammenbruch geretteten Unternehmen. Das betraf auf Industrieseite die Vereinigten Stahl­werke, (kurz: Stahlverein), den größten und mächtigsten Stahlkonzern Deutschlands und Europas, zu dessen führenden Leitern solche schwerindustrielle Förderer der Nazipartei gehörten wie Thyssen, Vögler, Kirdorf.

Auf der Bankseite betraf es in erster Linie die Dresdner Bank. Durch ihre Rettung mit Staatsgeldern war sie zu fast hundert Prozent in Staatshand gekommen. An ihrer dauerhaften Verstaatlichung war aus Konkurrenzgründen vor allem die Deutsche Bank interessiert.

3.   Auf außenpolitischem Gebiet: Beseitigung des Versailler Vertrages und Aufhebung der Rüstungsbegrenzung für Deutschland nicht durch Konfrontation mit Frankreich, sondern auf der Grundlage von Verhandlungen mit Frankreich über ein Wirtschafts-und Militärbündnis.

Zu den schärfsten Gegnern solcher Pläne gehörten Hjalmar Schacht und Fritz Thys­sen, die beiden Hauptfiguren der „ame­rikanischen Fraktion."[17] Sie waren lange Zeit die einzigen, die Hitler immer darin bestärkten, einem Eintritt der NSDAP in die Regierung nur unter der Bedingung zuzustimmen, daß er, Hitler, Reichskanzler werde.

Der Grund dafür war ihre Überzeugung, dank ihrer jahrelangen Förderung Hitlers und die engen freundschaftlichen Beziehung Thyssens zu Göring, über den er seine Fördergelder für die Nazipartei lei­tete, sei die Kanzlerschaft Hitlers eine Garantie dafür, Hitlers Politik zuverlässig in die von ihnen gewünschte Richtung lenken zu können. Das hieß vor allem, im Innern Verhinderung der Verstaatlichung von Dresdner Bank und Stahlverein, und außenpolitisch: nur eine Stoßrichtung der Expansion - gegen die Sowjetunion, bei fester Bindung an die USA und England.

Nach dem Rückschlag für die NSDAP bei den Wahlen am 6. November 1932 – die Nazipartei verlor 2 Millionen Stimmen – mußten Schacht und Thyssen aber erleben, daß Hitler in Panik verfiel und die Nerven verlor. Er sah eine Rettung vor dem Untergang der Partei nur noch darin, daß sie in die Regierung aufgenommen wurde, auch wenn sie dabei nicht den Kanzlerstuhl besetzen konnte. Als in dieser Situation Reichskanzler Schleicher anbot, Gregor Strasser als Vizekanzler in die Regierung aufzunehmen, gab Hitler dazu seine Zustimmung. Schacht, Thyssen und Göring setzten aber sofort alles daran, Hitler zur Zurücknahme dieser Zustimmung zu bringen und Strassers Ernennung zu verhindern, was ihnen beides auch gelang.[18]

Darüber hinaus initiierten sie eine Eingabe einer größeren Anzahl von Industriellen und Junkern an den Reichspräsidenten Hindenburg mit der Aufforderung, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen, die diesem am 19. November überreicht wurde.[19] Hindenburg zögerte aber noch, dieser Aufforderung nachzukommen, hatten doch einige seiner jun­kerlichen Freunde ihn davon informiert, daß es in der NSDAP maßgebliche Leute, wie den NS-Bauernführer Darré, gäbe, die „agrarbolshewistische Ziele“, näm­lich die Abschaffung der „Osthilfe“ und die Aufsiedlung verschuldeter Güter an Bauern, verfolgten.[20]

Schacht und Thyssen aber schätzten die Situation richtig ein: Hitler mußte nur hartnäckig bei seiner Forderung nach der Kanzlerschaft bleiben. Die drohende Aus­sicht des Zerfalls seiner Partei mußte sogar dazu beitragen, die Widerstände dagegen aus dem Wege zu räumen. So kam es denn auch. Auf einer Geheimberatung Hitlers mit Papen im Hause des Bankiers Kurt v. Schröder in Köln am 4. Januar 1933 wurde eine Vorentscheidung getroffen, die in weiteren Verhandlungen am 30. Januar 1933 schließlich in die Er­nennung Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten v. Hindenburg mündete. Im Nürnberger IG-Farben-Pro­zeß sagte Schröder über das Treffen Hitler-Papen in seinem Hause aus: „ Die allgemeinen Bestrebungen der Männer der Wirtschaft gingen dahin, einen starken Führer in Deutschland an die Macht kommen zu sehen, der eine Regierung bilden würde, die lange Zeit an der Macht bleiben würde. Als die NSDAP am 6. November 1932 ihren ersten Rückschlag erlitt und somit also ihren Höhepunkt überschritten hatte, wurde eine Unterstützung durch die Wirtschaft besonders dringend.“[21]

Das Ergebnis der Geheimverhandlungen war ein Kompromiß: man einigte sich auf eine Zusammensetzung der Regierung, in der alle Interessenrichtungen vertreten waren, aber keine eine dominierende Stellung einnahm. Damit war gesichert, daß sie weder Hitler und seiner Partei zur Allmacht verhelfen könnte, noch die Schleicher-Strasserschen Pläne in die Tat umsetzen, noch ein ausführendes Organ des alleinigen Willens von Schacht und Thyssen, aber auch nicht der Monarchie-Anhänger Hugenberg und Papen sein würde. Aber ebenso sicher war, daß zwischen ihren verschiedenen Bestandteilen Einigkeit nur darin bestand, mit den Resten der bürgerlichen Demokratie radikal Schluß zu machen und jeden antifaschistischen Widerstand brutal zu unterdrücken; daß aber darüber hinaus zwischen ihnen erbitterte Kämpfe um die Vorherrschaft geführt werden würden.

Das Jahr 1933 war gekennzeichnet von der terroristischen Zerschlagung aller legalen Arbeiter- und demokratischen Organisationen und der Errichtung und Konsolidierung der faschistischen Diktatur in Deutschland.

In der ersten Hälfte des Jahres 1934 machten sich indessen immer deutlichere Zeichen für wachsende Gegensätze im Regierungslager bemerkbar.

In den Vordergrund trat immer stärker der Konflikt zwischen Reichswehrführung und Ernst Röhm um die Ausgestaltung und Führung der Armee des „Drit­ten Reiches“. Röhm, formell zwar Minister, jedoch ohne Geschäftsbereich, forderte das Reichswehrministerium für sich und den Einbau der SA in die Armee als deren Kernbestand. Röhm hatte durchaus auch industrielle Förderer, nämlich in der Chemieindustrie. Über einen ihrer Direktoren, Heinrich Gattineau, der persönlich mit Röhm befreundet war, ließ ihm der IG-Farben-Konzern seit 1931 erhebliche finanzielle Mittel zukommen.[22] Er investierte beträchtliche Sum­men in die SA und trug am meisten zur Finanzierung des Ausbaus der SA zu einer Vier-Millionen-Arnee bei.

Hitler geriet in dieser Frage zwischen zwei Feuer, denn auch die Reichswehrführung verlangte von ihm eine klare Entscheidung: gegen Röhms Forderungen und für die Reichswehr als „alleini­gen Waffenträger der Nation“.

Hitler versuchte, einer Entscheidung aus­zuweichen, indem er Zusagen nach beiden Seiten machte, aber beide zur Geduld mahnte, bis der richtige Zeitpunkt zum Handeln gekommen sei.

Der Reichswehr - SA Konflikt war der offenkundigste, aber keineswegs der einzige.

Vertreter der um den entscheidenden Ein­fluß in der Regierung kämpfenden Interessengruppen trugen Hitler ihre Forderung nach Umbildung der Regierung vor. Gleich mehrere forderten die Ablösung des Wirtschaftsministers Kurt Schmitt. Schmitt war als Kandidat der Gegner des ersten Wirtschaftsministers der Hitlerregierung, Alfred Hugenberg, - der wie kein anderer die Allianz von Schwerindustrie und Junkertum verkörperte, - nach dessen Sturz am 29. Juni 1933 zum Reichswirtschaftminister aufgestiegen. Am gefährlichsten für Schmitt war nun Hjalmar Schacht, der bereits Reichsbankpräsident war, aber auch noch den Posten des Wirt­schaftsministers für sich forderte. Schmitt war kein Mann der Schwerindustrie, sondern stand der Chemie-Industrie und deren wirtschaftspolitischen Absichten nahe. Von ihm war zu befürchten, daß er die Pläne zur Verstaatlichung von Stahlverein und Dredner Bank nicht verhindern, sondern verwirkllichen würde. Er wollte außerdem an die Stelle der von den Großunternehmen selbst geleiteten Organisation der „Wirtschaft“, des „Reichs­verbandes der Deutschen Industrie“ (RDI), an dessen Spitze der Leiter des Krupp-Konzerns, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, stand, durch eine staatlich gelenkte Organisation der gesamten Wirtschaft ersetzen. Klar, daß auch Krupp und die Spitzenleute der Schwerindustrie von Hitler forderten, Schmitt zu entlassen.

Aber auch die Gegenseite blieb nicht müßig. Die IG-Farben hatten dank ihrer ökonomischen Stärke, ihrer Unentbehrlichkeit für die Aufrüstung und ihrer internationalen Beziehungen nicht geringe Möglichkeiten, Druck auf die Regierung und auf Hitler auszuüben, und sie hatten nicht wenige einflußreiche Vertreter ihrer Interessen in der Nazipartei.[23]

Das blieb offenbar nicht ohne Wirkung auf Hitler. Im April 1934 nahm er sogar wieder persönlichen Kontakt zu dem seit Dezember 1932 aller seiner Parteiämter verlustig gegangenen Gregor Strasser auf. Zwischen beiden kam es  am 20. Juni zu einer persönlichen Aussprache, in deren Gefolge Strasser drei Tage später sein ihm 1932 abgenommenes Goldenes Parteiabzeichen wieder zurückbekam. Gregor Strassers Bruder Otto Strasser berichtete später, Gregor habe ihm über das Gespräch mit Hitler berichtet, Hitler habe zugestimmt, daß Gregor im September 1934 in das Kabinett eintreten sollte.

Es gab auch noch andere Ereignisse, die darauf hinwiesen, daß Vorbereitungen für eine Regierungsumbildung im Gange waren, bei der auch der General Schleicher ins Kabinett zurückkehren würde. Bei Schleicher liefen die Fäden sowohl zu Röhm wie zu Strasser zusammen, und er entfaltete eine große Aktivität zur Umbildung der Regierung. Für sich hatte er dabei den Posten des Vizekanzlers, für Strasser das Wirtschafts-, für Röhm das Reichswehr -, und für Brüning das Außenministerium vorgesehen. Er nahm auch Kontakte zum französischen Botschafter Francois-Poncet auf, um mit ihm über die deutsch-französischen Beziehun­gen nach einer solchen Regierungsumbildung zu beraten.[24] Natürlich blieb das der Gegenseite nicht verborgen.

Alarmiert von dem darin zum Ausdruck kommenden zweideutigen Verhalten Hit­lers beschlossen Blomberg und Reiche­nau, Hitler zum Vorgehen gegen Röhm und die SA zu zwingen.

Schon im April hatte Blomberg Hitler einen Handel vorgeschlagen: Er sicherte Hitler zu, im Falle des Ablebens des schwer erkrankten Reichspräsidenten Hin­denburg werde Hitler dessen Nachfolger werden, wenn er vorher Röhm abgesetzt und die von der SA ausgehenden Gefahr beseitigt hätte.

Hitler hatte sich einverstanden erklärt – und war weiter untätig geblieben, mehr noch, er hatte auch Gespräche mit Röhm - am 4. Juni - und Strasser geführt, die auf eine Annäherung hindeuteten.

Bei dem Gespräch mit Röhm hatte der sich mit Hitler darauf geeinigt, zur Entspannung der Situation den Beginn des Jahresurlaubs der SA auf den 1. Juli zu legen. In dem drei Tage später veröffentlichten Urlaubsbefehl Röhms findet sich auch eine Passage, die darauf hinweist, daß die Besprechung mit Hitler Röhm Grund gegeben hat, sehr zuversichtlich in die Zukunft zu sehen: es hieß darin nämlich:

„Wenn die Feinde der SA sich in der Hoffnung wiegen, die SA werde aus ihrem Urlaub nicht mehr oder nur zum Teil wieder einrücken, so wollen wir ihnen diese Hoffnungsfreude lassen. Sie werden zu der Zeit und in der Form, in der es notwendig erscheint, darauf die gebührende Antwort erhalten. Die SA ist und bleibt das Schicksal Deutschlands!“[25]

Die so angesprochenen Feinde der SA warteten nicht ab, bis die SA-Leute aus ihrem Urlaub zurückkamen, ja, sie warteten nicht einmal den Beginn dieses Urlaubes ab.

