Weißenseer Blätter

HERAUSGEGEBEN

IM AUFTRAGE DES WEISSENSEER ARBEITSKREISES

(Kirchliche Bruderschaft in Berlin-Brandenburg)

HEFTE ZU FRAGEN AUS KIRCHE; THEOLOGIE UND GESELLSCHAFT

 

 

Aus dem Inhalt 3+4/2003

  Zu diesem Heft

Religion, Religionslosigkeit - und evangelische Religionskritik

  Teil 3: Christusglaube und Religion (Fortsetzung und Schluß) / Hanfried Müller

  Anders als 1933 ... / Vera Mika

  Ins Unreine gedacht ... . Erwägungen zu Rückschlägen im revolutionären Prozeß und zu den Programmdebatten unter zersplitterten Sozialisten / Hanfried Müller

  Dazu: Der weite Weg von der Theorie über das Programm zur Losung und die Solidarität als Bedingung ihrer Wirkung / Vera Mika

  Das Zweite Europäische Sozialforum / Hans Heinz Holz

  Die imperialistische Demontage des Völkerrechts / Hans Heinz Holz

  Für den Erhalt des Völkerrechts als Friedensordnung - Das imperium americanum ist keine Friedensordnung / Bernhard Graefrath

  Erinnerungen an den „Entspannungsprozeß" vor dreißig Jahren / Hanfried Müller

  War die DDR bundesdeutsches Inland? / Erich Buchholz

  Kundschafter im Westen. Hinweis auf ein Buch / Rosemarie Müller-Streisand

  Der Kummer in Deutschland über Martin Hohmann / Hanfried Müller und Rosemarie Müller-Streisand

  Ein schwer zu lösendes Problem: Kirche - Christen - Klassenkampf
Zwischenantwort an Wolfgang Clausner / Hanfried Müller


 

Zur Änderung der Erscheinungsweise der WBl

Von Heft 2 / 1993 an erschienen die Weißenseer Blätter als Periodikum und wurden zuerst fünfmal jährlich, dann vierteljährlich ausgeliefert. Wie bereits mehrfach angekündigt, sollen sie vom Jahrgang 2004 an wieder wie in den ersten elf Jahren sporadisch nach Bedarf erscheinen.

In der DDR und während der Konterrevolution war die unregelmäßige Erscheinungsweise günstiger. Denn wenn wir die WBl in der DDR als Periodikum hätten registrieren lassen, hätten wir in ihnen viel weniger journalistischen Spielraum gehabt, und nach 1989 wollten wir uns die Möglichkeit offenhalten, unter Umständen auch einmal aus aktuellem Anlaß ungeplant und ganz schnell ein kürzeres Heft herauszugeben.

Dann aber bot ein Postvertriebsvertrag, der uns allerdings zu regelmäßig periodischem Erscheinen nötigte, erhebliche finanzielle Vorteile: die Auslieferung als „Büchersendung" kostete erheblich viel mehr Porto als der Versand als „Postvertriebsstück". Mit den regelmäßigen Preiserhöhungen wurde allerdings auch bei dieser Versandart der Vorteil immer geringer. Ausschlaggebend für unsere Entscheidung, wieder zur Einzelauslieferung zurückzukehren, waren allerdings die nachlassenden Kräfte der Herausgeber und der Redaktion. Schon zur Jahreswende 2002 zu 2003 konnten wir das vierte Heft erst im neuen Jahr ausliefern, es gelang uns nicht (immer wieder einmal gesundheitlich behindert), diesen Verzug in diesem Jahr auszugleichen und wir müssen damit rechnen, daß sich auch künftig altersbedingt immer wieder einmal Verzögerungen in der Redaktions- und Editionsarbeit ergeben. Mit der grundsätzlichen Entscheidung, zu dem sporadischen Erscheinen der ersten Jahrgänge der WBl zurückzukehren, war noch eine Bagatellfrage verbunden: Sollten wir das Heft 4 / 2003 noch als solches, dann allerdings erst im Jahr 2004, herausgeben oder den Jahrgang 2003 mit einem Doppelheft 3+4 / 2003 abschließen? Nicht zuletzt im Blick auf Bibliotheken und solche Bezieher, die die WBl jahrgangsweise binden oder abheften lassen, haben wir uns zum Doppelheft entschlossen.

Wir hoffen, daß sich alle unsere Leser schnell darauf einstellen, daß die WBl fortan, nicht nur weil es in den beiden letzten Jahren Pannen gegeben hat, wieder planmäßig unregelmäßig, eventuell auf Grund drängender Fragen kurz nach einander, manchmal mit etwas längeren Pausen, manchmal viel kürzer als gewohnt und dann wieder ausführlicher erscheinen, so wie sie das schon in der DDR taten. Und wir hoffen, daß unsere Bezieher den WBl auch bei dieser neuen Erscheinungsweise, die ein wenig kostenaufwendiger werden wird, die Treue halten. Eventuell werden wir im nächsten Jahr wieder einmal an alle Bezieher, von denen wir sehr lange nichts gehört haben, die Frage richten, ob sie noch am Bezug interessiert sind. Denn es wäre schade, wenn wir die WBl an Empfänger verschickten, die gar nicht mehr in die Hefte hineinsehen oder längst verstorben oder ohne Nachsendeadresse verzogen sind. Aber schon jetzt sei betont: Daran, daß die WBl unentgeltlich vertrieben werden, ändert sich nichts.

Dafür, daß das möglich ist, danken wir unseren vielen großzügigen Spendern, die es uns bisher möglich gemacht haben, die WBl, oft mit allerlei Mühe, aber stets ohne finanzielle Sorgen, herauszubringen! Und das ist ja in diesem vom Mammonismus regierten Lande alles andere als selbstverständlich. Nur dank ihrer Treue können wir die WBl all denen zukommen lassen, denen es schwer fiele, sich an den Herstellungskosten der WBl - sie beschränken sich auf die Kosten für Druck und Versand; Honorare zahlen wir nicht und beschäftigen auch keine bezahlten Mitarbeiter - zu beteiligen, und überdies solchen, die die WBl zwar lesen, aber nicht unterstützen möchten.

Wir grüßen alle Bezieherinnen und Bezieher sehr herzliche zu Weihnachten und zum neuen Jahr!

 

Zu diesem Heft

Am Anfang des Heftes stehen Fortsetzung und Schluß des Beitrages von Hanfried Müller Religion, Religionslosigkeit - und evangelischeReligionskritik. Wir würden uns freuen, wenn alle, die den Anfang dieses Artikels, der sich mit der marxistischen Religionskritik befaßte, gelesen haben, nun nicht das Handtuch würfen, „weil es theologisch wird", sondern auch noch zur Kenntnis nähmen, inwiefern auch von evangelischer Religionskritik die Rede sein kann. - Nicht damit sie „sich bekehren" - sich selbst bekehren kann ohnehin kein Mensch -, aber damit sie besser verstehen, was für Christen eigentlich Glauben heißt.

Dann folgen eine ganze Reihe von Überlegungen zu den gesellschaftlichen Grundproblemen unserer Zeit: Vera Mika erörtert die Situation auf der deutschen Linken unter der Überschrift Anders als 1933 und kommt dann noch einmal mit wertvollen Ergänzungen zu Hanfried Müllers Erwägungen zu Rückschlägen im revolutionären Prozeß und zu den Programmdebatten unter den zerstrittenen Sozialisten: Ins Unreine gedacht ... zu Wort: Der weite Weg von der Theorie über das Programm zur Losung und die Solidarität als Bedingung ihrer Wirkung.

Über Das Zweite Europäische Sozialforum berichtet aus eigenem Erleben Hans Heinz Holz, und daran schließen wir den Vortrag an, den er auf eben diesem Forum gehalten hat: Die imperialistische Demontage des Völkerrechts. Fast dem gleichen Thema widmet sich dann Bernhard Graefrath mit seinem uns freundlicherweise zur Veröffentlichung überlassenen Manuskript für eine Ringvorlesung am 29. 10. 03 an der FU Berlin: Für den Erhalt des Völkerrechts als Friedensordnung. Das imperium americanum ist keine Friedensordnung.

Die beiden folgenden Artikel sind der Erinnerung an den Anfang der siebziger Jahre und der juristischen Aufarbeitung des damals gefeierten „Grundlagenvertrages" zwischen DDR und BRD gewidmet: Hanfried Müllers, Erinnerungen an den „Entspannungsprozeß" vor dreißig Jahren und Erich Buchholz’ rechtshistorische Erörterung: War die DDR bundsdeutsches Inland? Oder: Was wäre ohne den Grundlagenvertrag geschehen?

Rosemarie Müller-Streisand bespricht die von Klaus Eicher und Gotthold Schramm heausgegebene Sammlung von Erinnerungen unterschiedlichster Mitarbeiter der DDR-Aufklärung im kalten Krieg unter dem Titel des Buches: Kundschafter im Westen.

Dann folgt: Der Kummer in Deutschland über Martin Hohmann oder: Was „gute Deutsche" denken, das darf man doch nicht sagen! Wir haben den ersten - nur völkisch-reaktionären - und den letzten - schlicht klerikalfaschistischen - Teil der Rede referiert, das Mittelstück aber (nur das hat typischer Weise mit seinen im Widerspruch zur „political correctness" stehenden anti-jüdisch-bolschewistischen Äußerungen Furore gemacht!) im Wortlaut dokumentiert. Abschließend haben Rosemarie Müller-Streisand und Hanfried Müller den ganzen Skandal kommentiert. - Stets versucht die herrschende Klasse, die ausgebeuteten und unterdrückten Massen vom Klassenkampf, das heißt vom Kampf gegen die Urheber ihres sozialen Elends, abzulenken und sie statt dessen in religiöse, kulturelle, „völkische", rassistische Konkurrenzkämpfe untereinander zu treiben. Dazu gehört auch der Antisemitismus, und je nach den Interessen der herrschenden Klasse wird seine Form verändert. Hohmann ist bei Adolf Stoecker stehen geblieben. Das aber widerspricht dem heutigen Interesse an Israel als antiarabischem Vorposten des Imperialismus im vorderen Orient. Und so können die, die Hohmann verdammen, das auch noch dazu ausnutzen, um sich selber als frei von Antisemitismus darzustellen - was sie doch notorisch nicht sind!

Zuletzt beantwortet Hanfried Müller den Brief von Wolfgang Clausner aus WBl 2/03, S. 62: Ein schwer zu lösendes Problem: Kirche - Christen - Klassenkampf.

 

Religion, Religionslosigkeit - und evangelische Religionskritik

(Fortsetzung und Schluß.)

3. Christusglaube und Religion

von Hanfried Müller

Im ersten Gebot stellt Gott selbst sich allen Göttern entgegen. Darum sind sie als Menschenwerk "Nichtse" (Jer. 10, 1-16), imaginärer Ausdruck der Abhängigkeit ihrer frommen Produzenten von den Produkten ihrer Idolatrie1, vergötterte Geschöpfe, "sogenannte Götter", legomenoi Theoi (1. Kor. 8,5). Im Eingang des Römerbriefes übt Paulus exemplarisch evangelische Religionskritik an den Völkern und am Volk Gottes: die Übertretung des Bilderverbotes, die Gottesvorstellung oder Gottesanschauung, in der Schöpfer und Geschöpf verwechselt werden, ist das Kennzeichen der Religion der Völker (Röm. 1,18 ff.); die Übertretung des Verbotes, Gottes Namen zu mißbrauchen, der Mißbrauch des Gesetzes Gottes, um durch fromme Werke Gottes Gnade zu beschwören und die Religion der Völker religiös zu richten, ist die Versuchung des Volkes Gottes, in der es die Offenbarung und Verheißung Gottes in Religion und Gesetz verwandelt und "dasselbe" tut wie die Heiden (Röm. 2,1 ff.). Das Bilderverbot und um seinetwillen die Unterscheidung von Glauben und Schauen, das Verbot des Mißbrauchs des Namens Gottes und um seinetwillen die Unterscheidung von Evangelium und Gesetz2 sind die beiden Angelpunkte evangelischer Religionskritik. Sie wirken auf den religiösen Glauben als theoretisch intellektuelle und praktisch ethische Negation dessen, was ihm heilig ist.

So ist es nicht erstaunlich, daß Juden und Christen in der Antike ihrer Umwelt als atheoi erscheinen und als Gottesleugner verfolgt werden.3

Darum können Christen auch wissenschaftliche Religionskritik nicht schlechthin mit Unglauben identifizieren4 : Denn sie weist ja nur rational auf, daß Menschen sich in religiöser Welt-anschauung zu diesseitigen Mächten verhalten, als seien sie jenseitige Gottheiten. Objektiv steht sie damit nicht im Widerspruch zum Christusglauben, der den religiösen Glauben als Versuchung des Sünders erkennt, sich in geistlicher Selbstliebe auf sich selbst zu verlassen. Dabei ist es gewiß zweierlei, ob die Religion als Verfälschung wahren Glaubens erkannt wird, weil sie Geschöpfliches vergöttert, oder ob sie als Verfälschung richtiger Weltanschauung kritisiert wird, weil sie Diesseitiges verjenseitigt. 5

Faktisch aber kann der Atheismus als Kampf der Wissenschaft gegen menschliche Gottesbilder ungewollt und unbewußt die Verborgenheit Gottes respektieren und wirkt dann im Gegensatz zu allen theistischen und vielen agnostischen Weltanschauungen als weltanschauliche Negation der natürlichen Theologie. So kann nichtreligiöse Weltanschauung ungewollt und unbewußt ein Schutz sein vor dem Mißbrauch des Namens Gottes für weltliche Ziele und Zwecke. 6

Ist solches Einverständnis evangelischer Theologie mit weltanschaulichem Atheismus nun aber Negation der religiösen Widerspiegelung als solcher und überhaupt? Oder bezeichnet es lediglich die Negation aller anderen Religionen als religiones falsae im Absolutheitsanspruch der eigenen, jüdisch-christlichen Religion als religio vera ? 7

Diese Alternative entscheidet sich daran, ob es Gott ist, der allen Göttern sich selbst entgegenstellt, oder ob es nur die Glaubenden sind, die den anderen Göttern ihren Gott entgegenstellen 8;

ob also die Differenz zwischen Gott und Götzen in der Wahrheit Gottes oder in der Subjektivität des Glaubens, in einem religiösen Werturteil, begründet ist. Diese Alternative ist mit der Offenbarung Gottes dahingehend entschieden, daß der Christusglaube gegenüber religiöser Weltanschauung nicht eine andere, sondern keine religiöse Weltanschauung ist, so gewiß der Glaube Produkt des Wortes Gottes und nicht das Wort Gottes Produkt des Glaubens ist. Eben dies ist aber nicht sichtbar. Empirisch-sichtbar erscheint die Entgegensetzung Gottes gegen die Götter menschlicher Religionen als Glaubensentscheidung und nicht als Entscheidung Gottes: das Wort, das den Glauben schafft und trägt, wird ja nicht anders erkannt als im Glauben.

So kann auch wissenschaftliche Weltanschauung, weil Gott nicht in der Anschauung der Welt, sondern im Hören auf sein Wort erkannt wird, nicht hinter den - ihr nur als Bewußtseinsphänomen zugänglichen - Glauben zurückfragen nach dem Grund, den er in Gottes Wort hat, sondern nur nach den Gründen, die er in der Welt haben könnte, also nach seinen gesellschaftlichen, historischen und psychologischen Ursachen und Bedingungen. Auch den Christusglauben kann sie darum nicht anders verstehen denn als religiöse Widerspiegelung natürlicher und gesellschaftlicher Mächte.

Obwohl Christen ihren Glauben, im Vertrauen, daß er ein Produkt des Wortes Gottes ist, nur als etwas religiösem Weltverständnis schlechthin Entgegengesetzte erkennen können, können auch sie das Phänomen christlicher Gläubigkeit nur sehen und begreifen als spezielle Religion unter und neben anderen Religionen. Auch Christen sind Menschen, sehen und erkennen die Welt und Wirklichkeit wie alle Menschen, denken wissenschaftlich und dürfen das; und in solcher Anschauung wird ihnen die psychische Wirklichkeit des Glaubens als menschlichen Bewußtseins schlechthin nicht in einem grundsätzlichen Gegensatz zum Wesen der Religion sichtbar. So können, werden und dürfen Christen ihren Glauben - selbstkritisch - auch als menschliches und insofern als Religion in Erscheinung tretendes Bewußtsein sehen und analysieren, materialistisch, historisch, soziologisch und psychologisch erklären.9 Sie können und dürfen das, gerade weil und insofern sie den Glauben aufs Wort als Gabe Gottes und die An-schauung der Welt als Erkenntnis des Menschen unterscheiden und nicht verwechseln. Der religions-kritisch-wissenschaftliche Blick auf alle in der Welt sichtbaren Phänomene einschließlich des menschlichen Bewußtseins des eigenen Glaubens gehört zur legitimen Weltanschauung von Christen, gerade wenn sie erkennen, daß die Versuchung, Schöpfer und Geschöpf, Bekenntnis zum Wort und Erkenntnis der Welt, Gottesoffenbarung und Weltanschauung illegitim zu verwechseln und zu vermischen, die religiöse Versuchung ist.

So sehen Christen freilich in der Religion nicht nur den Irrtum eines verkehrten Bewußtseins in der Gestalt religiöser Weltanschauung, sondern erkennen in ihr zugleich und in Verbindung damit die Versuchung zu einem verkehrten Gottesdienst in der Gestalt des religiösen Glaubens, der Gott verleugnet, indem er die Welt vergöttert. 10

Der Christusglaube steht in diametralem Gegensatz zu solchem religiösem Glauben. Er erkennt ihn als Unglauben, sofern Menschen sich in ihm heidnisch (und also in Unkenntnis der Offenbarung Gottes) auf Götter verlassen, die das Werk ihrer eigenen Phantasie, nur Gottesbilder, Vorstellungen, Illusionen und Projektionen sind; er erkennt ihn als durch die Verleugnung der Gnade Gottes qualifizierten Unglauben, sofern Menschen sich in ihm judaistisch (das heißt: in Kenntnis der Offenbarung Gottes) Gott selbst gegenüber auf sich selbst verlassen. Gerade so ist religiöser Glaube die Versuchung für Christen und Juden, nicht auf Gott selbst, auf sein Wort und seine Verheißung, sondern auf ihre eigenen Werke, Hoffnungen, Sehnsüchte und auf ihre Frömmigkeit zu vertrauen.

So entziehen sich Menschen in der Religion der Anbetung Gottes und der Beherrschung der Erde, indem sie die Kreatur vergöttern und ihr gehorchen; so entziehen sie sich in ihrer Religion der Liebe Gottes, die ihnen gilt, und der Liebe zum Nächsten, die sei ihm schulden, indem sie sich selbst, ihre ewige Identität, Seligkeit und Gerechtigkeit zum Ziel alles Begehrens, aus Gott aber ein Mittel zum Zweck der Befriedigung dieser ihrer religiösen Bedürfnisse machen.

In religiösem Glauben können wir Gott genau dort nicht suchen und finden wollen, wo Gott selbst die Gemeinschaft mit den gottlosen Menschen sucht, wo er sich selbst erniedrigt und sein Leben hingibt für die vielen: am Kreuz Christi! Denn in der Religion wollen wir ja uns selbst zur Gemeinschaft mit Gott bestimmen, selbst unser ewiges Leben begründen, selbst unsere Seligkeit verdienen und schaffen und uns selbst zu Gott erheben und erhöhen.

Alle Religionen (und ihnen allen voran das Christentum, wo es darin aufgeht, Religion zu sein) lassen Gott nicht Gott sein, sondern meinen, wenn sie von Gott reden, das Prinzip der Schöpfung (theologia naturalis) oder das Ziel und den Zweck frommen Seligkeitsverlangens (theologia gloriae). Der Christusglaube aber meint, wenn er von Gott redet, den Gott, der der Schöpfer, nicht aber das Prinzip der Schöpfung ist, den Gott, der der Ewige, nicht aber das ewige Sein ist, nach dem wir uns als Sünder sehnen und in das wir eingehen möchten, sondern der Gott, der zu den Sündern auf die Erde kommt und sie - gegen ihre Sehnsucht nach Selbstverewigung und Selbstvergötterung! - zu sich ins Leben ruft. Zu ihm können sich Menschen nicht religiös erheben, aber er läßt sich herab zu ihnen. Denn er ist der Gott, der nicht die Menschen zur Vergöttlichung, sondern sich selbst zur Menschwerdung bestimmt, der Gott,

der nicht allein der Gott der Frommen, sondern der Gott der Gottlosen ist (Röm. 3, 29). Darum erkennt der Christusglaube Gott weder in dem, den alle Religionen meinen, noch in dem, was die wissenschaftliche Religionskritik als das von allen Religionen Gemeinte aufweist und verwirft.

Es ist der Skandal des Christusglaubens, daß wir Gott nur in dem leidenden, sterbenden, verfluchten Menschen Jesu finden; und daß wir - wie Atheisten! - in dem, was andere anbeten, nur Hypostasierungen unbeherrschter diesseitige Mächte und Sehnsüchte religiöser Selbstsucht erkennen. Es ist der Unsinn des Christusglaubens, daß wir in dem leidenden, sterbenden, verfluchten Menschen Jesus unseren Herrn und Gott, den einzigen Trost im Leben und im Sterben finde; und daß wir - wie Religiöse! - hier von Gott, dem ewigen Sohn des ewigen Vaters sprechen. Sehen wir den Christusglauben als religiöse Menschen, dann wirkt er auf uns als ein antireligiöser Skandal - den Juden ein Ärgernis! Sehen wir ihn als religionslose Menschen , dann erscheint er uns als religiöser Unsinn - den Heiden eine Torheit!

Auch wir Christen können unseren Glauben, wenn wir redlich denken, nur allzu gut als Torheit und Ärgernis sehen, verstehen und begreifen; daß wir uns selbst als Sünder und Toren, das Ärgernis des Kreuzes aber als Gottes Segen und die Torheit des Kreuzes als Gottes Weisheit anerkennen und glauben, ist die wunderbare Wirklichkeit des Glaubens als des Werkes und Geschenkes Gottes, aber keine Möglichkeit des gläubigen religiösen Bewußtseins.(1. Kor. 1,18-29)

*

Der Christusglaube ist keine Weltanschauung - weder eine religiöse noch eine nichtreligiöse. Aber die Menschen, die an Christus glauben, sehen die Welt - sie sehen sie religiös oder nichtreligiös.

Durch die ganze Geschichte des alten Israel und den Großteil der bisherigen Kirchengeschichte hindurch waren die herrschenden und allgemeinen Weltanschauungen religiöse Weltanschauungen: unsere Vorfahren dachten weltanschaulich religiös, und unter den Bedingungen ihrer Zeit konnten sie gar nicht anders denken.11 In der bürgerlichen Gesellschaft gerät die religiöse Weltanschauung in ihre Krise, und in der sozialistischen Gesellschaft beginnt sie abzusterben.

Aber diesem revolutionären Umbruch in der herrschenden Weltanschauung und der Diskontinuität zwischen religiöser und nichtreligiöser Ideologie steht die Treue des Wortes Gottes und die Kontinuität des Inhalts unseres Glauben gegenüber.

Unsere Vorfahren haben sich unter den Bedingungen der gesellschaftlich allgemeinen und in ihrer eigenen religiösen Weltanschauung theologisch darum bemüht, ihren Christusglauben von ihrer Weltanschauung abzugrenzen, Gott von den Göttern zu unterscheiden, die Rechtfertigung der Gottlosen nicht im religiösen Seligkeitsverlangen der Frommen aufgehen zu lassen. Unter den Bedingungen der sich immer weiter verbreitenden, auf naturwissenschaftlichem Gebiet bereits in der bürgerlichen, auf gesellschaftswissenschaftlichem Gebiet auch in der sozialistischen Gesellschaft herrschenden wissenschaftlichen Weltanschauung, die Christen zunehmend mit der Gesellschaft teilen, in der sie leben, wird ihre Aufgabe nur dringlicher, ihren

Christusglauben gegenüber dem abzugrenzen, was sie zunehmend als religiöse Widerspiegelung durchschauen: den Gott, dem sie glauben, von den Anschauungen zu unterschieden, die Hypostasierungen, Projektionen und Chiffren des höchsten Wesens meinen, und die Rechtfertigung der Gottlosen nicht aufgehen zu lassen im christlich gedeuteten oder motivierten Ethos sozialer Gerechtigkeit.

Dieser Kampf gegen die Verwechslung der Offenbarung Gottes und des Evangeliums mit religiöser Gottesvorstellung und religiösem Seligkeitsverlangen durchzieht - durchaus in den Formen religiöser Weltanschauung gedacht - bereits das Alte und das Neue Testament.

Dieser Unterscheidung der Selbstoffenbarung Gottes von der Religion dienen bereits das zweite Gebot, das Verbot, sich von Gott eine Vorstellung zu machen (ein Bild dessen über der Erde) oder sich Weltliches als Gott vorzustellen und es anzubeten (ein Bild dessen auf der Erde) oder sich in die anbetende Anschauung des Unter - und Antiweltlichen zu versenken (ein Bild dessen unter der Erde) und so dem Nihilismus zu verfallen, und das dritte Gebot, das verbot, den Namen Gottes zu mißbrauchen, nämlich ihn zu benutzen statt zu ehren, wie der religiöse Mensch geneigt ist, Gott nur zu „ehren", weil er ihn braucht.

Paulus unterscheidet dann sein Evangelium zuerst von der Verehrung der Heiden, in der die Unsichtbarkeit Gottes nicht respektiert, Schöpfer und Geschöpf verwechselt werden und über die der Zorn Gottes darin offenbar wird, daß er die Menschen diesem unnützen Tun überläßt. Zentral beherrschend aber wird dann für seine Theologie die Unterscheidung des Christusglaubens von derjenigen Religiosität, in der die Sünde des Volkes Gottes selbst besteht, in der nämlich Menschen sich nicht sogenannten Göttern, sondern Gott selbst gegenüber „religiös" verhalten, ihre eigene Gerechtigkeit über Gottes Gnade, ihr eigenes Heil über Gottes Ehre stellen: diese Verwechslung wahren Glaubens mit religiöser Sehnsucht meint und trifft Paulus mit seiner Polemik gegen die im Gesetz gesuchte eigene Gerechtigkeit aus den Werken.

Dabei ist nicht das Gesetz Gottes, sondern die Werkgerechtigkeit mit der Religion zu identifizieren. Sie schafft erst das eigentlich „religiöse Gesetz", indem sie Gottes Gesetz zum Mittel macht, um die Freiheit der Gnade Gottes durch das Gesetz zu beschränken und die Freiheit der Entscheidung des Menschen durch das Gesetz zu begründen. Der dem Volke Gottes eigentümliche Götzendienst ist die Vergötterung des Gesetzes gegen Gott: „Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muß er sterben" (Joh. 19,7): der Sohn Gottes, der - den Gottgläubigen unerträglich - für die Gottlosen stirbt.

Diesem biblischen Zeugnis treu richtet sich die reformatorische evangelische Polemik gegen die Verwechslung von Evangelium und Religion im römischen Katholizismus. Sie greift dort die heidnische Linie natürlicher Theologie, den „religiösen Fiktionismus des natürlichen Gottesbildes" ebenso an wie die judaistische Linie der Gesetzesfrömmigkeit, den „ethischen Illusionismus des natürlichen Gottesverhältnisses".12 Beides kann Luther zusammenziehen in den Satz: "Iustitia operum est verissima et per se idolatria" (Werkgerechtigkeit ist im wahrsten Sinne und durch sich selbst Götzendienst) 13 So dürfte Ernst Wolf sachlich recht haben, wenn er formuliert: „Luthers vom Evangelium her vollzogene Kritik aller Religion ... heißen wir das Werk der Reformation ... schlechthin..." Denn: „das Evangelium und die Religionen, das ist

bei Luther eine andere Formulierung des einen Problems, das mit der Formel Rechtfertigung allein aus Glauben beantwortet wird." 14

Für das religiöse Denken im sechzehnten Jahrhundert klingt es - so zweideutig dieser Subjektivismus ist 15 - erstaunlich rational-nichtreligiös, wenn der junge Luther sagen kann: „Qualis est enim unusquisque in seipso, talis est ei Deus in obiecto" („Wie nämlich einer in sich selbst beschaffen ist, so ist ihm Gott im gegenständlichen Gegenüber) 16 , und wenn der alte Luther den (religiösen?) Gottesbegriff gänzlich auflöst in die Subjektivität des menschlichen Gottesverhältnisses: „Worauf du nun ... dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott" 17 Luthers Verdikt über die natürliche Theologie lautet: „Also spielt auch die vernunfft der blinden kue mit Gott und thut eytel feyl griffe, und schlecht ymer neben hin, das sie das Gott heysst, das nicht Gott ist; und widderumb nicht Gott heysst das Gott ist ... und trifft also nymer mehr den rechten Gott, sondern allewege den teuffel odder yhr eygen dunckel, den der teuffel regirt." 18

Zentraler aber trifft Luther die Religion damit, daß er in der Sehnsucht des natürlichen Menschen, nach Gottes Gesetz durch eigene Werke zu sich selbst zu kommen, die Sünde des Menschen aufdeckt. Der Satz: „Non ‘potest homo naturaliter velle deum esse deum’, immo vellet se esse deum et deum non esse deum" („Der Mensch kann von Natur nicht wollen, daß Gott Gott sei, vielmehr will er, daß er Gott sei und Gott nicht Gott sei"),19 stellt der Religion aller Frommen das Evangelium für die Gottlosen entgegen. Von da aus wird das vom Frommen zu seiner Selbstrechtfertigung benutzte Gesetz - die lex carnalis - zur Chiffre, unter der die Religion theologisch in ihrem Wesen kritisiert wird.

 

Diesem religiösen Menschen tritt der nach Gottes Gesetz gekreuzigte Christus entgegen als der Befreier vom Gesetz: „und durch diesen artickel wird unser glaube gesondert von allen glauben auff erden." 20

*

Ähnlich wie für Luther, aber doch anders 21 , gehören auch für den jungen Karl Barth Religion und Gesetz zusammen. „Genau jenseits der in der Religion kulminierenden Humanität" wie eben jenseits des Gesetzes - ereignet sich „die Unmöglichkeit, die nur in Gott Möglichkeit ist", nämlich „die Freiheit, in der wir begnadigt sind": das Evangelium. Einerseits ist die „Grenze der Religion ... identisch mit der Grenze des Menschenmöglichen überhaupt" 22 und damit mit dem menschlichen Leben und der Menschlichkeit des Menschen. Andererseits gilt strikt von außen her die Begrenzung: „Auf Golgatha wird mit allen menschlichen Möglichkeiten auch die religiöse Gott geopfert und preisgegeben ... Golgatha ist das Ende des Gesetzes, die Grenze der Religion.23

Nun greift aber, kraft der Identifizierung der Religion mit dem Gesetz, die Dialektik des Gesetzes auch auf die Religion über: Bedeutet das Ende des Gesetzes nicht die Ziellosigkeit des Gesetzes, so die Grenze der Religion nicht die Sinnlosigkeit der Religion. Hier liegt ein Unterschied zwischen dem jungen Barth und Paulus, weithin auch zwischen ihm und Luther. Während bei Luther wie bei Paulus die Einheit von Ziel und Ende des Gesetzes in der Gesetzeserfüllung Jesu Christi liegt, kann diese Einheit so eben nicht auf die Religion übertragen werden, und darum schlägt nun bei Barth - trotz manch absichernder Zwischenglieder - die Grenze der Religion sozusagen aus sich selbst um in den Sinn der Religion: „... die wahre Krisis, in der sich die Religion befindet, besteht darin, daß sie vom Menschen nicht nur nicht abgeschüttelt werden kann ‘solange er lebt’, sondern auch nicht abgeschüttelt werde soll, gerade weil sie für den Menschen als Menschen (für diesen Menschen!) so bezeichnend ist, gerade weil in ihr die menschlichen Möglichkeiten begrenzt sind durch die göttliche, und weil wir, im Bewußtsein, daß hier Gott nicht ist, daß wir aber auch keinen Schritt weiter gehen können, bei dieser menschlichen Möglichkeit haltmachen und verharren müssen, damit uns jenseits der Grenze,

die durch sie bezeichnet ist, Gott begegne ... Etwas von dieser Krisis ist der Sinn aller Religion".24

Darin, daß in dieser Identifikation von Gesetz und Religion natürliche Theologie, natürliches Gesetz und das offenbarte Bundesgesetz Gottes faktisch identifiziert werden - solche Tendenz gibt es schon beim späten Luther - liegt die eigentliche theologische Gefahr dieses Durchgangsstadiums evangelischer Religionskritik. Was vom - von Christus erfüllten! - Gesetz Gottes gilt, es sei heilig, gerecht und gut (Röm. 7,12), das gilt eben nicht von Religion, natürlicher Theologie und lex naturalis. Ist schon der Satz bedenklich, daß der Sinn des Gesetzes die Erkenntnis der Sünde sei, wenn nicht sogleich hinzugefügt wird, die Sünde werde daran erkannt, daß das Gesetz zum Tode dessen führt, der der Welt Sünde trägt, und also im Kreuz Christi, so ist erst recht die These unhaltbar - und von Barth auch aufgegeben worden - es sei der Sinn der Religion, „daß in der Religion die Sünde zur anschaulichen Gegebenheit unserer Existenz wird." 25 Was Barth der Religion zuschrieb: „Die Wirklichkeit der Religion ist das Entsetzen des Menschen vor sich selbst" 26 das ist weder die Wirkung der Religion noch die Wirkung des Gesetzes an sich, sondern die Wirkung des Gesetzes in Christo.

Der „Römerbrief" Barths war eine „Vorarbeit" - eine aufrüttelnde, den Finger in wahrlich offene Wunden legende, zündende Vorarbeit - und als solche ein Aufbruch, über den Barth schnell hinausgegangen ist. Er hat selbstkritisch gesehen, daß der biblisch-ekklesiologische Bezug des Gesetzes verloren geht, wenn man den Gesetzesbegriff anthropologisch ausweitet zum Begriff der Religion; daß Gottes Gebot an das natürliche Gesetz ausgeliefert wird, wenn man die Kategorie des Gesetzes wie ein religiöses Existential faßt; daß das Evangelium, das doch universal, umfassend allen gilt, zu etwas dem Gesetz gegenüber Partikulären wird, wenn man das doch partikulär dem Volke Gottes gegebene Gesetz so universal begreift. So setzt Barth 1938 in der Kirchlichen Dogmatik (1/2, § 17) an die Stelle der Gleichung von Religion und Gesetz die Dialektik von der „Offenbarung Gottes als Aufhebung der Religion".

Beherrscht wird dieser Paragraph in seiner Mitte von der Antithese. „Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muß geradezu sagen die Angelegenheit des gottlosen Menschen. ... Religion, von der Offenbarung her gesehen, wird sichtbar als das Unternehmen des Menschen, dem, was Gott in seiner Offenbarung tun will und tut, vorzugreifen, an die Stelle des göttlichen Werkes ein menschliches Gemächte zu schieben, will sagen: an die Stelle der göttlichen Wirklichkeit, die sich uns in der Offenbarung darbietet und darstellt, ein Bild von Gott, das der Mensch sich eigensinnig und eigenmächtig selbst entworfen hat."

