Herausgegeben im Auftrag des Weißenseer Arbeitskreises

(Kirchliche Bruderschaft in Berlin)

Weißenseer Blätter Verlag und v. i. S. d. P. Hanfried Müller

Ehrlichstraße 75 - D - 10318 Berlin


 

Heft 3 / 2004

Aus dem Inhalt

  Zu diesem Heft

Hartz IV - und Reaktionen aus der Kirche

       Das Sowohl-als-auch der christlichen Führungselite wird der Realität nicht gerecht

„Weh euch Reichen!“ - Kirche im Hartz-Dilemma / Otto Meyer

  Sprachlose Intellektuelle / Hans Jochen Vogel

  Rede zur Düsseldorfer Montagsdemonstration am 30. 8. 2004 / Friedhelm Meyer

Eine Nachbemerkung dazu:

  Erinnerung an die Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 / Hanfried Müller

  Streit um die Wahrheit im Geist der Kameradschaft - Attac und wir Marxisten / Götz Dieckmann

  Die Wahlen 2004 und Probleme antiimperialistischer Politik / Hans Kölsch

  Fremdjustiz / Erich Buchholz

  Zum Thema Justiz und Klassenfragen - Ein Briefwechsel zwischen Hanfried Müller und Erich Buchholz

  Demographie zum Bangemachen / Gerd Bosbach

  Eine Widerlegung der ständig propagierten neoliberalen Mythen ügen, Halbwahrheiten und die Wirklichkeit / Otto Meyer

  Wollt ihr etwa die DDR wiederhaben? / Zentralrat der FDJ

  Zu den Prozessen um das Sporthaus Ziegenhals und die Thälmann-Gedenkstätte Presseerklärung der zu Zahlungen Verurteilten und das Urteil des Kammergerichts

  Gedenken an Karl-Heinz Bernhardt - geb. 21. 7. 27, gest. 12. 8. 04


 

Zu diesem Heft

Wir danken unseren Freunden, daß sie den WBl auch im vergangenen Jahr geistig und materiell geholfen haben, und wünschen ihnen und all unseren Lesern schon jetzt - das nächste Heft wird erst im kommenden Jahr erscheinen - ein frohes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr, in dem Vernunft und Solidarität im Kampf gegen die „neoliberalistisch“ aus den Fugen geratende imperialistische Asozialität und Aggressivität an Stärke gewinnen.

Erfreulicher Weise greift eine Art dringend notwendiger „Rückwende“ (wenn man die Konter­revolution in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verharmlosend eine „Wende“ nen­nen möchte) um sich. Sie findet auch in der Kirche mehr und mehr zornigen Ausdruck, so weit wir sehen, allerdings leider zunächst überwiegend im Kreis von bereits in den Ruhestand Getre­tenen. Das zeigt sich in der Reaktion auf die Vereinigung aller bürgerlichen Fraktionen im Dienst der Wenigen aber Mächtigen, die um ihres Maximalprofits willen alle humanen gesellschaftlichen Normen mißachten. Als charakteristisch für diese Entwicklung dokumentieren wir in diesem Heft Otto Meyers Aufsatz aus der jungen Welt: „Weh euch Reichen!“ - Kirche im Hartz-Dilemma, sodann Hans Jochen Vogels Verzweiflungsschrei aus Ossietzki, Sprachlose Intellektuelle, und schließlich Friedhelm Meyers Rede zur Düsseldorfer Montagsdemonstration am 30. VIII. 2004. Daran schließen wir eine Nachbemerkung von Hanfried Müller, Eine kritische Erinnerung an die Leipziger Montagsdemonstrationen von 1989, und den Beitrag von Götz Dieckmann: Attac und wir Marxisten. Streit um die Wahrheit im Geist der Kameradschaft an.

Hans Kölsch’ Beitrag Die Wahlen 2004 und Probleme antiimperialitischer Politik bietet zum Verständnis der Agonie bürgerlicher Demokratie in unserer Zeit viel mehr Gesichtspunkte, als die Überschrift vermuten läßt.

Umfassend greift Erich Buchholz noch einmal das Thema Fremdjustiz auf, und Hanfried Müller bittet ihn, auch einmal im Blick darauf fachkundig zu erläutern, inwiefern die jetzt den DDR-Bürgern begegnende Justiz in einem anderen sozialökonomischen System als dem der DDR begründet und also nur im Zusammenhang mit der Dialektik von Revolution und Konterrevolution zu verstehen ist: Ein Brief an Erich Buchholz zum Thema Justiz und Klassenfragen und eine sachkundige Antwort von Erich Buchholz darauf. Es scheint so, als wäre dieses Thema damit noch nicht abgeschlossen. Einer weiteren Diskussion bedarf wohl die Frage, welche Verantwortung für die konterrevolutionäre Welle im Herbst 1989 innenpolitische Kräfte in der DDR tragen - von sprachlosen Kommunisten über prosozialistische Illusionisten und subversiv wirkende Antikommunisten bis zu entpolitisierten Konsum- und Reisesüchtigen - ebenso wie die Frage, ob die „Modrowregierung“, ob beabsichtigt oder nicht, mehr dazu beigetragen hat, vom und für den Sozialismus zu retten, was noch zu retten war, oder mehr dazu, die noch vorhandenen prosozialistischen Kräfte und insbesondere den „harten Kern“ der SED kampfunfähig zu machen.

Dann vollziehen wir einen weiteren Themenwechsel und fragen nach der sozialhistorischen Perspektivlosigkeit des Imperialismus. Sie wird immer mehr empfunden. Damit aber das Unbehagen darüber nicht zum Widerstand dagegen wird, stellt die herrschende Klasse diese Perspektivlosigkeit ihres Systems als Alternativlosigkeit dar. Die Misere soll gleichsam als naturgeschichtlich gegeben und weder sozialökonomisch begründbar noch sozialökonomisch überwindbar gelten, sondern müsse passiv ertragen werden. Zu solcher Demagogie eignen sich besonders demographische Daten. Aber begründen sie wirklich die Schlußfolgerungen, die im In­teresse des Monopolkapitals daraus gezogen werden und viele Menschen verängstigen sollen?  Wir übernehmen unter  der  Überschrift  Statistik zum Bangemachen von Gerd bosbach  einen Aufsatz aus Transparent (dort unter der Überschrift „Die modernen Kaffeesatzleser“) und einen zweiten Beitrag von Otto Meyer diesmal aus der UZ, Lügen, Halbwahrheiten und die Wirklichkeit. Ein Widerlegung der ständig propagierten neoliberalen Mythen und schließen das Heft mit zwei weiteren Dokumentationen ab: mit dem Rundbrief des ZR der FDJ: Wollt ihr etwa die DDR wiederhaben? ... und mit einer Presseerklärung zu den Prozessen des Eigentümers des Sporthauses Ziegenhals gegen Verteidiger der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte. Dazu hatten wir bereits eine Glosse im Kopf: „Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß!“ Inzwischen aber hat das Berliner Kammergericht im Berufungsverfahren der jW erlaubt, Rumpelstilzchen mit seinem Klarnamen zu nennen.       

(Redaktionsschluß: 7. November 2004)

Das Inhaltsverzeichnis zum Jahrgang 2004 legen wir dem Heft 1 des Jahrganges 2005 bei!

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Hartz IV - und Reaktionen aus der Kirche

„Weh euch Reichen!“ - Kirche im Hartz-Dilemma

Das Sowohl-als-auch der christlichen Führungselite wird der Realität nicht gerecht

von Otto Meyer [1]

Eigentlich müßte die Entscheidung den Christenmenschen leicht fallen. Ihr Herr und Meister hat gesagt, was zu tun ist: „Gib dein Geld den Armen und komm und folge mir nach!“ Wenn also die Regierung Schröder den Sozialstaat schreddert, Renten kürzt, Kranksein bestraft, Arbeitslose mit ihren Familien in Armut treibt, nur damit das Vermögen der Reichen noch schneller sich anhäuft, dann hat eine solche Politik mit Christentum und Kirche nichts mehr zu tun. Die Reichen und ihre willigen Vollstrecker in Partei- und Regierungsapparaten sind zu ermahnen, und wenn sie nicht hören, müssen sie gehen - zur christlichen Kirche können sie allesamt nicht gehören. Für sie gilt Jesu Wort: „Weh euch Reichen, für euch gibt es keinen Trost mehr!“ (Lukas 6,24)

Derart klare Worte und Taten aber fallen den Kirchenführern im real existierenden Kapitalis­mus schwer, sie wollen es mit keiner Seite verderben. Sie wollen „Kirche für alle“ sein und merken nicht, wie sie wieder einmal zur Kirche der herrschenden Schicht werden und die Unteren verraten. Sie sind sowohl für wie auch gegen die „Hartz“-Gesetze, wenigstens ein bißchen ... . So haben sich in Mecklenburg-Vorpom­mern der katholische Bischof und die zwei evangelischen sogar mit dem DGB zusammengetan und gefordert: „Hartz IV muß osttauglich gemacht werden!“ - Was das wohl heißen soll? Vielleicht die Absenkung der Ein-Euro-Jobs auf 93 Cent, entsprechend dem Ostlohnniveau? Denn bei diesen Arbeitslosenpflichtjobs mit Trinkgeld­entlohnung haben ja in beschämender Weise beide Kirchen mit ihren Sozialverbänden sehr bald „Hurra!“ geschrien, die Caritas sogleich und sehr laut, die Diakonie etwas verhaltener und ebenso nachhaltig. Die ungewöhnliche Koalition aus Kirchen und Ge­werkschaftsspitze ließ dann auch sogleich den Zweck ihres mutigen Wortes verlauten: Sie wollen „das Feld der Kritik nicht PDS oder NPD überlassen“.

Eiertänze

Ganz besondere Eiertänze, immer bemüht, die Goldenen nicht zu tangieren, führt wieder ein­mal der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg und EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber vor. Schon zum Jahreswechsel 2003/4 hatte er als Domprediger ins Horn der Regie­rungspropaganda geblasen: „Wir müssen einen kleiner werdenden Kuchen fair verteilen. Wir haben soziale Errungenschaften einzuschränken, wenn wir sie erhalten wollen. Wir müssen schärfere Gegensätze in unserem Land aushalten. Kurzum: Es wird rauher zugehen.“ Wie ein schneidiger Hof- und Feldprediger hatte er hier das Aushalten der zunehmenden Gegensätze propagiert, Bundespräsident Köhler sozusagen schon die Vorlagen für dessen „mehr Unter­schiede in unserem Land!“ geliefert. Daß der Kuchen „Bruttoinlandsprodukt“ in den vergange­nen Jahren nominal um 26 Prozent angewachsen ist und keineswegs kleiner wurde, daß aber für die Arbeitslosen und Rentner immer weniger übriggeblieben ist, weil die reichen oberen zehn Prozent ihr Geldvermögen auf jetzt vier Billionen Euro in dieser Zeit mehr als verdoppeln konnten, scheint Huber nicht zu stören.

Bischof Huber ist so dreist, auch noch angesichts der Montagsdemonstrationen in einem Spie­gel-Interview den Regierenden „Mehr Mut zu Reformen!“ zuzurufen. Einerseits will er „den Menschen zur Seite“ stehen, die „Sorgen um elementare Zukunftsfragen“ haben. (Die haben of-
fenbar nur Fragen, keine begründete Furcht vor Verarmung durch „Hartz IV“.) Sie sind näm­lich, laut Huber, oft nur „Opfer unzureichender Informationen“. Für den Bischof werden nun die „Menschen, die aus einem relativ hohen Verdienst kommen, solche Einschnitte als sehr schmerzhaft empfinden“. Aber ich sage: „Ein gewisser Abstieg wird unvermeidlich sein ...“, und daß 331 Euro pro Monat im Osten „als Grundsicherung zur Zeit ausreichen müssen“. Klar, wir denken jetzt nicht an Bischofsgehälter, die so um die zwanzigmal höher ausfallen dürften.

Peinlich ist diesen Kirchenoberen, daß die Massenproteste gegen „Hartz IV“ sich in die Traditi­on der Leipziger Montagsdemonstrationen gestellt haben. Die Regierung wollte anfangs ja sol­che Demonstrationen verbieten, der Montagabend habe demonstrationsfrei zu bleiben, sozusa­gen eine heilige Zeit, die nur dem Gedenken an den glorreichen Aufstand gegen die DDR-Re­gierung geweiht sein kann. Die Kirchenführer bemühen sich seither in ökumenischer Eintracht, der Regierung im Prinzip recht zu geben, wenn sie auch um Verständnis dafür bitten, daß viele Demonstranten angeblich nicht wissen, was sie tun. Der katholische Bischof Reinelt aus Dres­den kritisiert offen die Montagsbezugnahme und meint, die Teilnehmer hätten nicht einmal eine Vorstellung davon, „was sie mit den Protesten erreichen wollen“. Huber plädiert für „Hinneh­men“, versichert aber, wir hätten „jetzt eine völlig andere Situation als 1989“.

Ähnliche Ziele wie 1989

Wenn die Kirchenführer sich da nicht gewaltig irren. Sie scheinen vergessen zu haben, daß sich die Leipziger Montagsdemonstrationen im Zusammenhang der damals schon länger in der Nikolaikirche veranstalteten Friedensgebete entwickelt hatten. Es ging um den Ruf nach Frie­den und gegen Krieg, sowohl gegen das Aufrüsten zwischen den Blöcken wie auch um die Be­wahrung der Friedens innerhalb der damaligen DDR-Gesellschaft, also bald auch gegen ein be­fürchtetes gewaltsames Eingreifen der Staatsmacht. Hiergegen erklang die Parole „Wir sind das Volk!“ - der Volkspolizei zugerufen als Mahnung an ihre Aufgabe.

Bei den jetzigen Montagsdemonstrationen sind die Ziele ganz ähnlich. Es geht um den Ruf nach Frieden, denn „Hartz IV“ ist nichts anderes als eine Kriegserklärung an alle Arbeitslosen, eine neue Stufe im neoliberalen Kampf gegen alle von Arbeitseinkommen und sozialen Trans­fereinkommen Abhängigen. Diejenigen, die mehr Gegensätze und größere Unterschiede propa­gieren, sind dabei, den gesellschaftlichen Frieden noch mehr aufs Spiel zu setzen als bisher schon. Und deshalb hat der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, recht, wenn er feststellt: „Die kapitalistische Marktwirtschaft sei nicht in der Lage, die Probleme der Men­schen zu lösen“ (Spiegel 34/04). Das ist der Grund, weshalb in vielen Kirchen Pfarrer, Sozial­arbeiter und andere Gemeindeglieder sich nicht Sand in die Augen streuen lassen, erst recht nicht von ihren Bischöfen. Sie reihen sich wieder ein bei den heutigen Montagsdemonstrationen und versuchen dabei auch, ihrem christlichen Glauben treu zu bleiben.

 

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Sprachlose Intellektuelle

Hans Jochen Vogel *

Sozialabbau, kulturelle Verödung, Bildungsmisere, Nazis machen sich in Parlamenten breit, Zehntausende haben sich Woche für Woche auf die Straßen begeben, um sich gegen die Zer­störung ihrer Würde, gegen die Zerschrottung der Gesellschaft zu wehren, um ihre Angst, ihre
Wut, ihren Protest öffentlich zu machen. Von den politischen Schmierendarstellern der Macht müssen sie sich schmähen und für blöd erklären lassen. Doch der besitzenden Klasse und ihren Managern, von denen, in Abweichung zum Grundgesetz, alle Staatsgewalt realiter ausgeht, reicht das noch nicht. Schlagt mehr kaputt, damit der Aufschwung kommt! Schafft mehr Armut, damit die Wirtschaft anspringt! Schnürt den Leuten die Kehle an, damit sie leichter atmen können!

Die einzige Logik, die hinter dem Irrsinn hervorsprießt: Wir wissen, daß wir mit diesem System der Eigentumsverteilung, der Organisierung der Produktion und des gesellschaftlichen Zusam­menhangs insgesamt am Ende sind, also gilt es noch zu raffen, was zu raffen ist, die zu enteig­nen, die sich nicht wehren können, immer neue Tricks zu erfinden, um Geld zu ergattern und es in die eigene Tasche zu leiten. Panik herrscht: Der Kuchen wächst nicht mehr, und die Leute merken es, und niemand glaubt mehr, daß es uns und unsern Kindern, wenn wir nur ordentlich parieren, morgen allen besser geht.

Bei den Kundgebungen und Demonstrationen trifft man auf Menschen, die man sonst bei Straßenprotesten noch nie sah. Was haben sich Gewerkschaften schon bemüht, stilvolle Ar­beitslosenproteste zu inszenieren, und am Ende kamen nur ihre eigenen Funktionäre. Und jetzt sind sie da, die Betroffenen - die betroffen sind von den Maßnahmen des Staates, nicht die üblichen in Betroffenheit Machenden -, ihre Angehörigen und jene, die Angst haben, daß es morgen auch sie erwischen wird. An Offenen Mikrophonen sagen sie, was sie erleben und denken. Sie tragen von ungeübten Händen beschriftete Plakate.

Doch „die Politik“ zeigt sich unbeeindruckt. Die Herrschenden haben sich vorgenommen, dies alles auszusitzen. Bald wird es abends ganz finster sein, und es wird regnen und stürmen, und statt immer mehr werden sich immer weniger Menschen zum Protest einfinden und werden sich allein und im Stich gelassen fühlen und resignieren. Vielleicht werden sie bei nächster Gelegen­heit braun wählen, in der Annahme, daß ein paar Nazis im Landtag die sogenannten Eliten in Medien und Politik stärker nerven werden als zigtausende Protestierende auf den Straßen.

Im Stich gelassen können sich die Demonstranten - und die vielen, die wie sie denken, von den gleichen Ängsten, dem gleichen Zorn umgetrieben werden - ganz besonders von den Intellek­tuellen fühlen. Wo sind die engagierten Sozialwissenschaftler und Philosophen die doch jetzt die Aufgabe hätten, sich mitten hinein ins Getümmel zu begeben, ihre Gedanken im demokrati­schen Gespräch zu testen und weiterzuentwickeln, mit den Menschen und unter ihnen theoreti­sche Arbeit zu leisten? Wo sind sie? Wo zeigen sie sich? Ich weiß, es gibt einzelne, auch bei Attac. Aber es ist zu wenig, kaum mehr als Sandkastenspielerei. Die sprachlichen Ebenen fin­den nicht zusammen.