Zunächst meldete sich ganz überraschend am 17. Juni der Vizekanzler Papen mit einer Rede in der Marburger Universität zu Wort, die ihm kaum einer zugetraut hätte, übte er darin doch, wenn auch diplomatisch formuliert, deutliche Kritik am Machtmonopol der NSDAP.[26]

Der eigentliche Auftakt für die blutigen Ereignisse des 30. Juni 1934 war aber eine Aussprache zwischen Blomberg und Hitler aus Anlass eines Besuches beim erkrankten Hindenburg in Neudeck.

Blomberg stellte Hitler faktisch ein Ultimatum, indem er ihm erklärte, der Reichspräsident werde den Belagerungszustand verhängen und die Kontrolle der Staatsgeschäfte der Armee übertragen, wenn die Reichsregierung sich nicht in der Lage zeige, die gespannte Situation zu beendigen.[27]

Die organisatorischen und militärischen Vorbereitungen der blutigen Abrechnung mit Röhm und seiner SA und anderen mißliebigen Politikern lagen von Seiten der Reichswehr bei Reichenau, von Seiten der Nazipartei bei Himmler, dem Führer der SS, und bei Göring, dem preußischen Ministerpräsidenten. Reichenau, Himmler und Göring arbeiteten eng zusammen, wobei die Arbeitsteilung vorsah, daß die Reichswehr lediglich im Hintergrund für alle Fälle bereit stehen sollte, die „Schmutzarbeit“ aber von der SS durchgeführt würde.

Zu den Vorbereitungsarbeiten gehörte auch eine bereits im Mai von SS-Seite zusammengestellte „Reichsliste unerwünschter Persönlichkeiten“.[28]

Und um die Reichswehr auf das Kommende einzustimmen und den noch immer zögernden und unschlüssigen Hitler davon zu überzeugen, daß nicht länger gezögert werden dürfe, verbreiteten die Organisatoren aus Wehrmacht und SS in den Tagen vor dem 30. Juni sich täglich und schließlich sogar stündlich steigernde Alarmmeldungen über angebliche Putsch-Vorbereitungen der SA.[29]

Am 28.Juni rief Hitler  Röhm, der sich zu einer Kur in Bad Wiessee befand, an, um ihm zu sagen, er werde am 30. Juni selber in Wiessee eintreffen, um sich mit seinen SA-Führern gründlich auszusprechen und um alle bestehenden Mißverständnisse zu beseitigen. Röhm solle alle höheren SA-Führer für 11 Uhr morgens einladen. Röhm, über diese Botschaft Hitlers höchst erfreut, holte zum 30. Juni alle erreichbaren höheren SA-Führer nach Bad Wiessee.

Von seiner Absicht, die SA-Führer nach Bad Wiessee zu einer Konferenz einzuladen, hatte Hitler einige Tage vorher schon Blomberg informiert, ihm jedoch als Begründung angegeben, er wolle sie dort verhaften lassen und mit ihnen abrechnen.

Blomberg, Reichenau, Göring und Himm­ler war es sehr recht, Hitler am Tage X weit weg von Berlin zu wissen, gab ihnen das doch freie Hand, ihre Liste der „unerwünschten Persönlichkeiten“ abzuarbeiten, ohne Hitlers Einsprüche respektieren zu müssen. Denn die enthielt keineswegs nur die  Namen von SA-Führern.

Während Hitler in Bad Wiessee zusammen mit Sepp Dietrich, dem Chef der „Leibstandarte Adolf Hitler“ am frühen Morgen des 30. Juni Röhm und die noch in den Betten liegenden SA-Führer verhaften und ins Zuchthaus Stadelheim transportieren ließ, und die SS, gedeckt von bereitgestellten Wehrmachteinheiten, im ganzen Reich schlagartig die SA-Kasernen und -Lokale besetzte, die auf den Listen stehenden SA-Führer verhaftete und die SA entwaffnete, ließen Reichenau, Göring und Himmler in der Hauptstadt und Umgebung ihre Mord­trupps von der Leine. Die dafür vorgesehenen SA-Führer wurden nach ihrer Ver­haftung in die Kadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde gebracht und dort von bereitstehenden SS-Exekutionskommandos erschossen.

Zur gleichen Zeit schwärmten SS-Mord­kommandos nach ganz anderen, von Reichenau, Göring und Himmler bestimmten Todeskandidaten aus. Sie schossen ihre Opfer nieder, wo sie ihrer gerade habhaft wurden: den General von Schleicher und seine Frau in ihrer Wohnung in Neubabelsberg; ebenfalls in seiner Wohnung den Mitarbeiter Schleichers, Generalmajor von Bredow.

Den Ministerialdirektor und Führer der katholischen Aktion, Erich Klausener, und den engen Mitarbeiter des Vizekanzlers Papen, Herbert von Bose, in ihren Amtsräumen.

Gregor Strasser wurde in seiner Wohnung verhaftet und im Gestapogefängnis zu Tode geprügelt.

Am Abend des 30. Juni erklärte Göring auf einer Pressekonferenz kaltschnäuzig, er habe seine Aufgabe „aus eigener Machtvollkommenheit“ erweitert. Das be­zog sich besonders auf die Morde an Schleicher und Strasser, über die Hitler, als er nach seiner Rückkehr nach Berlin von ihnen erfuhr, ebenso aufgebracht wie erschrocken war.

Als Hitler aber nach seiner Rückkehr bekannt gab, daß er in München Röhm wegen seiner früheren Verdienste begnadigt habe, war es an Göring und Himmler, dagegen heftig Einspruch zu erheben: Röhm sei der Hauptschuldige und dürfe auf keinen Fall am Leben bleiben. Hitler gab nach und entschied: Röhm solle Gelegenheit gegeben werden, sein Leben selbst zu beenden.

Daraufhin erhielt der Führer des SS-Ex­ekutivkommandos in Stadelheim und Leiter des Konzentrationslagers Dachau, SS-Oberführer Theodor Eicke, die entsprechende Anweisung aus Berlin. Als Röhm dieses Angebot aber mit den Wor­ten ablehnte: „Bestell dem Adolf, den Gefallen tu‘ ich ihm nicht!“, wurde er in seiner Zelle von Eicke und dem SS-Hauptsturmführer Lippert erschossen.[30]

Eine genaue Zahl der Opfer des Blutbades um den 30. Juni 1934 konnte nicht festgestellt werden. Sicher ist nur, das ihre wirkliche Zahl die Zahl 83 der amtlichen Totenliste weit überschreitet. So sind in dieser Liste nur zwei antifaschistische Opfer, Mitglieder der KPD, enthalten, obwohl bekannt ist, daß die SS die Situation auch vielfach dazu benutzte, mit besonders verhaßten Nazigegnern abzurechnen. Dazu gehörte schon seit den Tagen der Münchener Räterepublik besonders auch Erich Mühsam. Die Nazis hatten ihn gleich nach ihrer Reichstagsbrandstiftung verhaftet und in das Konzentrationslager in Oranienburg gebracht. Dort hatten sie ihn bestialisch mißhandelt und von ihm verlangt, er solle Selbstmord begehen. Da er das nicht tat, erhängten sie ihn in der Nacht zum 10. Juli.

Die genaue Zahl der Ermordeten läßt sich auch deshalb nicht feststellen, weil in diesen Tagen die Standesämter die Anweisung erhalten hatten, auf den Totenscheinen als Todesursache die Angaben der Gestapo zugrunde zu legen.

Mit den Juni-Morden wurde die Krise der Konsolidierungsphase der faschistischen Diktatur beendet.

„Die Wirtschaft“ war ihre Sorge wegen der gärenden Unzufriedenheit im Volke los. Ihre Erleichterung  brachte die „Deut­sche Bergwerkszeitung“ am 8. Juli 1934 mit den Worten zum Ausdruck:

„Die Wirtschaft hat die nationalsozialistische Machtergreifung“ (richtig müßte es heißen: „die Wirtschaft hat die Macht an die Nazis übertragen“; von einer „Machtergreifung“ kann nicht die Rede sein!) „vor allem deshalb begrüßt, weil sie für ihre aufbauende Arbeit Ruhe, Ordnung und Sicherheit so nötig braucht wie das liebe Brot. Das wäre in Frage gestellt, wenn es ehrgeizigen Gruppen und Cliquen gestattet sein dürfte, den Kampf um die Macht zu entfesseln. Vor dieser Gefahr ist die Wirtschaft durch das schnelle Zupacken gerettet worden. Sie wird ihren Dank dafür abstatten.“ 21

Der Terror der unzuverlässig gewordenen SA wurde abgelöst durch den noch um  vieles blutigeren  und allgegenwärti-

 

21 Kurt Gossweiler, Ernst Röhm. Die Nacht der langen Messer, in: Sturz ins Dritte Reich. Historische Miniaturen und Porträts, Urania Verlag Leipzig  Jena Berlin 1983, S.266-275; - Höhne, S. 265-296.


gen Terror des Himmlerschen SS-und Gestapo- Systems. Die SS – bisher noch eine Formation innerhalb der SA – wurde nun unter Himmler zu einer selbständigen Organisation erhoben.

Im internen Machtkampf der Monopolbourgeoisie hatte sich -allerdings nur für die nächsten zwei Jahre - die „amerikani­sche Fraktion“ mit Schacht-Thyssen an der Spitze, und die Schwerindustrie gegen die IG-Farben durchgesetzt. Der Reichswirtschaftsminister Schmitt mußte gehen und Schacht wurde am 30. Juli kommissarischer Reichswirtschaftasminister.

Und als am 2. August 1934 Hindenburg starb, wurde Hitler sein Nachfolger, indem die beiden Ämter des Staatsoberhauptes und des Reichskanzlers vereinigt wurden. Die Reichswehr wurde von da ab nicht mehr auf Staat und Volk, sondern auf die Person Hitlers vereidigt.

So war also durch das „kleine“ Blutbad des 30. Juni 1934 der Weg freigemacht worden für die Forcierung der Vorbereitungen auf das große Blutbad des zweiten Weltkrieges des deutschen Imperialismus um die Weltherrschaft.

 


 

Aufruhr des Gewissens oder imperialistische Palastrevolte?

Zur Ambivalenz des 20. Juli 1944

von Hanfried Müller


Den 20. Juli 1944 habe ich in einer Genesenenkompanie in Bethel erlebt, und zwar damals ganz in dem Gefühl, das sei nun endlich „der Aufstand unserer Leute“. Um so unverständlicher war es mir, daß der „Tyrannenmord“ statt mit einer sicheren Handfeuerwaffe oder mit einem „Selbstmordattentat“, wie es heutzutage so viele Muslime wagen, mit einer unsicheren Bombe versucht worden war, und desto bitterer war damals meine Enttäuschung, daß die Attentäter nicht wenigstens versuchten, wenn schon „der Führer“ nicht tot war, doch wenigstens die Rolle des Yorck von Wartenburg zuende zu spielen.

Kindlich-naive Ideen. Immerhin wurde ich erst ein paar Monate später neunzehn Jahre alt und war geistig beheimatet in jener Bekennenden Kirche, von der ich nur ihren allerbesten Teil kannte, nämlich die illegalen „jungen Brüder“, das heißt diejenigen, die sich konsequent nicht von den nazistischen Konsistorien hatten prüfen lassen, darum keine regulären Pfarrstellen bekommen hatten und zum größten Teil erfolgreich von leidenschaftlichen Gegnern des Nazisystems wie Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer erzogen worden waren.

Ich habe in dieser Rückerinnerung sehr bewußt das Wort „antifaschistisch“ vermieden. Denn es gehörte in den Kreisen, aus denen ich kam, nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch. „Faschisten“ gab es in Italien und allenfalls in Spanien (da hießen sie „Falangisten“); auch sie waren schlimm, aber doch nicht so schlimm, wie die deutschen „Nazis“. Wir waren selbstverständlich „Antinazis“. Auf den Gedanken, uns als Antifaschisten zu bezeichnen oder es zu sein, sind wir damals nicht gekommen.

Für das, was ich später als Ambivalenz des 20. Juli erkannte, hatte ich damals noch keinen Sinn. Ich erinnere mich, noch 1946 in Karl Barths Seminar überaus erstaunt gewesen zu sein, als Barth - man sprach über Dietrich Bonhoeffer, der ja unter den evangelischen Theologen besonders eng mit Kreisen, die hinter dem „20. Juli“ standen, verbunden gewesen war - zwar vorsichtig, um kein Wasser auf die Mühlen mancher immer noch unbekehrter Nazis unter seinen Studenten zu leiten, aber doch deutlich seine Distanz zu diesem allzu autoritär-undemokratischen Putsch erkennen ließ.