Eingeklammert aber ist diese beherzigenswerte Antithese von der ihr vorangehenden These: „Gottes Offenbarung ist tatsächlich Gottes Gegenwart und also Gottes Verborgenheit in der Welt menschlicher Religion 27 und der ihr folgenden Synthese: „es gibt eine wahre Religion: genauso wie es gerechtfertigte Sünder gibt. Indem wir streng und genau in dieser Analogie bleiben - und sie ist mehr als eine Analogie ... -, dürfen wir nicht zögern, es auszusprechen: Die christliche Religion ist die wahre Religion".28

 

Gerade „streng und genau in dieser Analogie" denkt Barth aber hier nicht, denn nicht um die Rechtfertigung der Sünde, sondern des Sünders geht es, und - gewiß in dieser Analogie! - nicht um die Rechtfertigung der Religion, sondern um die Rechtfertigung der Religiösen als wahrhaft Gottloser. Dies aber verdeckt die falsch angelegte Dialektik von der in der Offenbarung „aufgehobenen", bewahrten, freilich auch negierten, dann aber auf eine höhere Ebene erhobenen und bestätigten Religion.

Es war gut und nötig, daß in dieser Wiederaufnahme der Frage nach der Unterscheidung von Christusglauben und Religion sowie der reformatorischen Religionskritik von Gottes Offenbarung her die Überheblichkeit von Christen in ihrer vermeintlichen Frömmigkeit und Religiosität gegenüber den vermeintlich unrettbar „Gottlosen", und also der christlich formierte Pharisäismus getroffen wurde. Aber diese Kritik, die die Religion so global als Gesetz im Sinne einer lex naturalis, so umfassend und undifferenziert hinsichtlich des Unterschiedes zwischen Juden und Heiden, Frommen und Gesetzlosen als Unglauben faßte, war unfähig, den Unterschied zwischen Religion und Religionslosigkeit ernst zu nehmen. Sie relativierte den immanenten Gegensatz zwischen religiöser und nichtreligiöser Weltanschauung und trug damit bei zu einer theologisch begründeten Indifferenz gegenüber historischem Optimismus und gesellschaftlichem Rationalismus; sie förderte ideologisch einen gesellschaftlichen Neutralismus und hemmte den ideologischen Fortschritt von Christen.

*

Dietrich Bonhoeffer setzt mit seiner Frage nach dem „religionslosen Christentum" 29 dort ein, wo Barth aufhört. Er bejaht Barths Ansatz. Aber er faßt Religion und Gesetz nicht abstrakt anthropologisch, sondern die Religion konkret geschichtlich und das Gesetz konkret ekklesiologisch, wenn er beide Begriffe nicht miteinander identifiziert, sondern kirchengeschichtlich vergleicht: „Die paulinische Frage, ob die Peritomé (Beschneidung) Bedingung der Rechtfertigung sei, heißt m.E. heute, ob Religion Bedingung des Heils sei. Die Freiheit von der Peritomé ist auch die Freiheit von der Religion." 30 Darum meint er, wir müßten in einer Weise reden, „die nicht die Religion als Bedingung des Glaubens (vgl. die Peritomé) voraussetzt." 31

Auch von dem Salto, in dem bei Barth die pauschale Gleichsetzung der Religion mit dem Unglauben in jene „Rechtfertigung" umschlägt, kraft deren alsdann der Glaube mit wahrer Religion identifiziert wird, hält Bonhoeffer sich frei. Hier denkt er konkreter und differenzierter dialektisch als Barth. In oft wörtlichem Anklang an Luther sieht er den religiösen Menschen als denjenigen, der um seiner selbst willen Gott braucht 32 , sowohl innerlich und individuali-stisch 33 als Sinngeber an den Grenzen des Lebens 34 und als Helfer in der Not, als auch metaphysisch 35 zur Welterklärung als Lückenbüßer menschlicher Erkenntnis 36 und als „deus ex machina" 37 bei menschlichem Versagen. Zugleich sieht er, daß mit zunehmender menschlicher Welterkenntnis und Weltbeherrschung, mit dem „Mündigwerden der Welt" 38 dieser Gott immer weiter zurückgedrängt wird 39. Dieser „Allmächtige" aber, der um des menschlichen Selbstverständnisses und der menschlichen Welterkenntnis willen in religiöser Zeit gebraucht wurde, aber in der religionslos werdenden Zeit immer weniger gebraucht wird, ist nicht der Gott der Bibel

Bonhoeffer kann sogar sagen, daß die „Entwicklung zur Mündigkeit der Welt, durch die mit einer falschen Gottesvorstellung aufgeräumt wird, den Blick frei macht für den Gott der Bibel" 40 - eine bedenkliche Aussage, weil sie zwischen Gottes Offenbarung und einer gesellschaftsgeschichtlichen Entwirklung nicht zureichend unterscheidet. Aber der eigentliche Grund der Abwendung Bonhoeffers vom religiösen Verständnis des Christentums und seines Kampfes dagegen, daß eine religiöse Weltanschauung als Bedingung oder Konsequenz des Christusglaubens verkündigt, sozusagen eine weltanschauliche Beschneidung als Preis der Gnade verlangt wird, liegt nicht in seiner weltanschaulichen Erkenntnis der „Entwicklung zur Mündigkeit der Welt", sondern seiner theologischen Erkenntnis der im Wort vom Kreuz begründeten christlichen Freiheit, die er von Paulus und Luther übernimmt: Nicht auf dem Weg von unten nach oben kommt der Mensch zu Gott - das ist der Weg aller Religion, seitdem die Schlange im Paradies versprach: „Eßt! Und ihr werdet sein wie Gott" -, sondern auf dem Weg von oben nach unten kommt Gott zu den Menschen. Das ist der Weg der Offenbarung, seitdem Gott versprach: zu seinem Bilde schuf er ihn, Gott den Menschen, nicht der Mensch Gott. Von daher - keineswegs im Widerspruch dazu ergibt sich eine legitime „Theologie von unten", eben die Kreuzestheologie.

 

In diesem Sinne gelten die grundlegenden Entgegensetzungen Bonhoeffers: „Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen." 41 „‘Christen stehen bei Gott in seinem Leiden’ 42, das unterscheidet Christen und Heiden ... Das ist die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, die Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden. Er muß also wirklich in der gottlosen Welt leben und darf nicht den Versuch machen, ihre Gottlosigkeit irgendwie religiös zu verdecken, zu verklären; er muß ‘weltlich’ leben und nimmt eben darin an dem Leiden Gottes teil; er darf ‘weltlich’ leben, d.h. er ist befreit von den falschen religiösen Bindungen und Hemmungen". 43 „Unser Verhältnis zu Gott ist kein ‘religiöses’ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen - dies ist keine echte Transzendenz -, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ‘Dasein für andere’, in der Teilnahme am Sein Jesu. Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbar Nächste ist das Transzendente". 44

Bonhoeffer hat durchaus recht, wenn er nicht nur seine Theologie des Kreuzes, sondern auch und gerade die in ihr begründete Tendenz nach unten, vom Himmel auf die Erde, vom Jenseits zum Diesseits, die Tendenz der Entgötterung der religiösen Figmente zu weltlichen Dingen in Luthers Theologie vorgegeben sieht: „Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt. Nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus - im Unterschied wohl zu Johannes dem Täufer - Mensch war ... Ich glaube, daß Luther in dieser Diesseitigkeit gelebt hat." 45

In der nirgends anders als unter dem Kreuz, in der „Teilnahme am Sein Jesu" und also im Verzicht darauf, „aus sich selbst etwas zu machen", in der Selbstverleugnung in Christo begründeten Freiheit, „von den falschen religiösen Bindungen und Hemmungen" 46 kann Bonhoeffer nun auch die Welt religionslos sehen, indem er sich unreligiös - ohne Metaphysik, Innerlichkeit und Individualismus - auf Gottes Wort, das Wort vom Kreuz verläßt.

Bonhoeffer tritt das religionskritische Erbe der Reformation an, indem er sich von deren gesellschaftlich konservativen, kirchlich restaurativen und weltanschaulich pessimistischen Traditionen zunehmend löst. Und er nimmt zugleich das Erbe der frühbürgerlichen Revolution auf, indem er sich von den dieses Erbe begleitenden religiösen Traditionen, von Enthusiasmus, Utopismus, Gesetzlichkeit, Ethizismus, Skeptizismus und Geschichtstheologie trennt. So aktualisiert er für das 20. Jahrhundert, was den Höhepunkt der Theologie Luthers in der Reformationszeit bezeichnete: Die Bindung des Glaubens allein an das Wort vom Kreuz und eben darin die Freiheit des Denkens und Tuns für den Nächsten und gegenüber der Welt. So hat er begonnen, in einem von religiöser Weltanschauung zunehmend freien Denken nachzudenken über die nichtreligiöse Botschaft: „Alles ist euer - ihr aber seid Christi." (1. Kor. 3, 23).

 

ANDERS ALS 1933 ...

von Vera Mika

Anders als 1933, d.h. ohne braunen Terror, konfrontieren die Kräfte des deutschen Großkapitals die Bevölkerung mit einer neuen Welle imperialistischer Barbarei. Dafür sind gewichtige Grundlagen wirksam, die diesen gesellschaftlichen Niedergang ermöglichen und stützen. Das sind vor allem :

Parlamentarischer Theaterdonner verschleiert, daß die etablierten Parteien in gleicher Marschrichtung danach streben, für das Großkapital die bestmöglichen Maßnahmen und Wege zu finden, dessen Reichtum, Macht und internationale Geltung zu erhöhen. Da sich z.Zt. ernsthafter Widerstand gegen die politische Reaktion noch nicht formiert hat, geht der Streit um Tempo und Ausmaß der volksfeindlichen Maßnahmen und auch darum, welche Partei für ihre Verdienste in diesem makabren Geschäft Regierungsposten und lukrative Ämter für sich beanspruchen kann. Die so genannte christliche Union möchte gern alles Negative noch etwas schneller und radikaler, sie wäre gern auch schon beim Irak-Krieg dabei gewesen. Sie übersieht z.T. daß die SPD traditionsbedingt größere Möglichkeiten hat, aufkommende Proteste auszubremsen und niederzuhalten. So verkündet denn auch Bundeskanzler Schröder, wenn wir da nicht vorangehen, dann machen das andere und „wir verlieren die Macht", gemeint sind die Staatsämter. Ungeachtet solch partieller Meinungsverschiedenheiten unter führenden Parteien zielt die Strategie der Kräfte des deutschen Großkapitals darauf, die mit der Liquidierung sozialistischer Staaten eingeleitete konterrevolutionäre Wende unter anderem mit Konterreformen und modifiziertem Antikommunismus zu vollenden. Drei Eckpunkte dieser Strategie sind gegenwärtig sichtbar.

Das ist erstens der Großangriff auf die Lebensqualität von Millionen Menschen mit einem ganzen Bündel antisozialer Maßnahmen, die nach Einschätzung von Attac 80 % der Bevölkerung in Mitleidenschaft ziehen, Armut und Existenzunsicherheit verbreiten. Der von der Arbeiterbewegung in langwierigen Kämpfen errungene kulturelle Anteil an den Reproduktionskosten der Arbeitskraft wird samt tariflicher Vereinbarungen abgebaut. Reformen gegen die Gesundheit, gegen Kranke, gegen Arbeitslose, gegen Rentner, gegen die kleinen Steuerzahler, gegen das ganze Sozialsystem werden in die Wege geleitet. Die Agenda 2010 ist – wie amtlicherseits betont - nur der Anfang der Sache, für die mit Roman Herzog schon weitere zu Felde ziehen.

Das ist zweitens der Kurs auf eine neue Kriegspolitik, deren Vorläufer mit der Zerschlagung Jugoslawiens markiert ist. Militärische Um- und Neuausrüstung zielen darauf, die Bundeswehr

auch im Verbund mit europäischen Partnern für weltweite Interventionen zu befähigen, um dem Expansionsdrang des Großkapitals neue Ausbeutungsgebiete zu erschliessen und zu sichern. Dafür wird nicht an Milliardenbeträgen gespart . Dieser Kurs wird z.T. im Schatten einer Kritik am USA Krieg gegen den Irak vorangetrieben, lenkt mitunter Friedenskräfte von dem im Aufbau befindlichen deutschen Kriegskurs ab und strebt nach geeigneten UNO-Mandaten, künftige Interventionsvorhaben zu deckeln. Die Unionsparteien drängen in der Kriegs-politik auf eine Vorreiterrolle und möchten schnell jede Möglichkeit ausräumen, daß die Enthaltsamkeit der Regierung beim Irak-Krieg von Friedenskräften mißverstanden und für eine wirkliche Friedenspolitik genutzt werden könnte. Große Antikriegsdemonstrationen hat es ja gegeben, und die könnten gegebenenfalls in einer anderen Richtung wirksam werden. Frau Merkel hat vorsorglich schon den Pazifismus als einen schlimmen Feind ausgemacht, den es auszumerzen gilt.

Der dritte Eckpfeiler dieser Strategie besteht darin, nach der Liquidierung sozialistischer Machtverhältnisse die noch verbliebenen Grundlagen eines möglichen Widerstandes gegen die volksfeindliche Politik auszuräumen Da geht es auch bescheidenen bürgerlich demokratischen Freiheiten an den Kragen. Für Akzeptanz soll ein System von Lügen sorgen. Unter anderem ist die faschistische Lüge vom Volk ohne Raum durch die Lüge vom Staat ohne Geld ersetzt worden. Durch eine gezielte Einnahme- und Ausgabepolitik wird ein steigendes Haushaltsdefizit organisiert, mit dem die Notwendigkeit des Sozialabbaus „begründet" wird. Daneben wächst der Reichtum der Begünstigten und der zinskassierenden Banken. Zum Beispiel hat sich das Vermögen der Milliardäre in der BRD in den letzten 12 Jahren mehr als verdoppelt und entspricht jetzt fast dem Bundeshaushalt 2004.

Eine andere Lüge ist die von der demographischen Rentenmisere, nach der die wachsende Zahl der Rentner von der kleiner werdenden Zahl Berufstätiger am Leben erhalten werden müßte, was Kürzungen bei den Renten notwendig mache. Hier wird unterschlagen, daß im Ergebnis wachsender Arbeitsproduktivität die auf zwei Drittel geschrumpfte Zahl der Berufstätigen nach wie vor die gesamten Existenzbedingungen der Gesellschaft sichert, so daß weder Lohnempfängern, Arbeitslosen, Rentnern und anderen Normalbürgern das Einkommen abgebaut werden müßte. Außerdem wachsen ohne jeglichen Sparzwang die Milliardenausgaben für Rüstung, Luxusleben und Akkumulationsfonds des Großkapitals trotz der verringerten Zahl der Berufstätigen.

Verstärkt und z.T. „modernisiert" werden die Lügen über die DDR. So kursieren neben alten Lügen neue über das Unwesen von Killerkommandos der Staatssicherheit. Da im Angesicht des sozialen und kulturellen Kahlschlages andersgeartete Erfahrungen aus DDR-Zeiten lebendig werden, ist Neues angesagt. Sternchen und Sterne aus DDR Zeiten, mitunter sogar in FDJ Bluse, werden vorgeführt, und nach dem Verbot der FDJ und früheren Strafverfolgungen von FDJlern wird suggeriert, wie grenzenlos die Freiheit nicht nur über den Wolken, sondern auch in der BRD wäre. Außerdem kann man in Sendungen unter dem DDR Emblem erfahren, daß es da zwar gutes Waschpulver gegeben hat, mit Malimokleidung aber Schwitzen angesagt war, so daß es nicht schwer fallen dürfte, zu dieser Vergangenheit good bye zu sagen. Spürbar ist die Furcht, daß die Losung von der anderen Welt, die möglich ist, so verstanden wird, daß auch ein anders Deutschland möglich wäre.

 

Gestützt auf Erfahrungen mit der Fischer- und der Gysi– Methode, wie in oppositionsfähigen Parteien antikapitalistisches Denken und Handeln ausgeschaltet werden kann, geht es darum, mit Hilfe der Massenmedien in den aufkommenden Protesten und Bewegungen Einflußmöglichkeiten kommunistischer und antikapitalistischer Kräfte zu versperren. Zum Beispiel soll mit der konfrontativen Entgegensetzung einer neuen zur alten Linken verschleiert werden, was wirklich einer Erneuerung bedarf und was im Kampf gegen den Klassenfeind unabdingbar ist, wenn er Erfolg haben soll. Ein weiterreichendes Ziel imperialistischer Politik besteht darin, nach Möglichkeit die mitgliederstärkste kommunistische Organisation, die DKP, auf einen PDS-ähnlichen Kurs zu drängen und als alternative Kraft auszuschalten. Die angekündigte politische Grundsatzerklärung des Parteivorstandes der DKP läßt hierzu hoffentlich keine Frage offen. Der modifizierte Antikommunismus ist so etwas wie intellektuelle Euthanasie, der Versuch, lebenswichtige Erfahrungen des Klassenkampfes und entsprechende Denkfähigkeiten zum Absterben zu bringen.

Ohne ein Ermächtigungsgesetz zu bemühen, werden dem parlamentarische System bescheidene demokratische Rechte genommen. Verfassungsrechtliche Regelungen werden für das wachsende Staatsgebilde der Europäischen Union auf den Weg gebracht. Übergeordnete europäische Rechte lassen parlamentarische Strukturen einzelner Staaten einfach gegenstandslos werden, vor allem so wichtige wie über Krieg und Frieden. In der Zeit des ersten Weltkrieges gab es unter Linken die Überlegung, ob Vereinigte Staaten von Europa eine Option für Frieden und Fortschritt werden könnte. Lenin schätzte dazu ein, daß unter kapitalistischen Verhältnissen „Vereinigte Staaten von Europa" entweder unmöglich oder aber reaktionär sein würden. Möglich könnten sie sein als Abkommen der europäischen Kapitalisten, „wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken könnte" und als „Übereinkommen über die Teilung der Kolonien". Ähnliches haben wir ja nun mit der „Verteidigung Deutschlands am Hindukusch" und mit zusätzlichen Übereinkommen über gemeinsame Rüstung und Militärpolitik.

Um das Parlament als Tribüne für alternative Kritik und Aufklärung unbrauchbar zu machen, wirkt das Zusammenspiel von Bundestag und Bundesrat als praktizierte große Koalition, die in Worten in Abrede gestellt wird. Während die Medienmacht den Zugang alternativer Organisationen zum Bundestag erschwert oder blockiert, drängen die Praktiken der großen Koalition Unzufriedenheit und Kritikbedürfnisse massenhaft zu politisch wirkungsloser Wahlenthaltung. Negatives weiterführend wird die Handlungsfähigkeit der Kommunen mit der Sparflamme eingeschrumpft. Auf diese Weise hofft man, daß hier an der Basis noch vorhandenes soziales Verantwortungsbewußtsein dem antisozialen Regierungskurs nicht hinderlich werden kann.

Etwas unauffälliger wird der Demokratie-Abbau unter dem Firmenschild des Kampfes gegen den Terrorismus vorangeführt. Die hier getroffenen amtlichen Maßnahmen und verabschiedeten Gesetze sind vielleicht geeignet, einige Terroristen zu fassen, ganz sicher aber können sie zu gegebener Zeit Tausende Friedenskräfte in die Illegalität verbannen. Weitere Machenschaften beim Demokratie-Abbau richten sich gegen die Gewerkschaften, die besonders von Unternehmerverbänden verleumdet und attackiert werden. Zu ihrer Schwächung trägt vor allem bei, daß der generelle Abbau erkämpfter sozialer Reformen den Weg zu neuen blockiert. Zerstörerisch auf solidarisches Verhalten wirkt die kapitalgünstige Arbeitslosigkeit. Sie wird

durch den regierungsamtlichen Kurs auf Verlängerungen der Arbeitszeiten bis hin zur Lebensarbeitszeit nicht abgebaut sondern im Gegenteil verstärkt. Die traditionelle Verbundenheit gewerkschaftlicher Verbände mit der SPD ist gegenwärtig ein zusätzlicher Schwachpunkt, der die Kampfentschlossen der Gewerkschaften schwächt und Differenzen fördert

Eine spezifische Rolle beim Kampf gegen alternative Bestrebungen spielt die staatliche Duldung und geschützte Demonstrationstätikeit neofaschistischer Organisationen. Die stupide Glorifizierung der faschistischen Vergangenheit verdeckt, daß Vertriebenenverbände, bestimmte Parteien und staatliche Institutionen danach streben, Verantwortlichkeit und Schuld Deutschlands an Faschismus und Krieg zu relativieren und in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie dient im weiteren als Provokation gegen antifaschistische Kräfte, die bei notwendigen Aktivitäten erneut den Knüppel staatlicher Repression zu spüren bekommen. Hier wirken auch Rachegefühle der alten Obrigkeiten bei der Erinnerung an erlittene Niederlagen durch die Aktionseinheit antifaschistischer Kräfte. Wenn die geduldeten Gruppen mit militantem Antisemitismus einmal aus der Reihe tanzen, wird das zum Anlaß, die Notwendigkeit verstärkter Repression auch gegen Links zu fordern, was dann auch vordringlich praktiziert wird. Nicht zuletzt können die mit Hilfe vom Verfassungsschutz zu Fall gebrachten Verbotsanträge dafür sorgen, daß solche Gruppen unter Umständen auch einmal fürs Grobe genutzt werden können (eine SA existiert ja nicht mehr).

Der Einblick in die politische Konzeption der großkapitalistischen Kräfte und in aktuelle politische Verhältnisse bringt viele Vorteile. Er macht deutlich, was gegenwärtig an Protesten wirklich alternatives Gewicht hat. Wo Sparmaßnahmen lediglich etwas gemildert werden sollen, verbleibt die Kritik im Wirkungsbereich der Lüge vom Staat ohne Geld. Der Vorteil konkret historischer Analyse macht auch sichtbar, daß im großen Chor der Betroffenheit, der Kritik und auch der Aktionen von Attac, Sozialverbänden und Gewerkschaften die konsequente Stimme von Kommunisten und anderen antikapitalistischen Kräften der Verstärkung bedarf. Sichtbar wird allerdings auch, daß manches linke Publikationsorgan mit seinen Beiträgen einen Bezug zu den aktuellen Bedürfnissen des Kampfes für strategische Alternativen nur schwer erkennen läßt. Sichtbar wird zudem, welchen Luxus wir uns in besonders kritischer Zeit mit Programmdebatten leisten, die abgehoben von der Strategie des Klassengegners und von notwendigen Aktionen laufen und keine Massenwirksamkeit erlangen, mitunter nicht einmal bei den Mitgliedern der eigenen Organisation. Allerdings kann die Sicherung programmatischer Klarheit vordringlich werden, wenn der „Wandel" der Linken einer antikommunistischen Richtung ausgeliefert werden soll. Von Vorteil ist schließlich vor allem die Erkenntnis von Schwachstellen der gegnerischen Politik und der daraus resultierenden Chance, positive Veränderungen im Kräfteverhältnis und in der Interessenvertretung der Volksmassen herbeizuführen.

Die große Schwachstelle der gegnerischen Strategie besteht darin, daß sie, wenn auch gewollt, in großer Breite mit lebenswichtigen Interessen der Bevölkerungsmehrheit konfrontiert ist, daß für diese Politik keine wirkliche Massenbasis vorhanden ist außer der manipulativen von Wählerstimme und verbreiteter Resignation. Gegenüber dem möglichen Aufbruch organisierten massenwirksamen Widerstandes besteht Zeitnot. Den herrschenden Kräften geht es zur Zeit darum, die Situation ohne eine parlamentarische Opposition zu nutzen, um ihrer Strategie gesetzliche Grundlagen zu sichern, die selbst bei wachsendem Widerstand nicht so leicht rückgängig gemacht werden können. Darum auch der Wirbel mit Kommissionen, mit wechselnden

Vorlagen und Fragen, was die Reaktion auf Dauer am besten sichern könnte. Daß massenhafter Widerstand durchaus möglich ist, haben Sozialforen und Protestaktionen gegen die USA Aggression im Irak gezeigt. Hier wurden bei der Analyse der Ursachen für die Aggression zum Teil auch grundlegende Erkenntnisse über das Wesen des Imperialismus aktiviert. Die Proteste machten antiimperialistische Potentiale sichtbar. Das ist ein Grund für das Drängen der CDU, möglichst rasch eine Annäherung an die USA Politik herbeizuführen, um antiimperialistischer Kritik entgegenzuwirken. Daher laviert auch die Regierung zwischen zunehmender Annäherung an USA Positionen und dem Bemühen, die populäre, auf den Irak-Krieg begrenzte Position beizubehalten, aber sie so zu manipulieren, daß sie der eigenen im Aufbau befindlichen Kriegspolitik nicht hinderlich werden kann.

Angesichts der verbreiteten Kritik am Sozialabbau wird deutlich, daß den Geschädigten mit dem Hinweis wenig geholfen ist, daß sie als Wähler ja Protestmöglichkeiten hätten. Tatsache ist demgegenüber, daß zur Zeit im Bundestag keine einzige Partei ist, die für solche Proteste wählbar wäre. Außerhalb der Parlamente sind zwar alternative Organisationen aktiv, aber gegenwärtig ohne größeren Einfluß auf die Millionen von Nichtwählern. Immer dringlicher wird deshalb die Aktionseinheit alternativer Kräfte, für deren Entwicklung die Stärkung der Solidarität zwischen Kommunisten und anderen antikapitalistischen Kräften eine wichtige Grundlage ist. Eine positive Veränderung im Kräfteverhältnis ist nur möglich, wenn der große Interessengegensatz zwischen der Bevölkerungsmehrheit und der Regierungspolitik politisch sichtbar und massenwirksam gemacht wird, wozu vor allem die antikapitalistischen Kräfte beitragen können. Nur so kann eine politische Polarisation in die Wege geleitet werden, die zur Isolierung der volksfeindlichen Praktiken und ihrer Initiatoren führt und einer anderen Politik den Weg ebnen kann. Erfahrungen belegen, daß die herrschende Klasse in einer solchen Situation eine verschlissene Partei durch eine andere ersetzt, um Zeit zu gewinnen. Doch bei der politischen Isolation ist ja nicht nur eine Partei oder ein Parteienbündnis betroffen, sondern eine praktizierte Konzeption. Das enthält wichtige Ansatzpunkte, verstärkt für geforderte Veränderungen alternativer Kräfte zu kämpfen.

Eine wichtige Voraussetzung für eine solche Entwicklung besteht, wie schon vermerkt, darin, daß zwischen Kommunisten und anderen antikapitalistischen Kräften die Solidarität gegenüber Tendenzen der Abgrenzung handlungsbestimmend wird. Verunsicherte und Suchende haben in der von den Herrschenden geförderten Zersplitterung und Spaltung oppositioneller Kräfte nur eine geringe Chance, den politischen Zugang zu einer alternativen Position zu finden. Kurioser Weise werden Tendenzen der Abgrenzung zwischen antikapitalistischen Kräften und daraus resultierende Unsicherheiten in der Suche nach Alternativen mit dem falsch verstandenen Lenin Zitat noch gefördert „Bevor wir uns vereinigen und um uns zu vereinigen", so lautet das Zitat , „müssen wir uns zuerst entschieden und bestimmt voneinander abgrenzen." Hier wird, gleich aus welchem Motiv, unterschlagen, worum es Lenin bei der Abgrenzung und Vereinigung gegangen ist.

1901 und 1902 ging es unter russischen Sozialdemokraten um die strategische Frage, ob die zu formierende Partei ihre Kritik an der zaristischen Selbstherrschaft in eine revolutionäre Richtung, d.h. auf die Beseitigung der Selbstherrschaft konzentrieren sollte oder im Schlepptau der liberalen Bourgeoisie auf eine reformistische Verbesserung der Herrschaftsverhältnisse. Von welcher strategischen Position galt es sich also abzugrenzen und mit welcher zu einer Vereinigung zu kommen? Die Tragweite der Alternative wurde zum Beispiel nach der Februarrevolu-tion 1917, nach dem Sturz des Zaren, in der politischen Alternative offen sichtbar: entweder mit den Liberalen und der provisorischen Regierung für die Weiterführung des imperialistische Krieges und der bisherigen Politik oder aber mit den sich formierenden Sowjets für die Beendigung des imperialistischen Krieges und für die Macht der Sowjets.

Abgrenzung und Vereinigung gingen also nicht um Fragen, die für den Fall, daß sie eventuell wichtig sind, in Geschichtsseminaren oder anderen Zirkeln diskutiert werden können, sondern um eine Entscheidung von strategischer Bedeutung für den anstehenden Kampf. In unserem gegenwärtigen Kampf sind das Entscheidungen für strategische Alternativen zum Sozialabbau, zur neuen Kriegspolitik, zum Demokratieabbau und zum Antikommunismus und nicht solche über das Verhältnis zu Personen, geschichtlichen Ereignissen oder Theoremen, die vielleicht in anderen Zusammenhängen wichtig sein können. Für strategische Alternativen ist es erforderlich, unvoreingenommen auch an Eigentumsfragen heran zu gehen, wenn zum Beispiel die Umverteilung von Unten nach Oben gestoppt und umgekehrt werden soll, auch wenn es da situationsbedingt noch um keine sozialistischen Veränderungen geht.

Angesichts der Sachlage ist es vorteilhaft, daß der Vorstand der DKP auf alternative Aktionen und deren Unterstützung orientiert. Das stärkt die Position all jener, die der vom Gegner anvisierten Zerstörung der Grundlagen möglichen Widerstandes wirksam begegnen wollen und auf die Stärkung dieser Grundlagen orientieren, die auch geeignet sind, die Solidarität zwischen Kommunisten und andern antikapitalistischen Organisationen zu stärken und gemeinsames Handeln zu fördern. Solidarisches Handeln von Kommunisten und anderen antikapitalistischen Kräften erlangt nur dadurch politisches Gewicht, daß in Protestaktionen antiimperialistische Potentiale gestärkt werden. Sinn und Zweck gehen allerdings verloren, wenn sich Unterstützung darauf reduziert, nur als Mitläufer im Kampf für die Milderung neoliberaler Grausamkeiten zu fungieren. Da auch die Lösung solcher Aufgaben schwierig ist, hat die Stärkung der politischen Organisiertheit und des Bewußtseins der Akteure entscheidende Bedeutung.

Möglichkeiten für eine solche Entwicklung sind sichtbar. In vielen Ländern Europas sind Anfänge und Ansätze einer Neuformierung der Linken im Gange, wo Kommunisten und andere antikapitalistischen Kräfte Bündnisorganisationen geschaffen haben, in denen die Beteiligten zwar ihre Eigenständigkeit bewahren, ihre revolutionären Potentiale aber vereinigen und verstärken. Als ein „europaweites Netzwerk solcher Organisationen existiert heute die Europäische Antikapitalistische Linke.(EAL)" Aufmerksamkeit verdienen die vereinbarten Bedingungen teilnehmender Organisationen. Erstens muß ihr programmatisches Ziel die Ablösung des Kapitalismus durch eine sozialistische Gesellschaft sein. Die Frage der Eigentums– und Machtverhältnisse wird als Kardinalfrage angesehen. Zweitens erkennen die in der EAL mitwirkenden Parteien und Bündnisse die Pluralität der antikapitalistischen Kräfte an, was sich vor allem aus unterschiedlichen Erfahrungen ergibt. Hier wird Pluralität nicht im Sinne der PDS verstanden, in der die Redefreiheit von Kommunisten durch die Politik der Partei konterkariert wird. Drittens streben diese Organisationen und Bündnisse breite Aktionseinheiten an, die sich aus dem Umfang und der Tiefe der Gegensätze zur herrschenden Politik ergeben. Der Unterschied zu 1933 besteht keineswegs darin, daß sich die Möglichkeiten der Aktionsbreite und antiimperialistischen Konsequenz verringert haben. Viertens ist ein gewisses Maß an „Repräsentativität" erwünscht, in Form der Verankerung in sozialen Bewegungen, sie soll auch

ein Minimum an wahlpolitischer Bedeutung vorweisen. Ausführlicher ist zu allem die Information in der UZ vom 26. 3. 2003 mit dem Thema: Europas Linke im Wandel.

Auch in Deutschland könnte auf solche Weise ein Ausweg aus dem Trümmerfeld gefunden werden, das die Konterrevolution im Spektrum ihrer linken Kräfte hinterlassen hat. Gleich unter welchem Namen sich Kommunisten und andere imperialistische Kräfte zu einem Bündnis für gemeinsame Aktionen zusammenfinden, um die Entwicklung breiter Volksbündnisse gegen die volksfeindlichen Klassenkräfte und deren Politik zu fördern und zu stärken, so ist in jedem Fall der Zugang zu solchen Bündnissen durch Probleme und Gefahren erschwert. Für Kommunisten erübrigt sich der Hinweis, daß Bündnisse und Aktionen, die dem Klassenfeind Sorgen bereiten, in das Fadenkreuz des Staatsschutzes geraten. Problemfelder sind zwei andere Erschwernisse.

Das eine besteht darin, daß ultralinke Kritik den Eindruck erweckt, als wären mit dem Aufbruch zu einer Bündnisbereitschaft bereits die Widersprüche im antikapitalistischen Lager überwunden. Hier gründet doch jede Organisation und Gruppe ihre Identität auf eine unterschiedliche Wertung geschichtlicher Ereignisse, Personen, Erfahrungen des Klassenkampfes und theoretischer Erkenntnisse. Erst in gemeinsamen Aktionen und Kämpfen können hier Solidarität und Übereinstimmung gegenüber Unterschieden und Widersprüchen in den Vordergrund treten und bestimmend werden. Hier zu fordern, daß am Anfang eines solchen Weges die Bedingungen für die Gründung einer marxistisch-leninistischen Massenpartei gegeben sein müßten, ist zumindest illusorisch. Zu einer schwerwiegenden Unterstellung aber wird die Behauptung, daß der strategische Zweck eines solchen Bündnisses darin bestünde, die künftige Bildung einer solchen Partei zu verhindern.

Ein anderes Erschwernis besteht darin, daß der vorhandene Pluralismus unter Linken idealisiert wird. Er ist doch nicht zu verwechseln mit einer Diskussionskultur, mit der Probleme geklärt und gemeinsames Handeln vorbereitet und gestärkt werden. Er existiert doch in Gestalt einer unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Wertung revolutionärer Erfahrungen und Erkenntnisse, die gemeinsames Handeln erschweren und sogar verhindern. In der Praxis tendiert dieser Pluralismus bei mangelhafter Wachsamkeit zur Anpassung an das bestehende Kräfteverhältnis und an die Eliminierung revolutionärer Erfahrungen und Erkenntnisse. Dadurch verliert politisches Handeln seine alternative Stoßrichtung, treten antikommunistische Tendenzen in den Vordergrund. Dann wird eine sogenannte neue Linke nicht als Alternative zum heute „Neoliberalismus" genannten Imperialismus verstanden, sondern als Alternative zur alten Linken mit ihren revolutionären Potentialen. Rechter Opportunismus und Linksradikalismus erweisen sich immer wieder als Zwillingsbrüder.