Die aber, die eine gemeinsame Sprache erfinden könnten, fehlen fast völlig. Es sind die soge­nannten Kulturschaffenden, die Schriftsteller und Dichter, die Theaterleute und Filmemacher, die bildenden Künstler, die sich heute doch nicht auf die Herstellung feinzilselierter Graphik­blätter und marmorner Standbilder beschränken, sondern mit modernen technischen Mitteln Realitäten reflektieren und deren Wahrnehmung ergreifend verändern können. Wo sind sie nur alle? Keine Zeit? Zu sehr damit beschäftigt, irgendwie an Mittel zu kommen für ihre Arbeit: mit dem Anzapfen immer kärglicher gefüllter öffentlicher Fördertöpfe, der Jagd nach Stipendien, Sponsoren, Aufträgen?

In Zeiten gesellschaftlicher Auseinandersetzungen - im Kaiserreich, in der Weimarer Republik - gab es Zeitschriften, in denen und um die sich eine literarische Elite sammelte, wie etwa Franz Pfempferts Aktion. Es gab künstlerische und literarische Bewegungen mit dem Ziel, Gesell­schaft zu verändern. Sie hatten keine Angst vor großen Worten und hohen Ansprüchen. Na schön, könnte man sagen, aber hat es die Katastrophen verhindert: Krieg, Faschismus, wieder Krieg? Nein. Aber diese Intellektuellen haben ein Erbe hinterlassen, auf das man sich später besinnen und an dem man anknüpfen konnte, weil es nicht im geistig-moralischen Fiasko unter­gegangen war.

Wo stecken sie heute, die Dichter und Denker? Liegt, daß ich nichts höre von ihnen, nur daran, daß ich überhaupt wenig von dem lese, was heute in Deutschland geschrieben und zu Büchern gebunden wird? Die Versuche bleiben meist im Ansatz stecken: Es interessiert mich zu wenig, es ist mir zu selbstverliebt, die Prosahelden gehen mich nichts an, die Lyrik gibt sich herme­tisch. Liegt es nur am konzernbeherrschten Markt, daß Aufregendes einfach nicht hochkommen kann? Nur eben Bestsellerie.

Oder gibt die deutsche Sprache einfach nichts mehr her? Haben Faschismus und Kalter Krieg die sprachliche Substanz so stark zersetzt, daß es kaum noch möglich ist, ein Wort zu benutzen, mit dem einmal übers Banalste, Gewöhnlichste hinaus Gefühle angesprochen und Ideen be­nannt worden sind? Gibt es etwa keine Sehnsucht mehr nach Anerkennung und Würde, kein Bedürfnis nach Gemeinschaft und Hingabe ohne vordergründige eigene materielle Interessen, nach Schönheit und Glück, nach Frieden und Harmonie trotz aller nötigen Auseinanderset­zungen, nach Großzügigkeit, Verstehen und Verzeihen, nach menschlicher Geschwisterlichkeit als den Zielen, worum gerade jetzt gekämpft werden muß?

Flugblätter, Losungen und Kundgebungsreden kommen, wenn sie nicht schon im sektenhaften Machtgerangel und Profilierungsdünkel versumpfen, kaum über die vorgegebenen ultilitaristi­schen, funktionalistischen und ökonomistischen Muster hinaus. Keine Visionen, nichts, was be­geistern, den Blick weiten, das Herz wärmen, zu neuem Denken und phantasievollem Handeln inspirieren könnte. Es geht doch nicht um „soziale Fragen“, sondern um das Leben von wirk­lichen Menschen, um eine gute oder miserable Zukunft für Millionen. Und niemand kann es ausreichend artikulieren.

Wo bleibt Ihr, die Ihr dazu helfen können solltet? Es gab doch einen Hölderlin, einen Pablo Neruda, einen Nazim Hikmet, es gibt noch Ernesto Cardenal, Dichter, die aussprechen, was vie­len auf der Seele liegt; die nicht anders können, weil sie sich sonst nicht mehr ins Gesicht schauen könnten. Anderswo gibt es sie. Warum hier nicht?

Wir brauchen freilich nicht die übliche knirschende Kundgebungslyrik, gereimte Phrasen, un­gereimtes Pathos ohne menschliche Substanz. Derlei hört man gelegentlich, und es ist so mies, daß es jede gute Sache verdirbt. Könnte es nicht statt dessen auch reflektierendes Begleiten, solidarische Einrede, notwendige und doch schmerzende Infragestellung, kritische Herausforde­rung sein? Wann sagt Ihr es und wo? Aber nein, Euch hat es offenbar die Sprache verschlagen.

Soll eine Gesellschaft eine Kultur fördern, die nichts zu sagen hat, wenn es darauf ankommt? Oder sind es die Förderungs- und Sponsoringbrosamen von den Tischen der wirtschaftlich und politisch Mächtigen, die den Geist lähmen und das Gewissen kirre machen? Seid Ihr damit zufrieden, als kultureller Zierat der herrschenden Verhältnisse und ihrer erlauchten Protagoni­sten zu dienen?

Was ist los? Wo seid Ihr Intellektuellen? Ihr Künstler? Laßt von Euch hören.

 

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Rede zur Düsseldorfer Montagsdemonstration am 30. August 2004*

von Friedhelm Meyer

Liebe Freundinnen und Freunde,

drei Wünsche habe ich für uns und alle, die heute für die Bewahrung der Menschenwürde demonstrieren, gegen ein Gesetz, das diese Würde bedroht.

Mein erster Wunsch ist, daß wir uns nicht isolieren lassen.

Vereinzelung macht ohnmächtig. Das haben viele von uns schon bitter erfahren. Aber jetzt er­leben wir etwas Ungewohntes: Wir sind Teil einer weltweiten neuen Macht, einer globalen Be­wegung, die überall auf der Welt an Bedeutung gewinnt - von Porto Allegre bis Magdeburg und Düsseldorf. Sie ist stark, denn sie ist vielfältig, sie ist schnell, sie ist international. Was uns eint, ist der Widerstand gegen die globale Enteignungs- und Verarmungspolitik im Dienste der profi­tierenden Minderheiten.

Noch vor wenigen Jahren waren wir isoliert von den Opfern dieser Politik in Afrika, Latein­amerika und Asien, weil wir in Westeuropa zum großen Teil auf der Gewinnerseite des Un­rechtsgefälles standen. Jetzt sind die Herren in den Chefetagen und ihre Gehilfen in der Politik dabei, diese Lücke im globalen System nach dem Vorbild der USA zu schließen. Unsere hart erkämpften sozialen Sicherungen werden konsequent abgebaut und damit unser Privileg, daß die meisten ohne Existenzangst leben konnten. Immer mehr Menschen gehören auch hier schon zu den Abgeschriebenen, und immer mehr haben berechtigte Angst davor. Das vereint uns mit der großen Mehrheit der Menschen in den Ländern des Südens. Und das stärkt die Bewegung des Widerstands gegen diese Politik.

Zu Hartz IV, der bisher schamlosesten Stufe des Sozialabbaus, hat das Düsseldorfer Sozialfo­rum sowohl auf dem Düsseldorfer Kirchentag als auch vor dem Arbeitsamt Befragungsaktionen durchgeführt. Dabei konnten wir eine über neunzigprozentige Übereinstimmung der Befragten in der Ablehnung dieser Politik feststellen, sogar in der Bereitschaft, sich gegen ihre Durch­setzung zu engagieren. Diese gemeinsame Überzeugung kann uns stärken. Sie ist ein hohes und verpflichtendes Gut.

Mein zweiter Wunsch ist, daß wir uns nicht entmutigen lassen.

Wir brauchen einen langen Atem - gegen alles Schielen nach kurzfristigen Erfolgen. Eine realistische Einschätzung ist wichtig, denn wir haben uns auf einen langen und ungewissen Kampf einzustellen. Und darauf, daß die große Mehrzahl der Politiker aus fast allen Parteien einem gefährlichen Aberglauben verfallen sind, dem törichten Glauben an den Neoliberalis­mus. Darum hat die westeuropäische ökumenische Konsultation „Wirtschaft im Dienst des Lebens“ 2002 die Kirchen dazu aufgerufen, „gegen die neoliberale Wirtschaftslehre und -praxis aufzutreten und Gott zu folgen“ (epd-Dokumentation 43a, S. 9)

Dieser Glaube an den Neoliberalismus macht blind für die seit langem offenkundigen zerstöre­rischen Wirkungen dieser Politik: eine in Privilegierte und Ausgeschlossene geteilte, entsolida­risierte Gesellschaft; den Mißbrauch von Gesundheit, Altersvorsorge, Bildung und Kultur als gewinnbringende Ware; den individualistischen Überlebenskampf, der alle in einen Sog zieht: Junge werden gegen Alte ausgespielt, Männer gegen Frauen, Erwerbslose gegen Beschäftigte, Einheimische gegen Emigranten. Rassismus, Sexismus, Fundamentalismus und wachsende Ge­walt sind die Folgen. Militärische Interventionen, Präventivkriege werden zum Mittel der Poli­tik, Aufrüstung zur Pflicht.

All das sei ohne Alternative, wird uns immer wieder versichert, ein Glaubenssatz, den immer mehr Menschen bezweifeln, auch unter uns. Denn wir glauben nicht daran, daß der Profit das höchste politische Kriterium ist. Darum sind international verbindliche soziale und ökologische Regeln für uns ein realistisches Ziel. Ebenso drastische Arbeitszeitverkürzung ohne Einbuße. Ebenso existenzsichernde Löhne. Ebenso eine solidarische Einfachsteuer. Ebenso eine grundle­gende Bürgerversicherung. Es ist genug für alle da. Eine andere Welt ist möglich.

Mein dritter Wunsch ist, daß wir uns nicht spalten lassen.

Unsere Versammlung heute Abend ist wie die ganze neue soziale Bewegung sehr bunt zusam­mengesetzt. Da demonstrieren Leute, die das erste Mal dabei sind oder nur zögerlich Forde­rungen stellen, neben Menschen, die sich seit langem für eine Veränderung oder auch für eine Überwindung des kapitalistischen Systems einsetzen. Das ist eine Stärke der Bewegung, aber auch eine Gefahr, wie die Spaltungen in Berlin und anderswo zeigen. Wichtig ist, daß wir trotz aller Unterschiede zusammen bleiben. Nur so kann es gelingen, das entwürdigende und unsozi­ale Hartz IV-Gesetz zu Fall zu bringen.

Auf dem ersten Weltsozialforum in Porto Allegre wurde die neue soziale Bewegung mit einem Puzzle verglichen, bei dem sich die verschiedenen Teile zusammen fügen, obwohl man noch nicht weiß, wie das endgültige Ergebnis aussehen wird. Wir sind gewohnt, bei politischen Kämpfen von einem fest stehenden Ziel auszugehen, nach dem sich die verschiedenen Teile auszurichten haben beziehungsweise ausgerichtet werden. In der neuen Bewegung werden da­gegen die einzelnen Teile in ihrer Eigenart und Vielfalt ernst genommen. Das erfordert viel Geduld und gegenseitige Toleranz. Vielleicht entfaltet die Bewegung gerade darum eine so un­gewohnte Anziehungskraft und politische Wirkung.

Nach diesem Bild sollten wir uns auch hier in Düsseldorf richten. Wir müssen zusammen stehen, ob wir aus Initiativen oder Gruppen, aus Gewerkschaften oder Kirchen, aus Instituti­onen oder Parteien kommen oder ganz ungebunden sind. So haben wir es von Anfang an im Düsseldorfer Sozialforum gehalten, und so halten wir es bei den Montagsdemonstrationen. Wir achten uns gegenseitig in unserer Verschiedenheit, und das scheint uns fruchtbar zu sein.

Ich wünsche unserer Demonstration gutes Gelingen.

 

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Eine Nachbemerkung

von Hanfried Müller


Die vorstehenden drei Artikel rücken - mehr oder weniger - die heutigen Proteste gegen die Hartz-IV-Gesetze in die Tradition jener De­monstrationen, unter deren Wirkung 1989, je­denfalls scheinbar (sie waren ja nur die Ge­räuschkulisse der Konterrevolution) die DDR zusammenbrach. Überwiegend unreflektiert, wenn auch vermutlich von interessierten Krei­sen subversiv gefördert, wird dieser Vergleich wohl darum gern gezogen, weil er einerseits geeignet ist, den heutigen Demonstranten Op­timismus zu vermitteln, denn immerhin sieht es für viele so aus, als sei an solchen Demon­strationen wie den ihren schon einmal ein Staat gescheitert, und weil er es andererseits er­leichtert, über erhebliche sozialpolitische Ge­gensätze hinweg Anti- und Prosozialisten in den heutigen Protestdemonstrationen zu ver­einigen. Genau deshalb herrscht darüber auch unter den reaktionärsten politischen Kräften helle Empörung bis zu der Forderung, Demon­strationen am Montag überhaupt zu verbieten, um nicht durch antikapitalistische Proteste die Erinnerung an ihre antikommunistische Re­volte von 1989 zu beschmutzen.

Aber ist es wirklich so harmlos, wie es vielen scheinen mag, wenn Traditionen und Begriffe der Reaktion von progressive Bewegungen übernommen werden? Gewiß sind hier Takt und Sorgfalt geboten. Es darf nicht dazu kom­men, daß heute objektiv progressiv Enga­gierte dadurch zurückgestoßen werden, daß ihnen Fehlleistungen aus der Vergangenheit entgegengehalten werden, die sie längst ver­gessen und verdrängt haben, ohne sich und anderen über ihre früheren politischen Fehler Rechenschaft zu geben.

So wenig, wie es Sache deutscher Antifaschi­sten war, diejenigen vom gemeinsamen Kampf gegen die Nazis auszuschließen, die ihn in der idealisierten Tradition eines preußisch-fri­derizianischen Ehrenkodexes oder Bismarck­schen Geistes sahen, so wenig ist es unsere Sache, Leute vom Kampf gegen den der­zeitigen Sozialabbau zurückzuweisen, weil sie durch ihr gestriges Verhalten all das erst mit heraufbeschworen haben, wogegen wir heute gemeinsam ankämpfen. Aber so wenig Bismarckgeist und friderizianischer Ehrenko­dex geeignet waren, im Kampf gegen den deutschen Faschismus eine umfassend ge­meinsame Tradition zu liefern, so wenig, meine ich, taugt heute die konterrevolutionä­re Irritation von 1989 dazu, dem Widerstand gegen ihre Folgen eine gemeinsame Tradition zu geben.

Heute geht es um den Widerstand gegen Hartz IV - und ich meine, die Gemeinsamkeit dieses Widerstandes aller Betroffenen und aller mit ihnen Solidarischen bedarf keiner gemeinsamen Tradition, sondern nur des gemeinsamen, überdies zunächst rein negativ faßbaren Zieles, nämlich: Hartz IV muß weg!

Denn Hartz IV ist der bisherige Höhepunkt der gesellschaftlichen Desolidarisierung in der Bundesrepublik.

Ich spreche bewußt von ganz Deutschland und nicht nur von seinem „Osten“, den „fünf neuen Ländern“, der von der BRD annek­tierten DDR.

Sogar der „Spiegel“ sieht das in seiner Nr. 39 vom September dieses Jahres auf S. 48. Zwar datiert er das Ende der DDR fälschlich erst auf den Erlaß des Hartz-IV-Gesetzes und ver­deckt mit der besänftigenden Floskel vom „Ende des Kalten Krieges“, daß es sich schon 1989 um die Vernichtung der DDR durch den imperialistischen Sieg im Kalten Krieg han­delte. Sonst aber klingt es erstaunlich rea­li­stisch:

„Markierte der 9. November 1989 das Ende des Kalten Krieges, so markiert Hartz IV das Ende der DDR. Auch deshalb ist das Gesetz ein Schock für viele Ostdeutsche. Helmut Kohls Versprechen, daß es niemandem schlech­ter gehen werde, ist mit Hartz IV zurück­genommen. Nun droht Arbeitslosen späte­stens nach vier Jahren ein Leben auf Sozial­hilfeniveau.

Die Ostbürger müssen erkennen, daß sie mit ihrer Revolution nicht nur den eigenen Staat abgeschafft haben, sondern auch die alte Bundesrepublik. Denn die war nicht zuletzt ein Reflex auf die DDR, war ein Gebilde, das sich unter dem Druck von Systemkonkurrenz entwickelte. Der Sozialstaat wurde unter an­derem deshalb so üppig ausgebaut, damit auch die Westdeutschen sich gut versorgt fühlen durften. Dieser Druck ist weggefallen. Zudem verschärfte der Fall des Eisernen Vor­hanges die globale Konkurrenz.

Nun finden sich die Ostdeutschen in einer Bundesrepublik wieder, die ganz anders ist, als sie erwartet hatten, härter, weniger für­sorglich. Sie wollten eine DDR light und kriegen allmählich eine BRD tough.“

Der „Sozialstaat“, auf den die meisten West­deutschen so stolz und auf dessen „Errun­genschaften“ viele zunehmend Politikunfähi­ge und unbelehrbare Antikommunisten in Ostdeutschland so neidisch waren, war von der Entstehung der Bundesrepublik an ein Konglomerat von notgedrungener Immunisie­rung der westdeutschen Bevölkerung gegen die sozialistische Infektionsgefahr aus dem deutschen Staat östlich der Elbe und purer Demagogie. Solche Infektionsgefahr schien seit dem Sieg der Konterrevolution Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht mehr gegeben. Ein „reiner“ Kapita­lismus ohne „Sozialbindung des Eigentums“, die dem Streben nach Maximalprofit Grenzen setzt, war also ebenso wieder möglich wie ein unverblümter deutscher Imperialismus, dessen Glacis, sofern nicht von imperialistischen Konkurrenten beherrscht, die ganze Welt ist.

Allerdings witterten die Sieger von 1989 von Anfang an, wenn schon nicht mehr die Exi­stenz der DDR, so könne doch noch allein die Erinnerung an sie der Behauptung der Alter­nativlosigkeit imperialistischer Restauration hinderlich sein. Darum die Delegitimations-Forderung des aus dem Geheimdienst aufge­stiegenen BRD-Justizministers Kinkel! Dar­um der uneingeschränkte Finanzaufwand für die „Gauck“-Behörde und für die „innere Sicherheit“, während die BRD, inzwischen auf der Grenze zum Staatsbankrott fast alle sozialen Staatsausgaben streicht! Darum die drakonische Grenze der „Freiheit der Mei­nungsäußerung“! Nur solange kann jede Mei­nung (über Minimalauflagen wie z.B. die der WBl hinaus) verbreitet werden, wie sie das Schiboleth respektiert: Zwar darf man - fast - alles sagen (natürlich nicht tun), aber nur, wenn man es zugleich wirkungslos macht, in­dem man ihm eine Abgrenzung vom Sozialis­mus an den Stellen anfügt, die den Imperia­listen aller Länder am ärgerlichsten waren, sich also u.a. abgrenzt von den Erfolgen der Sowjetunion in der Zeit Stalins, von den Er­folgen der DDR in der Zeit Ulbrichts und - natürlich! - von Kuba, das nach wie vor den stärksten imperialistischen Mächten trotzt. Und jedenfalls in Deutschland muß man sich die „Redefreiheit“ erkaufen, indem man ein Körnchen Weihrauch auf den Altar der „Pseu­dorevolutionäre“ im Ausgang der achtziger Jahre streut, also den Gorbatschowisten in der Sowjetunion und den „Montagsdemonstran­ten“ in der „Heldenstadt“ Leipzig seine Reve­renz bezeugt.