Zwar hatte ich schon bei meiner Begegnung mit italienischen Partisanen den Unterschied zwischen dem bürgerlich-nationalen Widerstand, in dem sich (Badolgio!) manches etwas palastrevolutionär ausnahm, und den viel organisierteren antifaschistischen Kämpfern kommunistischer Provenienz empfunden. Aber - und ich denke bis heute, das sei damals nicht einfach falsch gewesen und es wäre gut, wenn wir heute ähnlich empfänden! - man fragte damals zuerst: bist du gegen oder für die Nazis? Die Frage, was der andere an deren Stelle wollte, war erst die zweite Frage! Und so weit auch deren Spannweite war, sie reichte ja von einem restaurierten Kaiserreich bis zu einer sozialistischen Republik, sie wurde erst akut, wenn die braune Pest beseitigt war.

Die ganze Ambivalenz des Aufstandsversuchs vom 20 Juli ging mir aber erst auf, als ich auf eine kurze Stelle in dem ersten Bericht stieß, den der Bischof von Chichester Dr. Bell nach einem Gespräch mit Dr. Hans Schönfeld - einem GeStaPo-gelenkten Vertreter der Deutschen Evangelischen Kirche in Genf - und Dietrich Bonhoeffer in Sigtuna (Schweden) im Mai 1942 dem britischen Außenminister Eden gegeben hatte.

Schönfeld und Bonhoeffer hatten Chi­cester in diesem Gespräch um Vermittlung der Pläne der späteren Putschisten vom 20. Juli an die britische Regierung gebeten und dabei war es - Chichester hat diese Passage in allen seinen späteren Berichten über diese Begegnung bezeichnender Weise nie wieder erwähnt - zu einer für die Ambivalenz des 20. Juli sehr chrakteristischen Kontroverse gekommen:

Chichester berichtete damals:

„Schönfeld sagte, es sei unmöglich, die Zahl derer zu nennen, die am Widerstand beteiligt seien. Wichtig sei, daß Mitglieder des Widerstandes Schlüsselpositionen im Rundfunk, in den großen Fabriken, in den Wasser- und Gaswerken hielten. Es gäbe außerdem enge Kontakte mit der Staatspolizei. (! - H.M.) Die Opposition bestehe seit einiger Zeit - der Krieg habe ihr die Gelegenheit gegeben und sie habe sich im Herbst 1941 kristallisiert.“ „In Bezug auf Rußland“, fuhr Chicester dann fort, „gab mir Schönfeld zu bedenken, daß die deutsche Armee 1000 Meilen russischen Territoriums in Händen halte. Stalin könnte, so meinte er, in der Grenzfrage befriedigt werden, wenn die Alliierten der sowjetischen Regierung eine Garantie geben würden. Hohe deutsche Offiziere, sagte er, seien von der sowjetischen Elite beeindruckt und glaubten an die Möglichkeit einer Verständigung.

Hier unterbrach Bonhoeffer. Sein christliches Gewissen, so sagte er, sei nicht ganz einverstanden mit Schönfelds Ideen. Es muß ein Gericht Gottes stattfinden. Wir würden solch einer Lösung nicht wert sein. Unsere Aktion muß so sein, daß die Welt sie als einen Akt der Buße verstehen wird. ‘Christen wünschen nicht, der Buße oder dem Chaos zu entgehen, wenn Gottes Wille es über uns bringen will. Wir müssen dieses Gericht als Christen annehmen.’“ *

Das waren - in nuce - die beiden Seiten des Putsches vom 20. Juli 1944:

Den einen ging es darum, daß der deutsche Imperialismus so glimpflich wie möglich aus dem zweiten mißlungenen Anlauf zur Weltherrschaft wieder herauskäme; den anderen ging es darum, den Faschismus zu beseitigen, gleichgültig welche Folgen das für die bis dahin herrschende Klasse in Deutschland hätte. Die einen waren kaum weniger, wenn auch anders faschistisch (nämlich weitgehend klerikalfaschistisch) als ihre Kontrahenten, die anderen waren, auch wenn sie sich noch nicht so verstanden und so nannten, bereits im Kern Antifaschisten. Und zwischen diesen beiden Positionen gab es viele Zwischenpositionen. Jedenfalls aber hatten sie sich zur Aktion vereinigt, um zuerst und unmittelbar das Hitlersystem zu stürzen und hatten dafür ihr Leben eingesetzt.

Diese Gemeinsamkeit höchst heterogener Kräfte in der Negation des Nazisystems zu achten, ist die Bedingung einer redlichen Würdigung des Widerstandes vom 20.Juli.

Daß es an dieser Redlichkeit bei nahezu allen Würdigungen politisch und gesellschaftlich repräsentativer Art anläßlich die­ses, des sechzigsten Jahrestages des Putsches (in Deutschland)fehlte, machte die offiziellen und offiziösen Äußerungen nicht nur für Antifaschisten, sondern für alle, die damals den 20. Juli als leider gescheitertes Signal der Befreiung empfunden hatten, unerträglich.

Denn dieses in seinem Imperialismus immer hemmungslosere Deutschland, in dem der Staat - welch hoher Wert war er für viele Rebellen des 20. Juli, die ihn in einer zwar anachronistischen, aber honorigen Tradition nicht den, damals braunen, Banditen über­lassen wollten! - immer mehr zum bloßen Büttel der Herren der Konzerne verkommt (was dann auch noch wie zum Hohn Neoliberalismus heißt!), vermag den 20. Juli nur noch im Sinne seiner reaktionärsten Repräsentanten zu feiern.

Es wirkt wie ein Paradox: Nicht die in Deutschland herrschenden Klassen, in deren Namen und zu deren - allzu verspäteter - Ehrenrettung vor allem doch der Putsch vom 20. Juli 1944 stattgefunden hatte, sondern Kommunisten sind es, die schon damals mit historischem Weitblick und historischer Großzügigkeit den 20. Juli im Blick auf seine besten Repräsentanten gewürdigt haben und die auch heute die einzigen Kommentare zum 20. Juli 1944 verfassen, die man als damals in antinazistischem Zorn von diesem Putsch Begeisterter lesen kann, ohne daß einem übel wird bei dem heuchlerischen Ruhm des „Aufstands des Gewissens“ durch diejenigen, die heute gewissenlos wie damals die Nazis innenpolitisch mit den Hardt-Gesetzen die Ärmsten der Armen terrorisieren und sich außenpolitisch vom Golf über den Balkan bis zum Hindukusch als die modernen Erben des alten deutschen Imperialismus und Faschismus enthüllen.

Nicht sie stehen in der Tradition des 20. Juli 1944, sondern allenfalls solche, die trotz all ihrer antikommunistischen Verblendung, erschrocken über die Abschaffung dessen, was sie subjektiv für einen friedensfähigen „Sozialstaat“ hielten, nun (wiederum zu spät!) aus ihren Kreisen ausbrechen wie z.B. Heiner Geißler und Norbert Blüm.


 

Eine Stimme deutscher Kommunisten aus Moskau vom 20. 8. 1944*

von Heinz Keßler


Sofortigen Frieden braucht und will heu­te das gesamte deutsche Volk. Beseelt von diesem Gedanken, wollten mutige Männer am 20. Juli das Hitlergeschmeiß vernichten. Aber der Aufstand scheiterte, weil er nicht das Signal zur Erhebung des gesamten deutschen Volkes gegen Hitler und seinen Krieg wurde. Nur dadurch konnte Hitler sein verbrecherisches Spiel weitertreiben. Aber jeden Tag, den Hitler länger Krieg führen kann, treibt Deutschland tiefer in den Abgrund. In sinnlosen Gegenstößen und Abwehrkämpfen verblutet die deutsche Ostfront. Allein vom 10. Juli bis 10. August mußten im baltischen Raum 60 000 und in der Westukraine 140 000 deutsche Soldaten und Offiziere ihr Leben lassen. Die Heeresgruppe Nord, bestehend aus über 30 Divisionen, geht ihrer Vernichtung entgegen. Allein in den letz­ten Tagen verlor sie bei Ausbruchsversuchen 8 000 Soldaten und Offiziere. Ein Entkommen für sie gibt es nicht mehr, das haben die Ereignisse auf der Krim gezeigt.

Die rote Armee hat die ostpreußische Grenze erreicht. Was der deutsche Soldat auf russischem Boden an Zerstörung gesehen und gleichgültig als „kriegsbe­dingt“ hingenommen hat, wird Hitler in den nächsten Tagen auf deutschem Boden ausführen lassen. Zu den Tausenden Toten und Krüppeln, die jeder Tag kostet, käme noch das Elend und die Not der Bevölkerung, die Heim und Habe verlieren würde. Das alles wäre verhindert worden, wenn Hitler am 20. Juli beseitigt worden wäre. Auch vor dem, was noch bevorsteht, hätte uns Hitlers Sturz bewahrt.

Im Westen haben die Alliierten entgegen allen Goebbelschen Propagandatricks die deutsche Front durchbrochen und sind auf dem Marsch nach Paris. In diesen Kämpfen mußte die Wehrmacht bisher schwere Opfer an Soldaten, Offizieren und Hilfspersonal bringen. Vor einigen Tagen landeten die Alliierten in Südfrankreich zwischen Nizza und Marseille. Der Einsatz an Menschen und Material war doppelt so groß wie bei der Landung in Nordfrankreich. Der Fronten, an denen deutsche Soldaten sinnlos verbluten, werden jeden Tag mehr. Wenn Hitler am 20. Juli beseitigt worden wäre, würden sie leben und könnten heute schon am Wiederaufbau Deutschlands arbeiten.

Aber statt des Aufbaus schreitet die Zerstörung immer weiter fort. Immer weiter hageln die Bombenangriffe der Alliierten auf Deutschland nieder. Sie sind in den letzten Tagen nicht schwächer geworden, sondern eher stärker. Wie viele Menschenleben allein täglich für Deutschland durch Bombenangriffe verloren gehen, weiß jeder, der einmal solch einen Angriff miterlebt hat. Die Verluste und Zerstörungen in der Heimat steigen durch die pausenlosen Angriffe ins Unermeßliche. Sie hätten verhindert werden können, wenn die Tat vom 20. Juli gelungen wäre.

Was geht dem deutschen Volk durch die Bombardierungen und durch den Krieg überhaupt täglich an Volksvermögen ver­loren! Jeder Monat Krieg kostet Milliarden. 20 Millionen Arbeiter produzieren täglich nur für den Krieg und nur zu dem Zweck, um es noch länger möglich zu machen, deutsche Männer und Frauen dem Tod preiszugeben. Wenn das gesamte deutsche Volk mit Hitler und seinem Krieg am 20. Juli Schluß gemacht hätte, was hätte in diesen vier Wochen alles erhalten und für den Wiederaufbau eingesetzt werden können? Statt dessen wird durch den von Hitler und Goebbels organisierten totalen Krieg die Volkskraft mehr und mehr zerstört.

Zu alledem kommt noch, daß das deutsche Volk mit jedem Tag, den der Krieg noch länger dauert, es sich selbst erschwert, das Vertrauen der Welt wiederzugewinnen. Wenn wir Deutsche in der Zukunft wieder das Vertrauen und die Achtung der Völker besitzen wollen, müssen wir unverzüglich gegen Hitler auftreten. Das deutsche Volk selbst muß Hitler beseitigen. Dazu ist es aber nötig, daß alle Kräfte unseres Volkes gemeinsam gegen Hitler aufstehen. Dann wird gelingen, was am 20. Juli nicht gelang. Dann werden die Opfer des 20. Juli nicht umsonst gewesen sein.


 

In einigen Begleitworten, die Heinz Keßler dem Nachdruck dieses seines Artikels aus dem Sommer 1944 im Berliner Anstoß vom Juli/August 2004 vorangestellt hat, heißt es am Schluß zur Aktualität des 20. Juli  hier und heute:

„Der Ruf der Aggressoren von 1941 bis 1945, daß deutsche Arbeiter und Bauern tausende Kilometer von der Heimat entfernt bei Stalingrad, Leningrad, Kursk, Orel für Deutschland zu kämpfen hätten, war nicht weniger irreführend und lebensgefährlich als die Erklärung maßgeblicher Politiker der Bundesrepublik Deutschland, daß die Interessen Deutschlands am Hindukusch zu verteidigen seien, heute ist.