Wenn ein solidarisches Bündnis von Kommunisten und anderen antikapitalistischen Kräften gegenüber den Tendenzen der Abgrenzung handlungsbestimmend wird, dann können strategische Alternativen an Gewicht gewinnen. Nur so kann das Lügengespinst des Gegners zum Schutze seiner Politik zerstört werden. Nur so werden die Eckpfeiler der gegnerischen Konzeption zum Gegenstand strategischer Alternativen. Nur so ist es möglich, in der Fülle der Anforderungen die Kräfte auf Schwerpunkte von strategischer Bedeutung zu konzentrieren. Ein solcher Schwerpunkt ist der Kampf für Verkürzung der Arbeitszeit, die dem Reifegrad der Arbeitsproduktivität entspricht und fast auf alle sozialen, aber auch politischen Bereiche Auswirkungen hätte. Ein anderer Schwerpunkt ist die Organisierung wählbarer Bündnisse, mit der die politisch unwirksame Wahlenthaltung abgebaut und Parlamente wieder zu Tribünen alternativer Aufklärung und alternativen Kräftesammelns werden könnten. In dieser Richtung sind Anfor-derungen an politische Grundsatzerklärungen kommunistischer und anderer antikapitalistischer Organisationen gestellt. So wird auch geklärt, daß anders als 1933 zwar neue Kampfaufgaben gestellt sind, die Breite und politische Tiefe antifaschistischer Bewegungen aber ein Vorbild bleibt. Die Solidarität zwischen Kommunisten und anderen antikapitalistischen Kräften wird schließlich auch die antikommunistische Schablone von der DDR zerstören und Erfahrungen der Arbeiterbewegung über erfolgreiche antiimperialistische Kämpfe aktivieren.

 

Ins Unreine gedacht ...*

Erwägungen zu Rückschlägen im revolutionären Prozeß

und zu den Programmdebatten unter den zersplitterten Sozialisten

von Hanfried Müller

Die Restauration des Imperialismus, wie sie zum Ende des vorigen Jahrhunderts in Europa triumphierte, hatte von Anfang an den Charakter einer antikommunistischen Konterrevolution.

Gerade an dieser Einschätzung brachen insbesondere seit dem XX. Parteitag des KPdSU die Gegensätze zwischen Fortschritt und Reaktion auf. Nach vielfältigen Schwankungen während des konterrevolutionären Prozesses und insbesondere während seiner flagranten Phase in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist die Frage, ob es sich beim Untergang der europäischen sozialistischen Staaten um deren - selbstverständlich vom Gegner geförderten - Zusammenbruch aus eigenen konzeptionellen Schwächen oder um einen - selbstverständlich durch solche Schwächen erleichterten - Sieg des Gegners handele, zum Schibbolet zwischen Reaktion und Fortschritt geworden. Wer immer die Niederlage des Sozialismus für einen historischen Rückschlag hält, beurteilt sie heute als Sieg der Konterrevolution. Und wer immer den Sozialismus für eine unrealisierbare Traumwelt hält - je nach sozial bedingten Interessen wünschbar oder hassenswert - nennt sie einen historisch notwendigen unvermeidlichen „Zusammenbruch".

An der Frage, als was man die Liquidation des Sozialismus in Europa (eine Niederlage von zweifellos globaler Bedeutung) wertet, scheiden sich derzeit die Geister: Handelt es sich, wie alle Reaktionäre meinen, um das notwendige Ende eines zum vornherein unverantwortlichen und verwerflichen Experimentes beziehungsweise um das Scheitern einer Illusion, wie breite desorientierte Massen wähnen? Oder aber handelt es sich um einen konterrevolutionären Prozeß, sei es im Sinne einer historisch vermeidbaren, selbstverschuldeten Niederlage oder im Sinne eines historisch bedingten Rückschlags, weil die revolutionären Kräfte zwar bereits gesellschaftlich und politisch die Macht zu erringen, sie aber mangels zureichend entwickelter, insbesondere ökonomischer, Grundlagen noch nicht zu behaupten vermochten?

Die Beurteilung des Erlahmens und schließlichen Endes des revolutionären Fortschritts in Europa verbunden mit einer langwierigen konterrevolutionären Entwicklung führt virtuell oder reell revolutionäre Kräfte naturgemäß zu der Frage, was sie aus Geschichten früherer Revolu-tionen hinsichtlich der Erholung von konterrevolutionären Rückschlägen und zur Rückgewinnung revolutionärer Energie lernen können.

Diese Frage hat bisher in den Weißenseer Blättern immer wieder, mittelbar oder unmittelbar, eine Rolle gespielt. Dabei drängten sich insbesondere Vergleiche mit der bürgerlichen Revolutionsgeschichte auf. Auch sie war, gleichgültig, wie man ihren Beginn datiert, insbesondere seit der frühbürgerlichen Revolution im 16. Jahrhundert immer wieder von längerfristigen konterrevolutionären Perioden, zuerst der der Gegenreformation, unterbrochen und zurückgeworfen worden und stets zu neuen revolutionären Anläufen auf höherer Ebene gelangt, bis sie schließlich mit der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika und der französischen Revolution endgültig siegte, obgleich sie auch danach noch, mehr oder minder territorial begrenzt, konterrevolutionäre Rückschläge erlitt, etwa nach 1815 in der Restaurationszeit vor allem in Deutschland und Frankreich oder 1848 mit der Niederlage der deutschen bürgerlichen Revolution.

Wir haben in den WBl solche Vergleiche mit der bürgerlichen Revolutionsgeschichte insbesondere darum gezogen, um zu zeigen, daß Konterrevolutionen so wenig wie Revolutionen im ersten Anlauf irreversibel zum Erfolg führen und daß Rückschläge im revolutionären Prozeß keineswegs „das Ende der Geschichte" signalisieren, darum auch keine Veranlassung zur Resignation am revolutionären Prozeß, sondern lediglich zu seiner Wiederaufnahme mit reiferen Mitteln und unter neuen Bedingungen bieten.

*

Bei dieser Argumentation im Rahmen einer Analogie zwischen bürgerlicher und sozialistischer Revolution haben wir allerdings vorzugsweise nur auf das eine Element einer Entsprechung, nämlich auf das der Ähnlichkeit abgehoben. Das dialektische Gegenelement in jeder Analogie jedoch, nämlich das der Unähnlichkeit blieb unterbetont, wenn nicht vernachlässigt.

Diese Unähnlichkeit im Vergleich einer antikommunistischen mit einer antibürgerlichen (oder politisch gesagt: antidemokratischen) Konterrevolution beruht auf der Unähnlichkeit der kommunistischen Revolution selbst mit der bürgerlichen und allen ihr vorangegangenen Revolutionen.

Bekanntlich entwickelte sich die bürgerliche politische Revolution auf der Basis des ökonomisch revolutionären Prozesses, in dem sich noch unter den politischen Bedingungen des Feudalismus in dessen Schoß und Rahmen bürgerliche Eigentums- und Produktionsverhältnisse herausbildeten, die nicht mehr primär auf Bodeneigentum, sondern primär auf dem Eigentum an in bescheidenem Maße bereits akkumuliertem Kapital und ihm entsprechenden Produktionsinstrumenten beruhten. Erst gestützt auf solche bereits, zunächst im Rahmen von Manufaktur und Handel, gewonnene ökonomische Macht griff das frühe Bürgertum nach gesellschaftlicher und politischer Macht. Erlitt es dabei konterrevolutionäre Rückschläge, wie zum Beispiel in der Gegenreformation oder in der Restaurationszeit nach den „Befreiungskriegen", dann ließ sich doch der ökonomische Fortschritt von Produktionsweise und Produktivität, auf dem sein gesellschaftlich-politisch revolutionär geltend gemachter Machtanspruch beruhte, aus gleichsam „objektiven" Gründen nicht konterrevolutionär stoppen oder aufheben. Die ökonomisch-revolutionären Kräfte des Bürgertums wuchsen weiter - wenn auch wie z.B. durch den dreißigjährigen Krieg elementar gebremst, aber nicht in der Entwicklungsrichtung umgekehrt - und bildeten eine ökonomisch fundiertere Grundlage für den nach einer konterrevolutionären

Phase wieder aufgenommenen Anlauf zur politisch-revolutionären (Rück-)Eroberung und zugleich Erweiterung bürgerlich-gesellschaftlicher Macht.

So aber nicht nach einem konterrevolutionären Sieg über eine sozialistische Revolution.

Die sozialistische Revolution - darin sind sich all ihre revolutionären Theoretiker seit den ersten Formulierungen des wissenschaftliche Sozialismus einig - kann nicht gestützt auf eine spontan (in der Form akkumulierten Reichtums) gewachsene ökonomische Macht der Arbeiterklasse vollzogen werden, sondern nur aufgrund eines bisher in der Geschichte ausgebeuteter und unterdrückter Klassen so bisher noch nicht entwickelten Bewußtseins, also aufgrund der ideologischen Orientierung und politischen Organisation der Masse der Arbeiter als Klasse nicht nur an, sondern für sich, klassisch knapp ausgedrückt in dem Satz des eben zum wissenschaftlichen Kommunisten werdenden Karl Marx: „die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zu materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift".*

Das bedeutet einerseits den Beginn der „eigentlichen", nämlich der bewußt von Menschen „gemachten" Geschichte, ein geschichtliches Bewußtsein neuer Qualität, insofern gedachte in gemachte Geschichte umgesetzt werden muß, sich also nicht spontan vollzieht und sich darum auch nicht in ihrer ökonomischen Basis spontan fortsetzt, wenn ihr bewußter politisch gesellschaftlicher Vollzug durch innere Schwächen und/oder äußere Kräfte unterbrochen wird.

Insofern wird die Überwindung eines die sozialistische Revolution unter- oder abbrechenden Sieges der Konterrevolution verglichen mit konterrevolutionären Siegen über die revolutionäre Bourgeoisie in viel höheren Maße zu einer nicht nur gesellschaftlich-politischen, sondern zu einer konzeptionell-geistigen Aufgabe: Es muß erneut die Theorie formuliert werden, damit sie die Massen ergreife und so zur revolutionären Gewalt werde, oder (ich denke damit das Marxzitat nur in seiner Dialektik auszuschöpfen, nicht aber zu verfälschen) damit die Massen, indem sie die Idee ergreifen, wieder zur revolutionären Gewalt zu werden vermögen.

Wenn diese Überlegung in den Grundzügen stimmt (überzeugende Widerlegungen könnten uns vorwärtsführen!), dann brauchen wir einen ideologischen Vorlauf (und hier hebe ich nach den so nachdrücklich unterstrichenen Unähnlichkeiten wieder auf die Ähnlichkeiten zwischen bürgerlicher und sozialistischer Revolutionsgeschichte ab), um - im Vergleich geredet - den Abstand zwischen der die frühbürgerliche Revolution tragenden Ideologie und jener Ideologie zu überwinden, die den nächsten revolutionären Anlauf stimuliert - also den Abstand zwischen den Ideen der Renaissance und den Ideen von Rationalismus und Aufklärung. Oder - Marxisten-Leninisten bitte nicht zu sehr erschrecken! - den Abstand zwischen der ML-Ideologie, die die erste sozialistische Revolution zu tragen vermochte, zu jener historisch-dialektisch-materialistischen wissenschaftlich-revolutionären Ideologie, die den erneuten Anlauf zur Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln zwecks Schaffung der Grundlagen einer kommunistischen Gesellschaft wird tragen können.

Noch einmal im Blick auf die Ähnlichkeit in sozial unähnlichen Revolutionen gesagt: Noch im Ausgang der ersten Phase einer Revolution wie in der Gegenreformationszeit lebend, müssen

wir bereits beginnen zu denken, wie und was nach der Gegenreformation von Lessing bis Kant gedacht worden ist, um, aus der Geschichte des vorangehenden revolutionären Anlaufs lernend, das für einen zweiten Anlauf erforderliche Programm zu entwickeln.

Das wird dadurch erleichtert, daß die Situation objektiv ja wahrlich nicht revolutionärer sein könnte, als sie ist: Der Widerspruch zwischen dem Streben nach Maximalprofit auf der einen, der moralischen und materiellen Massenverelendung auf der anderen Seite verschärft sich rasant und immer breitere Massen empfinden ihn als unerträglich.

Zugleich wird das dadurch erschwert, daß die Massen auf diesen Widerspruch - einerseits spontan, andererseits von der herrschenden Klasse dazu demagogisch manipuliert - keineswegs revolutionär, sondern manisch-depressiv reagieren. Sie schwanken zwischen anarchischem Aufbegehren und zielloser Resignation, verfallen einerseits der Devise „laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot" und versinken andererseits in völliger gesellschaftlich-politischer Lethargie. Somit ist die Situation hinsichtlich des subjektiven Faktors alles andere als revolutionär.

Um die objektiv-revolutionären Situation zu einer auch subjektiv-revolutionären zu entwickeln, bedarf es wiederum einer Theorie, die die Massen ergreift und von ihnen ergriffen wird, die zu vernünftigem Handeln eint und so zur materiellen Gewalt wird.

*

Ist aber diese Theorie nicht bereits vorhanden, nur unterdrückt, verdrängt, verschüttet unter dem Schutt der Konterevolution, und gilt es nicht nur, sie wieder auszugraben und zu restaurieren?

Diese Frage ist wahrscheinlich nicht nur aus allen möglichen emotionalen Gründen der Erinnerung an die imponierenden Erfolge der ersten siegreichen sozialistischen Revolution und die deprimierende Glanzlosigkeit ihrer Niederlage in Europa so strittig, sondern auch darum, weil ihre Beantwortumg ein Höchstmaß dialektischen Denkens erfordert:

Es gilt, den historisch-dialektischen Materialimus, die historisch-materialistischen Dialektik und die Dialektik und Materialität der Geschichte selbst historisch-dialektisch-materialistisch zu begreifen, um das historisch Überholte darin vom weiterhin Gültigen zu unterscheiden, also gewissermaßen den historisch-dialektischen Materialismus dialektisch zu historisieren, um auf dem durch ihn erschlossenen Wege über seine bisherigen Erkenntnisse historisch-materialistisch-dialektisch hinauszugehen, so wie sich der Fortschritt der Naturwissenschaft weder pauschal negierend noch unkritisch doktrinär, sondern zwischen dem zwar Vorwärtsweisenden, aber noch nicht völlig Erkannten dialektisch differenzierend vollzogen hat und vollzieht. In eben diesem Sinne sind Marx und Engels selbst über ihre Anfangserkenntnisse und ist Lenin zu Beginn des imperialistischen Zeitalters über Marx hinausgegangen. Und in eben diesem Sinne müssen wir auch über Lenin hinausgehen, unter Vermeidung „revisionistischer" Rückschritte ebenso wie unter Vermeidung „dogmatistischen" Starrsinns.

Weil die heute mögliche und gebotene revolutionäre Bewegung nicht nur darauf zielt, wie alle uns bekannten vorsozialistischen Revolutionen, die Eigentümer der Produktionsmittel durch andere Eigentümer und die bisherigen Produzenten durch andere Produzenten abzulösen, also nicht darauf, nur die Form des Privateigentums zu verändern, sondern auf eine Gesellschaftsordnung, in der der Widerspruch zwischen Produzenten und Eigentümern überhaupt aufgehoben werden kann, indem das private Eigentum an den Produktionsmitteln im gesellschaftlichen Eigentum aufgehoben wird, kann sie sich nicht auf die spontane Herausbildung neuer Eigen-tumsformen stützen (das würden immer nur andere Privateigentumsformen sein), sondern muß den Massen der Produzenten den Weg weisen, wie sie sich Naturressourcen und Produktionsmittel so aneignen können, daß in dieser gesellschaftlichen Aneignung zunächst die Dominanz des Privateigentums und dann dieses selbst abstirbt. Das erfordert, daß sich die Revolution, bereits wenn sie beginnt, ihres Zieles und ihres Weges dahin bewußt ist.

Dazu bedarf die kommunistische Bewegung eines Programms, das nach ihrer Niederlage an der Stelle, an der sie am weitesten fortgeschritten gewesen war, nämlich in Osteuropa, die gegebenen ökonomischen, sozialen, politischen und geistigen Verhältnisse noch einmal so gründlich analysiert und daraus die genaue Bestimmung des revolutionären Subjektes, seiner Möglichkeiten und Aufgaben ableitet wie - etwas global gesagt - Marx und Engels es für die Zeit der Reifung des Kapitalismus der freien Konkurrenz und Lenin es für die Zeit der Entstehung des Monopolkapitalismus und Imperialismus konzipiert hatten. Und so wie Marx und Engels zur Entwicklung dieser Perspektive der sozialistischen Revolution zunächst die vorangehende Revolutionsgeschichte der Bourgeoisie und nach dem Untergang der Pariser Commune diesen ersten Anlauf zu einer sozialistischen Revolution kritisch ausgewertet hatten, muß dieses Programm die siebzigjährigen Erfahrungen auswerten, die im Zuge der europäischen sozialistischen Revolution des 20. Jahrhunderts gewonnen worden sind, und gleichzeitig die Veränderungen der Kräfte und Kräfteverhältnisse sowohl auf der Eigentümer- wie auf der Produzentenseite während dieser Klassenkämpfe analysieren.

Dabei könnte sich ergeben, daß sich die Hauptklassen der Gesellschaft inzwischen noch einmal mindestens ebenso sehr verändert haben, wie sich Kapital und Arbeit auf dem langen Wege vom Manufakturkapitalismus über den Kapitalismus der freien Konkurrenz bis zur Entstehung des Monopolkapitalismus verändert haben.

Die Ausgangspositionen einer künftigen sozialistischen Revolution in den imperialistischen Hauptländern jedenfalls sind erheblich andere als die in Europa nach dem ersten und vollends nach dem zweiten Weltkrieg und erst recht andere als die in Rußland zur Zeit der Oktoberrevolution gegebenen: Diese Unterschiede müßten in einem heutigen kommunistischen Programm präzise erfaßt werden, wenn dieses Programm eine Idee formulieren soll, die die Massen zu ergreifen vermöchte beziehungsweise von den Massen be- und ergriffen würde.

*

Dabei wäre insbesondere ein Problem zu bedenken, das äußerst wichtig, aber zumindest nicht zureichend griffig gelöst zu sein scheint: nämlich die Veränderung der Produktivkräfte und mit ihnen der einander gegenüberstehenden Hauptklassen.

Zwar zeigt die Geschichte, daß Klassenkämpfe, wenn sie nicht zu revolutionären Durchbrüchen führen, mit dem Untergang beider kämpfenden Klassen enden können, so daß neue Klassen von Eigentümern und Produzenten und damit neue Klassenantagonismen entstehen, die den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmen.

Das uns geschichtlich nächstliegende Beispiel dafür bietet der Untergang der historisch weitestentwickelten Sklavenhaltergesellschaft im römischen Weltreich. Ihm folgten - sich von seinem Rande her und teilweise aus älteren sozial-ökonomischen Strukturen entwickelnd - feudalistische Gesellschaftsformationen, die, als sie mit dem Entstehen der kapitalistischen Gesellschaftsformation überholt wurden, als Stagnation in einer Zwischenzeit zwischen dem „klassischen" Altertum und der in der Renaissance aufbrechenden Perspektive der „Neuzeit" verstanden und verächtlich als „Mittelalter" bezeichnet wurden.

 

Die Frage, ob es, sofern die derzeitige monopolkapitalistische Entwicklung nicht revolutionär abgebrochen wird, sondern sozusagen implodiert, von den Randgebieten der heute immer globaler wirkenden Kapitalmacht her zu einer analogen Entwicklung - noch einmal: „analog" umfaßt die Dialektik von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit - kommen könnte, ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Sie wird auch immer wieder phantasievoll ausgestaltet, z.B. wenn man sich fragt, ob bei solcher Entwicklung etwa islamische Länder die Funktion der „Barbarenstürme" (die allerdings kaum „barbarischer" waren als die ihnen vorangegangenen Cäsarenregime) übernehmen und China, wenn es etwa sein Ziel, mit der nächsten Generation zum Sozialismus zu gelangen, nicht erreichte, die Rolle Ostroms spielen könnte, das ja noch viel antike Kultur über die Zeit der „Völkerwanderung" hinwegzuretten vermochte. Kaum zufällig werden bei solchen Spekulationen die Potenzen Lateinamerikas, das kontinental den potentiell-revolutionären Gegenpol zum in den USA perspektivlos kulminierenden Imperialismus bildet, kaum berücksichtigt.

Solche Spekulationen entstehen aus der tatsächlichen Perspektivlosigkeit des Imperialismus. Sie beruhen unter anderen darauf, daß sich ökonomische und gesellschaftliche Prozesse in der imperialistischen Gesellschaft immer weniger bewußt, das heißt politisch, gestalten lassen, weil sich die Selbstverwertungsinteressen des Kapitals immer unmittelbarer spontan durchsetzen. Diese Spontaneität stellen imperialistische Politiker dann gern als historische Determination dar, indem sie den Massen ihre eigene Alternativlosigkeit als objektiv gegebene, als unabwendbares Schicksal vermitteln nach der Devise, zum Weg in völlige Asozialität der Gesellschaft, den sie mit ihren sogenannten „Reformen" eröffnen, gäbe es keine Alternative. Die Formel vom „Ende der Geschichte" verbindet dann die Perspektivlosigkeit der parasitärsten herrschenden Schichten, für die in der Tat jeder Fortschritt ein Schritt über ihre Interessen hinaus wäre, mit der Frustration ausgebeuteter und unterdrückter Massen, und so breitet sich - trotz anwachsender Gegenströmungen - weithin eine Lethargie aus, die im Interesse der herrschenden Klasse liegt.

Aber im Unterschied zu solchen Gedankenspielen, gespeist aus dem Empfinden spätbürgerlicher Ideologen, daß der Imperialismus am Ende seiner - für sie heißt das „der" - Geschichte angekommen sei, aus der Perspektivlosigkeit breiter Massen, deren einer Teil so in den Produktionsprozeß eingebunden wird, daß er jeden gesellschaftlichen Durchblick und deren anderer Teil so aus dem Produktionsprozeß verbannt wird, daß er alle gesellschaftliche Hoffnung verliert, und aus der Frustration von Sozialisten, die seit dem Sieg der europäischen Konterrevolution am Sozialismus resignieren, ist für heutige kommunistische Perspektivbestimmung unbedingt eine andere Frage zu klären, nämlich die nach der Veränderung der Klassen in der Kontinuität des bürgerlichen Klassenantagonismus.

So wenig wie die Patrizier und Plebejer unter feudalen Verhältnissen mit den Eigentümern der großen Manufakturen und den darin tätigen Handwerkern der entstehenden und diese wiederum mit dem Besitzern der Dampfmaschinen und der daran produzierenden Proletariermassen in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft einfach identisch waren, sind offenkundig die heutigen Herren der Konzerne, die mit einem Kapital arbeiten, in das sie Spar- und Kleinstvermögen Kapitalloser einbeziehen, - man denke an die sogenannten „Kleinaktionäre" die einflußlosen Kreditgeber zur Kapialakkumulation - nicht mehr einfach identisch mit früheren „Fabrikherren" und die heutigen Produzenten - die Summe hochqualifizierter Facharbeiter, der vom Computer aus die Produktion steuernden Angestellten, der unzählig vielen für den Produktionsbetrieb unverzichtbaren „Dienstleister" samt der „Geschäftsleute", die im Interesse der Kapitalvermehrung dieses „Geschäft schmeißen" - nicht mehr mit dem identisch, was in

den Anfangszeiten der bürgerlichen Entwicklung „Plebejer", dann „Proletarier" hieß, und - seitdem das allgemeine Wahlrecht die Demagogie zu einem wesentlichen Herrschaftsinstrument werden ließ - „Arbeitnehmer" genannt wird.

Sowohl die Formen und Bedingungen der Kapitalakkumulation wie auch die Formen und Bedingungen der Kapitalschöpfung, das heißt der Lohnarbeit, haben sich gewaltig verändert. Unverändert geblieben freilich ist der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, ja der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung der geschaffenen Werte hat sich sogar verschärft. ist aber gegenüber vergangenen Zeiten undurchsichtiger geworden.

Nicht zuletzt auch darum bedürfen die Veränderungen der Formen der Kapitalakkumulation, der Produktionsweise und der privaten Aneignung gesellschaftlicher Produktion einer sorgfältigen Analyse, um die kommunistische Programmatik auf die Höhe der gegenwärtigen Verhältnisse zu heben.

*

Ein kommunistisches Programm in diesem grundlegenden Sinne wird kaum zu formulieren sein, indem derzeit existente kommunistische Rest- und Splitter-Parteien versuchen, es jeweils sich selbst zu geben. Der für solche Autoren ganz unvermeidliche Blick auf die durch die Konterrevolution desorientierten und diffusen Erinnerungen und Wünsche verschiedener Strömungen und Mitglieder in je ihrer Partei wird eher zu kompliziert und ausführlich formulierten Kompromißpapieren führen als zu großen und klar orientierenden Entwürfen. Solch Programm ist zunächst einmal Schreibtischarbeit. Es wird im Gedankenaustausch unter Marxisten entstehen müssen, die ihren Blick auf die großen historischen Entwicklungsrichtungen in der heutigen Gesellschaft richten und nicht dadurch von der Hauptaufgabe abgelenkt werden, daß sie auf Gremien schielen, die dieses Programm „annehmen" müßten.

Wenn ein solches Programm in konzentrierter Arbeit einzelner Denker entstanden ist (so wie, damals freilich im Auftrag der 1. Internationalen, zuerst in Engels „Grundsätzen des Kommunismus" und dann im „Kommunistischen Manifest"), wird es ohnehin stagnierende Programmkommissionen und Parteitage überholen, indem die darin entwickelte Idee Massen ergreift und von den Massen ergriffen und begriffen wird, so daß sie wieder zur materiellen Gewalt werden.

*

Das heißt nun allerdings nicht, daß ich die bisherigen Programmdebatten in kommunistischen Splitter- und Restparteien für vergeblich und überflüssig halte. Zum Beispiel scheint es mir gut, daß der Gegenentwurf zum Programmentwurf der DKP von Hans Heinz Holz und Patrick Köbele, fortgesetzt über die Arbeitsgruppen unter Zuziehung von Dürrbeck und Seppmann, bisher den Beschluß eines in mancherlei Hinsicht gelinde gesagt unausgereiften, um nicht zu sagen mit höchst bedenklichen von der Konterrevolution überkommenden revisionistisch wirkenden Passagen durchsetzten, Programms verhindert hat. Zudem hat die Debatte - vielleicht ihre positivste Wirkung - dazu beigetragen, die Basis der DKP für die Programmatik der Partei zu engagieren, und darüber hinaus Kommunisten daran zu erinnern, warum und wozu es sie eigentlich gibt. Und ähnliches, die Förderung ideologischen Interesses an der Basis sich regenerierender kommunistischer Bewegungen ist sicherlich die Frucht programmatischer Besinnung in vielen anderen kommunistischen Restparteien, Sammlungen und Zirkeln.

 

Was aber meines Erachtens inzwischen - eventuell durchaus parallel zu kämpferischen Auseinandersetzungen über die für ein kommunistisches Grundsatzprogramm unverzichtbar notwendige Erkenntnisse - geschehen müßte, wäre zweierlei:

  1. brauchen die kommunistischen Rest- und Splitterparteien aktuelle Aktionsprogramme, die sich darauf konzentrieren, wie der innen- wie außenpolitisch ungebrochen weitergehenden reaktionären Offensive mit immer hemmungsloserem Abbau ohnehin bescheidener sozialer Errungenschaften aus der Zeit, in der sich der Imperialismus an der Grenze zum Sozialismus den Massen als attraktiv präsentieren mußte, so zu widerstehen ist, daß sich Wege zur Gegenoffensive eröffnen, und dabei konkret die Wurzeln dieser Entwicklung in dem Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit aufweisen. Diese Aktionsprogramme müßten die Dialektik vermitteln, vor der jeder Arzt bei der Behandlung einer ernsteren Krankheit steht, nämlich die Krankheit zu heilen, aber so, daß die Symptome nicht unbehandelt bleiben, und die Symptome der Krankheit zu bekämpfen, aber so, daß nicht die Krankheit selbst dabei noch gefährlicher wird.
  1. brauchen wir ein Aktionsprogramm für parteiübergreifende (zunächst außerparlamentarische, aber vielleicht auch einmal zur Wahl antretende) antiimperialistische Bewegungen. Daran müßten Kommunisten wirksam mitarbeiten, um zu erreichen, daß es auf dem Wege über den Widerstand gegen die derzeit militant-imperialistische Entwicklung hinaus zu wirklichem, in der Perspektive sozial-ökonomisch revolutionärem Fortschritt kommen kann, in dem dies Programm ein Stimulans bleibt und nicht zur Bremse wird.

Dazu müßte es sich einerseits auf das beschränken, was, nach Lage der Dinge wahrscheinlich überwiegend in einem „Nein" und nicht in einem „Ja" zu artikulieren, die antiimperialistischen Kräfte gemeinsam fordern können, und andererseits alles ausklammern, was diese Gemeinsamkeit gefährden könnte. Es gehören also in ein solches heute akutes Aktions-Programm keine kommunistischen Thesen hinein, die antiimperialistische Nicht-Kommunisten nicht mittragen könnten, aber ebenso wenig offen oder verdeckt antikommunistische Thesen, die Kommunisten die unbefangene Mitarbeit erschweren könnten.

Was also strittig ist zwischen solchen, die zur endgültigen Überwindung des Imperialismus die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit für notwendig halten, und solchen, die sich eine bürgerliche und also kapitalistische, gleichwohl jedoch nach innen und außen nicht imperialistische Gesellschaft vorstellen können, müßte von beiden Seiten im Kampf gegen den Imperialismus hier und heute zurückgestellt werden. Dafür könnte die Kooperation sozialistisch-antifaschistischer und bürgerlich-antinationalsozialistischer Kreise im Widerstand und Kampf gegen die Eskalation des deutschen Imperialismus unter Führung der NSDAP von 1933-1945 beispielhaft sein.

 

Ein Nachtrag kurz vor Redaktionsschluß:

Auf zwei Schwachpunkte meiner Überlegungen hat mich inzwischen Vera Mika (leider gesundheitlich derzeit gehindert, ihre weiterführenden Gedanken ausführlicher in einer „Resonanz" zu artikulieren) in einem Brief aufmerksam gemacht, nämlich (1.) auf den weiten Weg von der Theorie über das Programm zur Losung, die konkret die Massen zum Handeln stimuliert und (2.) auf die objektiven Tendenz zur revolutionären Umwälzung, der in spontaner Form eine Basis entspricht, nämlich eine zum Durchbruch drängende Solidarität unter den Massen. Wir dokumentieren im Folgenden - leicht gekürzt - diesen Brief.

 

Der weite Weg von der Theorie über das Programm zur Losung

und die Solidarität als Bedingung ihrer Wirkung

von Vera Mika

Ihre Ausarbeitung („Ins Unreine gedacht..." von Hanfried Müller) hat den Finger auf einen wunden Punkt unserer kommunistischen Arbeit gelegt: wie müßte unsere theoretische Arbeit beschaffen sein, damit sie die Massen ergreifen und zur materiellen Gewalt werden kann? Was für theoretische Arbeit wäre dafür zu leisten, wer könnte das schaffen? Alles brennende Fragen. Um sie beantworten zu können, müßte ein großer Schwachpunkt ausgeräumt werden. Der besteht zur Zeit darin, daß zwischen notwendigen wissenschaftlichen Vorarbeiten, auf die sich ein Programm stützen könnte, und der gesondert zu leistenden wissenschaftlichen Arbeit für das Programm kein Unterschied gemacht wird. Programmarbeit wird so zum vornherein zum Scheitern verurteilt. Marx, Engels und Lenin haben doch sehr genau unterschieden, und niemand ist auf die Idee gekommen, das „Kapital" oder „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" u.a.m. als Programmarbeiten anzusehen. Auch die Analyse-Arbeiten in der Kommunistischen Internationalen und die darauf fußenden Programme sind doch nicht identisch. Aber ähnliches wird heute von Programmkommissionen erwartet und ist einfach nicht zu verwirklichen.

Die Theorie kann niemals in einem Sprung von einem ideal gedachten Programm die Massen ergreifen. Die Erfahrungen zeigen, daß von der Theorie zum Programm und von einem Programm ... bis zum Denken und Handeln der Massen ein weiter Weg ist. Auf der Grundlage theoretischer Arbeiten muß als nächstes herausgefunden werden, welche Widersprüche im Interesse der Arbeiterklasse zur Lösung drängen und die Volksmassen nicht nur berühren, sondern bewegen. Das kann dann Eingang in ein programmatisches Dokument finden. Aus solcher programmatischen Zuspitzung, die keine Buchlängen verträgt, können dann Losungen für die Vorbereitung und Organisation von Aktionen werden. Wenn dann Propaganda, Agitation und Organisationsarbeit in dieser Richtung wirksam werden, kann im günstigen Fall die Theorie den Weg zu den Massen finden und das auch nur, wenn das dauerhaft wirksam wird. Ein mit Theorie überfrachtetes Programm wird hier möglicherweise zu einer Bremse für den Zugang zu den Massen, wenn die zur Lösung drängenden Widersprüche nur noch schwer zu finden sind.

Ein zweites Problem, das wir wissenschaftlich erfassen und für die Praxis erschließen müssen, sehe ich in der Spezifik der sozialistischen Revolution. Übereinstimmend wird in der voranschreitenden Vergesellschaftung der Arbeit, im gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte die vorgezeichnete Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung gesehen. Die objektive Tendenz zu sozialistischen Veränderungen wird durch das kapitalistische Eigentum und die entsprechenden Machtverhältnisse blockiert. Hier wird mitunter übersehen, daß für diese objektive Tendenz in spontaner Form eine Basis, ein keimhaftes neues Verhältnis vorzufinden ist, auf der die Theorie auf dem geschilderten Weg Zugang zu den Massen finden kann. Das ist die in Kämpfen und in Arbeiterorganisationen zum Durchbruch drängende Solidarität, die zeitweise die Wirkungen der Konkurrenz abschwächt oder auch unwirksam macht. Soldarisches Handeln, Verhalten im gleichen Klasseninteresse sind eine Keimform neuer Verhältnisse, ohne die auch die beste Theorie nicht wirksam werden könnte. Das ist der Hauptweg, der von der Vermittlung der Theorie in Schulungen und im Studium begleitet wird. Deshalb ist zum Beispiel auch nach einem konterrevolutionären Umbruch von entscheidender Bedeutung, was an solidarischen Verhältnissen lebensfähig geblieben ist, was neu zu formieren und zu stärken ist. Das ist gleich wichtig wie die zu erneuernde theoretische und programmatische Arbeit. ....