Kein Zweifel: Diese „Montagsdemonstran­ten“ waren keine homogene Masse. Da gab es einige Idealisten, die unter der Parole „Wir sind das Volk“ eine „bessere“ (eine ernst­hafter als „sozialistisch“ zu bezeichnende?) DDR forderten. Und da gab es die große Menge, die sich immer mehr die Parole „wir sind ein Volk“ unterjubeln ließ. So ging aus den Montagsdemonstrationen eine Horde von der „Einheit Deutschlands“ berauschter Nati­onalisten hervor, die bestenfalls gar nicht merkte, daß jede Nation ihren Herren hat, und diese wiedervereinigte deutsche den Herrn Krupp und nicht Krause. (Daß dann schließ­lich ein Herr Krause den von Herrn Schäub­les Ministerium verfaßten „Einigungsvertrag“ abschloß, war in Erinnerung an Bengsch’ großartigen Film ein besonders übler Witz am Rande der Weltgeschichte.)

Und nun sind wir auf dem Wege, für den die Leipziger Montagsdemonstranten zwar weder Bahnbrecher noch Führer waren, aber durch die Fernsehbilder von ihrem Theater zu einer viele Kleinbürger faszinierenden Kulisse im Trauerspiel der Liquidierung des Sozialismus in der DDR wurden, in dem Staat angelangt, in dem die Repräsentanten nie gewählter Mächte das Kabinett wie die Opposition re­gieren. Einer dieser Repräsentanten des Ka­pitals, Michael Rogowski vom Bund der Industrie hat am 24. 9. der Chemnitzer „Freien Presse“ gesagt:

„Ich würde nicht ... sagen, daß ausländische Investoren nicht in den Osten kommen, nur weil die NPD und DVU in den Landesparla­menten sitzen. Ich warne sowieso davor, das Phänomen Rechtsextremismus überzubewer­ten. ... Mir macht eher das Thema PDS grö­ßere Sorgen. ... Ich stelle mir bei den Wahler­folgen der PDS die Frage, wie es sein kann, daß Menschen nach 15 Jahren Wiedervereini­gung immer noch in dem Glauben sind, daß man eine Partei unterstützen sollte, die nichts außer Nein sagt. ... Mecklenburg-Vorpom­mern ist das beste Beispiel, daß es nicht dazu beiträgt, die Attraktivität für Investoren zu er­höhen, wenn die PDS mit in der Regierung sitzt.“ (Hervorhebung WBl)

Der Satz ist ebenso begreiflich wie die all­gemeine, allerdings weithin geheuchelte, Em­pörung darüber.

Begreiflich ist der Satz; denn was sich in Deutschland „Elite“ nennt - von Kirdorf, Krupp und Schröder (dem Bankier) über Papen, Schacht und Hindenburg bis zu Rogowski und Hundt - war sich stets dessen bewußt, daß auch die zurückgebliebensten Teile natio­nalistischer Reaktion Fleisch von ihrem Fleisch und Blut von ihrem Blut waren, nicht aber diejenigen, die, sei es auch nur mit ihrer Vergangenheit und ihrem Namen an Zeiten erinnern, in denen diese „Aristokraten“ vor Volksmassen zitterten. Begreiflich aber auch die Empörung über den Satz; denn: so etwas weiß man, aber so etwas sagt man doch nicht: es könnten ja geschlagene Revolutionäre Hoff­nung daraus ziehen, daß die Reaktion sie noch immer fürchtet.

*

Von den Montagsdemonstrationen in der „Heldenstadt“ führte - unabhängig vom unter­schiedlichen Wollen der Leipziger Demon­stranten - ein gerader Weg zur Auslieferung auch Ostdeutschlands an diese „Eliten“. Zwar sahen das die meisten Demonstranten nicht, wohl aber diejenigen imperialistischen Politi­ker, die sich wie 1933 darüber klar waren, daß eine Konterrevolution, um zu siegen, na­tional-revolutionärer Schminke bedarf, und daß die Restabilisierung der Macht des Ka­pitals und seiner Eliten den Schein der Volks­tümlichkeit braucht, um Massen gegen deren eigenen Interessen zu mobilisieren.

Ist es nun klug, den sich nun endlich unter der Parole „Hartz IV muß weg!“ entwickelnden Widerstand der betrogenen Massen gegen die immer härtere Exekution der Konterrevolu­tion auf eine Tradition zu stützen, die - be­wußt und gewollt oder nicht - dazu gedient hat, der Konterrevolution den Schein einer Massenbewegung zu geben?

Das bezweifle ich!

Darum möchte ich raten, zwar die Demon­stranten von 1989 nicht zurückzustoßen, wenn sie sich nun endlich gegen das, was sie selbst mit heraufbeschworen haben, aufleh­nen, und sie auch nicht inquisitorisch und provokatorisch daran zu erinnern, daß sie da­mals in Illusionen befangen das gefördert ha­ben, wogegen sie heute mit Recht prote­stieren. Aber denjenigen, die heute gegen die Auswüchse der Konterrevolution in Gestalt von Hartz IV protestieren, möchte ich nicht empfehlen, die damaligen Demonstrationen, von denen - bewußt oder unbewußt - der Beginn dieser Konterrevolution jubelnd begleitet wurde, als Tradition für sich in Anspruch zu nehmen.

Darum mein Bedenken gegen das Lob der Leipziger Montagsdemonstrationen und ge­gen die Rühmung der damals in der Niko­laikirche veranstalteten „Friedensgebete!“

 

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Attac und wir Marxisten

Streit um die Wahrheit im Geist der Kameradschaft

von Götz Dieckmann

Beitrag auf der ATTAC-Sommerakademie in Dresden am 1. 8. 04 im Rahmen des Seminars:

Eine andere Welt ist möglich - Sozialismus ist notwendig

Jegliche Einsicht in die Veränderbarkeit der Welt setzt voraus, von der Anschauung der vielfältigen Erscheinungen zum Wesen der Dinge vorzustoßen, um dann wiederum Schlüsse für praktisches Handeln zu ziehen.

Was die Erscheinungen anbetrifft, so ist nicht zu übersehen, daß die Entwicklung, in die wir heute gestellt sind, Züge klassischer Dramen offenbart. Im „König Johann“ von William Shakespeare finden wir die Sentenz:

„Nun treffen fremde Macht und heim'scher Unmut

Auf einen Punkt, und die Verheerung war­tet,

So wie der Rab' auf ein erkranktes Vieh,

Auf nahen Fall des abgerungnen Prunks.

Nun ist der glücklich, dessen Gurt und Mantel

Dies Wetter aushält.“

(Fünfter Aufzug. Erste Szene)

Ja, es geht darum, gut gegürtet und gewandet den jetzigen und mehr noch den kommenden Stürmen zu trotzen.

Anfang der neunziger Jahre, kurz nach der schweren Niederlage des Sozialismus, war es noch strittig, ob wir auch künftig stürmische Zeiten zu erwarten hätten. Francis Fukayama, seines Zeichens Berater des damaligen Präsidenten der USA, schrieb ein Buch mit dem programmatischen Titel: „Das Ende der Geschichte“. Triumphierend behauptete er, nun­mehr habe der Kapitalismus endgültig und unwiderruflich gesiegt, der Hegelsche „Welt­geist“ habe sein Werk vollendet. Bis auf einige Aufräumarbeiten bleibe nichts Eingrei­fendes mehr zu tun. Eine geschichtliche Entwicklung der Menschheit könne es nicht mehr geben, und folglich sei natürlich jegliches Infragestellen des Kapitalismus sinnlos. Auch unverbesserliche revolutionäre Schwärmer würden das angesichts ihrer offenkundigen Aussichtslosigkeit bald begreifen. Der Marxismus sei so eindeutig ad absurdum geführt, daß er wohl niemals mehr sein Haupt erheben könne.

Das Jubelgeschrei der Konterrevolution ist inzwischen merklich leiser geworden. Es wird allerdings ersetzt durch pausenlose Appelle namentlich an die Adresse der­jenigen, die den Sozialismus erlebt haben, sie müßten doch endlich anerkennen und ver­innerlichen, wie unglücklich sie damals ge­wesen seien und zu welcher Dankbarkeit ihren Befreiern und Wohltätern gegenüber verpflichtet.

Festzuhalten bleibt jedoch, daß ernstzuneh­mende Versuche, den Marxismus als Gedan­kengebäude theoretisch auszuhebeln, kaum noch zu verzeichnen sind. Was sollte auch dabei herauskommen zu einer Zeit syste­matisch betriebener Volksverblödung, wo man den Bürgern unseres Landes einzureden ver­sucht, arbeitslos zu werden sei als „Chance“ zu verstehen. Sie sollten nun als „Ich-AG“ mittels Selbstausbeutung in die unteren Rän­ge - vielleicht sogar in mittlere oder höhere Ränge - der Bourgeoisie aufsteigen. Oder aber: Sie sollten sich doch in der Dienst­leistungsgesellschaft dadurch emanzipieren, daß, bildlich gesprochen, Bürger A und Bür­ger B sich wechselseitig die Haare schneiden, wodurch sie auskömmlich leben und mit den erzielten Gewinnen nicht nur ihre private Altersvorsorge, sondern auch ihren sozialen Aufstieg finanzieren könnten. Da kann Karl Marx allerdings, selbst wenn man ihn nur zum Zweck seiner Widerlegung zitiert, ge­fährlich sein. Um so mehr ist es unsere Pflicht, die heutige Welt im Lichte seiner Erkenntnisse zu analysieren.

Wir müssen natürlich in Rechnung stellen, daß die Marxisten es nach der Niederlage schwer haben, ihre Anschauungen zu propa­gieren. Hier appelliere ich selbstverständlich nicht an die zwielichtigen Gestalten, die sich früher mit angelernten Versatzstücken der marxistischen Theorie geschmückt haben, um dann schleunigst dem nächsten Kapitalisten in den Hintern zu kriechen und sich den neuen Herren anzudienen, mit der lebhaften Beteuerung, sie hätten ja schon immer ge­wußt, daß der Sozialismus nicht funktionieren könne, und im Übrigen sei ihnen von den da­maligen Machthabern übel mitgespielt wor­den.

Solche käuflichen Leute sind, wie wir erlebt haben, ziemlich zahlreich. Sie werden bei der nächsten Wende wieder schnell umschwen­ken und sich unseren Nachfolgern an den Hals werfen. Manche von denen sitzen ge­genwärtig schon fast in den Startlöchern. Wir hören, es sei doch „in der DDR nicht alles schlecht gewesen“, und die ganz Kühnen su­chen schon mal, in ihr altes FDJ-Hemd ge­hüllt, eine Ostalgie-Party heim. Wer auf sol­che schwankenden Gesellen etwa Hoffnun­gen auf eine andere Welt gründet, der ist von vornherein verloren.

Marxisten müssen sich gerade in den Zeiten der Finsternis wie eh und je daran messen lassen, ob ihre Überzeugungen, ihre theo­retischen Grundpositionen die gesellschaftli­che Realität richtig widerspiegeln. Sie müssen sich also eben jetzt der kritischen Ausein­andersetzung stellen, ob sie nicht in einer au­genscheinlich veränderten Welt ihre Positio­nen in vielerlei Hinsicht revidieren müßten.

Wenn wir fragen, wie heranzugehen sei, ist es besonders nützlich, die Haltung unserer gros­sen Vorkämpfer in Zeiten der Niederlage zu betrachten. Denn in den Perioden des Auf­schwungs der Arbeiterbewegung und zumal in den Zeiten der Siege ist es leicht, optimi­stisch und sich seiner Sache sicher zu sein. Schwer ist es dagegen, Kurs zu halten, wenn der Gegner allmächtig zu sein scheint.

Ich will deshalb eine Rede von Karl Marx aus so einer Periode der Reaktion vortragen. Wir befinden uns im Jahre 1856. Diesen Zeitraum habe ich ausgewählt, weil es viele Parallelen mit der Gegenwart gibt: Die Konterrevolution hatte die Revolutionen von 1848 niederge­worfen. Der Bund der Kommunisten hatte sich, auf Marx' eigenen Antrag, aufgelöst. Denn angesichts der Niederlage drohten Kräf­te die Oberhand zu gewinnen, die den bloßen Willen zur Haupttriebkraft erklärten und be­haupteten, es bedürfe nur rücksichtsloser Ent­schlossenheit, um jederzeit eine neue - dies­mal proletarische - Revolution ins Werk zu setzen.

Marx und Engels waren also zu diesem Zeit­punkt parteilos, und erst 1864 konnten sie mit der Gründung der I. Internationale wieder Mit­glied einer organisierten Avantgarde werden. So markiert das Jahr 1856 ziemlich genau den Tiefpunkt dieser reaktionären Zeit, und es gab wahrlich genug Gründe zur Resignation. Nicht so bei Karl Marx. Eingeladen zu einer politischen Zusammenkunft erhält er Gele­genheit, aufzutreten.

Hier ist seine Rede auf der Jahresfeier des „Peopl'es Paper“ am 14. April 1856 in Lon­don:

„Die sogenannten Revolutionen von 1848 waren nur kümmerliche Episoden - kleine Brüche und Risse in der harten Kruste der europäischen Gesellschaft. Sie offenbarten jedoch einen Abgrund. Sie enthüllten unter der scheinbar festen Oberfläche Ozeane flüssiger Masse, die nur der Expansion be­darf, um Kontinente aus festem Gestein in Stücke zerbersten zu lassen. Lärmend und verworren verkündeten sie die Eman­zipation des Proletariers, d.h. das Geheim­nis des 19. Jahrhunderts und der Revolution dieses Jahrhunderts.

Diese soziale Revolution war allerdings kei­ne 1848 erfundene Neuheit. Dampf, Elektri­zität und Spinnmaschine waren Revoluti­onäre von viel gefährlicherem Charakter als selbst die Bürger Barbes, Raspail und Blan­qui. Aber obgleich die Atmosphäre, in der wir leben, auf jedem mit einem Gewicht von 20000 Pfund lastet, empfinden wir es etwa? Nicht mehr, als die europäische Ge­sellschaft vor 1848 die revolutionäre Atmo­sphäre empfand, die sie von allen Seiten umgab und drückte.

Es gibt eine große Tatsache, die für dieses unser 19. Jahrhundert bezeichnend ist, eine Tatsache, die keine Partei zu leugnen wagt. Auf der einen Seite sind industrielle und wissenschaftliche Kräfte zum Leben er­wacht, von der keine Epoche der früheren menschlichen Geschichte je eine Ahnung hatte. Auf der anderen Seite gibt es Ver­fallssymptome, welche die aus der letzten Zeit des Römischen Reiches berichteten Schrecken bei weitem in den Schatten stel­len.

In unsern Tagen scheint jedes Ding mit sei­nem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir se­hen, daß die Maschinerie, die mit der wun­dervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu ma­chen, sie verkümmern läßt und bis zur Er­schöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen er­kauft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie die Menschheit die Natur be­zwingt, scheint der Mensch durch andere Menschen oder durch seine eigene Nieder­tracht unterjocht zu werden. Selbst das reine Licht der Wissenschaft scheint nur auf dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit leuch­ten zu können. All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszu­laufen, daß sie materielle Kräfte mit geisti­gem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdum­men. Dieser Antagonismus zwischen mo­derner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Ver­fall auf der anderen Seite, dieser Antago­nismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwälti­gende und unbestreitbare Tatsache. Einige Parteien mögen darüber wehklagen; andere mögen wünschen, die modernen techni­schen Errungenschaften loszuwerden, um die modernen Konflikte loszuwerden. Oder sie mögen sich einbilden, daß ein so be­merkenswerter Fortschritt in der Industrie eines ebenso bemerkenswerten Rückschritts in der Politik zu seiner Vervollständigung bedarf. Wir für unseren Teil verkennen nicht die Gestalt des arglistigen Geistes, der sich fortwährend in all diesen Widersprü­chen offenbart. Wir wissen, daß die neuen Kräfte der Gesellschaft, um richtig zur Wir­kung zu kommen, nur neuer Menschen bedürfen, die ihrer Meister werden - und das sind die Arbeiter.

Sie sind so gut die Erfindung der neuen Zeit wie die Maschinerie selbst. In den Anzei­chen, die die Bourgeoisie, den Adel und die armseligen Rückschrittspropheten in Ver­wirrung bringen, erkennen wir unsern wak­kern Freund Robin Goodfellow, den alten Maulwurf, der so hurtig wühlen kann, den trefflichen Minierer - die Revolution. Die englischen Arbeiter sind die erstgeborenen Söhne der modernen Industrie. Sie werden also gewiß nicht die letzten sein, der durch diese Industrie erzeugten sozialen Revolu­tion zu helfen, einer Revolution, die die Emanzipation ihrer eigenen Klasse in der ganzen Welt bedeutet, die so universal ist wie die Herrschaft des Kapitals und die Lohnsklaverei. Ich kenne die heldenmütigen Kämpfe, die die englische Arbeiterklasse seit Mitte des vorigen Jahrhunderts bestan­den hat - Kämpfe, nur darum weniger be­rühmt, weil sie in Dunkel gehüllt sind und die bürgerlichen Historiker sie vertuschen.

Im Mittelalter gab es in Deutschland ein ge­heimes Gericht, Femegericht genannt. Es existierte, um die Untaten der herrschenden Klasse zu rächen. Wenn man ein Haus mit einem roten Kreuz gezeichnet fand, so wuß­te man, daß der Besitzer von der Feme ver­urteilt war. Alle Häuser Europas sind jetzt mit dem geheimnisvollen roten Kreuz ge­zeichnet. Die Geschichte ist der Richter - ihr Urteilsvollstrecker der Proletarier.“ (MEW 12/3-4) - So weit Karl Marx.

Müssen wir nun Grundlegendes korrigieren? Nein, das müssen wir nicht! Ich sage das, obwohl es heute hinsichtlich der Existenzbe­dingungen und der Entwicklung der Arbei­terklasse neuartige Phänomene gibt, die wei­terführende Antworten verlangen. Darauf wird noch einzugehen sein.

Betrachten wir also aus der Sicht von heute die Eckpunkte. Das sind die Wissenschafts- und Produktivkraftentwicklung, die Rolle der Arbeiterklasse und Fragen hinsichtlich der Wege der Veränderung.