In diesem Sinne der mutigen Tat vom 20. Juli 1944 zu gedenken, gehört heute und für alle Zeiten zum Vermächtnis des antifaschistischen Widerstands.“


 

Wie sich DDR und BRD zu den Männern des 20. Juli verhielten *

von Horst Schneider


„Mehr als der Ort bestimmt die Zeit die Existenz geschichtlicher Tatsachen“, schrieb Karl Kraus. Die Frage drängt sich auf: Verändern häufig dieselben politischen Kräfte das Geschichtsbild, das sie für ein bestimmtes Ereignis entworfen hatten, obwohl die Tatsachen die gleichen geblieben sind? Welche Zie­le und Interessen stecken dahinter, wenn Geschichtsbilder propagiert und verändert werden? Prüfen wir das an einem Beispiel: der Darstellung des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1044: Immerhin verkündete der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Rudolf Scharping am 20. Juli 1999 in Plötzensee: „Für die Auswahl zeitgemäßer Traditionen muß immer wieder gestritten werden ... Wir sind unfrei in der Wahl der Geschichte, aber frei in der Entscheidung darüber, was wir als Tradition pflegen wollen.“

Und Helmut Kohl bestimmte am 3. Juli 2003 auf der Tagung zum zehnjährigen Bestehen des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden: Drei Daten müßten die Deutschen hochhalten - den 20. Juli 1944, den 17. Juni 1953 und die Zeit 1989/90. Dementsprechend der 20. Juli heute: Großer Zapfenstreich, Rekrutenvereidigung im Bendlerblock, Gedenkreden allerorten, eine Bücherflut über die Akteure von einst, „Do­kumentationen“ im Fernsehen und Printmedien.

Die Literatur über das Attentat auf Hitler ist kaum überschaubar, dessen Synonyme auch „Aufstand des Gewissens“, „gescheiterter Putsch“, „Palast­revolte“, „Verrat der Generäle“ heißen, womit oft schon der politische Standort des Erfinders erkennbar wird. Der 20. Juli 1944 ist zu einem zentralen Gedenk- und Erinnerungstag avan­ciert. Mit welcher Begründung? In welcher Absicht? Mit welcher Wirkung? Ehe wir uns den Wandlungen im offiziellen BRD-Geschichtsbild über den 20. Juli zuwenden, sei ein Hinweis auf die Wertung durch KPD und DDR erlaubt.

Drei Tage nach dem Attentat, am 23. Juli 1944, schrieb Walter Ulbricht: „Es wäre unverzeihlich, wenn ein Antifaschist aus Mißtrauen gegen Generäle beiseite stünde ... Beurteilen wir die Menschen nach ihren heutigen Taten gegen Hitler. Solidarität aller Hitlergegner ist das oberste Gesetz des Handelns.“ Die möglichst rasche Beendigung des Krieges lag objektiv im Interesse der meisten Deutschen wie der Völker der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Für die Würdigung der Attentäter in der DDR genügt ein Hinweis auf Karl-Eduard von Schnitzlers Buch „Der rote Kanal“: „Auch der Lauterkeit der Putschisten vom 20. Juli 1944 wurden wir als erste gerecht - aus meiner Überzeugung: Wer auch nur einen Finger gegen Hitler und den Krieg gerührt hat, aus welchem Motiv und welcher Zukunftsabsicht auch immer, er gehört in die Ahnengalerie der deutschen Geschichte.“ (S. 71)

Der Respekt vor den Hitlergegnern blieb eine Konstante in der DDR-Politik und Geschichtsschreibung. Doch 1990 begann auf Weisung Schäubles eine rabiate Abrechnung mit dem „von der SED-Führung verordneten Antifaschismus“.

In der BRD war die Wertung der Männer des 20. Juli abhängig von den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Es war Johannes Rau, der das vor Historikern am 20. September 2002 unmißverständlich begründete: „Es gibt keine Identität ohne Geschichte, und es gibt keine Geschichte ohne Identität.“ Um die „Identität“ der Bundeswehr ging und geht es beim Streit um die Wertung der Attentäter vom 20. Juli 1944. Anfangs war das Bild von der Ächtung bestimmt, die noch von Hitler und Goebbels vorgegeben war: Feige Vaterlandsverräter seien der Front in den Rücken gefallen. Auch Graf von Stauffenberg wurde als solcher verfemt. Das führte u. a. dazu, daß seine Witwe mit ihren vier Kindern (im Unterschied zu Offizierswitwen „treuer“ Offiziere) keine Witwenrente erhielt.

Erst mit dem beginnenden Aufbau bundesdeutscher Streitkräfte begann auf der Himmeroder Tagung im Oktober 1950 die Diskussion. Es ging um die Frage, ob und wie weit preußische und faschistische Militärtraditionen - auch gegenüber den Verbündeten - noch tragbar seien. Hitlergenerale wie von Manteuffel und Guderian traten dafür ein, in der Tradition der Wehrmacht nur solche Leute aufzunehmen, die den Fahneneid eingehalten hatten, d. h. Hitler bis zum bitteren Ende gefolgt waren. (Bei den ersten Generalen der Bundeswehr traf das auch zu.) Indessen wäre die ungebrochene Fortsetzung der Militärtradition der Wehrmacht aus vielen Gründen zum Hindernis bei der Aufrüstung geworden. Ende der fünfziger Jahre war die „Aufwertung“ der Attentäter so weit gediehen, daß sich die Tendenz „in Richtung einer Gleichwertigkeit von Widerstand und Loyalität“ abzeichnete.

Die heftigen Auseinandersetzungen sowohl inner- als auch außerhalb der Bundeswehr ließen es geraten erscheinen, einen „Kompromiß“ anzustreben, der 1965 im „Traditionserlaß“ mündete: Das Attentat sei in dieser "Ausnahme­situation" sittlich gerechtfertigt gewesen, die Tat könne aber für Bundeswehrsoldaten keinen Normcharakter tragen.

Forschungen und Veröffentlichungen über die Verbrechen der Wehrmacht, die Tatsache, daß auch Verschwörer an den Verbrechen beteiligt gewesen waren, sowie innen- und außenpolitische Veränderungen zwangen den sozialdemokratischen Verteidigungsminister Hans Apel, den „Traditions­erlaß“ von 1965 durch „Richtlinien zum Traditionsverständnis und der Traditionspflege“ zu ersetzen, die seit 1982 gelten. Damit war der Streit um die Traditionslinien der Bundeswehr und ihre Anwendung nicht abgeschlossen. Aus der „Traditionsunwür­digkeit“ der Wehrmacht, wie sie Graf Baudissin postuliert hatte, wurde inzwischen „Achtung und Respekt“ vor den Leistungen und Opfern der Wehrmacht.

Besonders abschreckende Beispiele des Mißbrauchs der Männer des 20. Juli lieferten die Verteidigungsminister. Volker Rühe verstieg sich am 13. März 1997 im Bundestag zu der Behauptung: „Die Werte, für die die Frauen und Männer des Widerstands litten und starben, gehören heute zu den ideellen Grundlagen der Nation und zum moralischen Fundament der Bundeswehr. Es ist kein Zufall, daß der Bundesverteidigungsminister seinen Dienstsitz im Bendlerblock in Berlin genommen hat."

Mit Verlaub: Welcher Aufgabe diente denn der Bendlerblock bis zum 20. Juli 1944 und danach?

Rudolf Scharping postulierte am 20. Juli 1999 in der Gedenkstätte Plötzensee: „Der 20. Juli ist zum Inbegriff und Symbol des deutschen Widerstands geworden“, um dann zu folgern, daß es „unmoralisch“ sei, „in Plötzensee der Opfer von Gewaltherrschaft zu gedenken und zugleich die Opfer anderswo in Europa sich selbst zu überlassen.“ Mit diesem ideologischen Salto mortale stellte Scharping die Männer des 20. Juli in den Dienst der verbrecherischen und völkerrechts­widrigen Aggression gegen Jugoslawien - Straftaten, an denen er maßgeblich Anteil hatte.

Und schließlich darf Peter Struck nicht fehlen. Er ging am 20. Juli 2003 in Plötzensee so weit, den inzwischen weltweiten Krieg der Bundeswehr - bis zum Hindukusch - in die Traditionslinie des 20. Juli einzubeziehen: „Die Abwehr von Terror und Gewalt ist eine Aufgabe, der sich Deutschland auch jenseits seiner Grenzen stellen muß.“

Der Widerspruch, daß die Männer des
20. Juli - mißbräuchlich - gewürdigt werden, kontrastiert mit der Tatsache, daß die Wehrmachtsdeserteure von jeder Würdigung ausgeschlossen sind, obwohl sie ebenso, meist früher, ihr Leben im Kampf gegen Hitler eingesetzt hatten.

In Torgau wurden durch die Wehrmachtsjustiz etwa 30 000 Deserteure zum Tode verurteilt, aber ein Denkmal zur Erinnerung an sie, für das Ludwig Baumann seit Jahren in bewundernswerter Weise kämpft, wird ihnen bis heute verweigert.


 

 

Betrachtung

zu einer Publikation des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes über führende Generale der Nationalen Volksarmee

von Gerhard Feldbauer


Der Berliner Ch. Links Verlag hat 2003 ein Buch „Genosse General! Die Militär­elite der DDR in biografischen Skizzen“ herausgebracht.[31] Von 377 Generalen und Admiralen, welche die DDR in 40 Jahren zählte, werden 19 vorgestellt, die seit Gründung der KVP bzw. der NVA Spitzenpositionen einnahmen. Es handele sich um „eine gezielte Auswahl“, um einen „exemplarischen Teil“ der „Militär­elite der DDR“, heißt es. Sie werden eingeteilt in I. eine Gründergeneration Wehr­machtsoffiziere, II. eine Gründergeneration „Altkommunisten“ und III. eine Auf­baugeneration.

Unter I. stehen die Generale und Offiziere der Wehrmacht Rudolf Bamler, Bernhard Bechler, Arno von Lenski, Vinenz Müller und Heinz Bernhard Zorn, die in Gefangenschaft frühzeitig mit dem Hitlerfaschistischen Regime brachen und zum Nationalkomitee Freies Deutschland stießen; unter II. Friedrich Dickel, Rudolf Dölling, Heinz Hoffmann, Willi Stoph, Waldemar Verner, Kurt Wagner; unter III. Wilhelm Elm, Theodor Hoffmann, Heinz Keßler, Erich Peter, Fritz Peter, Wolfgang Reinhold, Horst Stechbarth, Fritz Strelitz. Die Kategorisierung ist - besonders bei der ersten und zweiten Generation - politisch fragwürdig, soll aber angesichts wichtigerer Fragen, die das Buch aufwirft, dahin gestellt bleiben.

Die Hälfte der 18 Autoren sind frühere Offiziere der NVA und Mitarbeiter ihres Militärgeschichtlichen Instituts, die zum jetzigen BRD-Institut übergetreten sind bzw. für dieses schreiben, darunter Paul Heider, als Oberst in der DDR Institutsdirektor, und Oberstleutnant Klaus Froh.  Ein bestimmtes Ost-Westgefälle ist nicht zu übersehen, das aus eigenem Erleben und Insiderwissen der früheren NVA-Offiziere resultieren dürfte. Auch zollen vor allem diese Autoren, wenn auch mit Vorbehalten, den von ihnen skizzierten Militärs Respekt für die „aus voller innerer Überzeugung“ geleistete Arbeit. Im Autorenverzeichnis ist eine DDR-Prove­nienz nicht ersichtlich.

Der Auftrag des früheren Justizministers Klaus Kinkel zur Delegitimierung der DDR wird einleitend an Grundlagenbegriffen wie „SED-Diktatur“, „Polizei- und Überwachungsstaat“ oder „Unrechtsregi­me“, der Charakterisierung der Generale als „Macht- und Funktionseliten“ und „Exponenten einer neuerlichen Diktatur“ mit ihrem „Kadavergehorsam“ sichtbar. Die von dem langjährigen BND-Chef fixierte  Gleichstellung mit dem faschistischen Deutschland wird jedoch mit Distanz verfolgt und von einigen Autoren auch so nicht aufgegriffen. Dennoch fehlt es nicht an „Vergleichen“ mit „Spitzenmilitärs der anderen deutschen Diktaturen im 20. Jahrhundert“. Das in mehreren Beiträgen erkenntliche Bemühen um Sachbezogenheit, Ausgewogenheit oder Differenziertheit bleibt vor allem dann auf der Strecke, wenn Akten der berüchtigten Gauck-Birthler-Behörde als einer entscheidenden Quelle für historisch fragwürdige und diffamierende Urteile herangezogen werden. Generell fehlt eine Einordnung in den historischen Platz der Militärs in der Auseinandersetzung zwischen den beiden Gesellschaftssystemen. An der Spitze der NVA schütz­ten sie einen Staat, der die Herrschaft des Kapitals beseitigte, was dem Volk bei allen Mißständen und Deformierungen nie gekannte soziale Rechte und Errungenschaften sicherte, die seit der Einverleibung in die Bundesrepublik systematisch beseitigt wurden, was als Basis eines rigorosen Sozialabbaus auch im Westen diente. Hinzu kam das Bekenntnis, eine Wiederholung der Verbrechen der Vergangenheit nicht zuzulassen. Zusammengefaßt stand die NVA für einen Staat, der bei allen, oft den historischen Bedingungen geschuldeten Defiziten, in den Dimensionen der Geschichte die größte Errungenschaft nicht nur der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung, sondern des deutschen Volkes insgesamt darstellte.