 

Das Zweite Europäische Sozialforum

von Hans Heinz Holz

In Porto Alegre traf sich das Erste Weltsozialforum, dem das zweite im Januar 2004 folgen wird. Der erste europäische Sozialforum schloß sich 2002 in Florenz an, das zweite fand vom 12. bis 15. November 2003 in Paris statt. Nationale Foren haben sich inzwischen gebildet und sind in Vorbereitung. Welches Bild bietet heute diese Bewegung, die zahlreiche, sehr verschieden motivierte Gruppen zusammenführt?

1848, als die bürgerliche Revolution in Wien ausbrach, schrieb Nestroy ein Couplet mit dem Refrain „Die Gärung ist groß". Genau dies ist der Eindruck, den man aus Gesprächen und Diskussionsvoten und aus der Stimmung bei der Massendemonstration auf den Boulevards von der Place de la République bis zum Place de Nation bekam. 100 000 Demonstranten seien es gewesen, sagten die Veranstalter, 40 000 gab die Polizei zu. Etwa 50 000 Teilnehmer aus sechzig Ländern besuchten während drei Tagen die Veranstaltungen, 200 Gruppierungen haben mitgemacht. 55 Plenarveranstaltungen, 270 Seminare, mehr als 300 workshops und etwa 200 Kulturveranstaltungen wurden in Paris und den Stadtrandgemeinden angeboten. Es war ein Volksfest, ein Jahrmarkt, eine Diskussionsarena zugleich. Die große Zahl ausländischer Teilnehmer gab der Initiative des französischen Organisationskomitees zusätzliches Gewicht.

„Eine andere Welt ist möglich", heißt es in der Charta der Prinzipien des Weltsozialforums, und aufgerufen wird darin zum Widerstand gegen „einen Prozeß kapitalistischer Globalisierung, der von großen, multinationalen Konzernen und Regierungen und internationalen Institutionen im Dienste ihrer eigenen Interessen angeführt wird". Dieser Prozeß, heißt es in der Erklärung des Komitees des 2. Europäischen Sozialforums, beschleunigt die Konzentration des Reichtums, ruft Kriege hervor und schafft ökonomische, soziale und kulturelle Ausgrenzung und hat die Zerstörung der Umwelt zur Folge. Im Rahmen eines weltumspannenden Programms müsse auf europäischer Ebene der Kampf gegen die Logik aufgenommen werden, die den Markt und die Konkurrenz zu zentralen Strukturmomenten der Einheit Europas mache. Es handele sich darum, Wege und Mittel auszuarbeiten, die zu einem demokratischen Europa der Bürger und Völker führen können.

Von dieser Konkretion ist das Europäische Sozialforum allerdings noch weit entfernt. „Das Problem ist, daß wir zwar die Gewißheit haben, daß eine andere Welt möglich ist, aber nicht wirklich wissen, welche", sagte der Ehrenpräsident der ATTAC, Bernard Cassen, in einer Pressekonferenz. Und der Sekretär der Sozialistischen Partei, Kader Arif, gab zu: „Es gibt keine grundsätzliche Differenz hinsichtlich eines allgemeinen Wollens; was uns trennt, sind die konkreten Vorschläge, wie die Welt zu ändern ist und mit welchen Mitteln". Mehrheitlich artikulierte sich das Unbehagen an der in die Krise geratenen Gesellschaft noch an einzelnen Mißständen, die den Unmut der Menschen erregen. Es waren sehr verschiedenartige Anliegen, die da zur Sprache kamen: Polemik gegen den Dreischluchtenstaudamm in China, die Forderung nach Basis-Autonomie, mehr Rechte für die Arbeitnehmer, bessere Frauen-Quotierung, Konsumreduktion ohne Preisgabe des Lebenstandards - um nur einige Beispiele zu nennen.

Solange jeder nur die am eigenen Leibe erfahrene Repressionen wahrnimmt und dem anderen bestenfalls brüderlich bestätigt, daß ja auch er unterdrückt ist, kann eine Bewegung wie das Europäische Sozialforum keine positive gesellschaftsverändernde Kraft entwickeln. Die Gruppen und die einzelnen Menschen müssen sich die Einsicht erarbeiten, daß ihre jeweils beson-

deren Erfahrungen und Interessen miteinander zusammenhängen und ihren einheitlichen Grund im System der kapitalistischen Produktionsweise haben. Nicht diese und jene unerträglichen Zustände und Ungerechtigkeiten, die man durch gezielte Aktionen beheben könnte, sind es, deretwegen eine andere Welt gefordert wird; sondern die Gesellschaft im ganzen ist aus den Fugen geraten, und alle Erscheinungsformen dieses Zerfalls haben eine und dieselbe Wurzel, aus der sie erwachsen. Das Übel an der Wurzel packen, heißt aber radikal denken.

Solche Radikalität würde erfordern, die vielen Einzelperspektiven in eine Zentralperspektive einzubringen. Die Mannigfaltigkeit der Widerstandmotive bedarf einer aus Ursachenforschung hervorgegangenen Systematisierung. Das ist etwas anderes als die bloße Addition der verschiedenartigen Proteste und als ein Kompromiß zwischen verschiedenen Meinungen und Einzelinteressen. Das System der Ausbeutung und Unterdrückung ist eine Totalität ineinandergreifender Herrschaftsfunktionen. Die politische Gegenmacht, die der Generalsekretär des baskischen Gewerkschaftsbundes EAL forderte, kann nur von einer an strategischen Prioritäten sich orientierenden Organisation aufgebaut werden.

Strategische Prioritäten bestimmen sich aber nicht aus den Opportunitäten der Alltagspolitik, sondern aus der übergreifenden Struktur langfristiger gesellschaftlicher Prozesse. Die Erkenntnis der allgemeinen Gesetzlichkeiten der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Folgen (die in der Erklärung des französischen Initiativkomitees angesprochen werden) ist die Voraussetzung für die Bildung einer politischen Gegenmacht. Dieser Erkenntnisprozeß wird in den lokalen und nationalen Foruminitiativen vorangetrieben werden müssen, wenn die Bewegung von einem Kommunikationsmedium zu politischer Effektivität voranschreiten will. So weit sind wir aber noch lange nicht.

Die imperialistische Demontage des Völkerrechts

Plenarvortrag in der Achse 2 des 2. Europäischen Sozialforums, Paris 12. - 15. November 2003

von Hans Heinz Holz

Spätestens seit dem zweiten Irakkrieg ist jedem klar geworden, daß die Welt, die wir seit 1945 nach der Besiegung des Faschismus errichten wollten, nicht mehr existiert. Mit der Gründung der UNO, ihrer Charta, ihren Deklarationen und Verträgen sollte eine Ordnung des Friedens und zunehmender sozialer Gerechtigkeit auf der Grundlage des Völkerrechts geschaffen werden.

In jeder Klassengesellschaft ist zwar das Recht das Ordnungsinstrument der herrschenden Klasse. Aber um ihre Herrschaft zu stabilisieren, muß die herrschende Klasse den Ausgebeuteten und Unterdrückten erträgliche Überlebensbedingungen gewähren und eine Ordnung garantieren, in der sie existieren können. Das leistet die Rechtsordnung für den einzelnen im Staat und zur Sicherung des Friedens im Völkerrecht. Das Recht ist zwar das Recht der herrschenden Klasse, aber insofern auch die Herrschenden es zu respektieren haben, ist es auch ein Stück Macht für die Beherrschten.

Was wir heute erleben, ist die Liquidation der Rechtsordnung, auf der die bürgerliche Gesellschaft beruhte. Gewiß ist der wachsende materielle Reichtum der Menschheit im Kapitalismus immer ungleich verteilt worden. Die Akkumulation des Kapitals häufte den Reichtum bei wenigen und in wenigen Ländern. Aber in geringem Umfang mußte auch den Bedürfnissen und Erwartungen der vielen Menschen Rechnung getragen werden. Und wo diese die Unentbehrlichkeit ihrer Arbeitskraft als Waffe einsetzen konnten, gelang es ihnen auch, aus einem kleinen Anteil an den Profiten des Kapitals soziale Verbesserungen zu erkämpfen und in der

Rechtsordnung zu verankern. Daß es eine Alternative in den Ländern der Welt gab, in denen der Sozialismus aufgebaut wurde, begünstigte ihren Kampf. Daß die UNO in ihren Menschenrechtskatalog nicht nur die sogenannten „bürgerlichen Menschenrechte" aufnahm, sondern auch die „sozialen", war ein sichtbarer Ausdruck dieser erfolgreichen Kämpfe.

In der von der Vollversammlung der UNO am 10. Dezember 1948 verabschiedeten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" heißt es:

Art. 23, Abs. 1: „Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit."

Art. 24: „Jeder Mensch hat Anspruch auf Erholung und Freizeit".

Art. 25, Abs. 1: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände".

Diese Grundsätze wurden in der Internationalen Konvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966 weiter spezifiziert. Insbesondere wurde durch die Art. 2 und 11 zu „internationaler Hilfe und Zusammenarbeit, insbesondere auf wirtschaftlichem und technischem Gebiet" und bei Maßnahmen zur Bekämpfung des Hungers verpflichtet. Schon am 18. Oktober 1961 hatte die Europäische Sozialcharta dieselben Normen für die Mitglieder des Europarates festgelegt.

Der UNO-Menschenrechtskatalog und die darauf folgenden internationalen Konventionen und Verträge sind materiell Gehalt des Völkerrechts. Sie verbürgen allen Menschen, nicht nur den Bürgern der wohlhabenden Industrieländer, soziale Sicherheit. In einigen Artikeln wird ausdrücklich das anzustrebende Ziel der Vollbeschäftigung genannt. Nirgendwo steht, daß der Profit Vorrang vor der Erfüllung der sozialen Rechte beanspruchen dürfe.

Das ist die Ausgangslage. Was ist daraus geworden? Ich spreche nicht von den Jahren, in denen diese Rechtsnormen nicht oder nur halbherzig erfüllt wurden. Immerhin gab es langsame, schrittweise Fortschritte, wenigstens in einigen Teilen der Welt. Kein Staat hätte gewagt, die Geltung dieser Rechte in Frage zu stellen, allenfalls wurden die Bedingungen ihrer Durchsetzbarkeit als nur unvollständig gegeben betrachtet.

Heute aber, mehr als fünfzig Jahre nach der UNO-Deklaration, fast vierzig Jahre nach den Konventionen, sieht das anders aus. Die sich „neoliberal" nennende Ausbeutungsstrategie der großen Kapitalmächte liquidiert eines nach dem anderen die Rechte auf soziale Sicherheit; und zum Schutz ihrer Politik des Sozialabbaus liquidieren im Dienste des großen Kapitals handelnde Regierungen auch gleich noch die seit der französischen Revolution unverbrüchlichen bürgerlichen Rechte. Vom Terror der US-Armee gegen die Zivilbevölkerung im Irak bis zu den prozeßrechtichen Ungeheuerlichkeiten im Prozeß gegen Milosevic, von den Gefängniskäfigen in Guantanamo bis zur erbarmungslosen Zerstörung ziviler Objekte ohne Rücksicht auf das Leben von Frauen und Kindern in den besetzten palästinensischen Gebieten sind die Regeln des Völkerrechts der Mißachtung ausgesetzt.

Daß die sozialen Menschenrechte zwar verkündet, aber nicht verwirklicht werden, liegt in der Natur des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Dieses beruht auf der Abschöpfung von Mehrwert aus der Produktion durch die

privaten Eigentümer der Produktionsmittel. Dieser Mehrwert oder Profit wird wieder zu privater Aneignung weiteren Mehrwerts investiert - das ist die Akkumulation des Kapitals. In diesem Prozeß muß sich letzten Endes die Kluft zwischen denen, die zugewinnen, und jenen, die zurückbleiben, immer weiter auftun. Das System des Kapitalismus läßt keine globale Entwicklungsstrategie zu - wie eine einfache Berechnung des Verhältnisses von Produktion und Aneignung zeigt -, sondern nur die Einbeziehung eines kleinen Teils der Bevölkerung in den vom Kapitalexport erfaßten Ländern. Die große Mehrheit wird zunehmend der Verelendung preisgegeben; und schließlich erfaßt dieser Niedergang auch die reichen Industriestaaten selbst.

Die Ausbeutung weckt Widerstand - sowohl der verelendeten Massen als auch der nationalen Bourgeosieen, die sich auf den Stand quasi-kolonialer Hilfskräfte beschränkt sehen. Auf der letzten Tagung der World Trade Organization in Cancún hat der Aufruhr der Entwicklungsländer gegen das Diktat der reichen Industriestaaten deutlich gemacht, daß die Herrschaft der Kapitalmächte nicht mehr unwidersprochen hingenommen wird. Gleichberechtigung wird nicht nur formal, sondern mit ihrem sozialen Gehalt eingeklagt.

Immerhin stehen mit China und Indien zwei Staaten an der Spitze dieses neuen Anti-Kolonialismus, die mehr als zwei Milliarden Menschen, etwa die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren. Die hier in ihren Anfängen sich abzeichende Tendenz bedroht den Nerv der kapitalistischen Akkumulation in den Metropolen - noch nicht heute und morgen, aber doch in absehbarer Zeit. Die Antwort der Ausbeuter reicht von Korruption über finanzielle Erpressung bis zur offenen militärischen Gewalt. Die „neue Weltordnung", die nicht nur George W. Bush verkündet, sondern die von Kohorten von Apologeten des Kapitals ausgemalt wird, bedeutet die Liquidation der Völkerrechtsordnung, die aus dem Prozeß des Zusammenwachsens der Welt zu einer ökonomischen Einheit als deren Organisationsform hervorgegangen ist - noch keineswegs Gleichheit und Sicherheit und Frieden garantierend, aber doch die Voraussetzungen für den Übergang zu einer Weltfriedensordnung schaffend. Der Artikel 2 der UNO-Charta, der das Verbot von Angriffskriegen enthält, ist ein Herzstück der Völkerrechtsordnung. Wenn niemand mehr bewaffnet angreift, gibt es auch keinen Krieg mehr.

Aber eine Ausbeuterherrschaft, die sich erhalten will, braucht Machtmittel zur Unterdrückung des Protestes und zum Schutz gegen Veränderungen. Sie braucht Kriege zwischen den Ausgebeuteten, um sie gegen einander ausspielen zu können. Die auf Ausdehnung ihrer Anteile an der auszubeutenden Welt angewiesenen Kapitalgruppen müssen untereinander in Streit um Rohstoff- und Energiequellen geraten, müssen Märkte und Einflußzonen erobern, um ihr Kapital akkumulieren zu können. Dieser Streit wird zunächst in Putschen und Bürgerkriegen in den abhängigen Ländern ausgetragen, aber schließlich kann er auch wieder einmal in einen Krieg zwischen den Großen einmünden. In jedem Fall bleibt diese Welt unfriedlich. Die Institutionen des Völkerrechts, die auf Eindämmung von Gewalt ausgerichtet sind, passen nicht mehr in diese imperialistische Phase des globalem Kapitalismus. Richard Perle, einflußreicher Berater der US-Regierung, fordert offen die Abschaffung der UNO respektive ihrer friedenstiftenden Funktionen, da sie dem Marsch der USA zur Weltherrschaft entgegenstehe. Arnim Steinkamm, Völkerrechtsprofessor an der Hochschule der deutschen Bundeswehr in München, möchte den präventiven Angriffskrieg zur „Völkerrechtsgewohnheit" werden lassen. Es sind nicht dieselben nationalen Interessen, die die Herren Perle und Steinkamm im Sinn haben. Aber die konkurrierenden Metropolen haben die gleiche imperialistische Aggressivität.

 

Die Liste dieser Stimmen ließe sich verlängern. Doch nicht an den Namen von Politikern und ihren ideologischen Handlangern ist das Problem festzumachen. Es ist das System des Kapitalismus, dessen Prinzip ständiger konkurrierender Expansion der Kapitalien die Aggressivität ebenso hervorbringt, wie es mitten in zunehmendem gesellschaftlichen Reichtum das Elend wachsen läßt. Wer der Demontage des Rechts auf Frieden und soziale Sicherheit entgegenwirken will, darf nicht bei Korrekturen dieses oder jenes Mißstands stehen bleiben! Das System als ganzes muß verändert werden. Die sich rasant verschärfende Krise der Menschheit - eine ökonomische, ökologische, politische und kulturelle Krise - erfordert den Übergang zu einer neuen Gesellschaftsordnung, in der die Friedens-, Gleichheits- und sozialen Rechte, deren Idee wir doch schon besitzen, auch Wirklichkeit werden. Diese Gesellschaft kann nur der Gegensatz zum Kapitalismus sein - ein Sozialismus, dessen humane Inhalte wir erkämpfen müssen.

Warum Sozialismus? Ist nicht der Sozialismus in Osteuropa ruhmlos zusammengebrochen? Auf die Gründe des Zusammenbruchs - externe wie interne - kann hier nicht eingegangen werden. Aber eine Niederlage ist kein Beweis gegen das, wofür die Unterlegenen gekämpft haben - sie sagt allenfalls etwas aus über Kräfteverhältnisse und Unzulänglichkeiten. Natürlich müssen die Gründe der Niederlage bedacht werden, wenn über den Sozialismus als Alternative zur bestehenden Gesellschaft gesprochen wird.

Das ist der notwendige Blick zurück. Aber er bringt uns nicht weiter. Wir müssen den Blick nach vorn richten, und wir können die Gründe angeben, warum die Alternative zum schlechten Bestehenden eine sozialistische ist. Wenn die Akkumulation des Kapitals in der privaten Aneignung des gesellschaftlich erzeugten Reichtums das Grundübel dieser Weltordnung ist, aus dem alle Unmenschlichkeit der Verhältnisse, Ausbeutung und Verelendung, Repression und Kriege, Ungleichheit und Ungerechtigkeit entspringen - dann kann nur die Abschaffung der auf den Gesetzen der Akkumulation sich aufbauenden Gesellschaftsformation diese Übel beseitigen. Es ist eine Illusion, von einem verbesserten Kapitalismus, einem Kapitalismus „mit menschlichem Antlitz" zu träumen. Für die Menschheit, die in Würde und Wohlstand überleben will, gibt es keinen besseren Kapitalismus, sondern nur das Andere des Kapitalismus.

Die Herrschenden wissen das. Unter der Maske scheinbarer Reformen schaut das wahre Gesicht von Ausbeutung und Unterdrückung hervor. Die bürgerliche Gesellschaft kann nicht halten, was sie einmal versprochen hat: Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit. Weil sie ihre heroischen Illusionen verleugnen muß, ist die herrschende Klasse gezwungen, die Rechte zu liquidieren, die sie einmal gegen den Feudalismus für sich erkämpft hat.

Zum ersten Mal seit den Befreiungskämpfen der Entkolonialisierung und nach der Errichtung der wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten des Neokolonialismus hat sich nun aber der Widerstand gegen den Imperialismus wieder formiert. Dafür gibt es sichtbare Zeichen:

Aber auch die Imperialisten selbst geraten mehr und mehr in Konflikte untereinander.

Zwischen den USA und der EU herrscht inzwischen an vielen Punkten ein offener Handelskrieg. Japans Entscheidung für eine nukleare Aufrüstung - fünfzig Jahre nach Hiroshima und Nagasaki - eröffnet eine doppelte Front: gegen die Volksrepublik China, traditionelles Objekt des Begehrens der japanischen Imperialisten, und gegen die Hegemonie der USA im pazifischen Raum.

Jeder Schritt zur Behauptung der Vormacht der imperialistischen Staaten und jeder Schritt in ihrem Machtkampf untereinander ist auch ein Schritt auf dem Wege zur Zerstörung des Völkerrechts als Grundlage einer Weltfriedensordnung - ein Schritt weiter zur Unterdrückung der Völker und zu einer Welt von Krieg und Hunger, von Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Nur eine andere Weltordnung - und das heißt: eine nicht-kapitalistische - kann eine Zukunft eröffnen, die das Überleben der Menschheit garantiert und in der sich ein Überleben lohnt.

 

Für den Erhalt des Völkerrechts als Friedensordnung

Das imperium americanum ist keine Friedensordnung*

von Bernhard Graefrath

  1. In den letzten Jahren erleben wir eine zunehmende Militarisierung der Außenpolitik. Sie hat bereits zu einer ernsthaften Gefährdung der auf dem Gewaltverbot und der souveränen Gleichheit aller Staaten basierenden Völkerrechtsordnung geführt. Dabei ist diese Ordnung erst im Ergebnis des Sieges der Antihitlerkoalition im zweiten Weltkrieg entstanden, und zwar wie alles Völkerrecht, durch Übereinkunft der Staaten. In der Charta der Organisation der Vereinten Nationen wurden zum ersten Mal in der Geschichte so grundlegende Rechtsprinzipien wie die souveräne Gleichheit aller Staaten, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das Verbot der Drohung mit und der Anwendung von Gewalt sowie die Pflicht zur friedlichen internationalen Zusammenarbeit und Streitbeilegung als Basis einer internationalen Friedensordnung vereinbart. Noch unter dem unmittelbaren Eindruck der brutalen menschenvernichtenden Gewalt, mit der die deutschen Faschisten im zweiten Weltkrieg versucht hatten, ihre Vorstellungen von der Neuordnung Europas und die Weltherrschaft durchzusetzen, war man entschlossen sicherzustellen, daß zukünftig nicht mehr die Gewalt der Mächtigen, sondern das Recht die Beziehungen zwischen gleichberechtigten Staaten bestimmen und den Frieden gewährleisten sollte. So entstanden unter dem starken Einfluß der USA am Ende des Krieges zwei Institutionen, die für die zukünftige Entwicklung richtungweisend sein sollten: das Nürnberger Tribunal zur Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher und die Organisation der Vereinten Nationen als Instrument zur kollektiven Friedenssicherung. Das markiert einen Fortschritt in der politischen Organisation unserer Zivilisation von historischer Dimension. Völkerrecht war nicht mehr auf die "zivilisierten Staaten" beschränkt. Es sollte universell gelten und auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ruhen. Das Recht zum Kriege wurde nicht nur als Kriterium der Souveränität des Staates verbannt, es wurde der Krieg als Mittel der nationalen Politik verboten und eine Organisation aller Staaten zur kollektiven Friedenssicherung konzipiert, eine internationale Rechtsordnung geschaffen, in der auch Individuen für internationale Verbrechen verantwortlich gemacht werden sollten.
  2.  
  3. In den Jahren zwischen 1945 und 1990 wurden die internationalen Beziehungen durch den Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus, einen Systemkonflikt, geprägt. Er führte zeitweilig zu schärfster Konfrontation, selbst unmittelbarer Kriegsgefahr. Diese Periode wurde deshalb allgemein als die Zeit des "Kalten Krieges" bezeichnet. Damit wurde angedeutet, daß die Beziehungen nicht auf dem Niveau der konzipierten Friedensordnung waren. Trotzdem gelang es, das von der Charta vorgezeichnete System weitgehend durchzusetzen und auszubauen. Das ist um so bemerkenswerter, als sich in dieser Zeitspanne so elementare Prozesse vollzogen wie die Entkolonialisierung und die internationale wissenschaftlich-technische Revolution, der materielle Hintergrund dessen, was wir generalisierend als Globalisierungsprozess bezeichnen.

Rückblickend und im Gegensatz zur gegenwärtigen völkerrechtsnihilistischen Propaganda ist es erstaunlich, in welchem Umfang trotz des scharfen Systemkonflikts eine stabile Völkerrechtsordnung rechtlich gestaltet werden konnte. Dazu gehört auch die internationale Regelung völlig neuer Bereiche wie der Schutz der Menschenrechte, das Umweltrecht, das Weltraumrecht, das erweiterte Seerecht usw. Dieses Bild wird auch nicht durch die Stellvertreterkriege und imperialistische Ausbrüche wie in Vietnam, Grenada, Panama, Afghanistan oder den andauernden israelisch/palästinensischen Konflikt verwischt. Sie markieren jedoch deutlich die Mängel und Unvollkommenheiten der Völkerrechtsordnung dieser Zeit.

  1. Die Zunahme der Völkerrechtssubjekte, das schnelle Wachstum und die Vielfältigkeit in den Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern, das Erfassen völlig neuer Gebiete und Gegenstände, das alles erforderte ein umfängliches Regelwerk, um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen und zu organisieren. Das konnte sich nur auf der Grundlage eines klaren Systems grundlegender zwingender Normen entfalten, wie es in der UNO-Charta vorgegeben war. Schließlich ist es in den internationalen Beziehungen nicht anders als im Straßenverkehr. Je dichter und komplizierter der Verkehr, desto notwendiger ist eine für alle geltende Straßenverkehrsordnung und ihre Durchsetzung, um den Verkehr flüssig zu halten und die Gleichberechtigung ihrer Teilnehmer zu gewährleisten. Das UNO-System - das 1945 unter Federführung der USA zustande kam - hat trotz des "Kalten Krieges" und der dadurch bedingten Einschränkungen diese Funktion weitgehend erfüllt, die Vereinbarung umfangreicher völkerrechtlicher Verträge und internationaler Organisationen befördert. Dabei war in dieser Zeit der Sicherheitsrat infolge des Vetorechts der ständigen Mitglieder über weite Strecken nicht voll arbeitsfähig. Der entscheidende Mangel dieses Systems allerdings war und ist - darauf möchte ich nachdrücklich hinweisen, ohne das hier im einzelnen ausführen zu können - daß es trotz beachtlicher Bemühungen nie gelungen ist, eine demokratische internationale Weltwirtschaftsordnung durchzusetzen. Alle Versuche in dieser Richtung, die von den nicht paktgebundenen Ländern und den sozialistischen Staaten getragen wurden, scheiterten.
  2. Das Verschwinden der sozialistischen Staaten Europas, "das Ende des ‘Kalten Krieges’ wurde in Amerika als Triumph der bewaffneten Reaktion gefeiert, als ein Höhepunkt, der das ‘Ende der Geschichte’ durch den globalen Sieg des amerikanischen Ethos markierte. In Europa beruhte der Jubel weit mehr auf der Hoffnung, daß das im ‘Kalten Krieg’ verschwendete halbe Jahrhundert der Feindseligkeiten und der Logik der gegenseitigen Abschreckung ... nun endlich zu einem Ende gekommen war." Der Hinweis auf diese unter-schiedliche Reaktion stammt von den britischen Autoren Ziauddin Sardar und Merryl Wyn Davies . Dieser Unterschied, der aus grundlegend verschiedenen außenpolitischen Konzeptionen resultiert, ist in Europa wenig beachtet worden. Allgemein bestand die Hoffnung, daß mit dem Wegfall der Systemkonfrontation die Friedensordnung der UNO-Charta nunmehr effektiver funktionieren könnte. Insbesondere wurde erwartet, daß der Sicherheitsrat frei von boykottierenden Vetos wirksam seine friedenssichernde Aufgabe wahrnehmen werde.

Die Sicherheitsratsresolution 678 (1990) ermöglichte erstmals mit den Stimmen aller ständigen Mitglieder die Anwendung militärischer Gewalt im Rahmen der UNO. Sie legitimierte den Krieg gegen den Irak zum Zwecke der Befreiung Kuwaits von der irakischen Okkupation. Daß sie aber entgegen den Bestimmungen der Charta die Kontrolle über den Einsatz militärischer Mittel aus der Hand gab und den USA überließ, wurde geflissentlich übersehen. Bush sen. sprach von einer "Neuen Weltordnung". Es war die Illusion verbreitet, daß nunmehr das UNO-System voll funktionsfähig sei und den internationalen Frieden sichern könne.

In dieser "Aufbruchstimmung" legte Boutros Ghali, der damalige Generalsekretär der UNO, seine im Auftrag des Sicherheitsrates angefertigte "Agenda für den Frieden" vor. Sie stellte darauf ab, die friedenserhaltenden Aktivitäten der UNO u. a. durch Erweiterung der präventiven Diplomatie und die Bereitstellung von UN-Truppen zu stärken. Wir haben noch gut in Erinnerung, daß Boutros Ghali damit am Widerstand der USA-Politik scheiterte und gehen mußte. Völlig isoliert, verhinderten die USA mit ihrem Veto im Sicherheitsrat mit einer gegen 14 Stimmen in mehreren Abstimmungen seine Wiederwahl als Generalsekretär und setzten die Wahl von Kofi Annan durch.

  1. 1997 veröffentlichte Brzezinski sein Buch "Die einzige Weltmacht" mit dem bezeichnenden Untertitel, "Amerikas Strategie der Vorherrschaft" . Er beschrieb, wie und warum durch die einzige Weltmacht das Gefüge des geltenden Völkerrechts systematisch durch eine imperiale Ordnung ersetzt wird. In den letzten 12 Jahren sind alle Illusionen über die "Neue Weltordnung" gründlich zerstört worden. Zahlreiche Kriege haben Millionen Opfer gefordert, neue Konflikte sind entstanden, alte wieder aufgebrochen. Die UNO war nicht in der Lage, ihr Gewaltmonopol durchzusetzen. Sie wurde weitgehend von den USA boykottiert oder als Deckmantel für die Durchsetzung der USA-Politik mißbraucht. Die auf Hegemonie orientierte unilateralistische Politik der USA handelt nach dem Grundsatz, "Amerika first". Damit ist für die USA die UNO nur noch dann relevant, wenn sie ihnen nützlich erscheint, ansonsten sind sie erklärtermaßen auch bereit, ohne oder gegen die UN zu agieren.

Zu Zeiten des "Kalten Krieges" war man beiderseits bemüht, direkte militärische Konfrontationen zu vermeiden, den status quo möglichst im Gleichgewicht zu halten und Konflikte oder potentielle Gefahren durch Übereinkommen und Regeln zu lösen oder abzuwenden. In den letzten Jahren aber haben die USA das Streben nach multilateralen Lösungen durch hegemoniale Politik, d.h. Alleingänge, Druck, Intervention mit ökonomischen oder auch militärischen Mitteln ersetzt. Wer nicht mitmacht, wird als Feind betrachtet. Es wurde offensichtlich, daß die USA die

Weltanschauung ihrer Westernfilme "als politische Einstellung bei internationalen Angelegenheiten globalisierten ... und die Doktrin in die Tat umsetzten, daß in der Außenpolitik Gewalt das erste und einzige Mittel einer zuverlässigen Konfliktlösung ist." Eine solche Politik ist gegebenenfalls bereit, sich über bestehende Regeln hinwegzusetzen. Sie empfindet die Schaffung neuer Regeln, die auf der Grundlage der Gleichberechtigung der Staaten durch Vereinbarung entstehen und die friedliche Zusammenarbeit der Völker sichern, als überflüssig und störend. Selbst Vereinbarungen zur Bekämpfung des internationalen Verbrechens werden negiert oder verhindert. Das Beispiel der Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofs durch die USA zeigt das sehr eindringlich.

  1. Inzwischen haben wir 12 Jahre Mißbrauch des Embargos gegen den Irak erlebt, über Jahre wurde völkerrechtswidrig irakisches Territorium bombardiert, es wurden angebliche Vergeltungsschläge gegen Tunesien und Afghanistan geführt, die brutal die territoriale Integrität dieser Staaten verletzten. Wir sind Zeugen des blutigen israelisch/palästinensischen Konflikts, der praktisch seit 1948 andauert, ohne daß die UNO, die USA oder Europa der Gewaltspirale ein Ende setzen. Wir haben von der UNO nicht legitimierte Kriege, d. h. Aggressionskriege, gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak hinter uns und wissen, daß sie alle mit Hilfe einer verlogenen Medienkampagne vorbereitet und fernsehwirksam dargestellt wurden. Das zielte nicht nur darauf ab, die völkerrechtswidrigen Kriege zu rechtfertigen. Auf diese Weise sollte zugleich die uneingeschränkte Geltung des völkerrechtlichen Gewaltverbots untergraben, zukünftige prä-
  2. ventive Militäraktionen von Eingreiftruppen ideologisch vorbereitet und die Menschen darauf orientiert werden, daß nunmehr von starker Hand Ordnung geschaffen wird.

Diese Beispiele mögen genügen, um zu belegen, in welchem Umfang das Gebot der friedlichen Zusammenarbeit der Staaten und das Gewaltverbot der UNO-Charta bereits ausgehöhlt wurden. Die Völker haben allen Grund, sich entschieden für den Erhalt der nach dem zweiten Weltkrieg im Völkerrecht erreichten Errungenschaften einzusetzen. Nicht zu Unrecht wurde der USA-Krieg gegen den Irak auch als Krieg gegen das Völkerrecht bezeichnet. Was als "Krieg gegen den Terrorismus" ausgegeben wird, ist weder Krieg im völkerrechtlichen Sinne noch Polizeiaktion. Es droht sowohl die souveräne Gleichheit der Staaten als auch grundlegende Menschenrechte zu untergraben. Dieser "Krieg gegen den Terrorismus" entzieht sich den internationalen Regeln des Völkerrechts, insbesondere auch dem humanitären Völkerrecht ebenso wie den innerstaatlichen Regeln des Polizeirechts, eines fairen Prozesses und humaner Strafverfolgung. Er verletzt allgemein anerkannte Menschenrechte, die heute in weltweiten Konventionen als elementare Werte unserer Zivilisation fixiert sind. Die amerikanische Gesetzgebung über die Einrichtung spezieller Militärgerichte und die Behandlung der von den USA gefangen gehaltenen Personen in Guantanamo, Bagram, Diego Garcia und Bagdad sind dafür überzeugende Belege.

  1. Die Bush-Administration ruft zum "Krieg gegen den Terrorismus" oder gegen "Schurkenstaaten" auf, als gäbe es zur Abwehr oder Verfolgung von Verbrechen oder Völ-kerrechtsverletzungen keine Regeln. Für sie ist der Feind im Krieg gegen das Böse ein outlaw, der nicht als Rechtssubjekt einer gemeinsamen Rechtsordnung anerkannt und behandelt wird, sondern als "Ungeziefer" oder "Müll" unschädlich gemacht werden muß. Zu seiner Vernichtung sind alle Mittel recht. Sie erwartet, daß andere Staaten sich ihrer Führung unterordnen und gehorchen, andernfalls werden sie als Gegner behandelt. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, lautet die Formel.

Eine solche Konzeption ist prinzipiell rechtsnihilistisch. Sie negiert das Gewaltverbot ebenso wie das Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Sie führt notwendig zur Mißachtung des humanitären Völkerrechts wie der Menschenrechte. Sie ist - wie R. Merkel schreibt - Ausdruck eines "Größenwahns, der aus der singulären Position seiner Gewaltmittel ohne weiteres ein singuläres Recht ableitet: sich an die fundamentalen Normen des Rechts und der politischen Ethik nicht gebunden zu fühlen." Sie setzt an die Stelle einer auf Gleichberechtigung beruhenden Rechtsordnung eine Hegemonialordnung.

  1. Inzwischen wird für alle drei Kriege als Rechtfertigungsgrund Schutz der Menschenrechte, Befreiung von Gewaltherrschaft geltend gemacht, obgleich jedermann weiß, daß das nach dem geltenden Völkerrecht keine Rechtfertigung für Militäraktionen ohne Mandat des Sicherheitsrates ist.