Die Verwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft ist weit fortge­schritten. Das war und ist entscheidend für die Beantwortung der Frage, ob eine andere Welt als die jetzige überhaupt möglich ist, ob im Schoße des Kapitalismus diese Welt vor­bereitet wird. Ich denke, daß ich mich hier kurz fassen kann, denn das ist eine offen­kundige Tatsache. Wir sind Zeitgenossen der „Globalisierung“, einer rasanten und unauf­haltsamen Revolutionierung aller ökonomi­schen Verhältnisse auf dem Erdball bei gleich­zeitiger Abschwächung der Rückwirkungen politischer Macht auf das ökonomische Ge­schehen in der kapitalistischen Weltwirt­schaft. Was die Wissenschaft betrifft, haben wir es unter den gegenwärtigen Herrschafts­bedingungen bereits damit zu tun, daß die Menschheit besser nicht mehr alles umsetzt, was sie bereits vermag. Ich nenne nur die Stichworte Atomkraft, Gentechnologie, insbe­sondere, wenn es um Eingriffe ins mensch­liche Erbgut geht, und die drängenden öko­logischen Probleme. Wir müssen wohl kon­statieren, daß der Punkt, hinter dem es keine Umkehr mehr geben würde, nicht allzu weit entfernt ist.

Aber das ist nicht einmal die Hälfte der Wahrheit: Von großer Bedeutung ist die Tat­sache, daß die produktiven Fähigkeiten der Menschheit die Möglichkeit eröffnet haben, allen auf dem Erdenrund eine menschen­würdige Existenz, ausreichende Bildung und Gesundheitsvorsorge zu gewährleisten. Ob­wohl zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit heute Abgründe liegen, kann nicht nach­drücklich genug hervorgehoben werden, daß die Begründung einer anderen Welt nicht auf einer Verallgemeinerung des Mangels aufzu­bauen hätte.

Das ist eine fundamentale Erkenntnis, die wir mit unseren Freunden von attac teilen. Es ist sicher nicht nötig, dies ausführlich zu bele­gen. Aber eines will ich unbedingt dazu an­merken: Diese Gemeinsamkeit im Grundsätz­lichen dürfen wir nie aus dem Auge verlieren, wenn es darum geht, differierende Ansichten über Weg und Ziel, die ja offensichtlich vorhanden sind, zu diskutieren. Diese Ge­meinsamkeit verpflichtet zum Geist der Ka­meradschaft im Streit um die Wahrheit.

Die Globalisierung ist aber ein Zwitter. Sie ermöglicht, wie gesagt, einen nie gesehenen Fluß der Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums. Und die Globalisierung ist ande­rerseits, solange sie den Gesetzen der Kapi­talverwertung folgt, der blanke Horror.

Diese Zwittergestalt bildet den Kern der Pro­blematik, über die wir heute im Diskurs stehen. Marx hat - bei der Analyse der „künf­tigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien“ - auch hierfür eine klassische Formu­lierung gefunden:

„Die bürgerliche Periode der Geschichte hat die materielle Grundlage einer neuen Welt zu schaffen: einerseits den auf der gegen­seitigen Abhängigkeit der Völker beruhen­den Weltverkehr und die hierfür erforder­lichen Verkehrsmittel, andererseits die Ent­wicklung der menschlichen Produktivkräfte und die Umwandlung der materiellen Pro­duktion in wissenschaftliche Beherrschung der Naturkräfte.

Bürgerliche Industrie und bürgerlicher Han­del schaffen diese materiellen Bedingungen einer neuen Welt in der gleichen Weise, wie geologische Revolutionen die Oberfläche der Erde geschaffen haben. Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unter­worfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nek­tar nur aus den Schädeln Erschlagener trin­ken wollte.“ (MEW; 9/226)

Und damit sind wir bei den Meinungsver­schiedenheiten. Ein politisch relevantes Fak­tum ist, daß viele die Veränderung wollen, aber zugleich die vermeintlichen oder tatsäch­lichen Konsequenzen des revolutionären Wegs, einer zweifelsohne langwierigen revolutionä­ren Umgestaltung, scheuen. Es hat keinen Zweck, über diese Stimmung mit kühler Ver­achtung hinwegzugehen. Denn der Wunsch, ge­wissermaßen hinter dem Rücken der beste­henden Gesellschaft, zunächst durch Insel­lösungen die drängenden gesellschaftlichen Probleme zu bewältigen, ist ebenso alt wie die reformistische Hoffnung, gestützt auf den vermeintlich klassenneutralen Staat, den Ka­pitalismus mehr und mehr zu läutern, bis schließlich - so das Credo seit Eduard Bern­stein - ohne die Wirren und Opfer eines revo­lutionären Umsturzes die neue Gesellschaft fast unmerklich über uns gekommen sein wird. Wünsche dieser Art kann man schon verstehen, sie sind wohl allgemeinmensch­lich. Sie leiden jedoch an dem Kardinalfehler, daß solche Rechnungen ohne den Wirt, die Kapitalistenklasse, gemacht sind. Man geniert sich ja fast, hierbei auf die diversen ge­schichtlichen Tatsachen hinzuweisen, die be­legen, wie diese „Wirte“ stets mit Klauen und Zähnen ihre ökonomische und politische Macht verteidigt haben.

Aber immerhin bliebe ja noch die vage spe­kulative Hoffnung, das Kapital könne zur Be­sinnung kommen, seine Exponenten sich mo­ralisch läutern, damit sie sich schließlich den demokratischen Wünschen der Mehrheit beug­ten.

Sittliche Entrüstung zu erzeugen und aus­zunutzen ist ein Mittel der Politik. Im Kampf gegen den Sozialismus haben die Kapitalisten und ihr Nachtrab dieses Mittel ohne Skrupel eingesetzt. Nie werde ich vergessen, wie frisch in Wendung begriffene Journalisten des Fern­sehens der DDR 1989 sich mit der Kamera auf den vernickelten Wasserhahn in Honek­kers Wohnhaus in Wandlitz gestürzt haben, voll Empörung über die ungeheuerlichen Pri­vilegien des Politbüros. Inzwischen weiß auch der Naivste, daß die meisten Groß­kapitalisten es für unangemessen halten wür­den, auf einer Toilette mit dem Standard der Siedlung in Wandlitz auch nur pinkeln zu gehen. Moralische Entrüstung ist aber offen­bar eine sehr wandlungs- und anpassungs­fähige Angelegenheit. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“ ist zum Leit­spruch unserer Freiheitshelden geworden.

Es geht im Kapitalismus eben nicht um ab­strakte Ethik und Moral. Das hat handfeste Gründe. Schon vor dreieinhalb Jahrhunder­ten, als diese Ordnung gerade im Entstehen begriffen war, hat der englische Philosoph Thomas Hobbes die bürgerliche Gesellschaft als „bellum omnium contra omnes“, also den Krieg aller gegen alle, als legalisierten Ego­ismus definiert. Das hat sich als völlig richtig erwiesen, während seine Hoffnung, dieser Zustand könne vielleicht per „Gesellschafts­vertrag“ gemildert werden, sich nicht erfüllte.

Ziehen wir deshalb einen Schluß: Eine neue Welt ist nicht, oder nicht allein, Folge des Strebens nach Gerechtigkeit. Sittliche Empö­rung über all jene Wirtschaftsführer und Poli­tiker, die ungeniert in krimineller Weise in die Kasse greifen - die Zeitungen sind voll davon - ist geboten. Aber selbst wenn es die­se korrupten Subjekte nicht gäbe, wenn sich alle Akteure durch bürgerliche Wohlanstän­digkeit auszeichnen würden, wäre damit nur wenig über die Zukunft oder die Perspektiv­losigkeit der kapitalistischen Gesellschaft ausgesagt. Denn die neue Welt - ich wieder­hole es - entspringt in erster Linie nicht ver­letzter Gerechtigkeit, sondern ökonomischer Notwendigkeit.

Warum ist das so? Karl Marx hat 1857/58 in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“, der Vorarbeit zu seinem Haupt­werk „Das Kapital“, das Gesetz vom tenden­ziellen Fall der Profitrate nachgewiesen. Er hat es folgendermaßen charakterisiert:

„Es ist dies in jeder Beziehung das wichtig­ste Gesetz der modernen politischen Öko­nomie und das wesentlichste, um die schwie­rigsten Verhältnisse zu verstehen. Es ist vom historischen Standpunkt aus das wich­tigste Gesetz.“ (MEW 42/641)

Ich kann also nur wärmstens empfehlen, alles sorgfältig zu lesen, was Marx darüber ge­schrieben hat. Die kritische Prüfung, ob er hier recht hatte, ob das unseren jetzigen Be­dingungen entspricht oder nicht, liefert den Schlüssel zur Beantwortung der Fragen, die uns umtreiben, und zur Klärung von Mei­nungsverschiedenheiten, die wir auszutragen haben.

Ich kann hier nicht Marx' Argumentation Punkt für Punkt reproduzieren. Der ernsthaft Stre­bende wird das anstrengende Studium des Originals nicht scheuen. Deshalb umreiße ich nur die Hauptthesen: hervorgehoben werden muß, daß die Begründung einer anderen Welt nicht auf einer Verallgemeinerung des Man­gels aufzubauen hätte.

Marx weist nach, daß mit fortschreitender ka­pitalistischer Entwicklung das Gesamtkapital seine „organische Zusammensetzung“ zwangs­läufig verändert. Der Anteil des aus bereits vollzogener kapitalistischer Ausbeutung ge­wonnenen „konstanten Kapitals“ wächst im Verhältnis zum „variablen Kapital“, also je­nem Kapitalanteil, der auf die lebendige Ar­beit entfällt. Daraus folgt, daß die Gesamt­profitmasse durchaus wachsen kann, obwohl die Durchschnittsprofitrate tendenziell fällt. Denn nicht aus der bereits „geronnenen“ Aus­beutung, sondern allein aus der Mehrarbeit und dem Mehrwert erwächst schließlich der Profit.

Dem Fall der Profitrate kann das Kapital al­lerdings entgegenwirken durch verschärfte Ausbeutung, sei es durch Senkung der Löhne oder Verlängerung und vor allem Intensivie­rung der Arbeit. Es kann sich auch neue Märkte in Ländern erschließen, die kapitali­stisch noch unterentwickelt sind, solange es solche Länder auf der Welt gibt. Lenin hat zudem in der Debatte mit Rosa Luxemburg um die Interpretation der Bände II und III des „Kapitals“ nachgewiesen, daß die Kapitali­stenklasse mit der Gestaltung des Verhält­nisses von fixem und variablem Kapital im Bereich der Investitionen manövrieren kann. Das sind die Gründe, warum das Kapital auf keine äußerste absolute Grenze seiner öko­nomischen Verwertung stößt, wie es Rosa Luxemburg annahm. Es wird demzufolge nicht „automatisch“ zusammenbrechen, son­dern es muß „gestürzt“ werden.

Den Fall der Profitrate hat Marx deshalb wohlüberlegt als einen „tendenziellen“ ge­kennzeichnet. Das ändert aber - nach seinen eigenen Worten - nichts daran, „daß die durch das Kapital selbst in seiner historischen Ent­wicklung herbeigeführte Entwicklung der Produktivkräfte, auf einem gewissen Punkt angelangt, die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen.“ (MEW: 42/641)

Schneidende Widersprüche, Krisen und Kämp­fe würden nunmehr die zunehmende Unan­gemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft gegenüber den kapitalisti­schen Produktionsverhältnissen signalisieren. Die wachsende Macht der Wissenschaft, ihre Umwandlung in fixes Kapital, die Breite ihrer produktiven Realisierung und die Entwick­lung der Weltbevölkerung seien die ent­schei­denden Faktoren dieses Prozesses.

Ohne auch nur im Geringsten moralisch zu argumentieren oder an die „Gerechtigkeit“ zu appellieren, weist Marx nach, wie das Kapital fortschreitend gezwungen ist, den Anteil der notwendigen Arbeit zu verringern und die Mehrarbeit auszudehnen. Und nun wiederum wörtlich:

„Folglich werden die höchste Entwicklung der Produktivkräfte und die stärkste Aus­dehnung des vorhandenen Reichtums zu­sammenfallen mit Entwertung des Kapitals, Erniedrigung des Arbeiters und einer höchst unmittelbaren Erschöpfung seiner Lebens­kraft. Diese Widersprüche führen zu Explo­sionen, Katastrophen, Krisen, in denen durch momentane Einstellung der Arbeit und die Vernichtung eines großen Teils des Kapitals das letztere gewaltig reduziert wird bis zu dem Punkt, von welchem aus es weiter kann, in der Lage ist, seine Produktivkräfte voll anzuwenden, ohne Selbstmord zu ver­üben. Jedoch diese regelmäßig wiederkeh­renden Katastrophen führen zu deren Wie­derholung auf höherer Stufe und schließ­lich zu seinem gewaltsamen Umsturz.“ (MEW: 42/643)

Die entscheidende Frage lautet also, ob auch heute die Profitrate tendenziell sinkt. Ist es so, daß Kapitalvernichtung durch Krisen stattfindet, um schließlich „weitermachen“ zu können? Werden Löhne zielstrebig in Rich­tung auf das Niveau von Billiglohnländern gedrückt? Geht maßloser Reichtum mit Mas­senverelendung in großen Teilen der Welt einher? Diese Fragen stellen, heißt, sie be­antworten. Genau das ist die Realität.

Da wir hier in Dresden sind, verweise ich der besseren Faßlichkeit wegen auf ein Beispiel aus dem tschechischen Nachbarland: Einer der Chefs der Skoda-Werke hat voll Stolz un­längst darauf verwiesen, daß der Anteil der lebendigen Arbeit an einem fertigen Auto aus diesem Unternehmen lediglich sechs Prozent des eingesetzten Kapitals ausmache. In Deutschland oder Frankreich seien das im­merhin noch zwölf Prozent. Das sei ein gros­ser Vorteil, der sich in der Preisgestaltung niederschlagen könne. Bleibt nur anzumer­ken, daß damit zugleich das Terrain, auf dem das Kapital manövrieren kann, sehr schmal geworden ist.

Und schließlich: Erleben wir nicht hinsicht­lich der Bevölkerungsentwicklung und der Ar­beitslosigkeit eine Dramatik, welche die Marx'­schen Darlegungen über die „industrielle Re­servearmee“, die der Kapitalismus stets ge­braucht hat, bei weitem in den Schatten stellt? Die neue Qualität liegt zweifelsohne darin, daß Vordenker der kapitalistischen Ordnung unverblümt aussprechen, vom Standpunkt der Verwertungsbedingungen des Kapitals sei heute mehr als die Hälfte der Erdenbewoh­ner überflüssig. Sie würden eigentlich nicht gebraucht, nicht als Produzenten und mangels Kaufkraft auch nicht als Konsumenten.

Die Nazis sprachen seinerzeit von „Ballast­existenzen“, von „überflüssigen Essern“, de­ren Unterhalt schädliche Kapitalvernichtung bedeute. So weit sind wir zum Glück noch nicht. Aber das Damoklesschwert des Sozial­darwinismus schwebt augenscheinlich über uns.

Ich frage deshalb jene, die an die Besserungs­fähigkeit des Kapitalismus glauben, worauf sich ihre Zuversicht gründet. Und denen, die Marx für einen toten Hund erklären, möchte ich zu­rufen: Frisch heran, legt nachprüfbare Tatsa­chen auf den Tisch, die beweisen, daß seine Erkenntnisse über die Richtung der Entwick­lung des Kapitalismus falsch sind. Einer sol­chen Auseinandersetzung können wir mit Zu­versicht entgegengehen.

So ist es kein Wunder, wenn sich die Klüge­ren unter den Vordenkern des Kapitals so still verhalten. Es entsteht der Eindruck, sie hätten böse Ahnungen und fühlten sich in der miß­lichen Lage von Ritter Olaf aus Heinrich Heines gleichnamigem Gedicht. Vom könig­lichen Vater zum Tode verurteilt, bat dieser um Aufschiebung der Enthauptung, um mit seiner ihm eben Angetrauten noch das Hoch­zeitsfest feiern zu können. Bis Mitternacht wurde ihm Frist gewährt:

„Sie tanzen, bei Fackelglanz,

Den letzten Tanz -

Der Henker steht vor der Türe.“

Wie verhält es sich mit der Arbeiterklasse in unseren und den künftigen Tagen? Sie sei am „Verschwinden“, wird uns eingeredet. Hier ist der Wunsch Vater des Gedankens. In welcher sozialen Klasse oder Schicht sollten sich denn jene Millionen und Abermillionen auflösen, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft und denen nichts übrigbleibt, als diese wie saures Bier zu Markte zu tragen; zu einem Markt, auf dem aus den schon genannten Gründen die Nachfrage rasant im Schwinden begriffen ist? Sie bleiben Proletarier oder sie sind im Begriffe, solche zu werden.

Doch ich will die Sache nicht simplifizieren, denn wir haben es hierbei mit Entwicklungen zu tun, welche die politische Formierung je­ner Kraft, die berufen ist, bei der Überwin­dung des Kapitalismus zu führen, komplizie­ren und teilweise sogar konterkarieren.

Im 19. und in weiten Strecken des 20. Jahr­hunderts war es selbstverständlich, daß jeder Fortschritt der Industrie nicht nur zu einer zahlenmäßigen Vermehrung, sondern auch zur Konzentration und Zentralisation der Ar­beiterklasse führte. Die harte aber stählende Schule der kapitalistischen Arbeit schuf Vor­aussetzungen ihrer Organisiertheit und unter­strich die Notwendigkeit solidarischen Han­delns, was wiederum den Schritt zur Bewußt­heit förderte. Heute ist das nicht mehr in glei­chem Maße und in solchem Gleichtakt der Fall.

Proletarisierung heute heißt nur noch für ei­nen Teil der Betroffenen Eingliederung in die Disziplin organisierter Produktionsprozesse. Hinzu kommt, daß unter den Bedingungen der enormen Massenarbeitslosigkeit der Inha­ber eines festen Arbeitsplatzes durchaus „et­was zu verlieren“ hat. Objektive Vorausset­zungen einer Bewußtseinsbildung im Stile der „Arbeiteraristokratie“ sind also gegeben. Sie werden vom Kapital auf vielfältige Weise po­litisch und ideologisch genutzt, wie nicht an­ders zu erwarten.

Das ist die eine Seite des Problems. Die an­dere besteht darin, daß Proletarisierung, wenn sie - wie so häufig - in den freien Fall der sozia­len Deklassierung umschlägt, die Richtung der „Lumpenproletarisierung“ einschlagen kann.