Sich anbietende Vergleiche zwischen Bundeswehr und NVA werden generell vermieden. Die NVA bauten Kommunisten und Antifaschisten auf, darunter Generale und Offiziere der Wehrmacht, die mit ihrer faschistischen Vergangenheit brachen. Die DDR wird mit ihrem Aufbau bewaffneter Kräfte als Vorreiter für die Bundesrepublik dargestellt. Die Fakten beweisen, daß sie bzw. diesbezüglich die UdSSR im Gegenteil generell nachzog. Nach der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 liefen die Arbeiten zur Schaffung einer westdeutschen Armee zu Hochtouren auf. Im November 1949 übergab der ehemalige Hit­lergeneral Hasso von Manteuffel Ade­nauer eine Studie zur Aufstellung einer Armee aus kriegserfahrenen ehemaligen Wehrmachtssoldaten. Im August 1950 übernahm der frühere General der Panzertruppen Graf von Schwerin die zentrale Planung.

Zwei Monate später bildet Theodor Blank das nach ihm benannte Amt, das mit ihm als Ressortchef im Juni 1955 - sieben Monate vor den entsprechenden Maßnahmen in der DDR - zum Verteidigungsministerium umgebildet wird. Im Bundestag gibt Blank die geplante Stärke der Streitkräfte mit 370.000 Mann Heer, 70.000 Luftwaffe, 24.000 Marine und 40.000 Territorialarmee bekannt. Es wer­den weitere 44 ausgewählte Wehrmachts­generale eingestellt, vorwiegend Generalstabsoffiziere, kommandierende Generale oder Divisionskommandeure, die bis 1945 zur jüngeren Wehrmachtselite gehörten. Heusinger und Speidel erhalten ihre Ernennung zu Generalleutnanten. Insgesamt haben alle 104 zu dieser Zeit in der Bundeswehr aktiven Generale und Admirale unter Hitler gedient. 1965 sind von den nunmehr 189 noch immer alle ohne Ausnahme Wehrmachtsoffiziere gewesen, darunter über die Hälfte Generalsstabsoffiziere. In der NVA, in der zwischen 1948 und 1958 neun Wehrmachtsgenerale dienten, waren bereits 1956 von den zirka 18.500 Offizieren nur rund 540 Wehrmachtsoffiziere gewesen. 1959 waren es noch 163, deren Zahl sich bis 1964 auf 67 im aktiven Dienst reduzierte. In der BRD kam dagegen noch 1979 jeder zweite der 215 aktiven Generale und Admirale aus der Wehrmacht. Ganz zu schweigen vom entgegengesetzten Geist, der in beiden Armeen herrschte.

Das Problem früherer Wehrmachtsoffiziere hat sich inzwischen auf biologische Weise nahezu gelöst. Geblieben ist die unbewältigte braune Vergangenheit, von der Namen von Kasernen und Truppenteilen, Wehrmachtslieder und andere Traditionen sowie der immer wieder hochkommende faschistische Ungeist zeu­gen. Erst kürzlich wurde er wieder sichtbar in Gestalt des Brigadegenerals und Kommandeurs der Spezialkräfte, Reinhard Günzel, der offen die antisemitischen Ausfälle des CDU-Bundestagsab­geordneten Martin Hohmann in höchsten Tönen lobte.

Vermieden wird auch der Vergleich, daß mit der Okkupation der DDR fast über Nacht 299 vor allem antifaschistische Traditionsnamen der NVA demontiert wurden, darunter Rudolf Breitscheid und Wilhelm Leuschner, Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack und natürlich Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, aber auch Clausewitz, Blücher, Lützow, Arndt und Schill. Dazu gehörte der von Hans Beimler, der nach der Flucht aus dem KZ Dachau zur Verteidigung der Republik gegen die Franco-Faschisten und ihre deutschen Helfershelfer nach Spanien ging, wo er als Divisionskommandeur am 1. Dezember 1936 vor Madrid fiel. Unter den Namensgebern von Bundeswehrkasernen oder Truppenteilen aus der Hitlerwehrmacht findet sich dagegen weiterhin Oberst Mölders, in Spanien Kampfflieger der „Legion Condor“, während der Aggressionen der Wehrmacht einer der „erfolgreichsten Jagdflieger“, Träger der höchsten Stufe des Ritterkreuzes. Er erhielt ein Staatsbegräbnis, auf dem Göring sagte: „Un­sterblich deine Taten, unsterblich dein Name“. Dieser Geist lebt auf der Hardthöhe weiter, die Mölders unter CDU-Minister Volker Rühe 1997 als „Vorbild des tapferen, ritterlichen und anständigen Soldaten“ feierte, der eine Haltung verkörpert, die „auch heute noch Bestand“ hat.

In Darlegungen über die Ereignisse im Sommer 1968 in der CSSR wird völlig ausgeblendet, daß es sich auch hier um Reaktionen des Warschauer Vertrages auf die entsprechenden Operationen der NATO, in ihr in vorderster Linie die Bundeswehr, zur militärischen Unterstützung der schleichenden Konterrevolution in der CSSR handelte. Dazu hatte die NATO bereits im Frühjahr 1968 den Plan „Zephir“ (milder Südwestwind) kon­zipiert, der detailliert die Herstellung der Interventionsbereitschaft gegen die CSSR vorsah. In der NATO-Stabsübung „Sha­pex“ wurde das im Mai 1968 entsprechend trainiert. Die 14. Kommandeurstagung der Bundeswehr legte im gleichen Monat „eine unorthodoxe Operationsführung (fest), die eine operative Täuschung und Überraschung nutzt“.[32] Dementsprechend standen Bundeswehrverbände für „demonstrative militärische Aktionen im grenznahen Raum“ bereit. Bereits seit Sommer 1967 hatten Bundeswehrkommandeure geheime Erkundungsfahrten in die Westgebiete der CSSR unternommen. General a. D. Trettner äußerte im Juli 1968, es sei notwendig, bestimmte Situationen zu nutzen, „um überfallartig anzugreifen“.

Die Publikation erwähnt, daß sowohl die Bundeswehr als auch die NVA bis 1990 keine Kriege führten. Eine andere Frage ist, daß an den Brennpunkten der internationalen Klassenauseinandersetzung, so in Vietnam, Chile oder Angola DDR und BRD auf den entgegengesetzten Seiten der Barrikade standen. In Südvietnam hielten sich beispielsweise insgesamt 2.5000 Techniker und 120 Piloten mit bundesdeutschen Pässen auf, unterstützten die USA-Aggressoren, sammelten Kriegserfahrungen und werteten sie in der Bundeswehr aus.

Verschwiegen wird ebenso, daß nach der Liquidierung der DDR-Armee von deutschem Boden wieder Krieg ausgeht, was im nachhinein deren friedenssichernde Rolle verdeutlicht. Die BRD hat an der NATO-Aggression gegen Jugoslawien und am Überfall auf Afghanistan teilgenommen, läßt für einen völkerrechtswidrigen, in Nürnberg geächteten Präventivkrieg, wie ihn die  USA gegen Irak führen, die Nutzung ihres Territoriums zu und setzt Bundeswehrsoldaten derzeit in 30 Ländern ein. Sie  ist treibende Kraft des forcierten Aufbaus der EU-Militär­allianz. Das deutsche Kapital, für das die kaiserliche Armee und die Wehrmacht in zwei Weltkriegen um die Weltherrschaft kämpften, ist nicht bereit, diese Rolle heute den USA zu überlassen. Laut „Spiegel“ (49/03) plant SPD-Kriegsmi­nister Struck über die derzeit bereits eingesetzten 9.000 Mann hinaus zunächst ständig 35.000 Soldaten zu weltweiten, „auch Kriegseinsätzen“, und für „große Operationen“ 130.000 der 250.000 Bundeswehrsoldaten bereitzustellen.

Die Autoren ordnen die NVA richtig als eine Koalitionsarmee in den Warschauer Pakt ein, in dem sie dem sowjetischen Oberkommandierenden und letztlich dem Obersten Feldherrn in Gestalt des KPdSU-Generalsekretär unterstand. Negiert wird, daß das auch für die Sicherung der Staatsgrenze der DDR, der Trennungslinie zwischen den beiden Militärblöcken, galt. Der letzte oberste Feldherr der NVA war folgerichtig M. S. Gorbatschow, der ob seines Verrats, zu dem der Verkauf der DDR und die Auslieferung ihrer Funktionsträger gehörte, als „Held der westlichen Welt“ gefeiert wird. Für Angehörige der NVA, die ihre Pflicht zum Schutz dieser Grenze erfüllten, gibt es dagegen keinen Pardon. Sie werden vor die Klassenjustiz der Sieger gezerrt.

Kein Wort darüber, daß zu DDR-Zeiten von 1971 bis 1985 Bonner Beamte für 250 Todesfälle an den bundesdeutschen Grenzen verantwortlich waren; daß es 1993-2003 an den bundesdeutschen Gren­zen bei Übertritten 145 Tote gab, davon 113 an der Ostgrenze; 398 Personen Verletzungen erlitten, davon 102 durch Maßnahmen von BGS-Beamten und 83 beim Stellen durch Diensthunde. In Abschiebehaft begingen 121 Menschen aus Verzweiflung über ihre bevorstehende Ausweisung Selbstmord oder kamen bei Versuchen, der berüchtigten Haft zu entkommen, ums Leben. Insgesamt 439 Per­sonen, darunter 329 in Abschiebehaft, versuchten sich umzubringen, verletzten sich in Panik selbst oder erlitten schwere gesundheitliche Schäden durch Hungerstreiks. In der BRD kamen 10 Flüchtlinge bei Polizeiaktionen, die nichts mit Ab­schiebungen zu tun hatten, zu Tode, wurden 309 verletzt. Bei Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und bei Bränden in Flüchtlingsheimen gab es 55 Tote und 636 Verletzte. Bei rassistischen Überfällen auf Straßen gab es zwölf Tote und 529 Verletzte. 21 Flüchtlinge kamen nach der Abschiebung in ihren Herkunftsländern ums Leben, 57 verschwan­den spurlos. 361 wurden dort von Polizei und Militär mißhandelt und gefoltert. [33] Mit verantwortlich für diese Verbrechen ist die Regierung der Bundesrepublik, die in diesen Fällen eindeutig die Genfer Flüchtlingskonvention verletzt, die bei drohender Gefahr für Leib und Leben Abschiebeschutz fordert. Kein Staatsanwalt kommt auf die Idee, dafür einen Bundeskanzler, Innenminister, nachgeord­nete Offiziere oder andere Verantwortliche anzuklagen.

Die Publikation verdeutlicht am Beispiel des Militärbereichs, daß es sich um keine Wiedervereinigung, sondern um einen Anschluß der DDR handelte, den die Bundeswehr in Form einer Besetzung vollzog. „Die Welt“ sprach am 30. 9. zum Schicksal der NVA Klartext: „Ab 3. Oktober 1990, 0 Uhr geht die Befehlsgewalt an den Bundesminister der Verteidigung über“. Die Autoren, die über in der NVA verwendete Generale und Offiziere der Wehrmacht schreiben, lassen sich über Risiken aus, die sich bei deren Einsatz für die politische Führung der DDR ergeben hätten. Den Vergleich, daß es die Bundesrepublik, von einer Ausnahme im Medizinischen Dienst abgesehen, nicht gewagt hat, Generale der NVA zu übernehmen, vermeiden sie auch hier.