Wie gefährlich es z.B. ist, den Schutz der Menschenrechte als Rechtfertigung für den Einsatz militärischer Mittel, die Entfesselung eines Krieges, auszugeben, wurde bereits durch das Strategie-Konzept der NATO vom April 1999 unterstrichen. Darin wurde der NATO-Krieg gegen Jugoslawien zur Richtschnur für zukünftige militärische Aktivitäten der NATO erhoben. Ausdrücklich wird der militärische Einsatz für Fälle vorgesehen, die „nicht unter Artikel 5 (des NATO-Vertrages) fallen," d. h. die nicht der kollektiven Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff oder der Erfüllung eines UN-Mandates dienen, also völkerrechtswidrig sind. Solche militärischen Aktionen werden als „Krisenreaktionseinsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung" schön geredet. Dabei kann es sich z. B. um ausgedehnte und langanhaltende Luftbombardements wie im Krieg gegen Jugoslawien handeln oder um die Besetzung fremder Länder wie in Afghanistan und im Irak. Zu den Risiken, die angeblich zu solchen "Krisenreaktionseinsätzen", d. h. zum Krieg berechtigen, werden ausdrücklich gezählt: "ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten...." Daß derart begründete militärische Aktionen nach geltendem Völkerrecht verboten sind, wird in dem Strategiebeschluß der NATO und ebenso in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sorgfältig verschwiegen. Bekanntlich befand das Bundesverfassungsgericht, daß diese globale Interventionsstrategie im Einklang mit der Zielsetzung des NATO-Vertrages steht und deshalb keine Vertragsänderung ist, die eine parlamentarische Zustimmung erfordert hätte. Dabei ist für jedermann, der lesen kann, klar, daß die im Strategiepapier angeführten Rechtfertigungen für bewaffnete Interventionen nicht als bewaffnete Angriffe im Sinne des Artikels 5 des NATO-Vertrages oder des Artikels 51 der UN-Charta ausgegeben werden können.

 

Inzwischen ist die EU dabei, nach dem Beispiel der NATO eine "Eingreiftruppe" aufzustellen. Auch hier handelt es sich nicht mehr um ein klassisches Verteidigungsbündnis gegen einen Angriff. Vielmehr soll eine völkerrechtswidrige Interventionstruppe geschaffen werden, die überall in der Welt im Interesse der EU eingesetzt werden kann, wenn diese das für nötig hält. Auch diese Eingreiftruppe soll unabhängig davon eingesetzt werden, ob ein bewaffneter Angriff oder ein Mandat des Sicherheitsrates vorliegt. Die Bundesregierung, obgleich eigentlich durch das Grundgesetz gebunden, betätigt sich als treibende Kraft dieser Entwicklung. Dabei dient die Bundeswehr nach dem Grundgesetz ausschließlich der Verteidigung. Weder mit dem Grundgesetz noch mit dem geltenden Völkerrecht läßt sich rechtfertigen, daß die Bundeswehr von einer auf die Verteidigung orientierten Armee in eine Eingreiftruppe verwandelt wird, die in fremden Ländern eingesetzt werden kann, um Krisen zu bewältigen, die die EU oder NATO u.U. selbst herbeigeführt haben. Diese Umstellung ist Teil einer Politik der Neuordnung Europas und der Welt, die die geltende Völkerrechtsordnung auszuhebeln sucht.

  1. Trotzdem gibt es nicht wenige apologetische Stimmen, die diese Verletzungen des geltenden Völkerrechts als Präzedenzfälle ausgeben. Sie versuchen sie in Quellen für ein Neues Völkerrecht umzudeuten. Vor allem ist man bemüht, das Gewaltverbot durch eine Norm zur Rechtfertigung sogenannter präventiver Selbstverteidigung zu ersetzen. Als typisches Beispiel möchte ich M. Reisman, einen der Herausgeber des American Journal of International Law anführen. Er argumentiert: Normen haben nur dann Sinn, wenn sie ihren Zweck erfüllen. So auch das Gewaltverbot. Unter den gegenwärtigen Bedingungen müsse die USA das Recht auf preemptive self-defence haben, das viel mehr sei als anticipatory self-defence. Aber dieses Recht könne natürlich nicht allen zustehen, das würde Unsicherheit bringen. Die Juristen sollten sich daher damit befassen, die Kriterien für die Ausübung der preemptive self-defence auszuarbeiten. Zu recht hat Reinhard Merkel einem solchen "Räsonnement" entgegengehalten: "Jeder Aggressionskrieg ist ein Anschlag auf das Fundament jeder denkbaren internationalen Ordnung, die eine des Rechts sein soll," weil die Grundnorm eben das Verbot der Androhung oder Anwendung von Gewalt ist. Selbst der UN-Generalsekretär Kofi Annan kam nicht umhin, in seiner Eröffnungsrede zur diesjährigen Generalversammlung im Konzept präventiver Kriege einen "fundamentalen Bruch mit dem Prinzip (zu sehen), das, wenn auch nicht ohne Fehler, in den vergangenen 58 Jahren für Frieden und Stabilität gesorgt hat."

Sehr häufig wird auch einfach erklärt, daß es doch nicht richtig wäre zuzusehen, wie die Menschenrechte massiv verletzt werden. Das Völkerrecht sei eben unzureichend, wenn es eine militärische Abwehr von Terroristen oder Banden durch ausländische Kräfte, durch eine "humanitäre Intervention", nicht zulasse. Dann müsse man eben das Völkerrecht ändern.

Aber ein Recht auf präventive Selbstverteidigung kann gewohnheitsrechtlich nicht durch die Verletzung des Gewaltverbots geschaffen werden. Für die Entstehung eines neuen Gewohnheitsrechts fehlt einfach die Zustimmung der großen Mehrheit der Staaten, insbesondere der Betroffenen. Eine solche Aufhebung des Gewaltverbots ist auch nicht erstrebenswert. Sie wäre ein verheerender Rückschlag, ein Rückfall ins Faustrecht. Damit würde nur das Recht des Stärksten legitimiert. Eine solche

Rechtsänderung ist auch völlig unnötig. Der Sicherheitsrat kann jederzeit notwendige Maßnahmen treffen, wenn er eine Friedensbedrohung feststellt. Er muß bereits nach geltendem Recht keineswegs warten, bis eine Friedensverletzung vorliegt. Außerdem hat der Sicherheitsrat in den letzten Jahren den Begriff der Gefährdung des Friedens und der internationalen Sicherheit schon so breit ausgelegt, daß er durchaus massenhafte systematische Menschenrechtsverletzungen als Friedensgefährdung erfassen und dagegen ökonomische oder militärische Sanktionen beschließen kann. Es gibt also keinen Grund, einzelnen Staaten ein Recht zur "humanitären Intervention" zuzugestehen.

  1. Es ist richtig, daß das Völkerrecht bislang, wenn man von den Kooperationspflichten der Staaten einmal absieht, keine effektiven Mittel gegen die Gefährdung der internationalen Sicherheit durch einzelne Personen oder private Banden kennt. Es regelt voranging die Beziehungen zwischen Staaten. Aber gerade im vergangenen Jahr haben die Staaten gegen den erbitterten Widerstand der USA nach jahrzehntelangen Vorbereitungen in Ergänzung bestehender Vereinbarungen zur Bekämpfung des Terrorismus einen Internationalen Strafgerichtshof geschaffen. Im Unterschied zu dem bestehenden Internationalen Gerichtshof der UNO ist er nicht für Rechtsverletzungen der Staaten, sondern für schwere internationale Verbrechen einzelner Personen zuständig, wie Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Vor ihm kann Anklage auch gegen den Willen einzelner Staaten erhoben werden, wenn es dazu ein Ersuchen des Sicherheitsrates gibt. Es sind die USA, die angeblich einen "Krieg gegen den Terrorismus" führen, die diesen Weg der kooperativen Terrorismusbekämpfung mit allen Mitteln behindern. Nachdem sie nicht verhindern konnten, daß der Gerichtshof seine Arbeit aufnimmt, versuchen sie jetzt durch bilaterale Verträge wenigstens sicherzustellen, daß ihre Staatsangehörigen außerhalb der Jurisdiktion des Gerichtshofes bleiben, daß die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von militärischen Aktionen der USA nicht dem Urteil eines unabhängigen internationalen Gerichts unterliegt. Solche Verträge, die die Zielsetzung des ISTGH unterlaufen, sind, in der Sprache des BGB, offensichtlich sittenwidrig, verstoßen gegen die Prinzipien des Völkerrechts und sind deshalb nichtig. Eine erfolgreiche Bekämpfung des Terrorismus erfordert die Zusammenarbeit aller Staaten und die Stärkung der internationalen Rechtsordnung.
  2. Besonders in Vorbereitung des Irakkrieges wurde auch immer wieder versucht, das Gewaltverbot mit dem Argument zu unterlaufen, daß der Krieg als letztes Mittel gerechtfertigt sei. Wenn alle Versuche, Saddam Hussein abzusetzen, nicht fruchten, dann müsse man eben zum Mittel des Krieges greifen, um das irakische Volk zu befreien. Auch die EU hat sich auf die Formel der Rechtfertigung des Krieges als letztes Mittel eingelassen. Aber im gegenwärtigen Völkerrecht gibt es dafür keine Rechtfertigung. Im gegenwärtigen Völkerrecht wird der Krieg eben nicht mehr als Mittel, auch nicht als letztes Mittel zur Fortsetzung der Politik anerkannt. Er wird verboten, und so er stattfindet ist er Ausdruck des Versagens der Politik, der heute friedliche Streitbeilegung geboten ist. Die Charta verbietet nicht nur den Krieg als Mittel der Politik, sie verbietet bereits die Drohung mit Krieg als Mittel der Politik, also auch den Krieg als letztes Mittel anzudrohen. Auch wenn in den Medien immer wieder versucht wird zu suggerieren, daß Verletzungen von Sicherheitsratsresolutionen die Drohung mit Krieg oder die
  3. Entfesselung eines Krieges rechtfertigen, gestattet die derzeitige Rechtsordnung das aus gutem Grund nicht. Auch der Sicherheitsrat kann den Einsatz militärischer Mittel nur anordnen oder billigen, wenn ein bewaffneter Angriff vorliegt oder - und insofern gehen seine Befugnisse eben weiter als die einzelner Staaten - er ausdrücklich das Vorliegen einer Bedrohung des internationalen Friedens feststellt (Art. 39). Es wäre keine Weiterentwicklung, sondern eine Kastration des Völkerrechts, einzelnen Staaten - und sei ihr Sendungsbewußtsein noch so groß - zuzugestehen, nach eigenem Ermessen über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes militärischer Mittel gegen vermeintliche Friedensgefährdungen zu entscheiden. Damit würde der Willkür Tür und Tor geöffnet und das mühsam erkämpfte Gewaltverbot und die Pflicht zur friedlichen internationalen Zusammenarbeit im Prinzip aufgehoben. Auch Kofi Annan warnte, "daß diese Logik zur Ausbreitung einer einseitigen und gesetzlosen Anwendung von Gewalt führen könnte."
  4. Wenn die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak schwere Völkerrechtsverletzungen darstellen, gewinnt natürlich die Haltung der UNO zu diesen Kriegen besondere Bedeutung. Die UNO hat sich zwar in allen drei Kriegen trotz erheblichen Drucks der USA nicht vor den Karren der Bush-Administration spannen lassen. Sie hat regelmäßig dem Drängen der USA auf eine Legitimation der Kriege widerstanden, konnte sie jedoch nicht verhindern. Nach Beendigung der völkerrechtswidrigen Kriege ist die UNO einfach zur Tagesordnung übergegangen, als hätte die Führung eines völkerrechtswidrigen Krieges keinerlei Konsequenzen. Auch Staaten wie Deutschland, Frankreich, Russland und China, die sich nachdrücklich gegen den Überfall auf den Irak ausgesprochen hatten, haben den Krieg nicht als völkerrechtswidrig verurteilt. Die USA und ihre jeweiligen Verbündeten wurden weder für die Entfesselung des Krieges noch für einzelne Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht. Es wurden keinerlei Reparationsforderungen erhoben. Statt Reparationen von den Staaten einzutreiben, die die völkerrechtswidrigen Kriege geführt und die Verwüstungen angerichtet haben, hat die UNO sogenannte Geberkonferenzen veranstaltet oder gefördert, um Mittel aufzutreiben, damit die zerbombten Infrastrukturen wieder aufgebaut werden können. Wie wir im Irak gerade erleben, bedeutet das, daß die Wirtschaft der "siegreichen Länder" auch noch an der Beseitigung der von ihnen angerichteten Schäden verdient und die Lasten des Krieges auf alle Staaten verteilt werden sollen.

Tatsächlich hat die UNO ohne Kommentar die durch den Krieg geschaffene Lage zur Kenntnis genommen, die Macht der Besatzungsmächte und das von ihnen geschaffene Regime anerkannt und sich für den Aufbau der Protektorate und humanitäre Hilfe einspannen lassen. Das geschah nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien mit der Sicherheitsratsresolution 1244 (1999). Nach dem Krieg gegen Afghanistan erlebten wir Gleiches mit der Bonner Konferenz im Dezember 2001 und der Resolution 1386 (2001). Durch sie wurde die sogenannte ISAF geschaffen, die dem Schutz des Regimes in Kabul dient, während gleichzeitig die USA, übrigens bis Mitte Oktober noch immer mit Beteiligung deutscher Spezialeinheiten (KSK), im Lande weiter Krieg führen. Neuerdings haben die USA über die NATO - ohne UNO-Mandat oder Kritik - sogar das Kommando über die ISAF in Afghanistan übernommen. Damit liegt das Kommando über die kriegführende Kampftruppe und die UNO- Schutztruppe in einer Hand. Die deutsche Regierung hat dagegen keine Bedenken geäußert. Sie ist glücklich, daß

Bush wieder mit ihr spricht. Aus lauter Dankbarkeit ist die Regierung sogar bereit, das militärische Engagement Deutschlands in Afghanistan auszudehnen, obgleich es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Es ist schon erstaunlich, daß die UNO zuläßt, daß eine kriegführende Partei gleichzeitig Kontingente für eine UNO Schutztruppe stellt, daß UNO-Truppen sogar dem Kommando einer kriegführenden Macht unterstellt werden. Das schließt sich gegenseitig aus. Es dürfte schwierig werden, für solche Einheiten - und das betrifft nunmehr auch deutsche Soldaten - den von der UNO für ihre Truppen beanspruchten Schutz zu gewährleisten.

  1. Auch im Irak hat die UNO bereits mit der Sicherheitsratsresolution 1483 die Herrschaft der USA und ihrer Verbündeten ungeachtet der Völkerrechtswidrigkeit des Krieges anerkannt. In der Resolution findet sich kein Wort darüber, daß es für den Krieg kein UN-Mandat gab, daß die USA für den angerichteten Schaden aufkommen und die Opfer entschädigen müssen. Statt dessen wird akzeptiert, daß der militärische Oberbefehl, die Kontrolle über die Ökonomie und die politische Entwicklung bei den USA liegt. Die Rolle der UNO bleibt auf humanitäre Hilfe beim Wiederaufbau Iraks beschränkt. Unter Berufung auf anwendbares Völkerrecht werden in der Resolution die USA und ihre Verbündeten ohne Einschränkung als Besatzungsmächte anerkannt und als "Behörde" bezeichnet, wobei ausdrücklich auf die einheitliche Führung durch die USA Bezug genommen wird. Angesichts dessen, was täglich über das US-Besatzungsregime in Irak berichtet wird, klingt es aber fast wie Hohn, wenn in der Resolution nicht etwa die USA und ihre Verbündeten, sondern alle Beteiligten aufgefordert werden, "ihre Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, insbesondere auch nach den Genfer Abkommen von 1949 und der Haager Landkriegsordnung von 1907 voll einzuhalten." Der Sonderbeauftragte des Generalsekretärs ist nicht einmal ermächtigt, die Einhaltung wenigstens dieser Regeln zu kontrollieren und darüber zu berichten. Seine Aufgabe beschränkt sich darauf, "die Tätigkeiten der Vereinten Nationen im Zuge der Konfliktnachsorge (sic) im Irak zu koordinieren." Durch die Resolution 1500 (2003) wurde von der UNO auf Anraten ihres damals noch lebenden Sonderbeauftragten sogar eine Zusammenarbeit mit dem von der Besatzungsmacht eingesetzten irakischen Regierungsrat empfohlen. Obgleich die USA ihre Pflichten als Besatzungsmacht im Irak gröblich verletzen, wird das weder in dieser noch in der neuen Resolution des Sicherheitsrates, der Res. 1511 vom 16. Oktober 2003 gerügt. Diese Resolution autorisiert die Aufstellung einer UN-Schutztruppe unter dem Kommando der USA. Sie soll die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Stabilität im Irak beizutragen und die Bedingungen für die Einhaltung des Zeitplanes für die Ausarbeitung einer Verfassung und die Abhaltung von Wahlen sicherzustellen. Wenn sich die UNO in dieser Weise zum Handlanger der USA Besatzungsmacht machen läßt, darf sie sich nicht wundern, wenn sie von der Bevölkerung im Irak immer mehr als bloße Camouflage der USA-Politik wahrgenommen und gleichermaßen wie die Besatzungsmacht zur Zielscheibe von Angriffen irakischer Guerilla wird. Die USA als Hauptmacht der kriegführenden Koalition gegen Irak und zugleich als Kommandeur einer UNO-Schutztruppe mutet wie eine Provokation an und muß zu einer Gefährdung der UNO-Truppen führen. Vergeblich haben mit W. Ullmann Millionen erwartet, daß eine "neue UN Resolution dem neuen Imperialismus nicht zu Diensten sein" dürfe und "die UN jede nachträgliche Legitimierung des Präventivkrieges gegen den Irak eindeutig ausschlies-sen" müßte. Statt die Einhaltung des Völkerrechts durch die Besatzungsmacht zu fordern und zu kontrollieren, um die Souveränität des irakischen Volkes wiederherzustellen, wird eine UN-Truppe aufgestellt, die die Besatzungsmacht entlasten und vor Angriffen der irakischen Bevölkerung schützen soll. Die UN gibt sich damit dazu her, jede Kampfhandlung gegen die Besatzungsmacht als Terrorakt zu diffamieren, den Widerstand des irakischen Volkes gegen die Kolonialisierung als von den USA abhängiges Protektorat zu brechen. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen.
  2. Zwar wollten die meisten Staaten, die für diese Resolutionen stimmten, zweifellos nicht noch nachträglich die USA-Kriege rechtfertigen und in den betreffenden Resolutionen wird auch sorgfältig vermieden, direkt auf den vorausgegangenen Krieg Bezug zu nehmen. Aber indem die UNO ohne Verurteilung die durch die Kriege geschaffene Lage hinnimmt, beugt sie sich der Gewalt des Faktischen. Es ist nicht zu verkennen, daß damit sowohl ihre Autorität als auch die Wirksamkeit des Völkerrechts schwer beschädigt werden. Man versteht, daß es für die Staaten unter den gegebenen Machtverhältnissen schwierig ist, der amerikanischen Willkür Einhalt zu gebieten. Wenn aber die Staaten und insbesondere China, Russland und die EU sich nicht bald entschließen, die Prinzipien der Charta zur Geltung zu bringen, leben wir in einer Spirale sich ständig steigernder Konflikte und rapide abnehmender Rechtssicherheit, wie gerade die derzeitige Lage im Irak wieder zeigt. Mit Bajonetten und elektronisch gesteuerten Waffen läßt sich zwar Friedhofsruhe aber kein dauerhafter Frieden herstellen.
  3. Der israelisch/palästinensische Konflikt ist dafür ein anschauliches Beispiel. Die EU-Staaten haben noch vor dem Irakkrieg erklärt, daß sie entschlossen seien, "für Frieden und Stabilität in der Region und für eine anständige Zukunft aller ihrer Völker zusammenzuarbeiten." Aber sie werden nicht aktiv. Dabei gibt es genügend UN-Resolutionen auf die sie sich stützen könnten. Das betrifft sowohl einen allgemeinen Waffenstillstand, die Rückgabe der besetzten Gebiete, die Aufgabe der kolonialen Siedlungspolitik wie die Beendigung terroristischer Akte und die Abrüstung. So wurde z.B. schon in der Res. 687 (1991) am Ende des ersten Krieges gegen den Irak nicht nur die Beseitigung irakischer Massenvernichtungswaffen gefordert, sondern ausdrücklich festgestellt, daß "von den Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten eine Gefahr für Frieden und Sicherheit ausgeht", und daß es notwendig sei, "dahin zu arbeiten, im Nahen Osten eine Zone frei von Massenvernichtungswaffen zu schaffen." Eine Forderung, die keineswegs nur an den Irak gerichtet war. Sie wurde in der Resolution 1284 (1999) ausdrücklich wiederholt und bleibt aktuell, auch und gerade wenn man im Irak keine Massenvernichtungswaffen mehr gefunden hat. Es gäbe nunmehr allen Grund, bei den Bemühungen um die Befriedung des israelisch/palästinensischen Konfliktes die israelischen Massenvernichtungswaffen in das Abrüstungsprogramm für die Region einzubeziehen und damit einen wichtigen Schritt zur Sicherung des Friedens in der Region zu tun. Kofi Annan hat in seiner Eröffnungsrede zur diesjährigen Generalversammlung nachdrücklich auf diese Notwendigkeit hingewiesen, indem er betonte: "Masenvernichtungswaffen bedrohen nicht allein den Westen oder den Norden". Wenn anstelle einer kollektiven Friedenssicherung weiterhin die einseitige Anwendung militärischer Gewalt toleriert wird, wird die internationale Lage sich nicht nur in dieser Region weiter zuspitzen. Schritt für Schritt würde die auf
  4. Rechtsgrundsätzen aufgebaute kooperative Ordnung nach dem zweiten Weltkrieg durch einen Zustand ersetzt, der lediglich Ausdruck ökonomischer und militärischer Gewalt ist. Eine Friedensordnung kann das nicht werden. Unter diesen Bedingungen werden immer neue Terrorakte und Kriege provoziert und der Gegensatz zwischen arm und reich ins Unerträgliche gesteigert.
  5. Wir erleben schon heute, daß mühselig aufgebaute nationale und internationale Normen zum Schutz der Menschenrechte eingeschränkt und sogar aufgehoben werden. Selbst Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, spricht von einer Bedrohung unserer bürgerlichen Freiheitsrechte und einem drohenden Polizeistaat. Sogar am Verbot der Folter wird gerüttelt. Es wird versucht, die ordentliche Gerichtsbarkeit einzuschränken oder auszuschalten, weil sie angeblich der Terrorismusbekämpfung im Wege steht. Aber gerade die Bekämpfung des Terrorismus erfordert Respektierung der Menschenrechte und internationale Kooperation gleichberechtigter Staaten. Davon zeugen die zahlreichen Abkommen zur Bekämpfung des Terrorismus, die noch während des "Kalten Krieges" zwischen den Staaten vereinbart wurden, und auch die einschlägigen Resolutionen der UNO nach den Anschlägen vom 11. Sept. 2001. Statt dessen werden unter dem Vorwand des Kampfes für Menschenrechte und des "Krieges gegen den Terrorismus" völkerrechtliche und rechtsstaatliche Grundprinzipien eingeschränkt und ausgehöhlt. Mit dem Begriff "Krieg gegen den Terrorismus" wird der Unterschied zwischen strafrechtlicher Verfolgung von Verbrechen einzelner Personen oder Gruppen und völkerrechtlichen Sanktionen gegen Staaten wegen Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen bewußt verwischt. Das kann nicht die Rechtssicherheit erhöhen, son-
  6. dern nur Willkür befördern und die rule of law schwächen, im Völkerrecht wie im innerstaatlichen Recht.

Die Angriffe auf das Gewaltverbot und andere grundlegende Normen des Völkerrechts schaffen kein neues Recht. Sie dienen nicht der Anpassung veralteter Normen, sondern belegen, daß wir Zeugen eines Rückfalls in imperiale Zeiten sind, in denen das Recht des Stärkeren galt. Da war das Recht zum Krieg noch Kriterium der Souveränität und die militärische Vormachtstellung einiger Staaten, die Vasallen- und Tributpflicht schwacher Staaten sowie zahlreiche Protektoratsverhältnisse wurden gerechtfertigt. Trotzdem wird dieser Rückfall vielfach als alternativlos dargestellt, als logische Folge der Globalisierung. Es wird empfohlen zu begreifen, daß die US-amerikanische Vormachtstellung nicht nur das militärische und ökonomische Kräfteverhältnis widerspiegelt, sondern unter den gegebenen Bedingungen auch die beste Form der Konfliktverhinderung - bzw. Regulierung sei. Die pax americana ersetze gewissermaßen das überholte, schwächliche Völkerrecht durch eine neue hegemoniale Ordnung.

Allein die gegenwärtige Praxis der Hegemonialmacht zeigt, daß das keine Lösung ist. Was nötig ist, ist die Anwendung und Einhaltung des geltenden Rechts durch alle Staaten, ist die Durchsetzung eines kontrollierten Verbots des Waffenhandels, eine wirksame Entwicklungshilfe, die Anwendung und der Ausbau obligatorischer internationaler Verfahren zur Streitbeilegung und eine Kontrolle der Tätigkeit des Sicherheitsrates durch die Generalversammlung, um nur einige wichtige Aspekte zu nennen, die auf der Hand liegen. Im übrigen ist es völlig unsinnig anzunehmen, daß angesichts der rapide zunehmenden Verarmung ganzer Völker, der ungeheuren Bereicherung einzelner Gruppen auf Kosten anderer und der Umwelt, Konflikte

auf Dauer militärisch bewältigt werden können.

  1. Daß die Anerkennung und Unterordnung unter den US-amerikanischen Führungsanspruch nichts mit internationaler Rechtssicherheit und Konfliktlösung zu tun hat, demonstriert gerade die Bush-Administration mit ihrer gesamten Außenpolitik.

Die USA, die einst an der Spitze der Bewegung für eine internationale Justiz und für die rule of law in den internationalen Beziehungen standen, haben sich schon 1987 der ständigen Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofes der UNO in Den Haag entzogen, weil sie wegen ihrer militärischen Intervention gegen Nikaragua verurteilt wurden. Neuerlich wehren sie sich vehement gegen die Etablierung eines Internationalen Strafgerichtshofes, nachdem sie seine Schaffung nicht verhindern konnten. Im Bereich der internationalen Zusammenarbeit sind es heute die USA, die umfassende Regelungen und die Schaffung effektiver Institutionen hindern. So haben sie das umfassende Inkrafttreten der Seerechtskonvention ebenso wie des Kyotoer Klimaprotokolls verhindert. Bis heute halten sie Vorbehalte gegen den Pakt für politische und Bürgerrechte aufrecht, die seine unmittelbare Anwendung in den USA ausschließen. Den Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte haben sie erst gar nicht ratifiziert, ebenso die Konvention über die Rechte des Kindes. Sie verletzen die III. Genfer Rot-Kreuzkonvention mit ihrer Käfighaltung von Gefangenen in Guantanamo. Die Ergänzungsprotokolle zu den Genfer Konventionen haben sie bis heute nicht ratifiziert. Sie haben das Verbot biologischer Waffen mit der Entwicklung neuer Milzbrandkulturen verletzt und die Vereinbarung eines effektiven Kontrollmechanismus gegen biologische Waffen verhindert. Sie beschneiden den gültigen Kontrollmechanismus der Chemiewaffenkonvention, haben das Landminenverbot und den Atomteststoppvertrag nicht ratifiziert. Sie haben den ABM-Vertrag gekündigt und sind dabei, neue Kernwaffen zu entwickeln, was eine Verletzung des Vertrages über das Verbot der Weiterverbreitung von Kernwaffen bedeutet. Zugleich bedrohen sie jedes Land, das ihrer Meinung nach den Vertrag verletzt, mit militärischer Intervention einschließlich der Anwendung von Kernwaffen. Im Zusammenhang mit dem "Krieg gegen den Terrorismus" haben sie für sich das Gewaltverbot der UN-Charta außer Kraft gesetzt und bedrohen nunmehr jedes Land, das sich nicht ihrer Politik beugt, mit militärischen Präventivschlägen. Dies ist wahrlich eine bedrohliche Bilanz.

Wenn Europa und die Welt bereit sind, das hinzunehmen, zuzusehen, wie ungestraft mit Aggression gedroht werden darf, wie ungestraft Aggressionen im Stile von High-Tech Performance durchgeführt werden, wie ungestraft das humanitäre Völkerrecht außer Kraft gesetzt werden darf, wenn es nicht gerade Soldaten der USA schützt, dann haben wir es nicht mehr mit uneingeschränkter Solidarität sondern mit totaler Unterwerfung zu tun. Schon Ende der Neunziger Jahre beschrieb Z. Brzezinski in seinem Buch "Die einzige Weltmacht, Amerikas Strategie der Vorherrschaft" die internationale Lage folgendermaßen: "Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf ... der gesamte Kontinent (ist) von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären." (S. 41) Und er fährt fort. "Tatsache ist schlicht und einfach,

daß Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa weitgehend ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern." (S. 92)

Wir sollten uns darüber klar werden, daß mit dem Imperium Americanum an die Stelle einer Völkerrechtsordnung zwischen gleichberechtigten souveränen Staaten eine neo-feudale Vasallenordnung gesetzt wird. Sie ist die politische Verfassung des internationalen Neoliberalismus. Ihre Funktion ist nicht die Sicherung des Friedens zwischen den Völkern. Sie dient der Gewährleistung stabiler Marktverhältnisse, die die Erzielung von Maximalprofiten sichern, auch wenn die Menschheit daran zugrunde geht. Aus eben diesem Grunde wird sie auch keinen Bestand haben, weil sich die Völker nicht ewig dem Diktat des Weltmarktes fügen. Sie werden auf Dauer ebenso wenig wie die Natur Raubbau ohne Widerstand über sich ergehen lassen. Die USA sind zwar stark und mächtig, aber schon jetzt wird deutlich und zwar nicht nur in Afghanistan und dem Irak, wie sehr sie sich irren, wenn sie glauben, auf lange Sicht als Alleinherrscher bestehen und freie Staaten und Völker zu Vasallen machen zu können.

  1. Man kann heute nicht sagen, wann und wie diese imperiale Politik der Bush-Administration wirksam aufgehalten wird, aber sie muß aufgehalten werden, wenn die menschliche Zivilisation überleben soll. 190 Staaten und hunderte Völker können in Freiheit nur in einer Friedensordnung zusammenleben, die auf der Gleichheit aller aufbaut und klare Regeln für die internationale Kooperation und Konfliktregulierung entwickelt. Das Modell einer dafür möglichen Organisationsform gibt es mit der UNO seit langem. Trotz all ihrer Mängel und Unzulänglichkeiten, hat sie in den 50 Jahren des "Kalten Krieges" ihre Überlebensfähigkeit bewiesen. Sie verdient, erhalten zu werden.

Das UNO-System hat zwar trotz des "Kalten Krieges" und der dadurch bedingten Einschränkungen immerhin seine Funktion als Zentrum friedlicher internationaler Zusammenarbeit gleichberechtigter Staaten erfüllt. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen ist es dazu kaum noch in der Lage. Es ist höchste Zeit, daß das Gewaltverbot von allen Staaten respektiert und gegenüber allen Staaten durchgesetzt wird, daß die präventiven Mechanismen zur friedlichen Streitbeilegung systematisch ausgebaut und von allen Staaten angewandt werden, der internationale Waffenhandel unterbunden und in absehbarer Zeit der uneingeschränkten Macht des Marktes klare Grenzen gesetzt werden. Das wird nur mit Hilfe einer breiten und starken Friedensbewegung und zusammen mit einer USA-Administration gehen, die bereit ist, zurück auf den Weg nach vorn, zur friedlichen internationalen Kooperation zu gehen. Und ich bin mit Reinhard Merkel davon überzeugt: "Es gibt etwas, das schon heute stärker ist als die amerikanische Regierung - das ist Amerika. Dieses Land ist in der Quantität und Qualität seiner Eliten zu stark, zu vital, zu klug, zu demokratisch, um sich auf Dauer von einer geistig mediokren Administration in eine Frontstellung gegen den Rest der Welt zwingen zu lassen. Irgendwann nach diesem Krieg wird es über die Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen dem Übermaß seiner Gewaltmittel und dem Untermaß ihrer heutigen Beherrscher erschrecken - und seine Regierung zur Kurskorrektur zwingen oder abwählen. Bis dahin heißt das moralische wie das politische Gebot für Europa, solidarisch zu sein mit dem besseren Amerika. ..."

 

Erinnerungen an den „Entspannungsprozeß" vor 30 Jahren

von Hanfried Müller

Daß es zuweilen sowohl zwischen den Autoren als auch zwischen ihnen und der Redaktion der WBl Meinungsunterschiede gibt, ist kein Malheur, sondern wesentliche Voraussetzung dafür, daß die WBl nicht langweilig werden. Denn Widersprüche sind nicht nur wesentliche Triebkräfte der Geschichte, sondern auch solche zu deren besserem Verständnis.

So hoffe ich, daß es mir Erich Buchholz nicht verübelt, wenn ich im Blick auf seine positive Nachzeichnung des Weges vom „Vierseitigen Abkommen" über Westberlin bis zum „Grundlagenvertrag" zwischen der BRD und DDR Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mein - nun, sagen wir: - Unbehagen äußere.

Dies „Unbehagen" (um es nicht tiefe Besorgnis zu nennen) brachte mich schon zeitgenössisch, ich möchte sagen: fast instinktiv und darum für eine politisch überzeugende Argumentation natürlich keineswegs ausreichend, in einen gewissen Widerspruch zu den meisten meiner Freunde in der SED. Und ich muß gestehen, daß ich im Rückblick meine damaligen Befürchtungen bestätigt sehe, so wenig ich damals über die vielfältigen internationalen Bedingungen, die zu der Serie von Verträgen führten, wußte und auch heute, zum Beispiel im Vergleich mit Erich Buchholz weiß.

Aber hat nicht jener damalige „gute Wille" zur Entspannung der „deutschen Frage" die DDR - die vermutlich in Anbetracht der sowjetischen Politik gar keine andere Wahl hatte - auf einen Kurs geführt, der faktisch der Flexibilisierung der imperialistischen Politik entgegenkam, mit der die imperialistischen Mächte die Konterrevolution, die sie in offener Aggression nicht erreicht hatten, nunmehr nach dem Rezept von Brzezinsky „auf Filzlatschen" erstrebten? Dafür, daß „gut gemeint" oft keinesfalls „gut" ist, scheint mir bis heute die „Entspannungspolitik" ein fatales Beispiel zu sein.

Angefangen hatte mein Unbehagen damals bereits, als Walter Ulbricht gestürzt wurde und die euphorische Popularisierung des VIII. Parteitages der SED begann, die, kaum unbeabsichtigt, stimmungsmäßig den Eindruck vermittelte, die ganze bisherige Geschichte der DDR sei eigentlich nur eine im Kalten Krieg häßlich verzerrte Vorgeschichte des Sozialismus, während nun der Aufbau des Sozialismus nun erst „richtig" beginne.