Um einer Fehldeutung im Sinne moralischen Abqualifizierens gleich entgegenzutreten: Ein 40- oder 50-Jähriger, dem, weil angeblich zu alt, jegliche Perspektive der Rückkehr in ge­ordnete Arbeitsverhältnisse genommen wur­de, ist natürlich nicht schuld an seinem Un­glück. Aber was bleibt ihm, wenn das Geld nicht mehr zum Leben reicht? Er wird, wenn nicht große Lebenserfahrung und charakter­liche Stärke ihn stützen, versucht sein, nach jeder Gelegenheit zu greifen, und sei es am Rande der Legalität.

Dazu kommt, daß eine diffuse, als Bodensatz anschwellende Schicht des sozialen Gefüges sich ja beileibe nicht nur aus abgestürzten Ar­beitern rekrutiert, sondern aus Gestrauchel­ten aller gesellschaftlichen Klassen und Schich­ten. Wir finden den bankrott gegangenen frü­heren Unternehmer oder Handwerker dort ebenso wie Angehörige der Intelligenz, denen keine Gelegenheit gegeben wurde, ihre er­worbenen Kenntnisse produktiv zu machen, und - was besonders schlimm ist - zahlreiche junge Menschen, denen diese Gesellschaft die Chance verweigert, nach dem Abschluß der Schule ihre Lebensuhr überhaupt erst einmal richtig einzustellen. Aussichtslosigkeit ist ein schlechter Nährboden, um bewußte Men­schen zu formen. Wenn alles so schwankend ist, kann das Haltlosigkeit und gar Käuflich­keit provozieren, wie wir aus der Geschichte des Bonapartismus und des Faschismus wis­sen.

Die Umsetzung harter Tatsachen in ethische Handlungsmaximen ist eine unsichere Sache. Nennen wir Beispiele: Man kann aus den Medien entnehmen, daß heute auf jeden Bür­ger der Bundesrepublik, vom Säugling bis zum Greis, eine Schuldenlast der öffentlichen Hand von 16 000 Euro entfällt, die verzinst werden und irgendwann ja auch getilgt wer­den muß. Private Verschuldung ist hierbei noch gar nicht berücksichtigt. Im Vergleich zur Pro-Kopf-Verschuldung in den Endzeiten der DDR ist das eine Steigerung auf mehr als das 10-fache. Trotzdem werden wir unablässig mit Tatarenmeldungen über die wahrhaft grausi­ge Mißwirtschaft im Sozialismus belegt, als nur durch großmütig von Franz-Josef Strauß vermittelte Milliardenkredite das Ende hin­ausgezögert worden sei. Wenn ich nicht irre, nehmen die meisten den Lügenbaronen das ab.

Oder stellen wir uns einmal die Empörung vor, wenn zu DDR-Zeiten im Vollzug einer sogenannten „Gesundheitsreform“ der Staat pro Quartal für die Arztbesuche aus den Er­sparnissen der Bürger jeweils 39 Mark und 12 Pfennige entwendet hätte! Das ist jedoch die nach Währungsunion und Euroeinführung exakt bemessene Summe in Mark der DDR, die wir jetzt zahlen. Zahnbehandlungen sind dabei bekanntlich noch nicht berücksichtigt.

Stellen wir uns schließlich vor, zu nächtlicher Stunde im Fernsehen der DDR und tags in den Zeitungen hätten wir die schweinischen Sex-Angebote gefunden, die heute alltäglich sind. Zweifellos wäre ein Sturm der Entrü­stung über die sittlich verkommenen Kom­munisten von allen Kanzeln und aus allen Rohren über uns hereingebrochen, mit dem Tenor, das Land sei in ein einziges Huren­haus verwandelt. Hätten wir uns so verhalten, wäre dem auch kaum zu widersprechen.

Hören oder lesen wir etwa heute von unseren damaligen Gegnern Proteste? Ich sehe nichts dergleichen. Das sagt viel aus über die mora­lische Qualität dieser Leute, über ihr Verhält­nis zu Wahrheit und Anstand.

Moral und Sittlichkeit sind Voraussetzungen menschenwürdigen Handelns. Aber sie sind leider eine Sphäre des Wandelbaren und Flüch­tigen; auf sie allein kann die Umgestaltung der Welt nicht gegründet sein.

Es ist also ernst zu nehmen, daß soziale Um­schichtung und Dekomposition sich in einem Klima sittlichen Verfalls vollziehen. Bekannt­lich hat Roman Herzog vor einigen Jahren gefordert, ein „Ruck“ müsse durch Deutsch­land gehen. Die herrschenden Schichten un­seres Landes zogen zu beträchtlichen Teilen den Schluß, das Beste für sie sei die An­schaffung größerer „Ruck“-Säcke, um Ge­winne in die trockenen Tücher ausländischer Gefilde zu befördern. Teils geschieht das im Rahmen der bürgerlichen Legalität. Doch in großem Umfang handelt es sich um Krimi­nalität, um gemeinen Raub und strafwürdigen Diebstahl am Gemeinwesen.

Wenn die Herrschenden das aber für eine läß­liche Sünde halten, die überdies - wenn über­haupt - nur mit Bagatellstrafen geahndet wird, wie soll man sich dann wundern, wenn in allen Klassen und Schichten die Hemmschwel­le gegenüber asozialer Kriminalität sinkt?

Sittlicher Verfall und Abwendung vom ge­sellschaftlichen Leben sind aber auch po­litisch gefährlich. Kennen wir denn im Ein­zelnen die sicher vielfältigen Motive der im­mer mehr anschwellenden Zahl der Nicht­wähler, die zahlenmäßig heute die stärkste der Parteien sind? Für was und für wen wer­den sie sich entscheiden, wenn sie sich ent­schließen sollten, künftig wieder an die Wahl­urnen zu treten? Wer wagt es, hier eine be­lastbare Prognose zu erstellen?

Nehmen wir all die genannten Aspekte, so er­kennen wir, daß da ein giftiges Gebräu zu­sammenfließt und daß wir uns auf gefährli­chem Terrain bewegen. Dem müssen wir uns stellen, nur auf Tatsachen bauen und uns nicht in Wunschträumen wiegen.

Es ist nicht erlaubt, den Kopf zu verlieren. Wer heute generell die historische Rolle der Arbeiterklasse negiert, der vertritt im günstig­sten Fall faktisch das Kleinbürgertum oder liefert sich den schwankenden Stimmungen der vielfältig zerklüfteten sozialen Schicht der Intelligenz aus. Letztlich hilft das nur dem Kapital. Es ist falsch und politisch verhäng­nisvoll. Unsere Antwort kann nur lauten: Exakteste Analyse der Entwicklung aller Klassen und Schichten; klares Erfassen ihrer jeweiligen realen Interessen, aber auch ihrer Stimmungen, und deren Entwicklungsrich­tung, soweit absehbar. Nur so können wir die komplizierten vor uns stehenden Fragen an­gehen, nur so die Organisiertheit und den Grad der Bewußtheit erkämpfen, die Gegen­wart und Zukunft uns abverlangen. *

Schließlich einige Bemerkungen zu den We­gen der Veränderung im Lichte der histori­schen Erfahrungen der Arbeiterbewegung.

Ich wohne in Belzig, der Kreisstadt von Pots­dam-Mittelmark im Südwesten des Landes Brandenburg, in der Provinz also. Man ver­mutet, da könne wohl nicht viel los sein. Das stimmt mindestens in zweierlei Hinsicht nicht. Zum einen liegen wir dort im Kampf mit ei­ner nicht unbeträchtlichen Szene von Neona­zis, die offen das Ziel verfolgen, Belzig in ei­ne „national befreite Zone“ zu verwandeln. Dank eines politisch breiten Bündnissen und aufrechter Leute in der Stadtobrigkeit ist ih­nen das bisher nicht gelungen.

Zum andern siedeln in Stadt und Umland im­mer mehr Menschen, zum großen Teil aus den alten Bundesländern stammend, die sich entschieden haben, durch ihre individuelle beziehungsweise Gruppenlebensart ein Bei­spiel dafür zu schaffen, wie Menschheitspro­bleme gelöst werden könnten. Das sind zum Teil sehr gebildete, sympathische und lie­benswerte Zeitgenossen. Es gibt Aussteiger, die auf ihrem Lebenshöhepunkt bemerkt ha­ben, daß die Lebensweise des Kapitalismus nicht den ganzen Sinn des Lebens ausmacht, und es gibt auch einige, von denen man an­nehmen kann, daß sie noch nie richtig einge­stiegen waren. Also unter dem Strich ein bun­tes und interessantes Bild. Ein Teil von die­sen, unter Einschluß ehemaliger DDR-Bür­ger, hat nun eine neue Aktion gestartet. Sie sind dabei, eine Regionalwährung zu kreie­ren, die unter dem Namen „Mittelmark“ in Umlauf gebracht werden soll. Die Ziele sind edel. Es geht darum, vermittels einer Tausch­bank Arbeitsergebnisse von Produzent zu Produzent direkt auszutauschen, den regio­nalen Wirtschaftskreislauf zu stärken, um ei­nen bevorstehenden Weltcrash zu überstehen und letztlich durch Vernetzung mit anderen und Verallgemeinerung der gewonnenen Er­fahrungen die Macht des Großkapitals zu unterlaufen und zu brechen. Dabei wird von der irrigen Vorstellung ausgegangen, Ver­mehrung des großen Kapitals ergebe sich vor­wiegend aus ungerechtfertigten Zinsgewin­nen, die durch das „Arbeitsgeld“ und die Tauschbank eliminiert würden.

Da an der Aufrichtigkeit der Kapitalismus­kritik nicht zu zweifeln ist, ist man geneigt, die Akteure nicht zu entmutigen. Dies auch deshalb nicht, weil auf sie stets Verlaß ist, wenn es gilt, den Nazis entgegenzutreten. Das ist übrigens auch einer der Gründe, daß in diesen Kreisen gegenwärtig die „Brechung der Zinsknechtschaft“ aus dem Programm der NSDAP ein Gegenstand der Debatte ist, denn in diese Nachbarschaft wollen sie natürlich unter keinen Umständen geraten.

Sie verstehen offenbar nicht, daß der Zins nichts anderes sein kann als ein Teil des Pro­fits. Sie sitzen der Fama auf, das Geld „ar­beite“ und vermehre sich frevelhaft ohne die kapitalistische Lohnarbeit. Der Fehler im An­satz müßte ihnen eigentlich bei der Betrach­tung der Lage in Japan klar werden. Dort liegt seit Jahren das Zinsniveau nahe Null Prozent. Also müßten dort nach Ansicht von Tausch­bankanhängern und Regionalwährungsenthu­siasten idyllische Verhältnisse herrschen, was ja offenkundig nicht der Fall ist. Niedriges Zinsniveau ist letztlich lediglich eine Wider­spiegelung gefallener Profitrate.

Es ist gerade aus kameradschaftlicher Ver­bundenheit nötig, sie darauf hinzuweisen, daß bereits so integre Persönlichkeiten wie Robert Owen oder Pierre-Joseph Proudhon mit ihren Tauschbanken gescheitert sind und scheitern mußten. Ist es nicht besser, ihnen zu vermit­teln, warum alle Versuche, auf Privatweise die kapitalistischen Verhältnisse überlisten zu wollen, sich als unrealisierbar erwiesen ha­ben? Man muß doch Marx erst einmal lesen, bevor man sich anschickt, ihn zu übertreffen.

Das Gleiche gilt hinsichtlich der weit verbrei­teten sozialreformistischen Illusionen, die im Kern ja nichts anderes sind als Fehlein­schät­zungen des Wesens des kapitalistischen Staa­tes und der bürgerlichen Demokratie. Den größten Sieg auf dem Felde der Ideologie haben unsere Gegner dadurch erzielt, daß es ihnen gelungen ist, die angebliche Gleichar­tigkeit von Faschismus und Kommunismus in die Köpfe zu hämmern. Viel zu viele nehmen ihnen die gebetsmühlenartig wiederholte Be­hauptung ab, die politische Scheidelinie in der Welt verlaufe entlang des Gegensatzes von Demokratie hier und Diktatur dort. Daß jede Staatsmacht Diktatur einer herrschenden Klasse über andere Klassen ist und Demokra­tie vom Charakter des jeweiligen Demos be­stimmt ist, wird nur schwer erfaßt. Dazu trägt natürlich auch bei, daß es ja in der Tat für das Volk und die Bedingungen des Emanzipati­onskampfes der Arbeiterklasse ein sehr be­deutsamer Unterschied ist, ob bürgerlich-de­mokratische Machtverhältnisse herrschen oder offen terroristische.

Wahr ist aber, daß nirgendwo auf der Welt weder auf dem Wege des geistigen Mitbe­gründers des Anarchismus, Proudhon, noch auf dem sozialreformistischen Pfad Lassalles oder Bernsteins eine ausbeutungsfreie Gesell­schaft entstanden ist. Weder die Versuche, alle in Kleineigentümer und kapitalistische kleine Warenproduzenten zu verwandeln, noch die Absichten, auf dem Weg schritt­weiser Reformen die Natur des Kapitalismus zu dämpfen oder gar zu überwinden und sich dabei des Staats und des Wahlrechts zu be­dienen, haben zum Erfolg geführt. Wenn wir ins Auge fassen, wo überall und wie lange sozialdemokratische Parteien an der Regie­rung waren, dann hat es an Gelegenheit, die vollmundigen Versprechen einzulösen, doch wahrlich nicht gemangelt.

Sozialreformisten aller Schattierungen ver­weisen nun häufig auf den „rheinischen“ Ka­pitalismus und den „Sozialstaat“, den es zu bewahren und auszubauen gelte. Doch die Sozialdemokratie erlebt gerade jetzt, nach der Niederlage der Kommunisten, ihr Desaster. Das bezeugt nicht nur der dramatische Ver­lust an Wählerstimmen. Auch eine Art USPD scheint sich ja jetzt, wie während der Krise des Sozialreformismus im Ersten Weltkrieg, abspalten zu wollen. Ist das ein Zufall, ein „Vermittlungsproblem“, wie Schröder und Müntefering weismachen wollen? Mitnich­ten! Wahr ist, daß das Kapital soziale Zuge­ständnisse nur im Zustand der Furcht vor sozialen Umwälzungen in Kauf nimmt. Die Kapitalistenklasse hat offenbar mehrheitlich seit 1989/90 diese Angst verloren. Sie glaubt, des schützenden Schilds sozialreformistischer Klassenversöhnung nicht mehr zu bedürfen. Deshalb schreitet sie entschlossen zur Sache. Sie wähnt sich sicher vor der Kraft, die die Expropriateurs zu expropriieren in der Lage wäre.

Nüchterne Betrachtung des Zeitgeschehens und der Gefahren, denen wir ausgesetzt sind,
fordert von uns, mindestens ebensolche Ent-schlossenheit zu beweisen. Vieles wird auf un­serem langen Marsch im Konkreten anders zu handhaben sein, als wir das heute zu erken­nen vermögen. Doch war das nicht immer so?

Ich will noch einmal Shakespeare sprechen lassen, diesmal Heinrich der Vierte, Zweiter Teil, Erster Aufzug, Dritte Szene:

„Wenn wir bauen wollen,

Beschaun wir erst den Platz, ziehn einen Riß;

Und sehn wir die Gestalt des Hauses nun,

Dann müssen wir des Baues Aufwand schätzen.

Ergibt sichs, daß er über unsere Kräfte,

Was tun wir, als den Riß von neuem ziehn

Mit wenigen Gemächern, oder ganz

Abstehn vom Bau? Vielmehr noch sollten wir

Bei diesem großen Werk, das fast ein Reich

Danieder reißen heißt, und eins errichten,

Des Platzes Lage und den Riß beschaun,

Zu einer sichern Gründung einig werden,

Baumeister befragen, unsre Mittel kennen,

Wie fähig, sich dem Werk zu unterziehn,

Den Gegner aufzuwiegen; sonst verstärken

Wir uns auf dem Papier und in den Ziffern

Und setzen, statt der Menschen, Namen bloß;

Wie, wer den Riß von einem Hause macht,

Das über sein Vermögen, dann, halb fertig,

Es aufgibt und sein halberschaffnes Gut

Als nackten Knecht den trüben Wolken läßt

Und Raub für schnöden Winters Tyrannei.“

 

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Die Wahlen 2004 und Probleme antiimperialistischer Politik

von Hans Kölsch


Es scheint eine undankbare Aufgabe zu sein, sich mit Wahlergebnissen zu befassen, wenn nicht nur Kommunisten sondern auch Millionen von Wahlverweigerern wissen, daß Wah­len die volksfeindliche Politik der herrschenden Kräfte nicht außer Kraft setzen werden. Auch Dagmar Enkelmann hat in einem Interview eingestanden, daß sie im Falle eines Wahlsieges der PDS und bei einer Regierungs­beteiligung in Brandenburg in der Pflicht gestanden hätte, Gesetze einzuhalten und umzusetzen. Bekanntlich handelt es sich dabei um Gesetze, die der volksfeindlichen Politik Zwangskraft verleihen, wie das aktuell Hartz IV belegt. Im Unterschied zu Wahlen sind außerparlamentarische Aktionen und Bewe­gungen eine konsequente und wirksamere Art, auf die volksfeindliche Politik zu reagieren. Trotzdem geben Wahlergebnisse zusätzlich Auskunft über Anforderungen und Erfolgsmöglichkeiten außerparlamentarischer Be­wegungen und antiimperialistischer Politik.

Das besondere politische Gewicht der Wah­len von 2004

Das besondere politische Gewicht wird deutlich im Vergleich zum Jahr der Bundestagswahl 2002. Die Bundestagswahl stand im Zei­chen der propagierten Erwartung, mit der volksfeindlichen Politik der Kohl-Regierung Schluß zu machen und eine wirkliche politische Veränderung auf den Weg zu bringen. Hier bestand scheinbar eine Übereinstimmung zwischen den Wünschen großer Teile der Bevölkerung und den Wahlversprechungen der späteren Wahlsieger, die jedoch von den gleichen Brötchengebern abhängig sind wie die Mannschaften von Kohl. Die Erwartungen zeigten sich unter anderem auch darin, daß die Wahlbeteiligung um etwa 25 Prozent höher lag als 2004. Von den hier sichtbaren parlamentarischen Illusionen profitierten die späteren Wahlsieger.