Eine andere Frage ist, ob denn Generale oder Admirale der NVA bereit gewesen wären, einen Weg des Übertritts in die Bundeswehr zu gehen? Bekannt ist, daß von einer größeren Zahl von Offizieren, die sich für die Übernahme bewarb, eine Auswahl angenommen wurde und auch viele Soldaten, nicht zuletzt, um der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen, die­sen Ausweg suchten. Von 135.000 Soldaten, welche die NVA im März 1990 zählte, wurden jedoch zunächst nur 18.000 übernommen, Berufssoldaten generell mit einer Herabsetzung des Dienst­grades. Was die Ende 1989 noch aktiven 169 Generale bzw. Admirale betrifft, so gab es für sie trotz vereinzelter Anbiederungsversuche keine „Vereinigung“ mit der Bundeswehr. Selbst mit Theodor Hoff­mann, der nach dem Ende seiner kurzen Karriere als Verteidigungsminister in der Modrow-Regierung bei Verteidigungsminister Eppelmann das neugeschaffene Amt des Chefs der NVA übernahm, wurde keine Ausnahme gemacht. Er erhielt am 24. September 1990 seine Entlassungsurkunde. Zwar wird in der Publikation seine Kooperation mit Eppelmann gewürdigt, aber selbst ihm die Anschuldigung, „durch seinen persönlichen Einsatz für ‚Frieden und Sozialismus’ auch einen Beitrag zum Funktionieren der Diktatur in der DDR geleistet“ zu haben, nicht erlassen. Seine Dienstgeschäfte übernahm für neun Tage Generalmajor Lothar Engelhardt, bis dahin Stabschef der Landstreitkräfte. Zur selben Zeit etwa wurde lanciert, eine „An­zahl handverlesener Generale“ werde übernommen. Es handelte sich um eine der vielen Parolen, die von Eppelmann persönlich oder durch ihn zur Ruhigstellung verbreitet wurden, darunter auch die über eine „zweite deutsche Armee östlich der Elbe“. Am 28. September erhielten die letzten 24 Generale und Admirale den Laufpaß. Die „FAZ“ hatte das am 17. Aug. 1990, ausgehend von ihrem Feindbild, so zusammengefaßt: „Wenn die Diktatur fällt, fallen auch ihre Werkzeuge“. NVA-Generalen, die möglicherweise mit dem Gedanken des Übertritts gespielt hatten, wurde so eine Entscheidung erspart. Den ehemaligen Angehörigen der DDR-Streitkräfte wurde sogar untersagt, ihre in der NVA erworbenen Dienstgrade  mit dem üblichen Zusatz i.R. oder a.D. zu tragen. Sie wurden als „ge­dient in fremden Streitkräften“ eingestuft. Dazu gibt es eine bezeichnende Episode. Einem NVA-General wurde un­ter dem damaligen Verteidigungsminister Rühe auf Anfrage verwehrt, auch ohne Pensionsansprüche seinen Dienstgrad mit dem Zusatz a. D. zu tragen. Der Minister ließ allerdings mitteilen, Leutnant a. D. sei erlaubt, weil das der letzte Wehrmachtsdienstgrad des Betreffenden war. Die Hitlerwehrmacht zählt für die Bundeswehr eben nicht zu „fremden Streitkräften“.

Die überwiegende Mehrheit der NVA-Generale und Admirale hat mit Anstand und Würde ihre Laufbahn beendet. Viele Generale wie auch Offiziere schieden an­gesichts der unausweichlichen Niederlage aus eigenem Entschluß aus dem Dienst. Renegaten vom Typ eines Schabowski hat es nicht gegeben. Über vereinzelte Schwankungen hinaus bekennen die Militärs der DDR sich zu ihrem Einsatz für den Sozialismus als einer besseren Gesellschaftsordnung und zu ihrer herausragenden Rolle bei der 40jährigen Friedenssicherung. Dafür stehen Namen wie Heinz Keßler, Fritz Strelitz oder Horst Stechbart, um nur einige aus dem Kreis der „19“, aber auch über sie hinaus, zu nennen, für die es im Klassenkampf keine Altersgrenze gibt.

Auf der Tagesordnung bleibt, die der historischen Realität entsprechende Geschichte  der Streitkräfte der DDR zu schreiben, darunter in der Etappe der Niederlage. Das Buch über die „19“ zeigt bei allen von den Autoren in Betracht gezogenen bestimmten positiven Aspekten, daß eine Bundeswehrinstitution dazu außerstande ist. Das kann, wie über die DDR insgesamt, nur Aufgabe derjenigen sein, die sich zu ihr bekennen, was eine kritische Sicht nicht ausschließt, sondern sie im Gegenteil einbeziehen muß. Nicht wenige Militärs, auch aus der Reihe der „19“, widmen sich dieser Aufgabe bereits seit längerer Zeit. Stellvertretend für eine beträchtliche Zahl von Publikationen seien genannt: Hans Fricke mit „Davon - dabei - danach“ (GNN-Verlag 1993), Heinz Kesslers „Zur Sache und zur Person“ (edition ost, 2. Aufl. 1997) oder Wolfgang Wünsche (Hg.) mit „Rührt Euch“ (edition ost 1998). Erwähnenswert auch „Kriegsverbrechen der NATO“ (Spotless 2000), in dem Kessler und Strelitz in Zusammenarbeit mit Rainer Rupp u. a. Experten den Charakter des Überfalls auf Jugoslawien enthüllten.

Zur Etappe der Niederlage steht sicher folgendes fest: Nachdem die DDR von Gorbatschow fallengelassen wurde und damit der entscheidende  militärpolitische Faktor ihrer Existenzsicherung entfiel, war sie nicht mehr zu retten. Bewaffneter Widerstand seitens der alleinstehenden DDR hätte zu einem blutigen Bürgerkrieg geführt. Doch der Anschluß an die BRD hätte nicht in jene widerstands- und bedingungslose Kapitulation münden müssen, die unter de Maizière und dessen später zum hochkarätigen Kriminellen aufgestiegenen „Verhand­lungsführer“ Günter Krause vollzogen wurde, aber bereits von der Regierung Modrow und der PDS unter Gregor Gysi zu verantworten war. Vor Modrows Amts­antritt war auf chaotische Weise die Grenze geöffnet worden. Dieser Schritt war notwendig. Aber darüber, wie er erfolgte, liegt noch immer ein Schleier des Geheimnisses. Es ist kaum vorstellbar, daß eine solche Maßnahme ohne Zustimmung der sowjetischen Seite erfolgte. Es konnte danach nicht darum gehen, die Grenze wieder zu schließen, wohl aber, sie zu kontrollieren, was zunächst kaum und dann überhaupt nicht mehr geschah. Es zeigte sich, daß es nicht mehr nur um berechtigte und auch nicht berechtigte Forderungen von Oppositionel­len ging, sondern daß unter ihrem Deckmantel zunehmend offen die Konterrevolution antrat, die über die offene Grenze strömte und in der DDR schalten und walten konnte, wie sie wollte.

Im Kampf auf Leben und Tod, der für die DDR nun begann, wäre eine Staatssicherheit dringend erforderlich gewesen. Obwohl Modrow, wie er in seinem Buch „Ich wollte ein Neues Deutschland“  (Dietz Berlin 1998) einräumt, bekannt war, daß BND-Agenten in der DDR wühlten, um „den politischen Druck“ zu erhöhen, löste er das MfS auf und verzichtete auf das geplante Amt für nationale Sicherheit. Mit der Beseitigung der Sicherheitsstrukturen ging die stillschwei­gende Liquidierung der Kampfgruppen, die Auflösung der Politorgane in allen bewaffneten Kräften und die „Neutrali­sierung“ der NVA einher. Zur Einschüch­terung erfolgten erste Generalsverhaftungen.4

4 Zu Hans Modrows Buch „Ich wollte ein Neues Deutschland“ siehe Rezension des Autors in WBl  1/1999


Ohne eine demokratische Legitimierung riß die opportunistische Gysi-Gruppe in einem Parteiputsch die Führung der SED an sich und begann mit der Zerschlagung der Parteistrukturen, als erstes in den Be­trieben. Die bereits schwer angeschlagene Partei, auf die der Gegner wie gegen das MfS seinen Hauptstoß richtete, verlor nahezu völlig ihre Aktionsfähigkeit. In dieser Phase des Untergangs unternah­men die Modrow-Regierung und die SED/ PDS nichts, um die Bevölkerung zum Widerstand zu mobilisieren, sie darüber aufzuklären, was sie mit dem Anschluß an die Bundesrepublik allein an sozialen Einbußen zu erwarten hatte. Die von Mo­drow ausgehende Desorientierung, die in seiner Losung vom „Deutschland einig Vaterland“ gipfelte, wirkte sich ohne Zweifel tiefgreifend auf die NVA aus. Es ist eigentlich ein Wunder, daß die Armee in dieser Situation nicht regelrecht auseinander fiel. Das verhindert und sich um die Zukunft der Soldaten gesorgt, das Waffenarsenal unter Kontrolle gehalten und gewaltsame Auseinandersetzungen verhindert zu haben, ist, bei Fehlern, die dabei fast zwangsläufig auftraten, ein hoch zu bewertendes Verdienst der NVA-Generalität und vieler Offiziere sowie Soldaten. Auch darin zeigte sich nochmals der Charakter einer Volksarmee.

 


 

Leben wir im Computer-Zeitalter? *

von Manfred Sohn


Als im Herbst das Jahres 2000 an den Börsen eine Spekulationsblase platzte, flatterten vor allen Aktien von Computer-Hardware und -Software produzierenden Firmen herab. Doch die Anzahl der Haushalte mit eigenem PC und Internet-Anschluß wächst weiter. Viele Kommentatoren wähnen uns gar im Computer- oder Informationszeitalter.

Bevor darzustellen ist, wieso sie in verschiedener Hinsicht irren, ist ihnen zunächst recht zu geben.

Wenn wir uns nach großen Erfahrungen umsehen, die das Leben vieler Menschen in den letzten Jahrzehnten nachhaltig verändert haben, fällt fast jedem von uns, wenn überhaupt etwas, dann der Computer ein. Die meisten von uns haben inzwischen die Schreibmaschine durch ihn ersetzt. Wer Kinder hat, beklagt nicht mehr, daß sie ständig dumme Comics lesen, sondern daß sie immer vor dem Computer hängen.

Gravierender als diese Veränderungen, allerdings wegen der Wechselwirkungen mit anderen Faktoren schwerer einzuschätzen sind die Resultate des massiven Einsatzes von Informationstechnologien (IT) in der materiellen Produktion. Die Tatsache, daß sich in den Vereinigten Staaten seit 1970 der industrielle Ausstoß verdoppelt hat, für seine Herstellung inzwischen aber nur noch zwölf Prozent der Werktätigen benötigt werden, hängt nach allgemeiner Meinung maßgeblich mit der elektronischen Steuerung dieser Produktionsprozesse zusammen.

Für das Entstehen der IT-Spekulations­blase und ihr Platzen gibt es ein Muster, das jedem Wirtschaftshistoriker geläufig ist: Als im 19. Jahrhundert das in der englischen Baumwollindustrie massenhaft verdiente Geld verzweifelt neue Anlagemöglichkeiten suchte , fand es sie in den Eisenbahnen. Ihnen wurde ähnlich gierig Geld mit Hoffnung auf noch mehr Geld angeboten wie bis vor kurzem den „New Economy“-Firmen. Als damals die Blase platzte, gingen Tausende von Firmen zugrunde, die ihr Schicksal an die Eisenbahn geknüpft hatten, aber die Eisenbahn blieb und unveränderte das Leben der Menschen. Ebenso wurden in den letzten Jahren, als die Kurse vieler IT-Papiere zusammenbrachen, zigtausende Beschäftigter dieser Firmen in die Arbeitslosigkeit gestürzt, die sie sich vorher nie hatten vorstellen können.

Manche Zahlen und Beobachtungen kön­nen irritieren. Als die 2000er Blase platz­te und viele Firmen vor allen an neuen Computern sparten, sackte in den USA das Volumen der IT-Inverstitionen um zehn Prozentpunkte ab. Wäre der Produktivitätsfortschritt, wie es vorher schein­bar Allgemeinwissen war, vor allem auf den IT-Einsatz zurückzuführen gewesen, hätte er sich nun verlangsamen oder stagnieren müssen. Er zeigte sich aber davon kaum beeindruckt. Das bedeutet, daß offenbar andere Faktoren wie Einsatz neuer Materialien oder sogenannte Skaleneffekte durch Verbilligung der einzelnen Ware bei steigendem Umsatz stärker auf den Produktionsfortschritt der Industrienationen in den letzten Jahren einwirkten als vorher angenommen.