Ich erinnere mich, daß mir in dieser Zeit mein einstiger Promotor und nunmehr westberliner Freund Heinrich Vogel, wirklich keineswegs ein Sozialist oder gar Ulbricht-Fan, sagte: „Es ist noch keinem Staat gut bekommen, wenn er seinen Gründer verleugnete".

Um Personen allerdings ging es mir eigentlich nicht.

Aber es schien mir gefährlich, daß in dem Paket der Verträge vom „Vierseitigen Abkommen über Westberlin" bis zum „Grundlagenvertrag" eine eindeutige Beantwortung der entscheidenden Alternative mit allerlei (vermeintlich nur diplomatischen) Kautelen umgangen wurde: nämlich die Frage, ob die BRD nun entgegen ihrer gesamten bisherigen Politik davon Abstand nähme, die DDR lediglich als ein von einer bloßen Nachkriegsbesetzung betroffenes Stück eigenen Territoriums anzusehen, oder ob sie sich weiterhin die Option für eine imperialistische deutsche Wiedervereinigung offen hielte, d.h. für eine Annexion der DDR bei sich bietender Gelegenheit. Und genau das schien sie mir mit dem Grundlagenvertrag zu tun, der überall da, wo diese Klarheit notwendig gewesen wäre, mit Mehr- und Doppeldeutigkeiten belastet war. Insbesondere schillerte er zwischen konzedierter „Anerkennung" und dezidierter „Nichtanerkennung" der seit 1945 entstandenen Nachkriegsordnung je nachdem, ob er in BRD-Optik „staatsrechtlich" oder in internationaler Optik „völkerrechtlich" betrachtet wurde.

Gewiß konnte man annehmen, es sei eine Frage der Entwicklung der Kräfteverhältnisse, welche Interpretation sich durchsetzen werde. Völkerrechtliche Verträge pflegen ja meistens nur solange zu halten, wie sie nicht in zu eklatantem Widerspruch zu den sich ständig verändernden realen Kräfteverhältnissen stehen. Aber ich hatte den Eindruck, daß bereits bei Vertragsabschluß die Kräfteverhältnisse für die sozialistische Seite ungünstig waren. Sie schien mir mit diesen Verträgen aus der Not, nicht zu dem von ihr seit Jahrzehnten ins Auge gefaßten Ziel, nämlich dahin zu gelangen, daß die imperialistische Seite die Folgen der Niederlage de Faschismus endlich auch innerlich und ehrlich anerkenne, eine Tugend zu machen, indem sie einfach die vertragliche Fixierung eines status quo als großartigen Erfolg ausgab, obwohl dieser status quo für die sozialistische Staatengemeinschaft alles andere als ideal war. Mir kam der Ruhm des „Grundlagenvertrages" auf sozialistischer Seite so vor, wie wenn Sowjetrußland, statt den Frieden von Brest-Litowsk als auch dem Sozialismus dienliche Atempause zu akzeptieren, ihn als Sieg des Sozialismus auf der ganzen Linie gefeiert hätte.

Wie illusionär-enthusiastisch die veröffentlichte Stimmung in der DDR während der Entstehung dieses Vertragskonglomerates war, wurde mir noch einmal deutlich, als ich jetzt das Interview des ND mit Walter Ulbricht vom 7. 9. 71 heraussuchte. Ich hatte lebhaft in Erinnerung, daß ich es damals sowohl mit einer gewissen Erleichterung als auch Überraschung zur Kenntnis genommen hatte, weil es völlig aus dem Rahmen der tagtäglichen Agitation herausfiel. Als ich es nun nach über dreißig Jahren noch einmal las, war ich überrascht, wie zurückhaltend Ulbricht tatsächlich das formuliert hatte, was ich damals nahezu als Protest gegen die Euphorie empfunden hatte, die die gesamte, nicht nur, vor allem aber auch sozialistische DDR-Bevölkerung auf einmal zumindest mit der halben BRD-Bevölkerung teilte.

Seine ebenso begründete wie alarmierende Warnung lautete:

„Verständlich ist jedoch, daß die Bürger unseres Staates auf Worte von Leuten, die über Jahre hinweg eine solche Politik gegen die DDR verfolgten, nicht bauen (Anm. von H.M.: Das taten sie eben gerade doch, aber der Satz erschien mir damals gerade als eine diplomatische Korrektur dessen und war wohl auch so gemeint), sondern daß völkerrechtliche Verträge notwendig sind, die dem Frieden und der europäischen Sicherheit einen stabilen Rahmen geben. Gerade auch in diesem Zusammenhang begrüßt die Bevölkerung der DDR die Vereinbarung der vier Mächte über Westberlin. Natürlich nimmt niemand an, daß damit aus Feinden etwa Freunde des Sozialismus würden. (Hervorhebung von H.M. und die dazu Anmerkung: Das nahm wohl wirklich keiner an, aber viele knüpften die Hoffnung daran, daß sich Sozialismus und Imperialismus annähern möchten, und darum fiel auch der Schlußsatz melodisch anders aus als damals in der sozialistischen Agitation gängig, obwohl Ulbricht darin dem unglückseligen VIII. Parteitag der SED seine Referenz erwies, nämlich:) Das Fundament ist und bleibt dafür die allseitige Stärkung unserer sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik (aber dann wieder die zeitgemäße Konzession:) entsprechend der Generallinie des VIII. Parteitages der SED, wofür unsere Partei und unser Volk ihre ganze Kraft geben."

Seit damals - immer in der Hoffnung, ich möchte mich irren! - habe ich die (nicht nur) deutschlandpolitische Linie sowohl der Politik der Sowjetunion als auch der DDR skeptischer gesehen als viele meiner Freunde in der SED.

Was vielen als Ausdruck einer Stärke erschien, die das sozialistische Lager sich auf Grund seiner Festigung leisten könne, erschien mir als Ausdruck seiner Schwäche. Sie stand ja gerade in der Zeit der Vorbereitung dieser Verträge mit dem fast gelungenen konterrevolutionären Putsch in der CSSR von 1968 vor aller Augen.

Ich hielt - und halte - diese Politik nicht einfach für falsch; eine andere war zumindest in den

Grundzügen zeitweilig kaum möglich. Für falsch aber hielt und halte ich es, daß man eine Politik, die allenfalls durch eigene Schwäche legitimiert war, nicht nur demagogisch, sondern weithin überzeugt propagandistisch als eine Politik der Stärke ausgab und damit tödliche Illusionen verinnerlichte.

Ich denke, diese Politik hat dazu beigetragen, die Konterrevolution von 1989 zu ermöglichen. Keineswegs hat sie den Weg dahin erschwert. Denn sie hat dazu beigetragen, die BRD nicht mehr als Todfeind der DDR zu sehen, sondern als konzilianten Verhandlungs- und Vertragspartner, und so alle nötige Wachsamkeit eingeschläfert. Daß die Annexion der DDR scheinbar völkerrechtlich korrekt in einem „Vertrag" vollzogen wurde, in dem die DDR sich selber aufgab, lag, denke ich, weniger daran, daß die BRD sie in jenem „Grundlagenvertrag" fast als gleichberechtigtes Völkerrechtssubjekt anerkannt hätte, als vielmehr an den Kräfteverhältnissen 1989/90, deretwegen man es dem „Hoffnungsträger" Gorbatschow ermöglichen mußte, wenigstens scheinbar das Gesicht der Sowjetunion zu wahren.

 

War die DDR bundesdeutsches Inland?

Oder: Was wäre ohne Grundlagenvertrag geschehen?

von Erich Buchholz

Im Jahre 1990 schloss die Bundesrepublik in aller Form mit der Noch-DDR zwei Staatsverträge ab, den über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sowie den über ihren Beitritt zur BRD.

Niemand denkt mehr daran, dass diese beiden Staatsverträge zwischen zwei (mehr oder weniger) souveränen Staaten nur möglich waren, weil es fast zwei Jahrzehnte zuvor, im Ergebnis enormer diplomatischer Aktivitäten zwischen den Siegermächten zum Abschluss des "Grundlagenvertrages", des Vertrages "Über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland", gekommen war, der am 21. 12. 1972 von Egon Bahr und Michael Kohl unterzeichnet wurde und gleichberechtigte völkerrechtlicher Beziehungen zwischen den beiden von einander unabhängigen und souveränen deutschen Staaten ermöglichte.

Der Grundlagenvertrag war bis zum Abschluss des „Einigungsvertrages", womit er seine Rechtskraft verlor, der bedeutendste deutsch-deutsche Vertrag.

Ohne diesen Grundlagenvertrag hätten die beiden deutschen Staaten miteinander die beiden Staatsverträge des Jahres 1990 gar nicht abschließen können, ohne diesen Grundlagenvertrag war die DDR für die Bundesrepublik nicht existent, ein staatsfreier, eigentlich zur Bundesrepublik gehörender Landstrich, ein staatsrechtliches Nullum. Mit solchem zur Bundesrepublik gehörenden Landstrich hätten im Jahre 1990 keine Staatsverträge abgeschlossen werden können; da hätte man wohl ganz einfach gesagt: „Ihr gehörtet uns sowieso schon immer, also heim ins Reich, in die Bundesrepublik, ohne jedes Federlesen!"

Dass der Einigungsvertrag überhaupt einige wenige die Lage der DDR-Bürger berücksichtigende Übergangsregelungen enthielt, dass nicht sofort das bundesdeutsche Recht in jeder Hinsicht rücksichtslos über die DDR-Bürger hereinbrach, verdanken sie der damals stark gewesenen DDR und Sowjetunion, verdanken sie jenem Grundlagenvertrag.

Zu dem Grundlagenvertrag wäre es indessen, woran in diesem Zusammenhang erinnert werden muss, ohne die Maßnahmen vom 13. August 1961 zur zuverlässigen Schließung der Staatsgrenze der DDR nach Westdeutschland und West-Berlin nicht gekommen. Ohne diese Maßnahmen wäre die

"deutsche Frage" zu offensichtlich und handgreiflich weiterhin "offen" geblieben. Die durch die Souveränitätsrechte der DDR gedeckten durch und durch legalen Maßnahmen vom 13. August 1961 auf ihrem Staatsgebiet waren nicht nur eine Antwort auf die seit 15 Jahren von West-Berlin aus betriebene massive Spionage- und Agententätigkeit gegen die DDR und die anderen sozialistischen Staaten, was inzwischen auch bundesdeutsche Gerichte, namentlich in West-Berlin, festgestellt oder zumindest für wahr unterstellt haben.

Westberlin wurde vom Westen für Spionage- und Agententätigkeit gebraucht. Der CIA hatte dort bereits 1949/50 unter der Bezeichnung US-Army-Regionale-Support-Group die größte Niederlassung außerhalb der USA. Außerdem wirkte dort die Agentenzentrale UfJ, der „Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen", das Ost-Büro der SPD und das Ost-Büro der CDU. Eine besondere Rolle spielte der RIAS („Rundfunk im amerikanischen Sektor") mit seinem Direktor Ewing, dessen Name in Prozessen gegen DDR-Hoheitsträger vor dem westberliner Kriminalgericht mehrfach von Zeugen genannt wurde. Westberlin galt als "Frontstadt des kalten Krieges", "Brückenkopf der NATO", "vorgeschobener Vorposten" und "Hauptkampflinie". Mitten in Feindesland einen solchen Brückenkopf zu haben, war schon bedeutsam. Der Vorsitzende der Sowjetischen Kontrollkommission Armeegeneral Shukow sah sich mehrfach genötigt, wegen der Spionagezentren in Westberlin an die Hohen Kommissare der USA entsprechende Proteste zu richten, die auch Gegenstand eines Beweisantrages vor dem Kriminalgericht Berlin waren.

Die Maßnahmen vom 13.August 1961 waren auch nicht nur eine Antwort auf die von Westdeutschland systematisch geförderte Abwanderung von Tausenden von DDR-Bürgern. Sie waren auch eine Antwort darauf, dass die Westmächte den Deutschen den längst überfälligen Friedensvertrag verweigerten und auch eine den Interessen aller Seiten gerecht werdende Regelung der Berlin-Frage, so durch Anerkennung Westberlins als einer freien Stadt, verwehrten.

Es darf daran erinnert werden, dass mit Bulgarien, Finnland, Italien, Rumänien und Ungarn bereits im Jahre 1947 Friedensverträge abgeschlossen worden waren. Mit Österreich wurde am 15. Mai 1955 ein Staatsvertrag abgeschlossen, der das Verbot des Anschlusses an Deutschland, Bestimmungen gegen den Faschismus und eine Neutralität "wie die der Schweiz" verankerte.

Seitens der Sowjetunion und der DDR waren wiederholt Vorschläge für einen Friedensvertrag unterbreitet worden, u. a. im Jahre 1952 und im Jahre 1959. Deutsche in Ost und West hatten Anfang der fünfziger Jahre in ihrer Frontstellung zur Remilitarisierung Westdeutschlands den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland gefordert.

Die westlichen Alliierten mussten einräumen, dass die – ausdrücklich von Chrustschow befohlenen und von den Staaten des Warschauer Paktes gebilligten - Maßnahmen der DDR vom 13. August 1961 rechtmäßig waren und insbesondere ihre Rechte und Interessen in Bezug auf West-Berlin nicht verletzten, wie es zuvor Kennedy in Wien von Chrustschow eingefordert hatte. Deshalb unternahmen sie auch nichts gegen diese Maßnahmen.

In den folgenden Jahren trat zunehmend Ernüchterung ein. Es kam Realitätssinn auf, so insbesondere in Gestalt der "neuen Ost-Politik" der SPD und dann der Regierung Brandt, die unter dem von Egon Bahr in der evangelischen Akademie in Tutzingen 1963 verkündeten Motto "Wandel durch Annäherung " betrieben wurde. DDR-Außenminister Bolz erkannte darin, weit voraus denkend, die "Konterrevolution auf Filzlatschen".

Die Jahre von 1969 bis 1975 waren die „eigentlichen" Jahre der Entspannung in Europa.

Im Verlauf der sechziger Jahre sah sich der West-Berliner Senat genötigt, für die buchstäblich eingemauerten West-Berliner (eine Mauer war nur rings um West-Berlin errichtet worden, aber sonst nirgends!) mit den Behörden der DDR in Verhandlung zu treten.

Am 17. 12. 1963 wurde das erste Passierscheinabkommen vereinbart. Am folgenden Tag wurden die ersten Passierscheinstellen geöffnet; bereits am ersten Tage begehrten 30.000 Westberliner einen Passierschein. Bis zum 5. 01. 1964 hatten 1,2 Millionen Westberliner ihre Verwandten in der Hauptstadt der DDR besuchen können.

Nun kam es zu vielfältigen diplomatischen Verhandlungen zwischen Ost und West.

Die Bundesrepublik schloss am 12. August 1970 mit der Sowjetunion, am 7. Dezember 1970 mit der Volksrepublik Polen und am 11. Dezember 1973 mit der CSSR entsprechende Verträge, die sog. Ostverträge, ab.

Von maßgeblicher Bedeutung für alles Weitere aber war das "Vierseitige Abkommen" der vier Alliierten vom 3. 09. 1971. Dieses basierte auf den Rechten und Verantwortlichkeiten der vier Mächte aus der bedingungslose Kapitulation Deutschlands und dem Potsdamer Abkommen.

Die Rechte der drei westlichen Alliierten rührten aus den Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs her, insbesondere auch aus dem Protokoll des Abkommens zwischen den Regierungen der UdSSR, der USA und Großbritanniens über die Besatzungszonen in Deutschland und die Verwaltung von Berlin vom 12. September 1944, dem Frankreich am 26. Juli 1945 beigetreten war. So erklärt sich, dass den Angehörigen der drei West-Berliner Garnisonen der drei Westmächte weiterhin das Recht zustand, ohne besondere Kontrolle die Hauptstadt der DDR zu besuchen.

Im Jahre 1949 hatten die Westmächte in ihrem Genehmigungsschreiben zum Inkrafttreten des Grundgesetzes bezüglich West-Berlin einen Vorbehalt erklärt und dem gemäß Art. 23 und 144 Abs. 2 des Grundgesetzes suspendiert. In meiner Textausgabe des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland von 1950 sind zwar alle möglichen Anmerkungen zu einzelnen Artikeln zu finden, aber verschwiegen wird, dass die drei westlichen Alliierten die Bestimmung des Artikels 23 insoweit suspendiert hatten, als in der Auflistung der Länder auch "Groß-Berlin " vorkommt, und im Art. 144 Abs. 2 auf diesen Artikel Bezug genommen wird. Dieser ihrer bereits 1949 deutlich gemachten Rechtsposition blieben sie auch beim Abschluss des Viermächteabkommens treu. Es betraf nur West-Berlin, also nicht die Hauptstadt der DDR.

In diesem Abkommen wird ein besonderer Status von West Berlin geregelt, ein modifiziertes Besatzungsregime der drei westlichen Alliierten.

Auch wird erklärt, dass die drei Westsektoren Berlins, so wie bisher, kein Bestandteil der Bundesrepublik sind und auch weiterhin nicht von ihr regiert werden. Die Westmächte behielten sich spezifische Rechte in Bezug auf West-Berlin vor. Die entstandene Lage durfte nicht einseitig verändert und das Gewaltverbot mußte strikt beachtet werden.

Indem in diesem Abkommen die entstandene tatsächliche und Rechtslage bestätigt und bekräftigt und erklärt wurde, dass West-Berlin kein Bestandteil der Bundesrepublik sei und auch weiterhin nicht von ihr regiert werde, wurde auch die nicht hinweg zu diskutierende Tatsache anerkannt, dass West-Berlin mitten im Staatsgebiet der DDR lag und dass es hinsichtlich seiner Verbindungen deshalb auf die Verkehrswege der DDR, ihre Straßen und Eisenbahnen, angewiesen war, worauf Anlage 1 des Abkommens ausdrücklich hinweist. Im Zuge dessen wurde unter dem 17. Dezember 1971 zu diesem Gegenstand ein besonderes Abkommen zwischen der DDR und der Bundesrepublik abgeschlossen, das den Transitverkehr durch die DDR regelte,

das Transitabkommen.

Im Viermächteabkommen wurde im Sinne der vorgenannten Rechtsposition der drei westlichen Alliierten bekräftigt, dass Art. 23 GG und Art. 1 der West-Berliner Verfassung keine Rechtswirkung haben, soweit diese in Widerspruch zu dem Abkommen stehen.

Zu der Besonderheit des Status Westberlins gehörte auch, dass die West-Berliner eigene Personaldokumente und einen eigenen personalpolitischen Status besaßen, wonach sie weder Bürger der DDR noch Staatsangehörige der Bundesrepublik waren, obwohl diese sie gem. Art. 116 GG als Deutsche, als Staatsangehörige der Bundesrepublik, behandelte.

In einer Anlage vier zum Viermächteabkommen wurde seitens der westlichen Alliierten festgelegt, dass die Bundesrepublik die konsularische Betreuung für ständige Einwohner der Westsektoren Berlins ausüben könne, und auch, dass sie die Interessen der Westsektoren Berlins in internationaler Organisationen und auf internationalen Konferenzen vertreten könne sowie dass Westberliner gemeinsam mit Teilnehmern der Bundesrepublik an internationalen Kontakten teilnehmen könnten.

Dies wurde dann auch von der Sowjetunion bestätigt

Dazu gehörte auch, dass ständige Einwohner der Westsektoren von Berlin für eine Einreise in die Sowjetunion einen Pass mit dem Stempel "ausgestellt in Übereinstimmung mit dem vierseitigen Abkommen vom 3. September 1971" vorlegen mussten; in die SU konnten sie nicht als Bundesbürger einreisen.

Andererseits wurde in Westberlin ein Generalkonsulat der Sowjetunion eingerichtet.

***

Der "Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" vom 21. 12. 1972 trat nach Ratifizierung durch die Volkskammer durch das dafür erforderliche „Gesetz über den Grundlagenvertrag" am 14. Juni 1973 und nach Austausch der entsprechenden Noten am 21. Juni 1973 in Kraft. Kurz danach wurden beide deutsche Staaten per Akklamation als Mitglieder der Vereinten Nationen aufgenommen.

Der Grundlagenvertrag betont im Art. 1 die Entwicklung normaler gut nachbarlicher Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten "auf der Grundlage der Gleichberechtigung".

Art. 2 bekräftigt, beide Staaten würden sich von der Charta der Vereinten Nationen leiten lassen, insbesondere von den Prinzipien der „souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht, der Wahrung der Menschenrechte und der Nichtdiskriminierung", was somit ausdrücklich auch für die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten galt.

In Art. 3 erklären beide Seiten, dass sie sich der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten und alle Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen würden.

Die Unverletzlichkeit der zwischen den beiden deutschen Staaten bestehenden Grenze jetzt und in der Zukunft wurde ausdrücklich bekräftigt und die Verpflichtung zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität unterstrichen.

Nach Art. 4 sind sich beide Staaten darüber einig, dass keiner den anderen international vertreten und er in seinem Namen handeln könne - womit die „Hallstein-Doktrin" mit dem Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik auch juristisch ihr Ende fand.

Art. 5 bekräftigt die Unterstützung der Bemühungen um Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und um Verminderung der Streitkräfte und der Rüstungen.

Im Art. 6 erklären beide Seiten, "dass die

Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt. Sie respektieren die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten."

Im Art. 7 wird die Bereitschaft zur Normalisierung der Beziehungen in praktischen und humanitären Fragen sowie auf dem Gebiete der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des Verkehrs usw. bekräftigt.

Weiterhin enthält Art. 8 eine Bestimmung, dass beide Seiten ständige Vertretungen austauschen werden, die am Sitz der jeweiligen Regierung errichtet werden.

Im Art. 9 stimmen beide Seiten darin überein, dass durch diesen Vertrag die von ihnen früher abgeschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen und mehrseitigen internationalen Verträge und Vereinbarungen nicht berührt werden.

Art. 10 regelt, dass der Vertrag der Ratifizierung bedarf und am Tage nach dem Austausch entsprechender Noten in Kraft tritt.

Im Zusammenhang mit dem Vertrag lagen Protokollvermerke und Erklärungen vor, so, dass "wegen der unterschiedlichen Rechtspositionen zu Vermögensfragen.... diese durch den Vertrag nicht geregelt werden" (das betraf insbesondere in der DDR vorgenommene Enteignungen). Zur Frage der Staatsbürgerschaft bzw. der Staatsangehörigkeit erklärte die Bundesrepublik: "Staatsangehörigkeitsfragen sind durch den Vertrag nicht geregelt worden"; die DDR erklärte, sie "geht davon aus, dass der Vertrag eine Regelung der Staatsangehörigkeitsfragen erleichtern wird."

***

Die CDU/CSU war gegen diesen Grundlagenvertrag. Durch die Bayrische Staatsregierung ließ sie beim Bundesverfassungsgericht wegen des Grundlagenvertrages, genauer wegen des zu diesem Vertrag vom Bundestag am 6. Juni 1973 erlassenen Gesetzes, Klage, eine sogenannte abstrakte Normenkontrollklage, gem. Art. 93 Abs. 2 Nr. 2 GG; §§ 13 Abs. 1 Nr. 6, 76 ff BverGG, erheben, um diesen Vertrag zu Fall zu bringen.

Zuvor hatte Franz Josef Strauss als Bayrischer Ministerpräsident Eilanträge gestellt, im Wege einer einstweiligen Anordnung „die Gegenzeichnung, Ausfertigung und Verkündung" dieses Gesetzes auszusetzen. Diese Anträge jedoch lehnte das Gericht ab.

Die Bayerische Staatsregierung erklärte in ihrer Klageschrift, der Grundlagenvertrag sei mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb nichtig; er verstoße gegen das Gebot der Wahrung der staatlichen Einheit Deutschlands, er verletze das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und verstoße gegen die Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber den Menschen in der DDR.

Natürlich erkannte das Bundesverfassungsgericht sofort das Dilemma, vor das es durch diese Klage gebracht wurde:

Wenn dieser Vertrag für verfassungswidrig erklärt würde, wären alle Bundesbehörden - innerstaatlich - gem. § 31 Nr. 7 BVerfGG an diese Entscheidung gebunden. Aber die außenpolitische Bindung des Vertrages bliebe von dieser Entscheidung unberührt. Außenpolitisch bliebe er verbindlich. Womöglich könnte eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit gegen die Bundesrepublik wegen Nichterfüllung des Vertrages begründet oder zumindest einer Neuverhandlung veranlasst werden. Das wäre für das internationale Ansehen der Bundesrepublik denkbar schlecht.

Deshalb war sich das Bundesverfassungsgericht wegen der internationalen Wirkung des Grundlagenvertrages, hinter dem die Alliierten standen, dessen bewusst, dass man diesen Vertrag nicht schlechthin für grundgesetzwidrig erklären konnte.

Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts musste in seiner Entscheidung vom 31. 07. 1973 (BVerfGE 36,1 ff) einräumen, dass die DDR unabhängig von ihrer Anerkennung durch die Bundesrepublik (!?) im Sinne des Völkerrechts ein Staat und folglich ein Völkerrechtssubjekt und die Grenze zwischen

beiden deutschen Staaten eine „Staatsgrenze" sei.

Nach dem GG, erklärte das Bundesverfassungsgericht, sei von einem Fortbestehen Deutschlands - des Deutschen Reiches! - auszugehen, mithin davon, dass die beiden deutschen Staaten als „Teilstaaten Gesamtdeutschlands" zu einander stünden. Im übrigen könne der Vertrag so interpretiert werden," dass er mit keiner der... Aussagen des Grundgesetzes in Widerspruch gerät. Keine amtliche Äußerung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland kann dahin verstanden werden, dass sie bei der Interpretation des Vertrages diesen verfassungsrechtlichen Boden verlassen hat oder verlässt."

Aber eine Reihe von juristischen - politisch, international belanglosen – Bedenken, so u. a. unter Bezugnahme auf Art. 116 GG zur Frage der Staatsangehörigkeit, sowie die Forderung nach Beseitigung der „unmenschlichen Verhältnisse" an der „Mauer" wurden festgeschrieben. Darauf konnte man später, nach 1990, zurückgreifen.

Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Schulbeispiel dafür, wie Juristen gleichzeitig Ja und Nein sagen können !!

***

Das Gericht interpretierte den Grundlagenvertrag in einer Weise, die kaum mehr mit dem Wortlaut des Vertrages in Übereinstimmung zu bringen ist.

In diesem Urteil bündeln sich alle Fiktionen und Widersprüchlichkeiten der Betrachtung der "deutschen Frage" zu einem völker- wie staatsrechtlich ziemlich singulären Gemisch zusammen. So werden folgende Ansichten vertreten:

Das Deutsche Reich sei nicht untergegangen; es existiere als völkerrechtsfähiger Staat mit einem einheitlichen Staatsvolk und Staatsgebiet fort; Bundesrepublik und DDR seien "Teile eines immer noch existierenden, wenn auch handlungsunfähigen, aber noch nicht reorganisierten umfassenden Staates Gesamtdeutschland".

Die Bundesrepublik allein sei identisch mit dem Deutschen Reich, auf Grund der territorialen Teilung aber nur teilidentisch, mit einer staatsrechtlichen Beschränkung ihrer Hoheitsgewalt auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes. Zu Gunsten einer gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit sei dieser Grundsatz jedoch durchbrochen; aufgrund Art. 16 und 116 GG dürfe die deutsche Staatsangehörigkeit nicht auf die Bundesrepublik beschränkt werden.

Die DDR sei zwar, wie bereits vermerkt, ein Staat im Sinne des Völkerrechts, unabhängig von einer Anerkennung, die von der Bundesregierung niemals ausgesprochen wurde (infolgedessen wurden keine diplomatischen, sondern nur „Ständige Vertretungen" vorgesehenen; an Stelle eines Austausches von Ratifikationsurkunden zum Grundlagenvertrag, wie das normalerweise bei völkerrechtlichen Verträgen der Fall ist, wurde nur ein Austausch „entsprechender Noten" vereinbart usw. )

Obwohl nicht bestritten werden konnte, dass die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR völkerrechtlicher Art waren, meinte das BverfG, es handle sich um besondere Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, so genannte "Inter-se"-Beziehungen. Dem gemäß sei die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten zwar eine "staatsrechtliche Grenze", aber eine solche "ähnlich denen, wie sie zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verlaufen". Infolgedessen sei zum Beispiel der Handel zwischen den beiden deutschen Staaten kein Außenhandel.

Das vorgenannte staatsrechtliche Konzept des Bundesverfassungsgerichts entsprach den in der Bundesrepublik verbreiteten offiziellen Lehren. Damit sollte die Fortdauer des Deutschen Reiches begründet werden.

Auf gleicher Linie lag die so genannte Staatskerntheorie, die das Staatsgebiet der

Bundesrepublik mit dem des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937 identifizierte, aber das Verfassungsgebiet, also die Geltung des Grundgesetzes, auf die Bundesrepublik beschränkte. Ähnlich lautet die so genannte Schrumpf - oder Kernstaatstheorie, die auch das Staatsgebiet auf die Bundesrepublik beschränkte und die DDR als separaten Staat begriff, der sich "durch Sezession oder Rebellion", also rechtswidrig, gebildet habe. Schließlich gehört hierzu auch die so genannte Dachstaats- oder Teilordnungstheorie, nach der die Bundesrepublik und die DDR als Teilordnungen unter dem gemeinsamen Dach des Gesamtstaates bis zu seiner Reorganisation mit einer gesamtdeutschen Regierung existieren würden.

All diese Theorien dienten in Übereinstimmung mit der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts dazu, den Fortbestand des Deutschen Reiches juristisch zu sichern, obwohl solche Lehren im Hinblick auf das Wiedervereinigungsgebot des GG weder logisch noch politisch notwendig waren. Tatsächlich dienten diese theoretischen Verrenkungen sehr praktischen politischen Zwecken, insbesondere der rechtlich unzulässigen Ausdehnung der bundesdeutschen Staatsangehörigkeit auf die Bürger der DDR.

Zur Souveränität eines jeden Staates gehört die Definition seiner eigenen Staatsangehörigkeit. Das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines fremden Staates verbietet die Ausdehnung der Staatsangehörigkeit auf Staatsbürger eines fremden Staates. Sie ist also rechtswidrig, insbesondere völkerrechtswidrig.

Auf der gleichen Linie liegt die Gleichsetzung der DDR-Staatsgrenzen mit den Ländergrenzen innerhalb der Bundesrepublik, was völkerrechtlich absurd ist und nur auf die Diskriminierung des anderen Staates abzielt.

Allerdings musste sich die Bundesrepublik

nach dem Grundlagenvertrag und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von dem früheren Alleinvertretungsanspruch, der so genannten Hallsteindoktrin, verabschieden, wonach die Bundesregierung die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR durch Staaten, mit denen die Bundesrepublik diplomatische Beziehungen unterhält, als einen "gegen die Lebensinteressen des deutschen Volkes gerichteten unfreundlichen Akt" ansah. Diese Doktrin war erstmalig gegenüber Jugoslawien zur Geltung gebracht worden.

***

All diesen abwegigen staatsrechtlichen Theorien ist entgegenzusetzen:

Mit der debellatio Deutschlands hatte nicht nur seine militärische Macht ein Ende gefunden, sondern auch die Regierungsmacht, welche das dritte Kriterium der Staatsqualität (neben Staatsgebiet und Staatsvolk) ausmacht.

Mit der "Berliner Erklärung" vom 5. Juni 1945 hatten die Alliierten die vollkommene Regierungsgewalt übernommen "einschließlich aller Befugnisse der deutschen Regierung, des Oberkommandos der Wehrmacht und der Regierungen, Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden". Damit hatte das Deutsche Reich zu bestehen aufgehört.

An seine Stelle traten - nach einer Übergangszeit - im Jahre 1949 zwei selbstständige (bis 1955 noch nicht souveräne) Staaten als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Ihr Verhältnis zueinander wie zu dritten Staaten.

Mit dem Potsdamer Abkommen erstrebten die Alliierten eine umfangreiche Neugestaltung Deutschlands, einschließlich der Veränderung seiner Grenzen und der Bestrafung der Kriegsverbrecher durch ein internationales Kriegstribunal.

Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass von westdeutscher Seite der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gem. Art. 23 GG -

entgegen der eindeutigen Spezialbestimmung des Art. 146 GG - auch deshalb bevorzugt wurde, weil er die Neukonstituierung eines deutschen Staates mittels einer Verfassunggebenden Versammlung "überflüssig" machte. Dieser Weg wurde beschritten, um eine politische Bestätigung der vorstehend dargestellten Kontinuitätslehre zu erbringen: die DDR ging als Staat unter, die Bundesrepublik wurde "kraft ihrer Teilidentität mit dem nie untergegangenen Deutschen Reich" fortgeführt. Dieses tauchte nun in neuer Realität und Handlungsfähigkeit wieder auf - wenngleich unter einem anderen Namen und mit anderen Grenzen als 1937.

All die vorgenannten Verträge, angefangen vom Passierscheinabkommen über das Viermächteabkommen und den Grundlagenvertrag waren gewichtige Bausteine auf dem Weg zur europäischen Sicherheitskonferenz von Helsinki in den Jahren von 1973 bis 1975.

***

Strafrechtlich stellte sich die "Rechtslage" aus westdeutscher Sicht bis zum Abschluss dieses Grundlagenvertrages so dar, dass die DDR vor bundesdeutschen Gerichten als bundesdeutsches Inland zählte! Wer in der DDR eine (gewöhnliche) Straftat, einen Diebstahl, eine Körperverletzung oder eine Fahrerflucht begangen hatte, konnte ohne weiteres von einem bundesdeutschen Gericht (u.U. noch einmal!) bestraft werden! Nach dem Grundlagenvertrag ging das nicht mehr; die bundesdeutschen Strafgerichte mussten nun anerkennen, dass eine in der DDR begangene Straftat nicht im räumlichen Geltungsbereich des bundesdeutschen Strafgesetzbuches, im bundesdeutschen Inland begangen war.

Da die Bundesrepublik die DDR nicht als Ausland und die DDR-Bürger auch nach dem Grundlagenvertrag nicht als Ausländer, sondern gem. Art. 116 GG als Deutsche sehen wollte, erfand der in juristischen Dingen stets mit Einfallsreichtum glänzende Bundesgerichtshof, dass in Bezug auf die DDR von "funktionellem Inland" und nicht von Ausland zu sprechen sei. Damit versuchte man, die klaren Aussagen des Grundlagenvertrages zu unterlaufen.

Seit dem 3. Oktober 1990 ist das Beitrittsgebiet, das Staatsgebiet der früheren DDR, nun wieder bundesdeutsches Inland geworden.

(Die vorstehenden Ausführungen folgen dem Buch von Norman Paech und Gerhards Stuby, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen; VSA-Verlag, Hamburg 2001; S. 373 bis 376.)