Im Jahre 2004 werden politisch bedeutsame Veränderungen nicht allein und auch nicht vor allem in den geplatzten Illusionen in Wahlergebnissen sichtbar. Bedeutsamer ist, daß neben der gewachsenen Zahl der Nichtwähler und dem gewachsenen passiven Protest ein sichtbarer Anstieg außerparlamentarischer Proteste, außerparlamentarischen Widerstandes gegen die volksfeindliche Politik sichtbar geworden ist, die nach den Bundestagswahlen noch schlimmere Folgen hatte. Besonderes Gewicht haben in den Protesten und Demonstrationen die Streikaktionen Tausender Arbeiter und Angestellter gegen drohenden Arbeitsplatzabbau, der bei den Opel-Arbeitern auch internationale Zusammenhänge erfaßt hat. Die Wähler und Nichtwähler von 2004 verfügten über neue Erfahrungen mit dem verstärkten Sozialabbau, mit dem verstärkten Kurs zur weiteren Bereicherung der Reichen und zur weiteren Ausplünderung der Armen und auch mit der kriegerischen Interventionspolitik, auch wenn die Teilhabe an der Aggression gegen Jugoslawien teilweise in Vergessenheit geraten ist und die Vorbehalte gegenüber dem Irak-Krieg die anderen militärischen Interventionen nicht so gravierend erscheinen lassen.

Von allen diesen Fakten war bei den Bundestagswahlen noch nichts zu sehen und auch keine Rede davon. Wie die konsequenten Ak­tionen, so geben auch die Wahlergebnisse von 2004 darüber Auskunft, wie die Wähler diese Erfahrungen gewertet haben. In dieser Wertung wird ein zentrales Problem antiimperialistischen Kampfes sichtbar. Die aktivsten und konsequentesten Verfechter außerparlamentarischer Aktionen verzeichnen bei den Wahlen nur einen geringen Stimmenzuwachs und erscheinen in den Wahlstatistiken unter „Andere“ oder „Sonstige“, die unter der fünf-Prozent-Hürde geblieben sind. Wie noch zu belegen, kann die Analyse von Wahl­ergebnissen dazu beitragen, die Ursachen für dieses Problem zu erhellen.

Zahlen und Fakten über faktische und fiktive Mehrheiten

Auch ohne Wahlen ist bekannt, daß die Mehr­heit der Bevölkerung mit der von den Kräften des Großkapitals vorgegebenen Orientierung für die Politik, die von der SPD, den Grünen, den Unionsparteien und der FDP umgesetzt wird, mehr als unzufrieden ist. Bei den Wahlen 2004 haben von den 8,9 Millionen wahlberechtigten Bürgern in Hamburg, im Saarland, in Sachsen und Brandenburg lediglich 3,5 Millionen diesen Parteien ihre Stimme ge­geben. Das ist eine eindeutige Aussage über faktische politische Mehrheitsverhältnisse, auch wenn man den Etablierten die Stimmen der Rechtsradikalen hinzu rechnet, die ja zu den Stützen der herrschenden Politik gehören, und auch wenn man großzügig annimmt, daß vielleicht unter den Nichtwählern noch ein paar systemtreue, aber wahlfaule Mitläufer zu finden sind. Aus diesem belegten Mehrheitsverhältnis leitet sich die politisch bedeutsame Frage ab: Was sind die Ursachen, daß von den Millionen Bürgern, die ihren Widerspruch zur herrschenden Politik bekundet haben, nur ein kleiner Teil an den außerparlamentarischen Aktionen teilnimmt?

Bevor dieser Frage im Weiteren nachgegangen wird, zeichnet sich bei den Wahlen auch ein fiktives Mehrheitsverhältnis ab, das mit der ersten Frage in einem engen Zusammenhang steht. Einerseits veranlassen die führenden Politiker die ihnen hörigen Massenmedien dazu, die außerparlamentarischen Aktivitäten als eine Sache uneinsichtiger oder irregeleiteter Minderheiten zu verleumden, obwohl diese mit ihren Aktivitäten der Meinung einer Mehrheit konsequenten Ausdruck geben. Andrerseits zaubern sie Wählerstimmen herbei, die belegen sollen, daß eine Mehrheit es legitimiert habe, die von ihnen betriebene Politik weiterhin fortzusetzen. Dabei ist günstig, daß in Wahlstatistiken alle Prozentzah­len nicht zur Zahl der wahlberechtigten Bürger ins Verhältnis gesetzt werden, sondern nur zur Zahl der abgegebenen Stimmen. Auf diese Weise wird von vorn herein die unpopuläre Zahl der Nichtwähler ausgeblendet und publiziert werden (nach parlamentarischer Sitte) fiktive Mehrheitsverhältnisse.

Bei den Wahlen 2004 waren es über drei Mil­lionen Bürger, die eine ihnen sinnlos erscheinende Wahlbeteiligung ablehnten. Auch wenn dafür im Einzelnen unterschiedliche Motive eine Rolle gespielt haben mögen, steht doch fest, daß diese Wahlverweigerer nicht die herrschende Politikrichtung legitimiert haben. Daß dieser wichtige politische Sachverhalt von den Herrschenden unterschlagen werden kann, spricht dafür, die Tribüne von Parlamenten nicht freiwillig denen zu überlassen, die diese Tribüne nutzen, um die Volksmassen zu täuschen, sie nach Möglichkeit von Aktionen abzuhalten, ohne hierbei auf Widerspruch zu stoßen und mit alternativen Orientierungen für die Politik konfrontiert zu werden. Daß den außerparlamentarischen Bewegungen zur Zeit eine solche Tribüne fehlt, ist eines der Hindernisse für ihre Stärkung, zu denen auch die Übermacht der vom Monopolkapital beherrschten Medien und Meinungsmacher gehört.

Sehen wir von psychologischen Faktoren ab, die zum Teil erklären, daß die Umsetzung von Wissen in  Handlungen ein Prozeß mit zunehmenden Anstrengungen ist, weshalb zum Beispiel das Wissen über die Schädlichkeit des Rauchens einen Raucher noch nicht zum Nichtraucher werden läßt und natürlich auch im politischen Bereich der Übergang von einer kritischen Meinungsäußerung zu einer kritischen Handlung und Aktion höhere Anforderungen stellt. Doch hier sind ganz andere Schadwirkungen zu verzeichnen, die tief in die Lebensqualität von einzelnen Personen, ganzen Gruppen der Bevölkerung und von Millionen Menschen eingreifen, faktisch allerdings sehr differenziert. Und die unterschiedlich wirkenden sozialen und politischen Schmerzursachen führen auch zu differenzierten politischen Reaktionen, die nur unter dem Einfluß politisch weitsichtiger Kräf­te zu gesellschaftlich wirksamen Protestak­tionen von Einzelnen und Gruppen werden können. Eben deshalb sind politisch weitsich­tige Kräfte ständig dem politischen Feuer im­perialistischer Kräfte ausgesetzt, und deren po­litische Hauptwaffe ist der Antikommunismus.

Bei den Wahlergebnissen sind die differenziert Betroffenen und besonders differenziert Empfindenden in den Ergebnislisten vor allem unter der Angabe: „Andere“ oder „Son­stige“ zu finden. 2004 waren das über zwanzig solcher Gruppen und Parteien. Für sich genommen waren sie alle unter der fünf-Pro­zent-Hürde geblieben, zusammengenommen aber hatten sie über zweihundertsiebzigtausend Stimmen erhalten, darunter von Tausenden der gebeutelten Rentner, erfaßt unter „50 Plus“ oder den „Grauen“. Noch komplizierter ist der Einblick in den Kreis jener Vereinigungen, die nicht unmittelbar in den Wahllisten erscheinen, aber zum Teil mehr Mitglieder erfassen als die aller Parteien zusammen genommen, wie z.B. die Gewerkschaften. Aber auch spezielle Sozialverbände und globalisierungskritische Vereinigungen gehören dazu. Hier sind Kräfte vereint, die zum Teil gleichzeitig verschiedenen Parteien angehören oder mit ihnen sympathisieren, so daß sie sich trotz der gleichen Verbandsbindung politisch voneinander unterscheiden. Das hat weitreichende Auswirkungen auf die Aktionsbereit­schaft und zeigt sich unter anderem in der un­terschiedlichen Haltung von Gewerkschaftern, wenn sie entweder Führungskräften der SPD-Politik oder einer antiimperialistischen Orientierung verbunden sind.

Die Hauptursache - Einflüsse des Antikommunismus

Daß eine volksfeindliche Regierungspolitik in differenzierter Weise auf Volkskräfte einwirkt und auf differenzierte Reaktionen stößt, ist ein objektiver Sachverhalt und unvermeidlich. Das erklärt lediglich, warum millionenfache Unzufriedenheit spontan keine einheitliche Reaktion von Millionen zur Folge hat. Ein signifikantes Beispiel veranschaulicht die Schwierigkeit, von gemeinsamen Positionen in einer Teilfrage zu gemeinsamen Positionen in Grundfragen der Politik und zu entsprechendem Handeln zu kommen. Die Bürgerschaftswahlen in Hamburg waren 2004 mit einem Volksentscheid verbunden, der sich gegen den Verkauf landeseigener Krankenhäuser richtete. 75 Prozent der Wähler haben gegen den Verkauf gestimmt. Aber die Initiatoren und Hauptakteure des Volksentscheides, die linke „Regenbogenliste“, hat bei der Listenwahl nur 1,1 Prozent der Stimmen erhalten. Die Frage nach Verkauf oder Nichtverkauf der Krankenhäuser war in dieser Konkretheit den Erfahrungen großer Bevölkerungskreise zugänglich und hat somit deren Entscheidungsfindung erleichtert.

Im Wesentlichen prallten hier in einer wenn auch wichtigen Teilfrage zwei gegensätzliche Konzeptionen, zwei gegensätzliche Klassengruppierungen aufeinander. Für den Verkauf, für die kapitalistische Privatisierung, agierte die imperialistische Kräftegruppierung. Für sie war das nur eines der Probleme ihres Großmachtstrebens. Gegen den Verkauf agier­te eine Mehrheit der Bevölkerung, von der nur einem kleinen Teil, den antiimperialisti­schen Kräften, der Zusammenhang des Ein­zelproblems mit der strategischen Grundfrage der gesellschaftlichen Entwicklung klar gewesen ist: „Weg von der volksfeindlichen Politik, hin zu einer Politik, die der Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse und dem Frie­den dient“. Durch einen weiterreichenden Ein­fluß dieser antiimperialistischen Politik hätte das Ergebnis der Listenwahl anders aussehen und die Einheit der Verkaufsgegner stabiler und dauerhafter wirken können. Das wäre von der überzeugenden politische Arbeit der antiimperialistischen Kräfte vor, während und nach der gemeinsamen Aktion abhängig gewesen.

Doch dagegen haben die imperialistischen Kräfte ihre antikommunistischen Geschütze gerichtet. Die konnten zwar ihre Stimmniederlage in der Verkaufsfrage nicht verhindern, was auch in vielen anderen Aktionen zur Lösung von Einzelproblemen der Fall ist, aber in der gesamtpolitischen, gesellschaftlich umfassenden Problemstellung wirkte sich der Antikommunismus durch die politische Isolierung kommunistischer und anderer antiimperialistischer Organisationen aus, die einer Zersplit­terung der Volkskräfte entgegenwirken und die das einheitliche Handeln von Volkskräften zur Verwirklichung der eigenen Interessen zu organisieren versuchen. Für den zum Teil großen Abstand zwischen dem auch bekannten Umfang ablehnender Stimmen zur volksfeindlichen Politik und dem Umfang der Kräfte in außerparlamentarischen Aktionen gegen die volksfeindliche Politik ist also im positiven Sinne der gesellschaftliche Einfluß antiimperialistischer Kräfte und im negativen Sinne der Einfluß des Antikommunismus der imperialistischen Kräfte bestimmend

Das Hamburger Beispiel vermittelt eine noch weiterreichende Erkenntnis. Der Konflikt zwi­schen den Interessen der Bevölkerungsmehrheit und denen der großkapitalistischen Kräf­te wirkt mitunter längere Zeit latent, bevor er in einer politischen Problemsituation in einer Einzelfrage in Erscheinung tritt und zu einer Entscheidung drängt. In einer revolutionären Situation geschieht das eruptiv und bewegt in der Regel große Teile der Arbeiterklasse und andere Volkskräfte. In anderen Zeiten wird der Konflikt an einem Einzelproblem meist nur örtlich begrenzt sichtbar. Trotz der Begrenztheit ist das die Grundlage, die zu einer Schule des Lebens, zu einer Schule im Klassenkampf werden kann, wenn  für die Lösung des Problems eine Mehrheit der Betroffenen, organisiert aktiv wird. Auch wenn das oft zeit­lich begrenzt ist, kann hier doch die wichtige Erfahrung gewonnen werden, daß die Einheit des Handelns im eigenen Interesse diesen Interessen in dieser oder jener Form gesellschaftliche Geltung verschaffen kann. Die Summierung solchen Erfahrungen öffnet den Weg zu einer dauerhaften Annäherung an antiimperialistische Positionen und zu einer entsprechenden politischen Organisiertheit. Das würde unter anderem dann auch zu anderen Wahlergebnissen als 2004 führen.

Ein anderes Beispiel zeigt, daß einer solchen Entwicklung nicht nur grober Antikommunismus den Weg verbauen kann, sondern auch die opportunistische Fehleinschätzung eines tiefgehenden Interessenkonfliktes. Im ND ist ein Beitrag von S. Y. Kaufmann veröffentlicht [2] der faktisch einen Aufruf an Linke darstellt, der reaktionären EU-Verfassung gemeinsam mit Konservativen und Reaktionären zuzustimmen, weil sie neben ihren militanten und antisozialen, bereits praxiswirksamen Passagen auch Reklamepassagen enthält, die ihren volksfeindlichen Charakter ver­schleiern. Damit können Parlamentarier in Straßburg beschäftigt werden, während in Brüssel Nägel mit Köpfen gemacht werden. Hier wird an Stelle einer möglichen Einheitsaktion der Bevölkerungsmehrheit der EU-Länder zur Verwirklichung antiimperialistischer Interessen eine Einheitsaktion mit der imperialistischen Reaktion empfohlen. Auf diese Weise wird die Behauptung im Artikel, die empfohlene Entscheidung führe zu einer Veränderung des Kräfteverhältnisses im In-
teresse der Volksmassen, zu einer irreführenden Phrase. Wer für hygienische Verhältnisse wirbt, sollte die notwendige Klärung von Ab­wasserbecken nicht mit der Empfehlung verwechseln, in solchen Becken zu baden.

Die taktischen Varianten des Antikommunismus

Der Einfluß des Antikommunismus wird teil­weise unterschätzt, weil er mitunter nur in der Form von Hetze gesehen wird, wie sie etwa vom faschistischen „Stürmer“ mit der Formel vom „jüdischen Bolschewismus“ betrieben worden ist. Diese Art von Hetze ist zwar nicht ausgestorben, sondern in Gestalt des militanten und faschistischen Antikommunismus nach wie vor wirksam. Aber wo die Erfahrungen mit dem Hitlerfaschismus noch lebendig sind, hat diese Variante des Antikommunismus keine Chance, unter Linken Ein­fluß zu gewinnen. Auch bürgerlich demokratische Kräfte halten zu ihr Distanz, zumal sie seine Verwurzelung in den Herrschaftsverhältnissen des monopolistischen Kapitalismus nicht sehen oder nicht sehen wollen.

Die andere Variante ist der als Vorurteil ver­festigte und massenwirksame Antikommunis­mus, der in der bürgerlichen Gesellschaft zur „guten“ Sitte gehört. Er distanziert sich schein­bar vom militanten Antikommunismus, fußt aber auf dessen Lügen, ohne vordergründig mit ihnen zu argumentieren. Er ist einfach „in“ und gibt sich axiomatisch. Er wirkt vor allem in der Form, daß er der Annäherung an antiimperialistische Positionen und einer engeren Berührung mit kommunistischen Auffassungen und Kräften entgegenwirkt. Das ist zum Teil in Wahlergebnissen sichtbar und in der Distanz zu antiimperialistischen Aktivitäten, also auch zur Teilnahme an Demonstrationen. Für die zerstörerische Einwirkung und Einflußnahme auf die Linken selbst reicht er nicht aus. Dazu ist eine spezialisierte Argumentation und Politik erforderlich, wie sie in der Variante des „linken“ Antikommunismus praktiziert wird, der vor allem mit seiner Stalinismus-Doktrin unter ihnen tiefe Einbrüche erreicht hat. [3] .

Der „linke“ Antikommunismus ist nicht mit dem linken Radikalismus zu verwechseln. Im Unterschied zu ihm zielt er darauf ab, kommunistische, das heißt wissenschaftlich begründete sozialistische Positionen zu zerstören. In seiner Wirksamkeit im theoretischen Bereich fungiert er unter dem Begriff des mo­dernen Revisionismus. Seine Akteure bezeich­nen sich - ebenso wie ihre Apologeten - gern als „Reformer“. Der linke Radikalismus dagegen isoliert sich mitunter politisch selbst, indem er radikale politische Lösungen in dafür ungeeigneten Situationen vorschlägt und anstrebt oder damit Protestaktionen zu spalten versucht und so Schaden stiftet. Der mögliche Einfluß des „linken“ Antikommunismus auf linke Kräfte und Organisationen ergibt sich vor allem daraus, daß er Sorge um das Schick­sal des Sozialismus vortäuscht, um den es doch viele Diskussionen gebe. Diese Sorge könne behoben werden. Notwendig sei „nur“ die Korrektur von angeblichen Fehlern der kommunistischen Theorie und Praxis, an denen der Sozialismus in Europa gescheitert sein soll. Die angeblichen Fehler aufgelistet sind identisch mit marxistisch-leninistischen Positionen in Theorie und Praxis.

Der „linke Antikommunismus“ orientiert also darauf, jene Faktoren zu liquidieren, durch deren Massenwirksamkeit allein eine antiimperialistische und letztlich sozialistische Entwicklung möglich werden kann. Allen diesen Merkmalen entspricht eine Publikation von Harald Neubert mit dem Titel: „Die Hypo­thek des kommunistischen Erbes“ [4] Der „lin­ke“ Antikommunismus paßt sich dem Kräf­teverhältnis an. Unter sozialistischen Verhält­nissen konzentriert er sich darauf, das Kräfteverhältnis in antisozialistischer Richtung, bahn­brechend für die Konterrevolution, zu verändern. Unter kapitalistischen Verhältnissen zielt er darauf, das bestehende antisozialistische Kräfteverhältnis dadurch zu sichern, daß er der unvermeidlichen Kritik an den volksfeindlichen Wirkungen dieses Systems Hindernisse in den Weg legt, damit sie nicht zu antiimperialistischer und systemkritischer Rei­fe gelangen. Eine weitere Ursache für seine mögliche Wirksamkeit unter Linken ergibt sich daraus, daß seine führenden Repräsentanten in der Regel über Kenntnisse aus der marxistisch-leninistischen Literatur verfügen. Wie geschulte Sprengmeister wissen sie, wie ein Gebäude zum Einsturz gebracht werden kann oder anders formuliert, wie der Sozialismus zu „erneuern“ ist.