Im November 2002 veröffentlichte die US-amerikanische  „Federal  Reserve Board“ die Ergebnisse der Veränderungen der Profite, der Produktivität und anderer Kennzahlen der US-Ökonomie aus den 90er Jahren. Die Euphorie jener Jahre, die von der Annahme ausging, die Produktivität werde dank IT dauerhaft um rund 3,5 Prozent pro Jahr steigen, wich einer nüchternen Bilanz, wonach der Anstieg in jenem Jahrzehnt weniger als 2,5 Prozent betrug und für das laufende Jahrzehnt auf durchschnittlich rund zwei Prozent zu schätzen sei.

Nicht nur diese amerikanischen Zahlen, auch der deutsche Augenschein geben Anlaß zu einer gesunden Skepsis gegenüber der Formulierung von der IT-„Re­volution“.

Viele meiner in schreibenden Berufen tätigen Kollegen, die sich freuen, wenn sie Seiten mit vielen Fehlern nicht mehr mit Tipp-Ex korrigieren oder neu abtippen müssen, haben zwar dadurch einige Stunden eingespart, sitzen aber dafür manchmal tagelang vor ihren Computern, um die Tücken der neuen Software zu begreifen.

Produktivitätsbemessung ist, wie jeder Ökonom weiß, ein kompliziertes Ding. Ich selbst arbeite in einem Gewerbe, dessen Leistung sich über die Jahrzehnte nicht verändert hat: Versicherungen. Wenn nur der Umsatz durch die Anzahl der Mitarbeiter geteilt wird, scheint es in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten einen gewaltigen Produktivitätsfortschritt gegeben zu haben. Aber das sogenannte Produkt ist dasselbe wie in den 30er oder 50er Jahren. Eine Versicherung sagt einem Hausbesitzer: „Gib’ uns mal 200 Euro im Jahr, dafür bezahlen wir dir ein neues Haus, wenn das alte abbrennt - und außerdem noch ein neues Dach, wenn ein Sturm das alte abgedeckt hat.“ Das war - abgesehen von der anderen Währung - das Geschäft meiner Kollegen damals und ist heute mein Geschäft. Vor 15 Jahren, sagen unsere Geschäftsberichte, haben wir von jeder Mark unserer Kunden 20 Pfennig für uns behalten: für Vorstands- und Tarifgehälter, Heizung und EDV. Im Buchhalterdeutsch: Unsere Kostenquote betrug 20 Prozent. Heute verbraucht die Firma von jedem Kunden-Euro nicht mehr 20, sondern 24 Cent für den laufenden Betrieb. Bei gleicher Leistung sind wir, die Belegschaft unseres Betriebes, also nicht besser, sondern schlechter, unproduktiver geworden.

Wo sind die vier Cent zusätzlich geblieben?

Sicher ist, wo sie nicht hingeflossen sind: in Personal. Auf den Lohnlisten der Firma stehen nicht mehr, sondern weniger Namen als vor 15 Jahren. Das Durchschnittsgehalt der Tarifangestellten ist re­al nicht gestiegen, sondern stagniert. Kurz: Wir da unten produzieren denselben Gebäudeschutz wie vor 15 Jahren und können uns dafür nicht mehr als damals kaufen, eher weniger.

Explodiert sind die Sachkosten. Früher brauchte ein Versicherungsbetrieb an Technik vor alle Schreib- und Registraturmaschinen und einen Haufen Papier. Heute steht High Tech nicht nur in der Direktion und der Regionaldirektion, sondern auch in jedem Vertreterbüro. Mit Hilfe dieser Technik - so wurde versprochen - sollte es ermöglicht werden, Personal auf der Sacharbeiterebene einzusparen. Das ist in gewissem Umfang auch geschehen. Für jede eingesparte Mark sind aber zwei wieder für die PCs, Großrechner, Sofware-Updates und externe EDV-Dienstleistung ausgegeben worden. Das Gewerbe ist hektischer, aber nicht effektiver geworden.

Vielleicht ist es ein Einzelbeispiel. Mein Eindruck ist: Bei genauem Hinsehen lösen sich die nicht nur in den Augen des „Federal Reserve Board“, sondern auch anderer die vermeintlichen Fortschritte dank IT in Fragezeichen auf.

Das Nichtausreifen der Blütenträume, die sich mit dem Computer verbinden, hängt meines Erachtens damit zusammen, daß die Nutzung dieses Gerätes bereits über den Kapitalismus hinausweist.

Alle vorherigen epochalen Erfindungen des Industriezeitalters hingen an einem Gegenstand, der verkäuflich ist. Mit Hilfe der Dampfmaschine effektiviere ich die Produktion von Tuch, das ich verkaufe. Auf Schienen gesetzt produziere ich eine Transportleistung, die ich gestückelt über Fahrkarten verkaufen kann. Genauso kann ich auch Strom, Autos, Flugzeuge verkaufen - und natürlich auch Computer. Der Computer ist aber nicht das Wesentlich am Computerzeitalter. Das Wesentliche ist die mit ihm revolutionierte Informationsverarbeitung. Das Wis­sen ist aber dem Wesen nach kein Ding, das bei seiner Weitergabe den Besitzer wechselt. Es bleibt ja (anders als das verkaufte Auto oder auch die gedruckte Zeitung) beim Abgebenden, verdoppelt sich also. Das erklärt den großen Erfolg der Linux-Software und anderer sogenannter „open-source software“ und die verzweifelten Bemühungen von Micro­soft und bürgerlichen Staatsapparaten, Gesetze zu schaffen, die die Informationsweitergabe unter Strafe stellen und so künstlich zu einem Ding machen, das der Abgebende nicht mehr besitzt, wenn er es einmal verkauft hat. Am 12. Juni veröffentlichte der Londoner Economist einen besorgten Kommentar über diese „open-source software“ unter der bezeich­nenden Überschrift „Über den Kapitalismus hinaus?“ und beruhigte seine Leser, daß diese Erscheinungen nur „para­sitär gegenüber dem Kapitalismus“ seien.

Die Ahnung, das zeigt der Kommentar, ist selbst in diesen Kreisen schon angekommen, daß die wirklichen Resourcen der weltweiten Computer-Netzwerke, die sich gegenwärtig in ihrer alten Hülle bilden, jenseits der kapitalistischen Marktwirtschaft liegen. Der Frühsozialismus, der 1989 zusammenbrach, scheiterte bekanntlich (auch) daran, daß seine zentralen Planungsbehörden, die den Markt als ökonomische Steuerungsinstanz ersetzen sollten, in ihren selbstgeschaffenen Datenmengen erstickten. Denzentrale Computer-Netzwerke aber sind potentiell die Sphäre, in der eine Gesellschaft jenseits von Warenmärkten Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen verknüpfen kann.

Die technologischen Revolutionen des Kapitalismus von der Dampfmaschine bis zum Auto sind Revolutionen, die ein verkäufliches Ding betreffen. Das wesentliche am Computer aber ist nicht das Ding, sondern die durch ihn ermöglichte massenhafte Informations- und Wissensverbreitung. Entfalten wird sich diese Revolution daher erst wirklich in einer Gesellschaft, die sich vom alten Eigentumsbegriff zu lösen vermag. Der PC ist technologisch bereits die Morgenröte dieser neuen Gesellschaft - die allerdings anders als der neue Tag nicht von selbst kommt. Wer glaubt, das Internet werde den Kapitalismus revolutionieren, ohne daß die Macht der Besitzenden real gebrochen wird, hat die Programmiersprache dieses Systems noch nicht verstanden.

Wir sind noch nicht im Computerzeitalter. Wir müssen erst die politischen und sozialen Voraussetzungen schaffen, um dahin zu kommen.


 

 

Resonanz

Zu dem Nachdruck von Werner Seppmann

Konsequenzen der sozialen Spaltungen für die Klassentheorie

(aus jW in WBl. 1/2004, S. 45)

von John Norden


Sehr geehrter Her Seppmann!

In den Weißenseer Blättern habe ich den Nachdruck Ihres Artikels aus der jungen Welt gelesen. Viele Ihrer Gedanken emp­finde ich als anregende Beiträge zu der Diskussion über die soziale Differenzierung in der Klassengesellschaft entwickelter kapitalistischer Staaten und die sich daraus ergebenden Anforderungen an eine revolutionäre Strategie.

Die von Ihnen in den Schlußteilen „so­ziale Widerspruchserfahrungen“ und „ver­zweifelter Realitätssinn“ entwickelten Thesen halte ich jedoch für wenig realitätsnah und kaum haltbar.

Es ist für den Leser unklar, wie Sie zu den überraschenden Schlußfolgerungen über den Bewußtseinsstand von Marginalisierten kommen, denn Ihre Darstellungen ergeben sich nicht zwingend aus den vorhergehenden Betrachtungen. Sie verweisen auf französische Befragungsergebnisse (durch wen? Wann? Wo?), die zu dem Schluß kommen, daß das Denken der Herrschenden zum herrschenden Denken geworden ist.

Dieses Betrachtungsmuster für die Bewußtseinsentwicklung halte ich für eine sehr stark vereinfachte Widerspiegelung der Gegebenheiten unter den heutigen Umständen in Deutschland.

Dabei geht es mir nicht primär darum, daß ich tiefes Mißtrauen gegenüber Studien zu derartig komplexen Themen empfinde. Erfahrungsgemäß sind solche soziologischen Untersuchungen fast immer Auftragsforschungen und führen in der einen oder anderen Form zu Gefällikeitsergbnissen.

Vor allem scheint es mir, daß die von Ihnen im Schlußteil stringent vorgetragene These von dem fehlenden (bzw. deformierten) politischen Bewußtsein der Mar­ginalisierten nicht der ganzen Differenziertheit der gegenwärtigen Realität entspricht.

Seit über zehn Jahren arbeite ich als freiberuflicher Dozent an Schulen und in Vereinen, die Lehrgänge oder Schulungen für Arbeitslose in Berlin anbieten. In dieser Zeit habe ich ca. 2000 Männer und Frauen erlebt, die fast alle als „un­brauchbar“ für den ersten Arbeitsmarkt „aussortiert“ worden sind. Durch ABM, SAM oder berufliche Qualifikationsmaß­nahmen waren sie teilweise mit der Arbeitswelt verbunden. Bei aller Unterschiedlichkeit von sozialer Herkunft und Lebenserfahrung konnte ich zumindest für diesen Personenkreis einige Beobachtungen machen.

1.   Die übergroße Mehrheit empfindet ihre Marginalisierung keinesfalls als ein Ergebnis des eigenen Versagens, sondern sie versteht ihre Situation als Resultat der ungerechten Behandlung durch Unternehmer und Staat. Das ist zweifellos ein Ergebnis „vorher“ gewachsenen Klasseninstinkts und besonders häufig bei Menschen mit einer DDR-Sozialisation zu beobachten. In den letzten ein bis zwei Jahren scheint auch die Schützenhilfe eines Teils der bürgerlichen Presse zu wirken, die den Menschen die Rücksichtslosigkeit der wirtschaftlichen und politischen Eliten bei der Durchsetzung ihrer Interessen vor Augen führt (agenda 2010, Steuerreformen, Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland).

2.   Ich sehe auch nicht, daß die Mehrheit sich schamhaft passiv verhält und keine Widerstandskultur entwickelt. Mög­licherweise kommt der Widerstand nicht in traditionellen Formen wie Demo oder Streik zum Ausdruck. Aber es gibt die massenhafte entwickelte Kultur der Verweigerungshaltung der Betroffenen: Austricksen vom Arbeitsamt (um keine Sperre zu bekommen), Schwarzarbeit, Wahlboy­kott usw. Mit großer Hochachtung stelle ich fest, daß auch unter schwierigsten Bedingungen die Meisten nicht in Depression oder Alkohol oder Gewalt verfallen, sondern ihren Lebensmut behalten und versuchen, sich irgendwie durchzuwursteln. Es ist in diesem Zusammenhang auch bemerkenswert, daß es trotz aller Unkenrufe den Rechtsradikalen bisher nicht gelungen ist, unter den Marginalisierten eine Massenbasis zu erhalten.

3.   Tendenziell entwickelt die Mehrheit dieser Menschen eine instinktive radikale Ablehnung der Grundelemente des politischen Systems (Parteien, Ge­werkschaften, Parlamente, Gerichte) und wichtiger Linien bundesdeutscher Politik: EU-Erweiterung, „Antiterror­gesetze“, Auslandseinsätze der Bundeswehr. Auffallend ist das Mißtrauen gegenüber allen politischen Akteuren (auch linken Parteien) und die Vermutung, daß es für ihre persönliche Lage im Rahmen der bestehenden Verhältnisse keinen erkennbaren Aus­weg gibt.