 

Kundschafter im Westen

von Rosemarie Müller-Streisand

Selten habe ich ein so interessantes Buch gelesen wie den Sammelband "Kundschafter im Westen". Dreißig Mitarbeiter der HVA kommen zu Wort, die überwiegende Anzahl BRD-Bürger, manche auch mit falscher Identität aus der DDR gekommen und, ganz besonders beeindruckend, zwei Ehepaare aus den USA stammend, - bezeichnenderweise der eine Ehemann - George Pumphrey - dort als Farbiger, der andere - pseudonym "Robert" genannt - auf Grund jüdischer Herkunft diskriminiert -, einige von ihnen bereits vor oder nach 1989 verstorben, einige unter Pseudonym schreibend, einige bereits vor 1989 aus Sicherheitsgründen aus der BRD abgezogen, andere - der bekannteste von ihnen ist Günter Guillaume - während jener Zeit enttarnt, verhaftet, verurteilt und nach kürzerer oder auch langer Haft in die DDR gegen BRD-Agenten ausgetauscht, die meisten von ihnen nach dem Ende der DDR -

leider nicht selten durch Verrat aus den Reihen der HVA - verhaftet und in völkerrechtswidrigen Prozessen der BRD-Klassenjustiz zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt.

Zu diesen Prozessen stellt Klaus von Raussendorff zutreffend fest (S 86 f.): "Daß zuerst mit den DDR-Spionen abgerechnet wurde, fiel zunächst kaum als diskriminierend auf. Spionage wurde doch schon immer bestraft Mancher wurde zwar stutzig, daß die Regierung Modrow rechtmäßig verurteilte Spione in der DDR ohne Gegenleistung freiließ, während der Generalbundesanwalt der BRD im Frühjahr 19990 den ersten ihm durch Verrat aus den Reihen des MfS frei Haus gelieferten DDR-Kundschafter in Düsseldorf anklagte. Allem Gerede von einer Amnestie 'für teilungsbedingte Delikte' zum Trotz. ... Weder der letzte Premierminister der DDR, de Maizière, noch sonst jemand, der dazu auf politischer Bühne in der Lage gewesen wäre, hatte in der lügenschwangeren Atmosphäre der Vereinnahmung der DDR Verstand und Charakter genug, um juristisch stringent der Wegfall der Strafbarkeit der DDR-Spionage zu vertreten, Verantwortung für ehemalige DDR-Kundschafter zu übernehmen oder Solidarität mit den Verfolgten zu organisieren."

Jeder Beitrag ist durch eine informative Kurzbiographie eingeleitet, in der jeweils auch über die eingetretene Strafverfolgung berichtet wird. Die literarischen Formen sind recht unterschiedlich: die überwiegende Zahl der Beiträge sind zum Teil detaillierte Erinnerungen. Einiges liegt auch in Interview- oder Briefform vor und der Band schließt sogar mit einem beeindruckenden lyrischen Beitrag.

Nun kann man den Band unter sehr verschiedenen Aspekten zur Kenntnis nehmen.

Wer gern Krimis oder Abenteuerromane liest, kommt durchaus auf seine Kosten, die Erinnerungen sind teilweise geradezu spannend. Ostalgiker werden sich über Motivation und Erfolge der Aufklärungsarbeit ebenso freuen wie über den Mut und die Selbstlosigkeit der überwiegenden Zahl der Mitarbeiter.3

Aber für den Historiker sind noch zwei andere Aspekte interessant.

Zum einen die Frage nach der sozialen und politischen Herkunft der Kundschafter. Bei der Lektüre teile ich das Erstaunen von Klaus von Raussendorff: "Nachdem ich eine ganze Reihe von früheren Kundschafterkollegen kennengelernt hatte, mußte ich zu meiner Überraschung feststellen, daß in dieser Per-sonengruppe eine große Vielfalt von Weltanschauungen und Charakteren vertreten war: Die weltanschaulichen Motivationen für die Kundschaftertätigkeit variierten von 'kommunistisch' über 'national-patriotisch', 'pazifistisch', 'sozialdemokratisch', 'anti-imperialistisch' bis zu einer Haltung, die man als moralische Verachtung für bundesrepublikanische Verhältnisse bezeichnen kann." ( S. 89).

Auch die familiäre Herkunft der Autoren ist höchst unterschiedlich: einige kommen aus kommunistischen Elternhäusern - wobei die höchst prekäre Situation eintreten konnte, daß der Vater bereits für die HVA arbeitete, ohne daß der Sohn - übrigens ein illegitimer Enkel von Ernst Bloch - etwas davon ahnte und höchst erstaunt war über das Verbot, in die DKP einzutreten, bis er dann schließlich selbst HVA-Mitarbeiter wurde. (Vater und Sohn Feuerstein, S.196-232). Ein anderer (Hans-Joachim Bamler, S. 33 - 37) berichtet, er entstamme einer großbürgerlichen Familie, sein Vater sei Generalleutnant der Wehrmacht und jahrelang in leitenden Positionen der Abwehr unter Canaris tätig gewesen. Er selbst war Leutnant in der Nazi-Elitedivision "Großdeutschland". "Als 1944 mein Vater in sowjetische Gefangenschaft geriet, wurde meine Mutter aufgrund eines Himmler-Befehls in Sippenhaft genommen und kam zuletzt ins KZ Dachau. Nach dem berüchtigten Todesmarsch bis nach Tirol starb sie kurz nach der Befreiung durch die Amerikaner. ... Damals schwor ich mir: Niemals wieder Faschismus, niemals wieder Krieg!" Ein dritter (Ulrich Steinmann, S. 20-32) war Sohn eines Mitgliedes der NSDAP, der als Reichsbahn-Beamter 1952 unter die 131er Gesetzgebung der BRD - Rückkehr der Nazis in ihre früheren Ämter - fiel und sich daraufhin 1952 aus der DDR in die BRD absetzte; im Rahmen der Familienzusammenführung kam sein Sohn 1955 mit der Mutter elfjährig legal in der BRD, von wo aus ihm bei regelmäßigen Verwandtenbesuchen in der DDR ein Vergleich beider Systeme möglich war. "Mir selbst stand natürlich auch deutlich vor Augen, welches das reichere Land war und welches das ärmere, aber vieles in der DDR erschien mir als sehr viel fortschrittlicher. So entwickelte ich ein positives Interesse für die DDR und überhaupt für die Politik. Ich fand, daß in der Bundesrepublik vieles anders gemacht werden müßte, sah aber in der DDR trotz vieler Mängel den besseren Weg." (S.21).

In Aufzählung schlechter und guter Voraussetzungen zur Kundschaftertätigkeit liest man in einem anderen Bericht (Harald Gottfried, S. 147-151): "Schlecht war bei mir auch noch ein anderes Moment: Als ich 12 Jahre war, wurde mein Vater verhaftet und 1947 in Waldheim zu 10 Jahren Haft wegen Agitation und Propaganda gegen den Kommunismus verurteilt. Er saß diese Zeit in Bautzen ab. Sein Schicksal belastete mich sehr. - Hilfreich hingegen für meine politische Motivation war meine eigene Biographie: 1935 in Netzheim bei Bromberg geboren, was in Polen lag, erlebte ich den Einmarsch deutscher Truppen und die Freude des 'Heim ins Reich' der Auslandsdeutschen. Mein Vater war an der 'Germanisierung' der eroberten Ostgebiete als Lehrer und Schulrat in Lemberg (Lwow) beteiligt. In den Sommerferien 1942 besuchte ich dort meinen Vater und wurde Augenzeuge, als Juden des Ortes zusammengetrieben und 'auf der Flucht' erschossen wurden. In einem Bunkerloch am Rande der Stadt wurden ihre Leichen verscharrt. Ich war erschüttert und fragte mich, wie man so grausam sein konnte." (S. 147)

Überwiegend kamen die in der BRD gebürtigen Kundschafter aus dem Umkreis der 68er. Aber es gab auch andere Zugänge. Der Kölner Journalist Heinz D. Stuckmann (S.233-250) beschreibt - ausgesprochen vergnüglich zu lesen - seine eigene politisch-ideologische Entwicklung in ihrer ganzen Dialektik: vom nazi- und kriegsbegeisterten Hitlerjungen, der gleichzeitig Mitglied des oppositionellen katholischen Flügels der Bündischen Jugend

war, nach Ende Krieges, immer noch selbstverständlich antikommunistisch, Nazigegner und Journalist werden wollte. "Denn - so hatte ich erkannt - die Sozialarbeit war weitgehend nutzlos, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht stimmten. Als Journalist würde ich dazu beitragen, diese gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern (und wußte noch nicht, daß man das in der BRD nicht konnte). ... Ich überwand den Abscheu gegenüber den Linken - nein, nicht ganz. Ich überwand den Abscheu gegenüber den Sozialdemokraten. Das waren keine Kommunisten." So trat er schließlich 1950 in die Gewerkschaft HBV ein und "nahm es hin, daß in dieser Gewerkschaft auch Kommunisten waren - gottlob nur wenige." Ohne Sympathien für die APO ("ein kleiner Aufstand der jungen Bürgerlichen gegen die alten Bürgerlichen, alles wie gehabt, nämlich vor dem ersten Weltkrieg mit den Wandervögeln und später mit der Bündischen Jugend.") unterzeichnete er einen "Aufruf 'Für die Widerzulassung der Kommunistischen Partei Deutschlands'." "Ich war dafür, daß diese Partei wieder zugelassen wurde; sie hatte als einzige während der Nazizeit in größerem Umfang die Faschisten bekämpft. Aber ich war gegen die Kommunisten. Was nun?" Und doch ergab sich aus dieser Solidarität praktische Zusammenarbeit, über die Stuckmann berichtet: Als die DKP zugelassen wurde, gab sie kleine Betriebszeitungen heraus. "Aber was sie druckten, war für die Westdeutschen unlesbar und damit unnütz. Woher sollten die Redakteure das auch können?" Die in die DDR Emigrierten "schrieben wie das Neue Deutschland, oder sie meinten so zu schreiben. 'Das liest keiner' sagte ich ... 'Eure Zielgruppe, die der Arbeiter, liest nicht das Neue Deutschland. Der hiesige Arbeiter liest Bild. ... Also müßt ihr schreiben wie Bild.' ... Wie Bild arbeiten, wie die gehaßte Springer-Presse schreiben, das wollte nicht in die Köpfe ... Zum nächsten Schulungswochenende brachte ich eine Meldung von ADN mit und las den ersten Absatz vor: 'Der erste Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzende des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik, Erich Honecker, sowie der Vorsitzende des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes und Mitglied des Politbüros des ZK der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Harry Tisch, eröffneten...' 'Liebe Leute', sagte ich, 'glaubt ihr im Ernst, daß ein westdeutscher Arbeiter auch noch die dritte Zeile einer solchen Nachricht liest? Maximal nach zwei Zeilen ist Schluß - Schluß aber auch mit der Lektüre der nachfolgenden Ausgaben der Betriebszeitung.' Das sahen sie nach langen Diskussionen ein." Das Ergebnis der Arbeit zeigt er stolz einem Mitarbeiter beim Presseamt der DDR, den er bei Recherchen über das Verhalten der Deutschen in Polen 1939-1945 - er sollte zum Thema "Die Vertreibung vor 20 Jahren" schreiben! - kennengelernt hatte. Die Reaktion dieses Mitarbeiters: "'Aus der Partei wird nichts. ... In dem antikommunistischen Klima der BRD muß diese Partei zur Sekte verkommen. Sie kann nichts dafür.' Pause. 'Ich habe etwas Besseres für dich.' Er hat mich geduzt. Und ich ahne etwas. Verdammte Kommunisten...."

Und eine zweite Frage ist für den Historiker interessant: wie haben Kundschafter im Westen die "Entspannungspolitik", wie haben sie die Politik der UdSSR gesehen und worauf führen sie das Ende des Sozialismus in der DDR zurück?

Auch hier ergibt sich ein ganz und gar uneinheitliches Bild. Keineswegs alle sind gegen antikommunistische Demagogie immun, obgleich doch zu ihren Aufgaben auch die Aufklärung von Mechanismen der BRD-Politik und ihres Ziels, der Liquidierung der sozialistischen DDR, gehört hätte. Verantwortlich dafür dürfte, wie einige aufschlußreiche Reminiszenzen zeigen, die problematische Haltung der HVA-Spitze zu dieser Aufgabe gewesen sein. Dazu paßt, daß sich gelegentlich eine verwunderliche Affinität zur Hal-tung der PDS gegenüber der DDR zeigt. Ich kann das nicht besser als in nebeneinandergestellten Zitaten zeigen:

So erklärt Kuron, die östlichen Geheimdienste seien effektiv gewesen, aber "sie haben letzten Endes nicht den Zusammenbruch der DDR verhindert." "Ich habe die politische Zielsetzung - Wandel durch Annäherung - für richtig gehalten. Am Ende dieser Entwicklung hätte ohnehin nur ein Deutschland gestanden."

Verwunderlich ist die politische Naivität mancher Kundschafter. So spricht Karl Gebauer (S.52-68) vom "Niederwalzen des Prager Frühlings" und meint dann: "Mit der 68er Bewegung im Westen und der Regierungsübernahme der Sozialdemokraten in Bonn 1969, nicht zuletzt aber mit der Präsidentschaft Richard Nixons in Washington im gleichen Jahr, setzte ein Paradigmenwechsel in der internationalen Politik ein. ... Die neue Ostpolitik Willy Brandts trug Früchte ... Alle Zeichen deuteten auf Entspannung." Und dann entdeckt Gebauer 1972 "die Planung des militärischen Erstschlages im Ostseeraum. ... Das haute mich um. Bislang war ich stets vom Defensivcharakter der Bundeswehr ausgegangen; offiziell und öffentlich sprach man nur von der Landesverteidigung. Die NATO verstand sich in ihren Verlautbarungen als Verteidigungssystem. Alle Planungen gingen - angeblich - von einem Angriff des Warschauer Paktes aus, der abgewehrt werden müsse, nie las ich etwas von einem Präventivschlag." "Vielleicht war ich ein wenig blauäugig."

Ganz gegensätzlich hatte Rainer Rupp von vornherein die NATO gesehen. Er hatte "fast zwei Jahrzehnte im komplexen Prozeß der NATO-Verteidigungsplanung mitgearbeitet, die korrekter als NATO-Angriffsplanung bezeichnet werden müßte, insbesondere im Licht des Angriffskrieges gegen Jugoslawien und des 'Neuen Strategischen Konzepts' zur weltweiten Intervention des atlantischen Bündnisses". Er habe während seiner "Zeit bei der NATO an allen Wintex-Übungen teilgenommen." Diese Wintex-Übung war "die mit Abstand umfangreichste und bedeutendste Stabsübung der NATO ..., die alle zwei Jahre stattfand." "Alle Wintex-Kriegsspiele, die stets zum Dritten Weltkrieg führten, haben immer mit einer 'bürgerkriegsähnlichen Entwicklung in Jugoslawien' angefangen. ... Dabei bestand das eigentliche Ziel von Wintex darin, die politischen und militärischen Mechanismen zur Freigabe bzw. zum Einsatz von Atomwaffen einzuüben, damit im Ernstfall alle Prozeduren für den nuklearen Erstschlag glatt von der Hand gingen."

Aufschlußreich, um nicht zu sagen erschütternd, ist übrigens wie sehr Illusionen von der Spitze der HVA gefördert wurden. Alfred Spuhler, Mitarbeiter des BND seit 1968, der von 1972 bis 1988 mit der HVA zusammenarbeitete, berichtet (S. 113-129) im Mai 1991 brieflich aus der Haft, in der er sich seit November 1989 befand, er habe Markus Wolf Anfang der 80er Jahre zum ersten Mal getroffen und in sehr offener Diskussion "mit ihm über alle mich bewegenden Probleme, einschließlich des weiteren wirtschaftlichen und politischen Weges der DDR", gesprochen. "General Wolf machte kein Hehl aus seiner persönlichen Reformfreudigkeit auf politischem und wirtschaftlichen Gebiet, wobei er hinzufügte, daß militärpolitische Maßnahmen in Richtung auf eine Beendigung des Kalten Krieges ein entscheidender Gradmesser für eine positive Entwicklung sein könnten. Dieses Gespräch gab mir sehr viel Hoffnung. Ich vertraute auf die Persönlichkeit von Markus Wolf und seinen Einfluß, wußte aber damals nicht, daß selbst er an den Mauern des Politbüros abprallen würde. - Als dann Mitte der 80er Jahre Generalsekretär

Michail Gorbatschow Perestroika und Glasnost proklamierte, war ich fast sicher, daß nun endlich auch in der DDR die Entwicklung zu einem demokratischen Sozialismus möglich sein würde. - Generaloberst Markus Wolf sei, wie ich hörte, als möglicher Außenminister der DDR im Gespräch. Das waren Informationen, wie sie für mich besser nicht sein konnten. Doch schon nach kurzer Zeit mußten wir diese Hoffnung begraben. General Wolf, inzwischen als Leiter der HVA von seinem Dienstposten zurückgetreten, fiel in Ungnade."

1986, berichtet Spuhler weiter, habe er sich mit Generaloberst Werner Großmann, dem neuen Leiter der HVA, in Budapest getroffen. Es sei "zur von mir erbetenen Diskussion über die Auswirkungen der sowjetischen Reformpolitik auf die DDR" gekommen. Großmann habe bedeutet, "daß er voll hinter diesen Reformbestrebungen stehe und sie unterstütze. ... Das war eine eindeutige und klare Aussage, welche mich wiederum in meiner Hoffnung bestärkte, daß erste Reformbestrebungen in der DDR sicherlich bald greifen würden." Nach 1987 "überschlugen sich die Ereignisse förmlich. Das Volk nahm das Zepter in die Hand und forderte die längst überfälligen Reformen ein." "Ich komme nochmals auf mein Gespräch mit General Wolf Anfang der 80er Jahre zurück. Er sagte, daß militärpolitische Maßnahmen in Richtung auf eine Beendigung des Kalten Krieges ein entscheidender Gradmesser für eine positive Entwicklung hinsichtlich notwendiger innerer Reformen in den WP<Warschauer-Pakt>-Ländern seien. Er hat recht behalten. - Durch das Nachlassen des Rüstungsdruckes konnte die Sowjetunion und der gesamte WP aufatrmen und ohne die ständige Angst im Nacken sich ihren inneren Reformen zuwenden. - Die DDR hat diese Chance nach meinem Eindruck nicht genutzt. Die politische Führung der DDR wollte oder konnte einfach nicht erkennen, daß gutes sozialistisches Gedankengut viel zu lange schon mit Füßen getreten wurde. Ziel der Reformen war es ja nicht, eine kapitalistische Gesellschaftsordnung einzuführen. Das ist auch heute nicht die Absicht der östlichen Länder. <1991!> Wenn ein Vaclav Havel sagt, er bedauere, daß der Sozialismus zum Knüppel verkommen ist, oder er anläßlich der Verleihung des 'Karlspreises' in seiner Dankesrede zum Ausdruck brachte, er hoffe, daß sich die östlichen Länder einem bewährten System annähern - dann ist das doch keine Laudatio auf den Kapitalismus. Nichts anderes wollten die Bürgerrechtsbewegungen Neues Forum, Bündnis 90 etc. mit ihren Demonstrationen zu Ausdruck bringen." (Es sind eben nicht alle Aufklärer aufgeklärt.)

Ganz anders reflektiert der Kommunist (DKP-Mitglied) Peter Wolter (S.313-333) die bemerkten Widersprüche: "Während viele DKP-Mitglieder im Westen zum Hurra- Sozialismus neigten, hörte ich bei den HVA-Genossen viele Zwischentöne heraus, auch verhaltene Kritik an der Parteiführung. Auf diese Weise bekam ich ein halbwegs realistisches Bild von der DDR, einen Eindruck von all den Schwierigkeiten, Widersprüchen, Schwächen und Ungereimtheiten, mit denen der Aufbau des Sozialismus behaftet war. Und vielleicht hat mich das auch davor bewahrt, den Weg vieler 'Hurra-Sozialisten' zu gehen, die nach der 'Wende' das Handtuch geworfen oder sich auf die andere Seite geschlagen haben." Seine heutige Position: "Da mir die SED durch Namensänderung abhanden kam, versuchte ich einige Zeit lang, mich in der Nachfolgepartei PDS zu engagieren. Seit einigen Jahren bin ich wieder in der DKP aktiv, die Partei, in der ein deutscher Kommunist nach meiner Auffassung organisiert sein sollte; die es aber manchen Kommunisten schwer macht, sich in ihr zu organisieren."

Und dieser Peter Wolter trifft die interessante Feststellung: "Irgendwie hatte sich gegen Mitte der 80er Jahre die Stimmung in der HVA geändert. Immer wieder meinte ich in

Gesprächen mit den Genossen Unsicherheit herauszuhören, sie schienen an Biß, an Schneid verloren zu haben. Deutete sich hier schon die Orientierungslosigkeit der Partei, der Niedergang des Sozialismus an?"

Herbert Willner - "20 Jahre in der FDP-Bundesgeschäftsstelle und der Friedrich-Naumann-Stiftung; Referent für Außen-, Sicherheits-, Deutschland-, Europa- und Entwicklungspolitik" - zieht ein "Gesamtfazit bezüglich der Deutschlandpolitik der BRD": "Die BRD war bereit, die DDR und ihre Führung mittelfristig in engen Grenzen wirtschaftlich und finanziell stabilisieren zu helfen, ihr aber gleichzeitig politische Substanz abzukaufen, um sie langfristig politisch zu unterhöhlen. Ich war zunehmend im Zweifel, ob die DDR-Führung die beträchtlichen Gefahren dieses Kurses trotz entsprechender Bewertung, d. h. Warnungen durch Kundschafter der HVA, richtig erkannte bzw. nach den Vorgaben aus Moskau erkennen durfte." (S. 305) Willner meint: "Eine andere Frage ist, ob die DDR-Regierung und die führende Partei SED diese Hinweise ernst genug nahmen, sie manchmal überhören wollten oder mußten, weil die sowjetische Führungsmacht entsprechend eingriff. Auch hierzu konnte ich in wenigen Fällen Anmerkungen übermitteln, z. B. dann, wenn auf irgendwelchen diplomatischen Empfängen Diplomaten der sowjetischen Botschaft gegenüber westlichen Kollegen eher abfällig über die DDR urteilten bzw. die Interessen der DDR als völlig nachgeordnet im Vergleich zum sowjetisch-bundesdeutschen Beziehungsgefüge charakterisierten. Ich mußte das mitunter mit zusammengebissenen Zähnen Zähnen schlucken und mir als hauptamtlicher FDP-Mitarbeiter ein freundlich-zustimmendes Lächeln abnötigen. Auch das gehörte zum Kundschafterauftrag."

Völlig neu und interessant war für mich - wenn auch von Willner mehr am Rande in seinem Bericht über die FDP-Erörterung zu den sog. "Vier Geraer Forderungen", die Erich Honecker an die BRD richtete erwähnt -, was er (S. 304) zur Grenzregelung in der Strommitte der Elbe schreibt: "Auch die Grenzfestlegung auf den Wasserstraßen der DDR war für die BRD bedeutsam: Während die DDR insbesondere den Verlauf der Elbegrenze in der Strommitte - statt auf dem rechten, DDR-seitigen Ufer - anstrebte, schien die BRD-Seite vor allem die Seegrenze im Bereich der Lübecker Bucht und der weiteren Ostsee zu interessieren. Der Begriff Junktim fiel viel mehrfach. Es ging dabei um die Lübecker Bucht und vor allem um die sogenannte Kadet-Rinne zwischen der DDR-Halbinsel Darß und der dänischen Insel Falster. Dies ist eine relativ schmale, aber für Ostseeverhältnisse tiefe Wasserstraße, durch die sich Tag für Tag eine beträchtliche Schiffstonnage schiebt. Die Festlegung der Seegrenze und folglich der staatlichen Verantwortung in diesem Bereich gebot sich daher schon deshalb. Der wichtige seestrategische Hintergedanke, den Dr. Bräutigam, <späterer Ständiger Vertreter der BRD in der DDR, noch später Justizminister des Landes Brandenburg> knapp umriß, bestand aber in einem anderen Aspekt: Die Kadet-Rinne weist im Unterschied zur ansonsten flachen Ostsee eine größere Wassertiefe auf, eben als tiefe Rinne im Meeresboden der Ostsee. Hier konnten U-Boote der Bundesmarine aus der Lübecker Bucht heraus untergetaucht und schwer zu orten in die östliche Ostsee ausschwärmen. Darauf beruhte für die Bundesmarine das strategische Interesse. Hier wurde also ein gewichtiges und nicht unbedingt defensives Motiv der BRD erkennbar."

Ein anderer Kundschafter, "Robert" ging als gebürtiger USA-Bürger bei der Beurteilung der Gorbatschow-Konzeption von seiner Kenntnis der Ziele des us-amerikanischen Imperialismus aus. (S. 360 - 376). "In Moskau kam nach Tschernenkos Tod Gorbatschow an die Macht. Spontan begrüßte ich die von ihm erklärte Absicht, Verkrustungen zu beseitigen und mehr Offenheit zu wagen. Perestroika und Glasnost waren objektiv not-wendig, das wußte jeder politisch denkende Mensch. Aber das fand statt unter den Bedingungen einer unveränderten Blockkonfrontation. Hatten das die Genossen in Moskau ausreichend bedacht, fragte ich mich. - Ich las Gorbatschows Buch über die Perestroika und fand meine Frage hinlänglich beantwortet. Ich sah schwarz, nicht rot. Der Generalsekretär der KPdSU meinte offenkundig, daß der Widerspruch zwischen Sozialismus und Kapitalismus vom gemeinsamen Interesse am Überleben überlagert, mithin aufgehoben sei. Die Angst vor Atomkrieg und ökologischen Katastrophen sei größer als die vorm politischen Untergang. Aus Angst vorm Mord sollte man also besser Selbstmord begehen. - In meinem Kollektiv war ich derjenige, der am meisten über diesen neuen Helden besorgt war. War Gorbatschows Naivität gespielt, oder glaubte er im Ernst, daß das Ende der nuklearen Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA die Kriegsgefahr weltweit bannen würde und Freiraum für die Entwicklung des Sozialismus schaffte. Der Kampf der Klassen ging doch nicht durch Abrüstungsverträge zu Ende? ... Der Klassenkampf war nicht zu Ende, sondern trat in eine neue Phase. - Und hatte man in Moskau vergessen, daß der Kalte Krieg durchaus ein Krieg gewesen war, der nur ein Ziel kannte: die Überwindung des Sozialismus. Der Appetit auf ein Sechstel der Erde, das dem Kapital seit 1917 entzogen war, war nicht verschwunden.... Gorbatschow war offenkundig blauäugig. Ich nicht. ... Die 'Brüder und Schwestern' in der DDR vermochten nicht, zwischen der Realität und der Propaganda des Kapitalismus zu unterscheiden. Sie konnten (oder wollten) nicht wahrhaben, daß der Wohlstand in der BRD auf neoimperialistischer Unterdrückung und Ausbeutung der ärmeren Länder der Welt fußte. Meine Wut auf die DDR-Bevölkerung, auf die 'Opposition', auf das SED-Politbüro war groß. Wie konnte man sich so wegwerfen? So jämmerlich abtreten?"

Gewiß ist die volle Einsicht in die Ursachen der Niederlage der DDR bei manchem erst nachträglich gekommen: "Daß ... der sogenannte Entspannungskurs nur eine andere Methode zur Liquidierung des anderen Staates war, das habe ich - wie die meisten Menschen hüben und drüben - erst nach der Konterrevolution begriffen." (Stuckmann, S. 242)

Während Alfred Spuhler von der allseitigen Überlegenheit der NATO über den Warschauer Pakt ausgeht (S. 117 f.), sieht Ulrich Steinmann, seit 1977 Referent für Waffen und Munition in der Rüstungsabteilung des Bundesverteidigungsministerium, das Kräfteverhältnis anders (S.20-32): "Nach meiner Einschätzung hätte die Sowjetunion die Hochrüstungspläne der 80er Jahre mit sehr viel mehr Gelassenheit beobachten und abwarten können, bis das ganze Kartenhaus in sich zusammengefallen wäre. Auch die starke Volkswirtschaft der USA hätte die überhöhten Rüstungsausgaben nicht lange verkraftet. Die USA wären früher oder später in eine Wirtschaftskrise geraten, und der Ostblock hätte in der Zwischenzeit im zivilen Bereich an Boden gewinnen können." Der Interviewer: „Genau das Gegenteil ist aber geschehen." Steinmann: „Ja, leider! Aber das hätte nicht sein müssen. Nach all den Erkenntnissen, die nicht nur ich, sondern viele der mir damals unbekannten Mitstreiter geliefert haben, hätte die Sowjetunion nicht vor der aggressiven Hochrüstung der USA zu kapitulieren brauchen. Daß es dennoch geschah, liegt nach meiner Einschätzung nicht an einem Mangel an Information! Da haben ganz andere Absichten der damaligen sowjetischen Führung den Ausschlag gegeben.! ... Ich muß gestehen, daß ich - wie so viele in Ost und West - Gorbatschow und die mit seiner Person verbundenen Veränderungen zunächst sehr positiv eingeschätzt hatte. Reformen in der UdSSR und in der DDR schienen mir notwendig und begrüßenswert. Als in der DDR wenige tausend Bürger die Staatsmacht der DDR in die Defensive trieben,

schien mir das wie ein Märchen von der Demokratie: Das Volk meldet sich zu Wort, und die Regierung gehorcht. Bald wurde mir aber klar, daß das alles nur eine inszenierte Komödie war. Ein paar Kirchenleute und gesellschaftliche Außenseiter durften vor den Medien der Welt 'Volk' spielen und das einsammeln, was zwischen den Großmächten bereits verkauft worden war. (Die meisten der damaligen Akteure sind inzwischen wieder in der Versenkung verschwunden und haben wohl selbst erkannt, daß sie damals gar nicht die Handelnden waren, sondern unbewußt Marionetten in einem Spiel, das andere inszenierten.) ... Geschichte ist nicht determiniert, sie muß nicht zwangsläufig so verlaufen, wie sie es dann tut. Es stand damals keineswegs fest, daß der Sozialismus in Osteuropa beseitigt werden würde. ... Unser Weg hätte auch zum Erfolg führen können. In der Situation nach dem Ende des zweiten Weltkrieges war es legitim und vernünftig, den Aufbau einer sozialistischen Alternative in Deutschland zu versuchen. Und trotz aller Probleme und aller Fehler, die in der DDR gemacht wurden - ich will mich da gar nicht in Besserwisserei verlieren -, hätte unser Weg auch erfolgreich verlaufen können. Die

Welt stünde heute besser und friedlicher da." Ich schließe mit einem beeindruckenden Zitat aus dem Beitrag von Herbert Willner (S. 310): „Die Herren der Globalisierung, und dazu sind ja nicht nur Regierungen der sogenannten fortgeschrittenen Industrieländer, sondern vorrangig Konzern- und Bankherren mit weltumspannender Macht und noch weiterreichenden Ambitionen zu rechnen, haben aus der langjährigen Existenz eines alternativen Gesellschaftsmodells ihre Lehren gezogen. Sie haben 73 Jahre lang in den Abgrund geschaut, in dem sie, wenn nicht so unverzeihliche selbstverschuldete Fehler gemacht worden wären, vielleicht historisch hätten entsorgt werden können. Ihr Fazit: Das darf sich niemals wiederholen! Entsprechend müssen die Reste sozialistischen Aufbegehrens mit Stumpf und Stiel ausgemerzt werden. Die Menschen müssen entsozialisiert, entsolidarisiert und entpolitisiert werden, um sie - ‘teile und herrsche!’ - beherrschen und um jegliche gesellschaftsverändernde Aktivitäten ausbremsen oder verhindern zu können. Auch dies muß ich als Quintessenz des Aufklärerlebens bezeichnen, - die - statt etwa zu Resignation - allerdings erst recht zu neuem politischen Handeln veranlaßt."

Der Kummer in Deutschland über Martin Hohmann

Oder: Was „gute Deutsche" denken, das darf man doch nicht sagen!

  1. Bericht über den deutschnational-klerikalfaschistischen Rahmen der Rede von MdB Martin Hohmann zum Nationalfeiertag am 3. Oktober, dem „Tag der deutschen Einheit"

2. Dokumentation der anti-jüdisch-bolschewistischen Abschnitte der Rede

  1. Kommentar der WBl:

Zur kryptoantisemitschen Empörung deutscher political correctness über die Hohmann-Rede

1. Zum deutschnational-klerikalfaschistischen Rahmen der Rede

Am 3. Oktober 2003 hielt Martin Hohmann, bis dahin öffentlich kaum bekannter Bundestagsabgeordneter der CDU aus Fulda (aber sollte die CDU wirklich nicht gewußt haben, wen sie zum Berichterstatter für Entschädigungsfragen machte?), eine Rede. Sie entsprach durchaus dem, was die Herzen deutschen Chauvinisten und Imperialisten höher schlagen läßt, wenn sie der Annexion des antifaschistischen deutschen Staates durch die imperialistische Bundesrepublik gedenken.

Sozialdemagogisch wie einst die Nazis begann Hohmann mit der Verallgemeinerung von Einzelfällen, die in Deutschland „das Gefühl" wecken, „als normale Deutsche schlechter behandelt zu werden als andere". Aber, versicherte er, keineswegs wolle er die „deutsche Geschichte weißwaschen": „Nein. Wir alle kennen die verheerenden und einzigartigen Untaten, die auf Hitlers Geheiß begangen wurden."

Was Hohmann verschweigt: Es waren „normale"Deutsche, die Hitler aufbauten, wählten und ihm folgten.

„Hitler, als Vollstrecker des Bösen, und mit ihm die Deutschen schlechthin, sind gleichsam zum Negativsymbol des letzten Jahrhundert geworden. ... Wird hingegen darauf hingewiesen, auch Deutsche seien im letzten Jahrhundert im großen Stil Opfer fremder Gewalt geworden, so gilt das schon als Tabubruch".

„Nicht die braunen Horden, die sich unter den Symbolen des Guten (sic!) sammeln, machen tiefe Sorgen. Schwere Sorgen macht eine allgegenwärtige Mutzerstörung im nationalen Selbstbewußtsein, die durch Hitlers Nachwirkungen ausgelöst wurde. Das durch ihn veranlaßte Verbrechen der industrialisierten Vernichtung von Menschen, besonders der europäischen Juden, lastet auf der deutschen Geschichte. ... Trotz allseitigen Beteuerungen, daß es Kollektivschuld nicht gebe, trotz nuancierter Wortneuschöpfungen wie ‘Kollektivverantwortung’ oder ‘Kollektivscham’. Im Kern bleibt der Vorwurf: die Deutschen sind das ‘Tätervolk’. Jede andere Nation neigt eher dazu, die dunklen Seiten ihrer Geschichte in ein günstigeres Licht zu rücken. ... Bei den anderen wird umgedeutet. Paradebeispiel für die Umdeutung ist die Darstellung der französischen Revolution. Da ist das große Massaker in Paris und den Provinzen, besonders in der Vendee. Da ist die anschließende Machtübernahme durch einen Alleinherrscher, dessen Eroberungskriegszüge millionenfachen Tod über Europa brachten. Die Mehrheit französischer und außerfranzösischer Stimmen beschreiben dennoch die Revolution mit ihrem Terror als emanzipatorischen Akt und Napoleon als milden, aufgeklärten Vater des modernen Europa."