Die PDS auf dem politischen Prüfstand

Die Wahlen von 2004 geben auch Aufschluß über den gesellschaftlichen Einfluß des „lin­ken“ Antikommunismus in den neuen und in den alten Bundesländern. Er wird vor allem sichtbar und wirksam in der Politik der PDS und ihrer Führungskräfte. Nicht wenige Mitglieder und Sympathisanten der PDS werden diese Kennzeichnung nicht akzeptieren. Sie halten die linke Tarnung für eine wirklich lin­ke Politik und die PDS des Antikommunismus zu bezichtigen für eine schlimme Unterstellung. Aber diese Meinungsverschiedenheit ist kaum durch Diskussionen zu klären, sondern nur auf der Grundlage gemeinsamer politischer Erfahrungen. Zu solcher Gemeinsam­keit führen vor allem die Erfahrungen mit der volksfeindlichen Regierungspolitik auch der SPD und die Erfahrung, daß es links von der PDS politische Freunde gibt, die bei allen Protesten dabei sind. Auch die Erfahrung ist hierbei zu gewinnen, daß die Suche nach möglichst wirksamen Formen der Kritik gemeinsamen Interessen dient, weshalb sich Kom­munisten auch nicht durch parlamentarische Versprechungen von Aktionen abbringen lassen. In Bezug auf den Antikommunismus hat ein führender Mann der PDS einmal gesagt, der Unterschied der PDS zur SPD bestünde darin, daß sie nicht antikommunistisch sei. Das mag für das Verhältnis zum militanten und faschistischen Antikommunismus weitgehend zutreffen, aber nicht für den links und de­mokratisch getarnten, wie das die Praxis belegt, was allerdings schwerer zu erkennen ist.

Die PDS verzeichnete 2004 in den neuen Bun­desländern gute Wahlergebnisse. In Brandenburg und Sachsen erreichte sie unter den Wählern die zweite Position und mit über 800 000 Stimmen beachtlichen Einfluß. Der hier im Wählerpotential sichtbare Einfluß der DDR-Vergangenheit ist eine Ursache für Vorbehalte bürgerlicher Kräfte gegenüber der PDS, die sonst relativ unbefangen mit fernseherfahrenen Politikern der PDS umgehen. Die Vorbehalte wurden sichtbar, als vor den Wahlen in Brandenburg ständig demoskopische Warnungen vor einem möglichen Wahlsieg der PDS propagiert wurden. Das hat einige Wäh­ler veranlaßt, zum Schaden der eigenen Partei ihre Stimme der Platzeck-Partei zu geben, was ja dann auch gereicht hat. Doch im genannten Problem steckt auch die Achillesferse der PDS, daß nämlich ihre Politik nur scheinbar in Übereinstimmung mit den Interessen der meisten ihrer Wähler steht. Die „linke“ Tarnung der Politik findet in den neuen Bundesländern, wo ehemalige Bürger der DDR leben, im Unterschied zu den alten Bun­desländern einen aufnahmebereiten Boden solange das antisozialistisches Wesen der PDS nicht zu sehr in den Vordergrund tritt. Das war zeitweise der Fall, als das neue, antisozialistische Programm vorbereitet und beschlossen wurde und als in den Koalitionen mit der SPD die PDS-Schützenhilfe für deren Politik zu offensichtlich war. Die Folge waren große Stimmenverluste bei der Bundestagswahl und der Verlust des Fraktionsstatus im Bundestag.

In der Folgezeit wurde verstärkt an „linker“ Argumentation gearbeitet, erfolgte eine Anpassung an die kritischen Bewegungen gegen Hartz IV und erging vor den Wahlen in Sachsen und Brandenburg sogar die Aufforderung zur Teilnahme an den Montagsdemon­strationen. Das wurde nach den Wahlen mit fadenscheinigen Begründungen zurückgenom­men. Es überwog die Furcht, daß die antiimperialistischen, systemkritischen Elemente durch die Aktionen überhand nehmen und die programmatischen Positionen der Partei gefährden könnten. Mit dem Kurs auf die nächsten Bundestagswahlen werden „linke“ Signale wieder verstärkt hochgezogen, so daß dann unter anderem der Einsatz für einen Mindestlohn wie eine Kampfansage gegen die volksfeindliche Regierungspolitik erscheinen kann.

Der „linke“ Antikommunismus verschleiert seine antikommunistische, antisozialistische Orientierung und gaukelt linke Kritik an der volksfeindlichen Politik vor. Das betrifft einmal die Tatsache, daß die von der PDS vorgetragene Kritik breite Kreise anspricht, weil sie tatsächlich gegen kritikwürdige Maßnahmen und Tatsachen gerichtet ist, deren kritische Wertung auch von Kommunisten und anderen antiimperialistischen Kräften geteilt wird. Doch bei genauer und unvoreingenommener Sichtung zeigt sich, daß diese auf Teil­probleme gerichtete Kritik und Politik der PDS-Führung nicht das Ziel verfolgt, die antisoziale und antidemokratische Politik der herrschenden Kräfte in Frage zu stellen, um sie zu überwinden, und auch nicht das Ziel, einer Politik den Weg zu bereiten, die den Interessen großer Teile der Bevölkerung entspricht. Sie dient im Gegenteil dazu, eine gra­duelle Abschwächung von Schadwirkungen möglichst ohne außerparlamentarische Aktivitäten zu erreichen, damit die volksfeindlichen Maßnahmen annehmbar werden, und ei­ner tiefergehenden Kritik und tiefergehenden Protesten und Bewegungen entgegenzuwirken.

Im weiteren betrifft das die Tatsache, daß der getarnte Antikommunismus einem Verschleiß unterworfen ist, weil in der Tagespolitik seine programmatischen Vorgaben auf Grund der politischen Erfahrung der Arbeiterklasse und anderer Volkskräfte allmählich durchschaut werden. Mitunter scheint es, daß das Programm einer Partei nur Vorstellungen für zukünftige Maßnahmen und Gestaltungen enthält, die in der Tagespolitik lediglich propagandistisch in Erscheinung treten. Dem ist nicht so und zwar nicht nur in Bezug auf die Politik der PDS. Bei ihr enthält jedoch die programmatische Sozialismus-Konzeption die Vorgabe, daß ka­pitalistische Sektoren und sogar kapitalistische Großunternehmen notwendige Merkmale des demokratischen Sozialismus seien. [5] Daraus leitet sich die Verketzerung kommunistischer Politik ab, weil die Kommunisten kapitalistische Verhältnissen und das Recht und die Möglichkeit kapitalistischer Ausbeutung überhaupt abschaffen wollen. Eine solche Politik würde sich dieser Lüge entsprechend sowohl gegen „sozialisti­sche“ Existenzbedingungen als auch gegen „demokratische“ Grundprinzipien richten, zu denen angeblich auch das Recht und die Freiheit gehöre, für kapitalistische Verhältnisse, also auch für eine volksfeindliche Politik zu wirken. Aus einer solchen Konzeption ergibt sich der Charakter einer Politik, die aktuell, Tag für Tag, wenn auch getarnt, dem Bestand des kapitalistischen Systems verpflichtet ist und dem Kampf gegen jene Kräfte dient, die dieses System in Frage stellen. Das ist Antikommunismus auch als Tagespolitik und das läßt sich auf Dauer nicht verschleiern.

Auch in den alten Bundesländer auf dem Prüfstand

Die Problematik der Widersprüche in der Politik der PDS wird auch in den Wahlergebnissen von 2004 in den alten Bundesländern sichtbar. Hier findet die linke Tarnung der PDS-Politik keinen aufnahmefähigen Boden. Dieser Boden wurde einige Jahrzehnte länger als in den neuen Bundesländern von allen Varianten des Antikommunismus umgepflügt. Außerdem wird die Formel vom „Demokrati­schen Sozialismus“ auch von der SPD gebraucht und ist darum für eine demagogische Nutzung zur Gewinnung von Linken ungeeignet. Die PDS kann mit solcher Politik weder bei Wahlen noch als Parteiorganisation eine Massenbasis gewinnen.

Zum Teil wird die PDS-Propaganda in der Form wirksam, daß einige Linke, die sich nicht als Kommunisten verstehen, der Meinung sind, hier eine Position links von der SPD zu finden, ohne aber wie die PDS-Füh­rung antikommunistisch zu sein. Sie sind zum Teil bereit, gemeinsam mit Kommunisten zu wählen und gemeinsam mit ihnen zu agieren. Das liegt jedoch nicht im Sinn der PDS-Füh­rungskräfte und findet bei ihnen keine Unterstützung. Das betrifft auch das Verhältnis zu verbreiteten Bemühungen, links von der SPD, aber nicht im Sinne der PDS-Führung eine Alternative zu organisieren, zunächst mit Blick auf die nächsten Bundestagswahlen. Eine solche linke Alternative könnte ein möglicher Bündnispartner für Kommunisten werden, wenn sie sich alternativ zu rechten Positionen versteht und kommunistische Positionen nicht auszuschließen versucht.

Die PDS-Führung, die mit ihrer Politik in den alten Bundesländern für das herrschende System keine nützliche Funktion in der Wahlhilfe erfüllen kann, konzentriert sich auf eine andere Funktion. Mit ihren programmatischen Positionen versucht sie Einfluß auf die DKP zu gewinnen und kommunistische Positionen zu schwächen, damit hier in ähnlicher Weise eine feindliche Übernahme möglich wird wie 1989 gegenüber der SED. Von solchen Aktivitäten zeugt unter anderem die Tatsache, daß die bereits genannte antikommunistische Schrift von Harald Neubert in den Marxistischen Blättern, Heft 2/ 2003 positiv besprochen und den Genossen zum Lesen empfohlen worden ist. In dieser Richtung sind antikommunistische Einflüsse vor allem in Gestalt von Lügen über die Ursachen für das Scheitern des Sozialismus in Europa wirksam. Hauptursache sei die von marxistisch-leninistischen Erkenntnisse geleitete Politik kommunistischer Parteien gewesen. [6]

Eine Existenzfrage kommunistischer Politik

„Die gefährlichsten Lügen sind Wahrheiten mäßig entstellt“ (G. Chr. Lichtenberg). Eine Wahrheit besteht zum Beispiel darin, daß die imperialistischen Kräfte mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dem sozialistischen Aufbau schwerste Schäden zugefügt und entscheidenden Anteil am Scheitern des Sozialismus in Europa haben. Die Entstellung des Sachverhaltes lautet, daß es über den Anteil äußerer Faktoren und Kräfte am Schei­tern des Sozialismus unterschiedliche Meinungen gebe und daß zu bezweifeln sei, ob dieser Anteil entscheidend gewesen ist.

Eine weitere Wahrheit besteht darin, daß die Schwierigkeiten sozialistischer Pionierarbeit durch die imperialistische Feindarbeit so vergrößert worden sind, daß in manchen Kreisen, nicht nur in der sozialistischen Gesellschaft, Zweifel an der Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus aufge­kommen sind. Die Entstellung lautet, daß solche Zweifel die notwendige Folge der falschen Sozialismus-Konzeption des Marxismus-Leninismus seien.

Eine weitere Wahrheit besteht darin, daß die Kommunisten sozialistischer Länder dem wach­senden Druck der Feindarbeit nur unzureichend mit einer Stärkung der revolutionären Kampfkraft ihrer Parteien entgegen gewirkt haben. Die Entstellung lautet, daß die Kommunisten an Einfluß verloren haben, weil sie an der falschen Sozialismus-Konzeption festhielten. Von ihnen sei der Sozialismus immer alternativ zum Kapitalismus gesehen worden, ohne eine mögliche partnerschaftliche Ergänzung durch privatwirtschaftliche Vorteile ins Auge zu fassen. Konkret habe sich das vor allem in einer pluralismus-feindlichen Partei- und Staatsauffassung negativ ausgewirkt. In komprimierter Weise sagt Harald Neubert stell­vertretend für die ganze Richtung, seine Kritik beträfe „eigentlich die ganze Leninsche Theorie der Macht und des Staates“. [7] Darin sind natürlich auch die entsprechenden Erkenntnisse von Max und Engels eingeschlossen.

Aus dieser entstellten Wahrheit über die Verantwortung Kommunistischer Parteien für die Schwächung der eigenen Positionen ist eine der gefährlichsten Lügen geworden, von der die Existenz kommunistischer Politik bedroht ist.

Eine signifikante Tatsache belegt das. Die revolutionäre Organisation der Arbeiterklasse erfüllt ihre Funktion, die Einheit des Handelns der Arbeiterklasse für die Überwindung volksfeindlicher Verhältnisse und für die Schaf­fung menschenwürdiger Verhältnisse zu gewährleisten, vor allem durch zwei Voraussetzungen: Das ist zum ersten die wissenschaftlich begründete sozialistische Zielsetzung un­ter Einschluß der Strategie für den Weg zu diesem Ziel. Hier wurde bereits erörtert, daß darin die notwendige Abgrenzung zu „Sozi­alismus-Varianten“ enthalten ist, die mit der kapitalistischen Ausbeutung versöhnen wollen. Die andere Voraussetzung ist die revolutionäre Organisiertheit und der dafür erforderliche demokratische Zentralismus, der das einheitliche Handeln der revolutionär organisierten Teile der Arbeiterklasse für den Sozialismus und für die Gewinnung einer aktionsbereiten Mehrheit ermöglicht und gewähr­leistet und dadurch zu einem antikapitalistischen und prosozialistischen Machtfaktor bereits unter kapitalistischen Verhältnissen wird, der den revolutionären Übergang zum Sozialismus ermöglicht. In der antikommunisti­schen Argumentation zum Scheitern des Sozialismus wird nun behauptet, daß die kommu­nistische Organisiertheit und der demokratische Zentralismus mit seiner bewußten Abgrenzung zum politischen Pluralismus eine der Ursachen dieses Scheiterns gewesen sei.

Die Tatsachen belegen jedoch das Gegenteil. Die revolutionäre Organisiertheit und der de­mokratische Zentralismus wurden erst und besonders in den Zeiten nach dem XX. Parteitag der KPdSU zunehmend formal gehandhabt, was Zweifeln und Zweiflern an der Überlegenheit des Sozialismus und antisozialistischen Tendenzen Spielraum und antisozialistischen Kräften Zugang in die Partei ermöglicht hat. Von kleinbürgerlichen Intellektuellen wurde die Kritik an Fehlern der alten Parteiführung als eine Absage an die Konsequenzen einer revolutionären Organisiertheit mißdeutet. Medwedjew, ein russischer Philosoph und Schriftsteller, erklärt in einem Interview, das in der Einheit Heft 12/ 1989 nachgedruckt worden ist: „Ich zum Beispiel habe mich gerade nach dem XX. Partei­tag entschieden, in die Partei einzutreten. Eine ganze Generation entstand sogar, die wir Leute des XX. Parteitages nennen, und gerade sie steht heute an der Spitze der Perestroika“ [8] (deren Funktion darin bestand, revolutionäre Positionen zu zerstören). Die Gefährlichkeit des „linken“ Antikommunismus, die seinen Einbruch in kommunistische Parteien erleichtert hat, besteht unter anderem darin, daß seine Anfänge und seine Methoden seine Gesamtkonzeption verschleiert haben.

Seine Anfänge sind zum Teil verdeckt durch berechtigte Kritiken an Fehlern beim sozialistischen Aufbau, die jedoch mit Vorschlägen für Fehlerkorrekturen verbunden waren, die  für den sozialistischen Aufbau große Gefahren gebracht hätten. Die Abwehr solcher Korrekturen wurde dann als ein Verstoß gegen Lenins Ratschlag über den Umgang von Kommunisten mit eigenen Fehlern gebrandmarkt. Erst allmählich wurde sichtbar, daß diese Art der Kritik und Argumentation zu einer Gesamtkonzeption gehört, die Theorie und Praxis des Sozialismus bekämpft und Wegbereiter für die Konterrevolution sein kann. Eine Abwehrreaktion dagegen war zum Beispiel das Sputnik-Verbot in der DDR, ohne daß allerdings die antikommunistische Tragweite der Sputnik-Strategie ausreichend erläutert worden ist. Die Akteure dieser antikommunistischen Konzeption konnten in Kommunistische Parteien eindringen, sich fraktionell formieren und die revolutionäre Kraft der Partei entscheidend schwächen. Ent­gegen antikommunistischer Behauptungen hat der politische Pluralismus als ein Merkmal der Freiheit für antisozialistische Kräfte in sozialistischen Organisationen, die revolutionäre Kraft Kommunistischer Parteien so weit zerstört, daß sie schließlich, wie in der Sowjetunion, verboten oder, wie in der DDR, für eine feindliche Übernahme reif gemacht werden konnten oder, wie in Ungarn zuerst der Weg in den IWF frei gemacht und danach die sozialistische Staatsgrenze für dem Imperialismus günstige Manipulationen geöffnet wurde. Das ist die Ursache für die Schwächung antiimperialistischer Abwehrkräfte der Sozialisten und für den dadurch möglich werdenden Spaziergang der Konterrevolution zur Restauration des Kapitalismus.

Die Reichweite des antikommunistischen Lügengebäudes, das zum Beispiel auch das sozialistische  Staatseigentum, die ökonomische und soziale Leistungsfähigkeit des Sozialismus und auch die Politik der friedlichen Koexistenz betrifft, soll Gegenstand eines gesonderten Beitrages werden, der sich auch mit solchen antisozialistischen Modeargumenten befaßt wie dem, daß in der DDR zwar nicht alles schlecht gewesen sei, sondern nur, daß sie sozialistisch gewesen sei, so wie es auch dem Redaktionsprogramm der Super-Illu entspricht oder dem Beitrag von Stephan Bollinger zum Jahrestag der DDR im ND.

Ein weiteres Ergebnis der antikommunistischen Entstellungen ist die Tatsache, daß sich sogar erfahrene Kommunisten unter dem Einfluß der Lügen über die Ursachen für das Scheitern des Sozialismus mit Zweifeln plagen, was an unseren marxistisch-leninisti­schen Positionen bewahrt und genutzt werden könne oder korrigiert werden müsse und wie mit Kommunisten ehemals sozialistischer Län­der umzugehen sei, die ihre Schwächen anders einschätzen als die Propagandisten des Antikommunismus. Da den antikommunistischen Versionen zufolge in der DDR wie auch in anderen Ländern die Kommunisten hauptverantwortlich für das Scheitern des Sozialismus sein sollen, weil sie kein offenes Ohr für den politischen Pluralismus gehabt hätten, werden sie teilweise nicht ohne weiteres als eine mögliche Verstärkung für die DKP angesehen. Solche unbegründeten Vorbehalte werden vor allem auch von einigen Genossen verstärkt, die sich einer objektiven Einschätzung der Stalinzeit verschließen und der Meinung sind, eben so der konterrevolutionären Stalinismus-Doktrin am besten begegnen zu können. Politisch in den Vordergrund getreten ist im gesamten Wirken antikommunistischer Kräfte gegenwärtig die Unterdrückung antifaschistischer Erkenntnisse, Bewegungen und Aktivitäten, weil diese dem aufkommenden Neofaschismus bei seinen Hilfsdiensten für die herrschende Politik ernsthaft hinderlich sind.