In bestimmtem Maße haben meine Beobachtungen unter dem (ehemaligen?) Berliner Proletariat natürlich nur punktuelle Bedeutung. Möglicherweise stellt sich die Lage in Anklam oder Bochum oder Rhinstädt anders dar.

Die Zahl der Marginalisierten wird in den nächsten Jahren wahrscheinlich schnell zunehmen. Und wir, die wir uns als Linke verstehen, haben mit ihnen bisher nur wenig „zu tun“. Wahrscheinlich hängt das mit einer - sicher unbewußten - intellektuellen Überheblichkeit zusammen. Dabei wird oft vergessen, daß die eigentlichen Triebkräfte der großen Revolutionen die Unterprivilegierten waren; sie haben mit ihrem Blut und ihrem Mut die französische und die Oktoberrevolution zum Sieg geführt.

Mir scheint es, sehr geehrter Herr Seppmann, daß Sie in Ihrem Artikel zu einer Unterschätzung des Widerstandswillens und der Widerstandsfähigkeit der Marginalisierten neigen. Sie unterschätzen den Stolz und das Selbstbewußtsein der Menschen. Wenn die potentielle Kraft der Marginalisierten heute in Deutschland noch keine gesellschaftlich relevante Wirkung zeigt, dann liegt es daran, daß die Linke für die Bündelung eines radikalen Massenwiderstandes keinen po­litischen Rahmen gefunden hat. Weder die PDS noch die kommunistischen Organisationen haben einen organisierten Zugang zu diesen immer größer werdenden Schichten. Sie besitzen auch keine politisch-ideologischen Konzepte, die für diese attraktiv sind.

Vielleicht liegt der Krebsschaden der Linken in unserem Land darin, daß sie zu stark mit sich selbst beschäftigt ist. Wir kennen diese Menschen kaum. Wir sollten zu ihnen gehen und nicht warten, daß sie zu uns kommen.

Mit freundlichen Grüßen     gez.: Norden


 

Weißenseer Blätter

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Postscriptum betr.: Bischof Dr. Wolfgang Huber

Unmittelbar nach Redaktionsschluß der WBl brachte das ND am 30. Juli ein Elaborat des EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Huber unter der Überschrift „Pfarramt und PDS-Mitglied­schaft sind nach meinem Verständnis unvereinbar“. Nach dem „Ja“ zur Konstitution des sich von jeglicher Verantwortung für Recht und Frieden entbindenden „neoliberalen“ Europas in der katholisch-protestantischen Gemeinschaftsakklamation, die wir auf S. 19 dokumentiert haben, artikuliert Huber darin sein „Nein“ zu allem, was sich diesem Gemeinschaftswerk der europäischen Koalition von „Liberaldemokraten“, „Christdemokraten“ und „Sozialdemokraten“ zu widersetzten scheint.

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Auch ich finde es problematisch, wenn Richter oder Pfarrer, die ihren Beruf unparteiisch wahrnehmen müssen, einer Partei angehören, allerdings auch, wenn sie durch Parteilosigkeit eine „Neutralität“ nur vortäuschen, die es meist gar nicht gibt. Vollends heuchlerisch aber wird es, wenn man diese Problematik - wie in der Kirchengeschichte immer wieder - insbesondere im Blick auf Linksparteien thematisiert wie eben Bischof Huber: „Meine Bedenken gegen eine Parteizugehörigkeit von Pfarrerinnen und Pfarrern werden verstärkt, wenn es um die PDS geht“. Warum solche Angst vor dieser harmlosen Partei?

Es geht ihm nicht um das Evangelium - wo immer Christen leben, erregt das Evangelium Ärgernis, besonders in vermeintlich christlichen Staaten! - sondern um „Religion“. Wenn Huber vollmundig von Christenverfolgung in der DDR und mangelnder tätiger Reue der PDS redet, meint er die Säkularisation, die Bonhoeffer als Zeichen des Mündigwerdens der Welt wertete. Nicht um das Evangelium geht es ihm, sondern darum, daß nach seiner Wahrnehmung und nach seinem Erleben „ein inneres Verständnis dafür, daß Religion einen Ausdruck der menschlichen Suche nach dem Sinn des Lebens und damit ein Kernelement menschlicher Existenz bildet, ... in der PDS und bei vielen ihrer Mitglieder nicht beheimatet“ sei. Ihm geht es zuerst um diejenige „Religionsfreiheit“, die er eine „positive“ nennt, nämlich um die verfassungsmäßig-institutionelle civil religion, Marx sprach von der „Reli­gion an sich“; ist sie gesichert, mag auch diejenige Religionsfreiheit toleriert werden, die Huber die „negative“ nennt, nämlich „die freie Entscheidung des Einzelnen (!), auf ein religiöses Bekenntnis zu verzichten.“

Wie fern sind doch die Zeiten, in denen man spontan geneigt war, auch irrende Bischöfe über alle Gräben hinweg als Brüder anzureden; heute sind sie nur noch Manager einer Kirche, die, je mehr sie sich „managen“ läßt, aufhört Kirche zu sein. Wie Huber kann nur jemand reden, an dem die ganze Reformation im 20. Jahrhundert vom Aufbruch in Safenwil über Barmen bis Darmstadt spurlos vorbeigegangen ist.

Evangelisch jedenfalls ist dies Bischofswort nicht, sondern nur noch unerträglich klerikal!

Hanfried Müller

 



[1] Vgl. mein Buch, Martin Luther, Leben und reformatorisches Werk, Berlin und Wein/Graz/Köln 1983, S. 203 ff.

[2] Vgl. meinen Aufsatz „Luthers Stellung zur Arbeit und zu Wirtschaftsfragen“, Standpunkt 1981, H. 3, S. 57ff.

[3] Vgl. meinen Aufsatz „Ehrfurcht vor dem Leben - Ehrfurcht vor der Natur“, Neue Dialog-Hefte H. 3 (53), 2002, S. 4ff.)

[4] Vgl. etwa „Theologie des Alten Testamentes“, München 1957, Bd. I, S. 415 ff

[5] Widerstand und Ergebung, S. 17 ff.

* Entnommen aus "TRANSPARENT"; Zeitschrift für die kritische Masse in der Rheinischen Kirche, 18. Jg., Nr.73, Juli 2004, S.4-9, dort mit der Information: „Dieser Artikel ist erschienen in Zeitschrift Entwicklungspolitik. Aktuelle Nachrichten und Hintergrund-Information zur Entwicklungspolitik 5/6/2004“.

[6] Vgl. zu dieser Diskussion EKD, Europa-Informationen Nr. 99, Nov. / Dez. 2003.

[7] Dazu vgl. U. Duchrow/F.J.Hinkelammert, Leben ist mehr als Kapital. Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums, Oberursel 2002, S. 97 ff.

[8]  In: Publik-Forum, 16/22003, S. 21.

[9] Vgl. die vorzüglichen Eingaben der Europaabgeordneten Sylvia-Yvonne Kaufmann im Europäischen Konvent, "Ein Verfassungsvertrag für ein soziales Europa" (Conv 190/1/02 Rev.1, 15.07.2002) und "Anforderun­gen an den Verfassungsvertrag für eine friedensfähige Europäische Union" (Conv 681/03, Contri 303, 19. 05. 2003).

5 In einem Interview im Mercurio, Santiago de Chile, vom 19. 4. 81. Vgl. Durchrow/Hinklammert, a.a.O.

6 Vgl. epd-Dokumentation 43a/2002, S.9

* Entnommen aus Transparent, Zeitschrift für die kritische Masse in der Rheinischen Kirche. 18. Jg. Nr.73, Juli 2004, S.10

[10] siehe Lenin Bd. 21, S.343-345

[11] Kurt Gossweiler, Die Röhm-Affäre in der westdeutschen Geschichtsschreibung – ein Beispiel für die Beihilfe westdeutscher Historiker zur Remilitarisierung Westdeutschlands. (In: Ders., Aufsätze zum Faschismus, Bd. I, S. 277 ff., Pahl-Rugenstein Verlag,Köln, 1988.)

[12] Näheres s. in: Erich Paterna / Werner Fischer/ Kurt Gossweiler/ Gertrud Markus/ Kurt Pätzold, Deutsch­land von 1933 bis 1939, Berlin 1969, S.104 ff. -  Ferner: Kurt Gossweiler, Die Röhm-Affäre. Hintergründe - Zusammenhänge - Auswirkungen, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln, Hochschulschriften 151, 1983, Kap. I: Die ökonomische und politische Lage Hitlerdeutschlands im ersten Halbjahr 1934, S.31-64.

[13] Näheres dazu in den bereits genannten Arbeiten des Verfassers und in der Studie: Das Verhältnis von „alten“ und „neuen“ Industrien zu Demokratie und Faschismus in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, in: Kurt Gossweiler, Aufsätze zum Faschismus, Bd. II, S. 624 ff.

[14] Kurt Gossweiler, Kapital, Reichswehr und NSDAP 1919-1924. Pahl-Rugenstein Verlag Köln 1982, S. 74 ff.

[15] Ebenda, Kapitel VII: Die „Arbeiterpartei“ der feinen Leute; S.319 ff. Für die späteren Jahre s. „Hitler und das Kapital 1925-1928“, in Gossweiler, Aufsätze, S.468 ff.

[16] Gossweiler, Röhm-Affäre, Kapitel IV: Der Kampf  der Hauptgruppe der Monopolbourgoisie um die Beherrschung der Nazipartei und der Regierung der faschistischen Diktatur, S.243 - 302. – Hannes Heer: Burgfrieden oder Klassenkampf. Neuwied und Berlin 1971, S. 67 - 74; 95 - 100.

[17] Über die Bindungen Schachts an das USA-Kapital s. Gossweiler, Röhm-Affäre, S.100 ff. - Über die Bindungen Thyssens an das USA-Kapital s. Goss­weiler, Die Vereinigten Stahlwerke und die Großbanken, in: Aufsätze zum Faschismus, Bd. I, S.82 ff.

[18] Einzelheiten dazu s. Gossweiler, Röhm-Affäre, S. 285-290.

[19] Deren Wortlaut und Unterzeichner s. Eberhard Czi­chon, Wer verhalf Hitler zur Macht? Pahl-Ru­genstein Verlag, Köln 1967, S. 68-71.

[20] S. dazu Gossweiler / Schlicht, „Junker und NSDAP 1931/ 32“, und Gossweiler, „Junkertum und Faschismus“, beides in: Aufsätze zum Faschismus, Bd. I, S. 230-276.

[21] Voller Wortlaut der Erklärung bei Czichon, a.a.O., S. 77 ff.

[22] Gossweiler, Röhm-Affäre, S. 260.

[23] S. Gossweiler, Röhm-Affäre, S. 250, 254 ff., 325 ff.

[24] Ebenda, S. 425 ff.

[25] Ebenda, S. 451. S.a. Heinz Höhne, Mordsache Röhm, Hamburg Juni 1984, S.229.

[26] Zu dieser Rede erschien in der Jungen Welt Nr. 136 v. 17. 6. 04 der ausgezeichnet informierende  Artikel von Hermann Ploppa: Als Hitlers Herrenreiter baden ging. Deshalb belasse ich es bei der Erwähnung dieser Rede.

[27] Gossweiler, Röhm-Affäre, S. 452

[28] Ebenda, S. 428. S.a. Höhne, Mordsache Röhm, S.243. Ebenda, S. 428.

[29] Gossweiler, Röhm-Affäre, S.453. - Höhne, S. 240 ff.

[30] Für den Ablauf der Mordaktion des 30. Juni 1934 s. Gossweiler, Röhm-Affäre, S. 450-60

* Dietrich Bonhoeffer, Ges. Schr., Bd. 1, München 1958, S. 519 (englischer Originaltext S. 405). - Ich habe seit langem den Eindruck, daß dieses „Sigtuna-Gespräch“ einer der eigentlichen Gründe für Bonhoeffers Verhaftung und spätere Ermordung war, konnte diesem Verdacht jedoch nicht im einzelnen nachgehen.

* Aus der Zeitung „Freies Deutschland“ (Organ des Nationalkomitees) Nr. 34/1944 vom 20. 8. 1944

* Abdruck des Artikels von Prof. Dr. sc. phil. Horst Schneider aus "RotFuchs", 7. Jahrgang Nr. 78, Juli 2004, S. 5

[31] Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungs­amtes, herausgegeben von Hans Ehlert und Armin Wagner

[32] Wehrkunde, München, 6/1968, S. 379

[33] Tödliche Flüchtlingspolitik, Dokumentation der antirassistischen Initiative, 11. Auflage, Berlin 2004

* Entnommen aus Ossietzky 14/2004, S. 479-482.