Hier ist sie wieder, die Absage an Rationalismus und Aufklärung. In dieser Nacht sind alle säkularen Katzen grau: Jakobiner und Kommunisten, aber auch Napoleon und emanzipierte Juden, auch die nicht-klerikalen Faschisten, die „Nationalsozialisten". - Nur klerikale Reaktionäre und Faschisten nicht. Diese Grundstruktur lernten wir schon 1945 kennen, als der erste Vorsitzende des Rates der EKiD, Bischof Theophil Wurm, der in weiten kirchlichen Kreisen als einstiger deutschnationaler Abgeordneter als so etwas wie ein Widerstandskämpfer galt, im Rückblick auf die Nazis meinte: „Jedes Volk hat seine Jakobiner."

Auf diese reaktionäre, besser würde man formulieren „völkische", Einleitung folgt bei Hohmann der breite Teil seiner Rede, der ganz auf den Grundton „jüdisch-bolschewistisch" gestimmt ist, um dann klerikal zu schließen:

„Die Juden, die sich dem Bolschewismus und der Revolution verschrieben hatten, hatten zuvor ihre religiösen Bindungen gekappt. Sie waren nach Herkunft und Erziehung Juden, von ihrer Weltanschauung her aber meist glühende Hasser jeglicher Religion. Ähnliches gilt für die Nationalsozialisten. Die meisten von ihnen entstammten einem christlichen Elternhaus. Sie hatten aber ihre Religion abgelegt und waren zu Feinden der christlichen und jüdischen Religion geworden. Verbindendes Element des Bolschewismus und des Nationalsozialismus war also die religionsfeindliche Ausrichtung und die Gottlosigkeit. Daher sind weder ‘die Deutschen’ noch ‘die Juden’ ein Tätervolk. Mit vollem Recht aber kann man sagen: Die Gottlosen mit ihrer gottlosen Ideologie, sie waren das Tätervolk des letzten blutigen Jahrhunderts. Diese gottlosen Ideologien gaben den ‘Vollstreckern des Bösen’ die Rechtfertigung, ja das gute Gewissen bei ihren Verbrechen ... Daher, meine Damen und Herren, plädiere ich entschieden für eine Rückbesinnung auf unsere religiösen Wurzeln und Bindungen. Nur sie werden ähnliche Katastrophen verhindern, wie sie uns Gottlose bereitet haben."

*

Hätte Hohmann seine Rede nach den ersten drei reaktionären Seiten mit der einen klerikalen Seite am Schluß beendet, dann hätte sie in der in Deutschland veröffentlichen Meinung kaum eine Rolle gespielt. Aber dazwischen standen noch vier weitere Seiten. Und sie enthüllten, daß Hohmann die ganze offizielle Verlogenheit der angeblichen bundesrepublikanischen Abwendung vom Antisemitismus überhaupt nicht begriffen hat: Nämlich die Heuchelei, in der man meint, es sich leisten zu können, so gut wie nichts gegen den alltäglichen Antisemitismus zu tun, wenn man nur stets für den Staat Israel (Juden außerhalb Deutschlands) Partei ergreift (übrigens um so lieber, je mehr sich Israel als Speerspitze des Imperialismus im vorderen Orient bewährte) und wenn man sich nur judenfreundlich gibt, indem man Juden als „Minderheit" schützt (und sie gerade so an wirklicher Integration hindert). Denn bei dieser Politik kann sich der vulgäre Antisemitismus, der danach fragt, ob der Nachbar „jüdischer Herkunft" sei, nur desto besser erhalten. Zu den Dingen, die DDR-Bürgern nach der Annexion besonders auffielen, gehörte es, daß man sich in der BRD - anders als in der DDR - nach wie vor dafür interessiert, ob deutsche Mitbürger „Juden" seien und damit meint, ob sie jüdische Vorfahren hätten und also zumindest keine „richtigen Deutsche" seien. Der Atavismus „völkischen" Denkens, auf dem ja die Nazis ihren Rassismus aufgebaut hatten, wirkt völlig unproblematisiert und unbekämpft auch bei solchen weiter, die es bis heute weit von sich weisen, etwas mit Antisemitismus zu tun zu haben, weil sie meinen, ihm mit einem Philosemitismus begegnen zu können, der nationale Integration Deutscher jüdischer Abstammung kaum weniger hemmt und hindert als der Antisemitismus.

So fielen denn auch die antisemitischen Partien in der Hohmannrede den herrschenden Medien und den professionellen deutschen Politikern erst nach vier Wochen auf. Dann aber entdeckten sie darin, was doch im Blick auf den deutschen Ruf im Ausland in Deutschland nur gedacht und nicht gesagt werden darf, obwohl es nur allzu viele in fast allen Parteien meinen.

2. Der antisemitischen Teils der Rede

„Es soll und darf nicht verschwiegen und beschönigt werden ... das Unangenehme, das Unglaubliche, das Beschämende an der Wahrheit, das gilt es auszuhalten. Wir Deutschen haben es ausgehalten, wie halten es seit Jahrzehnten aus. Aber bei vielen kommt die Frage auf, ob das Übermaß der Wahrheiten über die verbrecherischen und verhängnisvollen 12 Jahre der NS-Diktatur nicht a) instrumentalisiert wird und b) entgegen der volkspädagogischen Erwartung in eine innere Abwehrhaltung umschlagen könnte. ...

Schlimm ist es besonders, wenn ein U.S.-amerikanischer Junior Professor (Daniel Jonah Goldhagen) als Ergebnis seiner Aufklärungsarbeit unser ganzes Volk als ‘Mörder von Geburt an’ bezeichnet. Diese ebenso schrille wie falsche These hat ihm jedoch - besonders in Deutschland - Medienaufmerksamkeit und Autorenhonorar gesichert. Andere Nationen würden ihn mit kalter Verachtung links liegen lassen.

In der Tat lehnen sich gerade jüngere Menschen dagegen auf, für Verfehlungen von Großvätern und Urgroßvätern in Anspruch genommen und mit dem Verdikt ‘Angehöriger des Tätervolks’ belegt zu werden.

Ganz zweifellos steht fest: Das deutsche Volk hat nach den Verbrechen der Hitlerzeit sich in einer einzigartigen, schonungslosen Weise mit diesen beschäftigt, um Vergebung gebeten und im Rahmen des Möglichen eine milliardenschwere Wiedergutmachung geleistet, vor allem gegenüber den Juden. Auf die Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel unter den Führungspersönlichkeiten Adenauer und BenGurion darf ich verweisen. Zu der damals vereinbarten Wiedergutmachung bekennt sich die Mehrheit der Deutschen ganz ausdrücklich, wobei Leid und Tod in unermeßlichem Maß nicht ungeschehen gemacht werden kann. Auf diesem Hintergrund stelle ich die provozierende Frage: Gibt es auch beim jüdischen Volk, das wir ausschließliche in der Opferrolle wahrnehmen, eine dunkle Seite in der neueren Geschichte oder waren Juden ausschließlich die Opfer, die Leidtragenden? ...

Es wird Sie überraschen, daß der amerikanische Autokönig Henry Ford 1920 ein Buch mit dem Titel ‘The International Jew’ herausgegeben hat. Dieses Buch hat in den USA eine Auflage von 500 000 Exemplaren erlebt. Es wurde ein Weltbestseller und in 16 Sprachen übersetzt. Darin prangert Ford die Juden generalisierend als ‘Weltbolschewisten’ an. Er vermeinte, einen ‘alljüdischen Stempel auf dem roten Rußland’ ausmachen zu können, wo damals die bolschewistische Revolution tobte. Er bezeichnete die Juden in ‘hervorragendem Maße’ als ‘Revolutionsmacher’. Dabei bezog er sich auf Rußland, Deutschland und Ungarn. Ford brachte in seinem Buch eine angebliche ‘Wesensgleichheit’ von Judentum und Kommunismus beziehungsweise Bolschewismus zum Ausdruck.

Wie kommt Ford zu seinen Thesen, die für unsere Ohren der NS-Propaganda vom ‘jüdischen Bolschewismus’ ähneln? Hören wir, was der Jude Felix Teilhaber 1919 sagt: ‘Der Sozialismus ist eine jüdische Idee ... Jahrtausende predigten unsere Weisen den Sozialismus.’ Damit wird auch ausgedrückt, daß an der Wiege des Kommunismus und Sozialismus jüdische Denker standen. So stammt Karl Marx über beide Eltern von Rabbinern ab. Sein Porträt hing im Wohnzimmer einer jüdischen Frauenforscherin, die im übrigen bekennt: ‘ich bin damit groß geworden, daß ein jüdischer Mensch sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt, progressiv und sozialistisch ist. Sozialismus war unsere Religion.’ Immer wieder klingen in den Schriften dieser frühen kommunistischen Zeit quasi religiöse Züge an. Viele der für den Bolschewismus engagierten Juden fühlten sich sozusagen als ‘gläubige Soldaten der Weltrevolution’. So erwartete Kurt Eisner bereits 1908, die ‘Religion des Sozialismus’ werde die ‘Verzweiflung des Jammertals’ und die ‘Hoffnungslosigkeit des irdischen Geschicks’ überwinden. Leo Rosenberg verherrlicht das Proletariat 1917 gar als ‘Weltmessias’.

Konkret stellt sich die Frage: Wieviel Juden waren denn nun in den revolutionären Gremien vertreten? Zum siebenköpfigen Politbüro der Bolschewiki gehörten 1917 vier Juden: Leo Trotzki, Leo Kamenjew, Grigori Sinowjew und Grigori Sokolnikow. Die Nichtjuden waren Lenin, Stalin, Bubnow. Unter den 21 Mitgliedern des revolutionären Zentralkomitees in Rußland waren (sic!) 1917 6 der jüdischen Nationalität an, also 28,6 %. Der überaus hohe Anteil von Juden bei den kommunistischen Gründungsvätern und deren revolutionären Gremien beschränkte sich keineswegs auf die Sowjetunion. Auch Ferdinand Lassalle war Jude ebenso wie Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg. 1924 waren von sechs KP-Führern in Deutschland vier und damit zwei Drittel jüdisch. In Wien waren von 137 führenden Austro-Marxisten 81 und somit 60 % jüdisch, Von 48 Volkskommissaren in Ungarn waren 30 jüdisch gewesen. Aber auch bei der revolutionären Geheimpolizei, der Tscheka, waren die jüdischen Anteile außergewöhnlich hoch. Während der jüdische Bevölkerungsanteil 1934 in der Sowjetunion bei etwas 2 % lag, machten die jüdischen Tscheka-Führer immerhin 39 % aus. Jüdisch galt, das sei erläuternd gesagt, in der Sowjetunion als eigene Nationalität. Damit war er höher als der russische Anteil bei der Tscheka mit 36 %. In der Ukraine waren sogar 75 % der Tschekisten Juden.

Diese Feststellung leitet zu einem Kapitel über, das zur damaligen Zeit für ungeheure Empörung gesorgt hat. Der Mord am russischen Zaren und seiner Familie wurde von dem Juden Jakob Swerdlow angeordnet und von dem Juden Chaimowitz Jurowski am Zaren Nikolaus II. eigenhändig vollzogen. Weiter stellt sich die Frage, ob Juden in der kommunistischen Bewegung eher Mitläufer oder Leitungsfunktion hatten. Letzteres trifft zu. Leo Trotzki in der UdSSR, Bela Kun in Ungarn.

Nicht zu vergessen die Münchner Räterepublik: Kurt Eisner, Eugen Leviné, Tobias Achselrod und andere Juden waren hier als unbestrittene Führungspersönlichkeiten tätig. Ein großes Aufsehen erregte damals das Eindringen bewaffneter Rotgardisten in die Münchner Nuntiatur des späteren Pacelli-Papstes. Er wurde von den Revolutionären mit einer auf die Brust gehaltenen Pistole bedroht. Auch die Ende April 1919 von Rotgardisten durchgeführte Erschießung von sieben Mitgliedern der ‘Thule-Gesellschaft’, die in enger Verbindung zur späteren NSDAP stand, zeigt die Entschlossenheit des revolutionären Prozesses. Diese Geiselerschießung, der die Londoner Times am 5. Mai 1919 eine Schlagzeile gewidmet hatte, gab einem ‘giftigen Antisemitismus Nahrung und erzeugte lange nachwirkende Rachegelüste’.

Weiter könnte nach dem revolutionären Eifer und der Entschlossenheit der jüdischen Kommunisten gefragt werden. Nun, diese revolutionäre Elite meinte es wirklich ernst, so äußerte Franz Koritschoner von der KPÖ: 'zu lügen und zu stehlen, ja auch zu töten für eine Idee, das ist Mut, dazu gehört Größe.' Grigori Sinowjew verkündete 1917: '90 von 100 Millionen Sowjet-Russen müssen mitziehen. Was den Rest angeht, so haben wir ihnen nichts zu sagen. Sie müssen ausgerottet werden.' (S. 138). Ähnlich auch hat Moisei Wolodarski formuliert: 'Die Interessen der Revolution erfordern die physische Vernichtung der Bourgeoisie.' (S. 138) Ganz ähnlich auch Arthur Rosenberg im Jahre 1922: 'Die Sowjetmacht hat die Pflicht, ihre unversöhnlichen Feinde unschädlich zu machen.' (S. 163).

Zweifellos waren diese Äußerungen kommunistischer jüdischer Revolutionäre keine leeren Drohungen. Das war Ernst. Das war tödlicher Ernst. Nach einer von Churchill 1930 vorgetragenen statistischen Untersuchung eines Professors sollen den Sowjets bis 1924 folgende Menschen zum Opfer gefallen sein: 28 orthodoxe Bischöfe, 1.219 orthodoxe Geistliche, 6.000 Professoren und Lehrer, 9.000 Doktoren, 12.950 Grundbesitzer, 54.000 Offiziere, 70.000 Polizisten, 193.000 Arbeiter, 260.000 Soldaten, 355.000 Intellektuelle und Gewerbetreibende sowie 815.000 Bauern.

Ein besonders grausames Kapitel war das Niederringen jeglichen Widerstandes gegen die Zwangskollektivierung in der Ukraine. Unter maßgeblicher Beteiligung jüdischer Tschekisten fanden hier weit über 10 Millionen Menschen den Tod. Die meisten gingen an Hunger zu Grunde.

Keinesfalls darf die ausgesprochen antikirchliche und antichristliche Ausrichtung der bolschewistischen Revolution unterschlagen werden, wie es in den meisten Schulbüchern der Fall ist. Tatsächlich hat der Bolschewismus mit seinem kriegerischen Atheismus die umfassendste Christen- und Religionsverfolgung der Geschichte durchgeführt. Nach einer von russischen Behörden erstellten Statistik wurden zwischen 1917 und 1940 96.000 orthodoxe Christen, darunter Priester, Diakone, Mönche, Nonnen und andere Mitarbeiter nach ihrer Verhaftung erschossen.

Weder die orthodoxen Kirchen oder Klöster wurden verschont. Die Baulichkeiten wurden entweder zerstört oder für profane Zwecke genutzt. So wurden Kirchen zu Clubs, Kaufläden oder Speichern umgewandelt. Das Gold und Silber der sakralen Schätze der orthodoxen Kirche verwendete man zur Finanzierung weltweiter revolutionärer Bewegungen.

Wie ging es den religiösen Juden selbst in der frühen Sowjetunion? Auch sie waren der Verfolgung durch die Bolschewisten ausgesetzt. An der Spitze der bolschewistischen sogenannten Gottlosen-Bewegung stand ausgerechnet Trotzki. Er leugnete damals sein Judentum, wurde aber von den Russen und weltweit als Jude wahrgenommen. ...

Wir haben nun gesehen, wie stark und nachhaltig Juden die revolutionäre Bewegung in Rußland und mitteleuropäischen Staaten geprägt haben. Das hat auch den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson 1919 zu der Einschätzung gebracht, die bolschewistische Bewegung sei ‘jüdisch geführt’. Mit einer gewissen Berechtigung könnte man im Hinblick auf die Millionen Toten dieser ersten Revolutionsphase nach der ‘Täterschaft’ der Juden fragen. Juden waren in großer Anzahl sowohl in der Führungsebene als auch bei den Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als ‘Tätervolk’ bezeichnen. Das mag erschreckend klingen. Es würde aber der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet. ..."

3. Kommentar

Diese vier Seiten (in der Internetfassung) erinnern zunächst an Dwinger. Ihn kennt - Gott sei Dank - heute kaum noch jemand. Er war Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts einer der populärsten Kommunistenfresser. Ähnlich phantasievoll wie Hohmann malte er alle Schrecken der Zeit des Bürgerkrieges und der Interventionskriege in Rußland aus und lud die Verantwortung für all diese Greuel Bolschewiken und Juden auf.* Aber anders als Dwinger - und andere Nazis ließen sich nennen, die nach der gleichen Melodie pfiffen - ist Hohmanns Antikommunismus weniger NS-faschistisch als vielmehr klerikal-faschistisch gemeint.

Und insofern ist sein eigentlicher Stammvater der Begründer der ersten christlichen Partei, die es in Deutschland gegeben hat: der evangelische Oberhofprediger Adolf Stoecker (1835-1909), der sich 1889 rühmte: „Ich bin derjenige, der die Judenfrage aus dem literarischen Gebiet in die Volksversammlungen und damit in die politische Praxis eingeführt hat. Ich bedauere das nicht. ... Als eine Reaktion des nationalen Geistes, des christlichen Wesens gegen die ihm aufgedrungene Fremdherrschaft ist die Bekämpfung des Judentums edel im besten Sinne des Wortes, deutsch durch und durch und gar christlich. ... Ich halte die Emanzipation für einen schweren und unbegreiflichen Fehler."

Die Geschichte der Gründung dieser christlichen Partei ist signifikant für die sozialdemagogische Funktion des deutschen Antisemitismus: Nach der Gründung einer „christlichen Arbeiterpartei" 1878, mit der Stoecker erfolglos versuchte, die rasant wachsende Sozialdemokratie zu spalten, benannte Stoecker 1881 seine Partei um in „Christlichsoziale Partei". Nun wandte er sich nicht mehr an die Arbeiterklasse, sondern bewußt an das Kleinbürgertum, also an einfache Warenproduzenten und Kleinhändler. Stoecker hat entdeckt, daß man beide Seiten, durch die sich dieses Kleinbürgertum in der Wirtschaftskrise bedroht fühlte - das Großapital einerseits und das Proletariat, in das es abzustürzen fürchtete, andererseits -, durch „den" Juden substituieren konnte. „Wir hätten die Schwindelperiode nicht erlebt, wenn unser Volk nicht vom jüdischen Geist verdorben wäre. Der Mammonsdienst liegt im Grunde nicht im deutschen Gemüt, aber es läßt sich leicht umgarnen." Der eigentliche Hauptfeind aber ist die Sozialdemokratie: „Man hätte längst die Hand an die Judenfrage legen sollen. ... Man mußte Fürsorge tun, die revolutionären Juden in Acht und Bann zu tun und sie, mit mehr Recht als die Jesuiten, aus dem Lande zu jagen. ... Die sozialen Gefahren, die für Deutschland von Marx und Lasalle heraufbeschworen worden sind, ... fordern gebieterisch auch bei uns die Abwehr. ... Entweder das Judentum verzichtet auf seine unerträgliche Stellung oder es fordert einen Kampf heraus, der nur mit seiner allgemeinen Unterdrückung enden kann."

Hier gibt es eine ungebrochene Traditionslinie bis in die Gegenwart. Sie wurde weitergeführt beispielsweise von Otto Dibelius, Mitglied der CDU, Bischof von Berlin-Brandenburg nach 1945 und langjähriger Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, der in seinen Erinnerungen seine „Begeisterung für Adolf Stoecker" bekennt („Man wollte gegen Freisinn, Marxismus und gegen den Einfluß des Judentums im öffentlichen Leben kämpfen.") und der zum Boykott jüdischer Geschäfte durch die Nazis am 9. April 1933 erklärte: Die deutschen Regierungen „haben Zehntausende von unerfreulichsten Elementen, die nach Deutschland eingewandert sind, bereitwillig das deutsche Staatsbürgerrecht verliehen. Das muß aufhören. Sobald die jüdische Einwanderung abgesperrt ist, geht das Judentum in Deutschland zurück. Die Kinderzahl der jüdischen Familien ist klein. Der Prozeß des Aussterbens geht überraschend schnell vor sich."

Insofern hat Hohmann sich in der CDU keineswegs verlaufen, sondern gehört ganz organisch auf ihren rechten Flügel. Aber er ist unfähig, die breite Masse von niemals antifaschistisch-demokratisch erzogenen, sondern nach wie vor faschistoid gestimmten „kleinen Leuten" mit den imperialistischen politischen „Eliten" zu verbinden, die inzwischen verstanden haben, daß man die Erinnerung an das faschistische Zwischenspiel des deutschen Imperialismus verdrängen, verleugnen und verbrämen muß, wenn man ihn, den deutschen Imperialismus selbst, international respektabel restaurieren will. Und deshalb empören sich nun diese „Eliten" - ob in der CDU, FDP oder SPD spielt keine entscheidende Rolle - über seine Äußerungen. Das liegt nicht daran, daß sie sich grundlegend gebessert hätten, sondern hat einen anderen Grund:

Für den deutschen Antisemitismus in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts spielte es eine erhebliche Rolle, daß in Mittel- und Osteuropa Teile eines mittelalterlich-plebejischen Judentums, das sich unter den dort herrschenden halbfeudalen Verhältnissen nicht bürgerlich emanzipieren konnte, vom revolutionären Aufbegehren gegen die zurückgebliebenen feudalabsolutistischen Strukturen mit erfaßt und sozusagen proletarisch emanzipiert wurden. Noch bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein gab es eine Zuwanderung von osteuropäischen plebejischen - kaum (und wenn, dann proletarisch) emanzipierten - Juden nach Westen. Auf sie reagierten zum einen kleinbürgerliche Kreise aus gleichen Gründen ähnlich, wie sie heute auf den angeblichen „Ausländerzustrom" - wieder fixiert auf den Osten - reagieren. Dieser kleinbürgerlichen Haltung korrespondierte eine Abneigung bereits gesellschaftlich integrierter jüdischer Kreise dagegen, daß ihre Emanzipation durch den Zustrom der „armen Verwandten aus dem Osten" gehemmt wäre. Sie sahen diese „Ostjuden" lieber in Palästina, als an der deutschen Grenze oder gar in Deutschland selbst. Darum gab es zuweilen paradoxer Weise eine Art prästabilierter Harmonie zwischen zionistischen und antisemitischen Tendenzen.

Diese Situation hat sich inzwischen durch die Entstehung des Staates Israels erheblich geändert. Seitdem allen nicht voll emanzipierten Juden insbesondere aus Osteuropa der Weg nach Israel offensteht, sind sie der europäischen imperialistischen Bourgeoisie außerordentlich nützlich, wenn sie im vorderen Orient das Fußvolk im Kampf gegen die Palästinenser stellen.

Das imperialistische Deutschland wäre damit seine „Judenfrage" los, wenn es damit auch seine entsetzliche Geschichte los wäre.

Vom ersten Tage der Befreiung Deutschland vom Faschismus an haben sich seine bürgerlichen „Eliten" um einen redlichen Umgang mit ihrer historischen Schuld herumgedrückt. Sie haben nicht nur den Ausschluß der Kommunisten aus der Nation - diesbezüglich hatten sie keine Komplikationen mit ihren neuen imperialistischen Verbündeten zu fürchten -, sondern auch den Ausschluß der Juden aus der Nation einfach weiter praktiziert. Allerdings mußten sie dabei mit besonderer Raffinesse vorgehen. Denn seitdem die Existenz Israels die internationale Bourgeoisie von der „Judenfrage" im Sinne der Furcht vor plebejisch-jüdischer Zuwanderung entlastete, war der Antisemitismus nicht nur international geächtet, sondern der deutsche Faschismus wurde je länger je mehr auf den Antisemitismus reduziert. Und zugleich wurde die Mystifizierung des Genozids der Nazis an den europäischen Juden als „Holocaust" oder „Shoa", die zuerst nach dem Sechstagekrieg von den USA her betrieben wurde, in der BRD zum geistigen Allgemeingut. Dieser Mystifizierung entspricht genau die völlige Inhaltsleere des Holocaust-Mahnmals, bei dem das einzig Bemerkenswerte ist, daß eine Firma, die nicht nur das Zyklon B für die Gaskammern von Auschwitz herstellte, sondern auch das Einschmelzen herausgebrochener Goldzähne der Opfer übernahm und es als „Judengold" an den SS-Staat abführte, nicht nur mit der Fundamentierung (wie symbolisch!), sondern auch mit dem Schutz der Stelen vor Graffitis beauftragt wurde. (Daß zu Recht vermutet wird, antisemitische Sprayer würden hier tätig werden, zeigt ja nur, wie repressionsfrei diese unter uns leben.)

So wich die deutsche Bourgeoisie dem Antisemitismusvorwurf aus, indem sie die Frage nach der Integration der Juden in die Nation entweder einfach konfessionspolitisch oder als eine außenpolitische Frage behandelte, nämlich als Frage nach der Beziehung zum Staat Israel, und damit an dem in Deutschland nie überwundenen reaktionären Verständnis der Nation im „völkischen" Sinne eines atavistisch biologisch-bestimmten Stammesverbandes festhielt. Weil es im imperialistischen Deutschland nicht zu einem modernen Verständnis der Nation als einer territorial-kulturellen und wirtschaftspolitischen Einheit kam, darum ist man hier bis heute unfähig, die deutschen Juden unbefangen als Deutsche zu behandeln. Als „Exoten" faszinieren sie in manchen Kreisen - und dieser Philosemitismus wird kräftig gefördert, um den untergründig fortwirkenden Antisemitismus zu verdecken. Um Wolfgang Harich zu zitieren: mit der Gründung des Staates Israel wurde die Judenfrage exportiert.

Darum sollte man sich nicht nur über die anti-jüdisch-bolschewistische Rede Hohmann empören, sondern auch über die abgrundtiefe Heuchelei derer, die gegen sie protestieren, aber im Kern kaum weniger antisemitisch sind als er. Es ist entlarvend, daß sie immer wieder betonen, wie sehr er dem „deutschen Ansehen in der Welt" geschadet habe, aber keinen Moment daran denken, wie schädlich für das deutsche Volk und die zu ihm gehörigen Juden dies Gefühl sogenannter deutscher „Eliten" ist, in dem sie selbst, ohne es zu merken, zutiefst antisemitisch zu denken pflegen, nämlich die Mentalität: „wir Deutschen und die Juden", womit Deutsche gemeint sind, die sie ihrer Vorfahren wegen Juden nennen. Der ganze bestialische Unfug des „Ariernachweises" ist bei Leuten, die es weit von sich weisen, Antisemiten zu sein, noch präsent! Hanfried Müller / Rosemarie Müller-Streisand

 

Ein schwer zu lösendes Problem: Kirche - Christen - Klassenkampf

Eine Zwischenantwort an Wolfgang Clausner

von Hanfried Müller

Lieber Herr Clausner,

daß ich auf Ihre so freundliche Reaktion (WBl 2/03, S. 62 ff.) auf meinen Einwand gegen Ihre mir allzu - darf ich der Kürze halber so simplifizierend formulieren? - etwas zu pazifistisch erscheinende Formulierung in dem von den WBl nachgedruckten „Rotfuchs"-Beitrag (WB1 / 03, S. 12 ff.) bisher noch nicht reagiert habe, liegt nicht nur daran, daß wir zu meiner Freude in der Frage, inwieweit Gewalt ein legitimes Mittel der Politik sein kann völlig übereinstimmen.

Es liegt auch daran, daß die „Rückfrage", die Sie Ihrerseits an meine „Rückfrage" richten, nicht leicht zu beantworten ist.

Sie zielt ja unmittelbar auf meine Meinung: „Politik (gute Politik, meine ich selbstverständlich) ist doch die Kunst, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu erkennen und zum wohlverstandenen Wohle aller zu verändern". Dagegen fragen Sie: „Zum Wohle wirklich aller?? Ist das denn machbar? Da Sie sich hier ausdrücklich auf die Veränderung der Kräfteverhältnisse beziehen, komme ich nicht um den Einwand herum, daß eine solche Kräfteverschiebung in einer klassengespaltenen Gesellschaft wie der unsrigen eben nicht das ‘Wohl aller’ bedienen kann" denn - in Anspielung auf den unvergessenen DDR-Fernsehfilm - „Krauses" Gewinn dient nicht „Krupp" zum Wohle.

Mit diesem Einwand haben Sie natürlich Recht! Ich hätte gut getan, meinen Satz sorgfältiger zu formulieren, etwa: „... die Kräfteverhältnisse zum allgemeinen Wohl zu verändern."

Immerhin (vielleicht konzedieren Sie mir ein bißchen häßliche Selbstrechtfertigung?) hatte mich ja ein guter Geist gemahnt, vorsichtig zu formulieren, nämlich zum „wohlverstandenen Wohle aller". Und „wohlverstanden" ließe sich ja ein wenig rabbulistisch dahin auslegen, daß es doch auch „Krupp" zum Wohle diene, wenn er nach der Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse von dem leben könne, was er selber produziere, und nicht davon, daß er sich den Mehrwert dessen aneigne, was andere produzieren. Nicht mehr räuberisch leben zu müssen, könnte doch durchaus dem „wohlverstandenen" Wohle auch der Räuber dienen.

Darüber, daß die Formulierung der Aufgabe des Staates in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, „nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen" „recht problematisch" ist, möchte ich mit Ihnen - so sehr ich mich nach wie vor an diese Erklärung gebunden fühle - nicht streiten.

Völlig richtig sehen Sie als Problem - ich würde es allerdings ohne den Hauch Ironie beschreiben, für den ich jedoch durchaus Verständnis habe, - daß die Kirche „‘für alle Kinder Gottes gleichermaßen’ da zu sein" hat, und daß es darum für sie „wohl auch einer gewissen - vielleicht könnte man sagen: gleichmacherischen - sprachlichen Harmonisierung bedarf."

Problematisch finde ich die Formulierung in Barmen V. vor allem auch darum, weil sie nicht eindeutig sagt, ob gemeint ist, daß jeder Staat bereits sozusagen „an sich" durch die Aufgabe, die ihm zugeschrieben wird, gleichgültig, ob er sie erfüllt, legitimiert sei, oder mit ihr nur das Kriterium dafür gegeben wird, welcher Staat als „rechter", nämlich seiner Aufgabe entsprechender, Staat, welcher Staat aber, weil er seine Aufgabe verleugnet oder gar verrät, als „unrechter Staat" und als nicht legitim anzusehen ist. Zeitgenössisch meinten diejenigen, die die Erklärung 1934 beschlossen und dann vertraten, wohl mehrheitlich das Letztere. Das aber damals eindeutig auszusprechen, wäre nicht nur recht gefährlich gewesen, sondern in gewisser Weise auch kontraproduktiv, insofern sich für einen politisch eindeutigeren Text kaum eine synodale Mehrheit gefunden hätte und die „Bekennende Kirche", so sehr sie auch seitdem immer wieder gebotenen Entscheidungen ausgewichen und immer mehr ver- und zerfallen ist, gar nicht erst entstanden wäre.

Problematisch ist der Text auch, weil „Recht" und „Frieden" ebenso wie der „Staat" keine klassenneutralen Begriffe sind. Zwar ist in der Theologischen Erklärung von Barmen mit dem Begriff „Recht" nicht einfach die jeweils, und nun gar im faschistischen Deutsch-

 

Weißenseer Blätter

Verlag und v.i.S.d.P. Hanfried Müller

Ehrlichstraße 75 - D - 10318 Berlin

Internet-Adresse der WBl

www.weissenseerblaetter.de

Die WBl erscheinen vierteljährlich. Der Bezug ist unentgeltlich. Unverkürzter Nachdruck ist bei Quellenangabe und Lieferung eines Belegexemplars gestattet. (Kürzungen bedürfen der Zustimmung der Redaktion.) Wir bitten unter dem Kennwort „WBl" und wenn möglich unter Angabe der Beziehernummer (rechts oben im Adressenetikett) um Spenden auf unser Konto bei der

GKB - BLZ.: 100 900 00

Kto.-Nr.: 3711708013 (Müller)

A 09406

Postvertriebsstück

Entgelt bezahlt

 

land, „in Geltung stehende" Rechtsordnung und mit dem Begriff „Frieden" mehr als nur dies gemeint, daß nicht allgemeine Anarchie, Mord, Raub und Totschlag herrscht, aber die Frage ob mit „Recht" das Recht der Produzenten oder das Recht der Eigentümer und ob mit „Frieden" Frieden den Hütten oder Frieden den Palästen gemeint ist, bleibt offen.

Ich habe also für Ihre Kritik an Barmen mehr Verständnis, als Sie wahrscheinlich vermuteten, und habe diese kritischen Fragen auch schon vor langer Zeit (1958 in meinem Heftchen „Der Christ in Kirche und Staat" (Hefte aus Burgscheidungen, Heft 4. o. D.) und später immer wieder ausgesprochen. Auch hinter dem fünften der „Sieben theologischen Sätzen" des Weißensseer Arbeitskreises „Von der Freiheit der Kirche zum Dienen" steht dieses Desiderat. „Die Kirche

kann, wenn sie die freie Gnade Gottes für alle bezeugt, nicht Ankläger, Verteidiger oder gar Richter der Parteien der Welt sein ... Dagegen tragen wir, ihre Glieder, im freien Gehorsam des Glaubens konkrete gesellschaftliche Verantwortung ... Darum stehen wir vor der Aufgabe, für menschliches Leben, Recht und Frieden Partei zu ergreifen ..." Aber es ist nicht leicht, hier eine Formulierung zu finden, die der eigenartigen Position gerecht wird, die die Kirche im Klassenkampf einnehmen müßte, nämlich für die in der Klassengesellschaft Unterdrückten so einzutreten, daß die Kirche dabei weder einfach selbst zu einer Partei im Klassenkampf wird noch sich seiner Härte einfach durch die Flucht in ein versöhnlerisches Idyll über den Wolken entzieht.

Mit herzlichem Dank für Ihre weiterführende „Resonanz" und besten Grüßen

Ihr Hanfried Müller

Korrektur eines Druckfehlers im Artikel von Robert Steigerwald, WBl 2 / 2003, S. 39

Robert Steigerwald macht uns auf einen sinnentstellenden Druckfehler im Nachruck seines Artikels aus der UZ vom 1. 8. 2003 in den WBl 2/2003, S. 39 aufmerksam: „In der 12. Zeile (Zwischenüberschrift nicht mitgezählt) muß es statt SPD KPD heißen." Wir danken dem Autor für den freundlichen Hinweis und bitten ihn und unsere Leser, den Druckfehler zu entschuldigen!