„Einig Vaterland“ - neofaschistisch fruchtbar

Antifaschistisch-demokratische Erfahrungen fanden 1990 keinen Einlaß in die alten Bundesländer. Dafür wurden im Gefolge der D-Mark in den neuen Bundesländern Grundlagen implantiert, auf denen neofaschistische Kräfte gedeihen konnte. Nach lebensbedrohenden Anschlägen gegen Ausländer und Ausländerheime haben die dafür verantwortlichen Kräfte bei den Wahlen 2004 auch in Landtagen in Sachsen und Brandenburg  Fuß gefaßt. Gleichzeitig demonstrieren sie wachsenden Ein­fluß auch bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen mit dem Einzug in Stadträte.

Bei den berechtigten Sorgen darüber wird zum Teil vergessen, daß die Schill-Partei 2001 in Hamburg mit 19,4 Prozent der Stimmen in die Vertretung der Bürgerschaft eingezogen war, weil das durch ihre Partnerschaft mit der CDU nicht so kritikwürdig zu sein schien. Nur im Ergebnis andauernder Aktionen und Demonstrationen linker Kräfte ist die Schill-Partei politisch so isoliert worden, daß sich die CDU von ihrem Koalitionspartner getrennt hat, ohne sich aber von der eigenen Rechtslastigkeit zu trennen.

Der Neofaschismus ergänzt staatliche antikommunistische Funktionen durch die militante Bedrohung antiimperialistischer Kräfte. Er bereitet und stärkt den Boden, auf dem die aggressive Politik der herrschenden Kräfte in der Bevölkerung wirksam werden soll. Die Vertreter des militanten und faschistischen Antikommunismus sind auch nach der Niederlage des Hitlerfaschismus in der Bundesrepublik politisch am Leben erhalten worden. Sie haben sich auch organisatorisch wiederbelebt. Mit ihnen hat in modifizierter Form der Rassismus in der Ausländerfeindlichkeit und die Toleranz gegenüber diesem Erbe des Hitlerfaschismus überlebt. In diesem Klima treten die Neofaschisten ohne jeden Anflug eines Scheines von Selbstkritik an den barbarischen Folgen von Faschismus und Krieg auf. Im Gegenteil feiern faschistische Elitekräfte  wie die Ritterkreuzträger ihre Dienste für den Faschismus als Heldentum und Dienst am Vaterland. Diese Kräfte hatten und haben keine Probleme, in der von Besserverdienenden regierten Gesellschaft ihre Aktivitäten zu finanzieren.

Die antikommunistische Staatsdoktrin der BRD verhinderte eine wissenschaftliche Einschätzung des Faschismus und seiner ökonomischen Grundlagen und eine antifaschistische Korrektur imperialistischer Barbarei. Jegliche Form antifaschistischer Aufklärung und Politik wurde und wird, auch mit amtlichen Mitteln, niedergehalten und als „Links­extremismus“ kriminalisiert. Verfassungsschüt­zer verhinderten als V-Männer das Verbot der NPD, was deren politische Wirkungsmöglich­keiten erschwert hätte. Trotz der „besorgten“ Stimmen der dafür Verantwortlichen läuft wieder alles wie schon gehabt. Die Kritik nach 1945 reduzierte sich auf das Verbot von Nazisymbolen und gegenwärtig darauf, wie man in Parlamenten mit den Neofaschisten umgehen sollte.

Im Gegensatz dazu wurde die KPD verboten, ihre Mitglieder wurden mit manipulierten Straf­prozessen hinter Gitter gebracht und zusätzlich mit Berufsverboten belegt. Im Ergebnis die­ser Politik wird die Wirksamkeit kommunistischer und jeder antiimperialistischen Politik in der BRD auf ein Minimum reduziert, das den herrschenden Kräfte keine Sorgen bereiten muß. Nach der feindlichen Übernahme der DDR wurden die antikommunistischen  Exzesse hier nachgeholt. Kommunistische Führungskräfte wurden gerichtlich abgeurteilt und mitunter in gleiche Haftanstalten wie zu Hitlerzeiten gebracht  Mit der feindlichen Übernahme der SED durch gut organisierte Kräfte des „linken“ Antikommunismus wurde die Mitgliedschaft der Partei unter Kontrolle gebracht und an antifaschistisch-demokratischen Regungen gehindert. Der militante Antikommu­nismus konzentrierte sich auf die Mitarbeiter der Organe für Staatssicherheit der DDR, so daß das MfS für den latenten Antikommunismus zum Firmenschild für das Hauptangriffsziel aller amtlichen und nicht-amtlichen Einrichtungen der BRD geworden ist.

Namen von Straßen, Plätzen, Schulen und Sportstätten wurden getilgt, weil sie an Kom­munisten erinnerten, die als die ersten Opfer faschistischer Pogrome von den Nazis ermordet worden waren. Denn solche Namen erschwerten die antikommunistische Geschichts­deutung, die darauf zielt, aus Opfern des Faschismus faschismusähnliche „Totalitäre“ zu machen. In dieser Richtung sind auch „linke“ Antikommunisten tätig. Der bereits genannte Harald Neubert erklärt: „Ich bin nicht der Meinung, daß die KPD eine Hauptschuld am Sieg des Faschismus in Deutschland tragen würde. Dennoch: Ich bin überzeugt, daß sie eine Mitverantwortung hatte“. [9] Nach Neubert resultiert diese Mitverantwortung daraus, daß die KPD im Sozialismus die Alternative zur faschistischen Barbarei gesehen hat und nicht in der parlamentarisch getarnten Barbarei des Imperialismus der Weimarer Republik. In Übereinstimmung mit dieser Auffassung bezeichnet er die von den Kräften der Kommunistischen Internationale erarbeiteten Erkennt­nisse, daß für den Übergang zu Sozialismus verschiedene Etappen und Übergangsformen
möglich und notwendig sein können, als eine halbherzige Korrektur, weil das Ziel solcher Übergänge nach wie vor der Sozialismus sei und nicht die Rückkehr in den Schoß einer anders konstituierten Barbarei. [10]

Mit all dem wird verdeckt, daß die Regierungspolitik im Zeichen des Kampfes gegen den Terrorismus den ausländerfeindlichen Lo­sungen der Neofaschisten: „Deutschland den Deutschen“ mit Gesetzesakten gegen Asylanten bereits entspricht. Verdeckt wird auch, daß die Losung von der Verteidigung Deutsch­lands am Hindukusch der Linie des programmatischen faschistischen.Liedes entspricht: „denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.“ Das dient ebenso der erneuten Großmachtpolitik imperialistischer Kräfte wie die Geschichten und Filme über Hitler und seinen Hund und seine Frauen und seine letzten Tage. Das sind Bestandteile des Kurses, der faktisch auf eine Revanche für die Niederlage des Hitlerfaschismus beim zweiten Versuch des Kampfes um Weltmachtpositionen gerichtet ist. Offensichtlich ist die parlamentarische und europäische Tarnung dieser Revanche nicht mehr ausreichend, so daß dem Neofaschismus verstärkter Spielraum eingeräumt wird.

Zu dieser Entwicklung gibt es gegenwärtig nur eine Alternative: die Sammlung aller Kräf­te gegen den sich ausbreitenden staatlich geschützten Neofaschismus, der in Gemeinschaft mit den anderen Varianten des Antikommunismus ein Bündnis von Volkskräften zu verhindern sucht, das sich gegen den Sozialabbau, gegen den Demokratieabbau und gegen den aggressiven, erneuten Weltmachtkurs der Kräfte des Monpolkapitals durchsetzen könnte. Alle politischen Konzeptionen, die hierbei nur auf eine andere Variante der imperialistischen Barbarei zielen, dienen den Interessen der monpolistischen Kräfte, wie links oder demokratisch sie sich auch tarnen.

 

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Fremdjustiz

von Erich Buchholz


DDR-Bürger, die an Strafverfahren der poli­tischen Strafverfolgung von DDR-Hoheits­trägern als Angeklagte, Verteidiger, Zeugen oder Zuhörer teilnahmen, gewannen den Ein­druck, dass die Staatsanwälte und Richter, je­denfalls oft die Gerichtsvorsitzenden, diese Verfahren mit einem bestimmten Vorverständ­nis, ja oft mit deutlichem Vorurteil betrieben, wobei die Medien die Angeklagten schon lange vor den öffentlichen Hauptverhandlungen verurteilt hatten.

Diese Juristen kannten nicht nur das DDR-Recht nicht, das nach dem Einigungsvertrag grundsätzlich in diesen Fällen anzuwenden war. Sie kannten auch nicht die Lebensver­hältnisse in der DDR. Einige, insbesondere Staatsanwälte, blamierten sich ob solcher zur Schau getragenen Unkenntnis der DDR „bis auf die Knochen“.

So erlebten die DDR-Bürger in diesen Ver­fahren, dass Fremde über sie zu Gericht sas­sen, sie erlebten Fremdjustiz.1

Aber nicht nur wegen dieser Einstellung bundesdeutscher Staatsanwälte und Richter kam es in diesen Verfahren zu Fremdjustiz. Zu solcher Fremdjustiz kam es auch deshalb, weil die bundesdeutschen Juristen - abgesehen von krasser Verdrehung und dem Gesetz direkt zuwiderlaufender Anwendung des nach dem Einigungsvertrag in diesen Fällen maßgeblichen DDR-Rechts - sich in ihrer Strafverfolgung und Rechtsprechung durchweg von bundesdeutschen Rechtsvorstellungen und Lehren, von bundesdeutscher Rechtsdogmatik leiten ließen.

Die Strafrechtslehren und die dem DDR-Strafprozessrecht zu Grunde liegenden An­schauungen kannten sie nicht; in der Mehr­zahl waren sie auch nicht darum bemüht, sich mit diesen bekannt zu machen; es waren ja die eines „Unrechtsstaates“.

Indem diese Staatsanwälte und Richter nach der bundesdeutschen Prozessordnung und den ihnen gewohnten und geläufigen bundesdeut­schen strafrechtlichen Lehren und der dazu gehörenden Dogmatik judizierten, fügten sie den DDR-Bürgern Unrecht zu.

Allerdings haben sie insoweit nicht in besonderer Weise und nicht in besonderer Absicht gegen die DDR-Bürger judiziert. Sie haben vielmehr lediglich die ihnen geläufige Dogmatik und Rechtslehre, wie in gewöhnlichen Verfahren, zugrundegelegt und so gegen DDR-Bürger zur Geltung gebracht.

Diese Praxis erweist sich als eine weitere - in ihrer Wirkung wohl nicht unbedingt beabsichtigt gewesene - Methode, vor bundesdeut­schen Gerichten angeklagte DDR-Bürger zu Unrecht zu verurteilen.

Hätten die bundesdeutschen Staatsanwälte und Richter nicht nur die in der DDR gel­tenden geschriebenen Strafgesetze, das mate­rielle Strafrecht der DDR, angewandt, son­dern sich auch auf die Lehren und Theorien des DDR-Rechts gestützt, dann hätten sie die Angeklagten durchweg freigesprochen, jeden­falls freisprechen müssen.

Das wollte man nicht. Der Heranziehung bundesdeutscher Rechtsvorschriften und Rechts­anschauungen sowie das Judizieren nach der bundesdeutschen Strafprozessordnung gehört wesentlich zu der von DDR-Bürgern wahrgenommenen Fremdjustiz, die sich bei vielen von ihnen als Siegerjustiz darstellt.

Auch dadurch, dass in Verfahren gegen DDR-Hoheitsträger nach der bundesdeutschen Straf­prozessordnung prozessiert wird, wird das materielle Recht der DDR verkehrt.

Denn das materielle Strafrecht und das Straf­prozessrecht stehen in einem engen wechsel­seitigen Zusammenhang. Klassisch formu­lierte Karl Marx diesen Zusammenhang in seinem Aufsatz „Debatten über das Holz­diebstahlsgesetz“: „Das materielle Recht hat seine notwendige, eingeborene Prozessform.“2

Es erscheint erforderlich, sich mit der Anwen­dung und Heranziehung der bundesdeutschen Dogmatik und den bundesdeutschen strafrechtlichen Lehren und den prozessualen Eigenheiten der bundesdeutschen Strafrecht­sprechung auseinander zu setzen und deren grundsätzliche Abweichung von den in der DDR maßgeblich gewesenen Lehren und An­schauungen zum Nachteil der Angeklagten DDR-Bürger deutlich zu machen.

Das ist ein juristisch komplizierter Gegen­stand, der im folgenden nur illustrativ und vereinfacht dargestellt werden kann.

Es darf vorausgeschickt werden, dass die nachfolgenden Ausführungen von einem Ju­risten stammen, der noch das alte deutsche Strafrecht mit seinen Rechtsdoktrinen studier­te, die in der Bundesrepublik im wesentlichen nach wie vor Geltung besitzen, und der als Strafrechtswissenschaftler an der Entwick­lung des Strafrechts der DDR seinen Anteil hatte und nach 1990 die bundesdeutsche Strafjustiz als Strafverteidiger unmittelbar, Aug’ in Aug’ erlebte.

Darin wird eine besondere Voraussetzung für die Bewältigung des Themas gesehen.

I. Eine fremde Tatbestandslehre

In der DDR galt unkompliziert und natürlich die Tatbestandsmäßigkeit einer Straftat bzw. das Vorliegen des gesetzlichen Tatbestands als eine einheitliche geschlossene juristische Voraussetzung der Strafbarkeit. Der bundes­deutsche Strafrechtswissenschaftler Jescheck bezeichnete sie als eine Lehre des Gesamt­tatbestands.

Demgegenüber gilt traditionell auch in der Bundesrepublik die von Beling im Jahre 1906 begründete Tatbestandslehre, namentlich die auf diesen zurückgehende Unterscheidung von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld als voneinander abgehobenen Ebenen, nach denen - als vorgegebene Abfol­ge - auch die juristische Prüfung einer straf­rechtlichen Verantwortlichkeit vorzunehmen ist.

Der Tatbestand beschreibt nach dieser Auf­fassung lediglich das äußere Bild einer be­liebigen Handlung, ohne etwas über Rechts­widrigkeit und Schuld auszusagen, so z.B. wenn jemand etwas wegnahm oder be­schädigte oder einen anderen Menschen tö­tete, was bekanntlich auch zufällig oder un­gewollt bei einem Unfall geschehen kann. Später wurde der Tatbestand - im Sinne nor­mativer Lehren - zur „tatbestandlichen Be­schreibung des verbotenen Verhaltens“. Er enthalte den materiellen Unrechtsgehalt (das Verbotensein) einer Verbrechensart und er­fasse so Unrechtstypen von Straftaten.

So wird die Strafbarkeit als maßgebliche Ei­genschaft einer Straftat künstlich in Tatbe­standsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld aufgespalten. Das mag im Einzelfall einige methodische Vorteile mit sich bringen; sie enthält aber auch Gefahren.

Die vorgenannte Aufspaltung in Tatbestands­mäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld wirk­te sich in besonderer Weise gegen angeklagte DDR-Bürger aus, so vornehmlich in den Ver­fahren wegen der „Toten an der Mauer“.

Allein die Tatsache, dass ein Grenzverletzer infolge Schusswaffengebrauchs an der Gren­ze zur Bundesrepublik bzw. zu Westberlin zu Tode kam, wurde in Verbindung mit der noch unten darzustellenden Auffassung von der Kausalität, vom Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, als Erfüllung des Tat­bestandes, als Tatbestandsmäßigkeit einer vorsätzlichen Tötung (Mord oder Totschlag) angesehen.

Dabei wurde der nach dem Gesetz er­forderliche Vorsatz, jedenfalls der bedingte Vorsatz, ohne entsprechenden Beweis regel­mäßig unterstellt.

Mit dieser Vorgehensweise wurde das Vorlie­gen eines von dem angeklagten Grenzsol­daten begangenen vorsätzlichen Tötungsver­brechens als gegeben angenommen. Er war der Täter solchen Verbrechens.

Erst auf einer zweiten und dritten Ebene, bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit bzw. des Vorliegens von Rechtfertigungsgründen und bei der Prüfung der Schuld bzw. von Schuld­ausschließungs- oder Schuldaufhebungsgrün­den, könnte die vorgenannte Grundaussage womöglich korrigiert werden.

Nachdem die Tatbestandsmäßigkeit von vor­sätzlichen Tötungsverbrechen so problemlos bejaht wurde, fanden die bundesdeutschen Staatsanwälte und Richter in den betref­fenden Verfahren grundsätzlich keine Recht­fertigungsgründe zu Gunsten der Angeklag­ten.

Sie kannten schon nicht den Art. 7 der Ver­fassung der DDR, der auch den Grenztruppen der DDR den Verfassungsauftrag erteilte, die Staatsgrenze zuverlässig zu schützen. Ebenso wenig kamen sie mit der Notwehrbestimmung des DDR-Rechts (§ 17 des StGB/DDR) zu Rande.

Nach dieser war auch die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung „notwehrfä­hig“, sodass Handlungen, die der Abwehr von gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffen, wie einem ungesetzlichen Grenzübertritt, dienten, bei Angemessenheit der Abwehr- bzw. Ver­teidigungshandlung - wie beim Schusswaf­fengebrauch gem. § 27 des Grenzgesetzes - gerechtfertigt, also keine Straftaten, waren.

Ebenso wenig sahen die bundesdeutschen Staatsanwälte und Richter bei den ange­klagten DDR-Bürgern Schuldausschließungs- oder Schuldaufhebungsgründe. Zum Nachteil der angeklagten DDR-Bürger wurde vielfach mit dem, dem bundesdeutschen Strafrecht vertrauten, im Strafrecht der DDR unbekannten, Verbotsirrtum operiert. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

Jedenfalls war mit der Annahme der Tatbe­standsmäßigkeit einer vorsätzlichen Tötungs­handlung auch die Strafbarkeit und damit de­ren Verurteilung gegeben.

Weiterhin wurde die Aufspaltung der Straf­barkeit in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswi­drigkeit und Schuld vom BVerfG bei seiner Entscheidung über das Rückwirkungsverbot vom 24. 10. 1996 in besonderer Weise aus­genutzt, ja missbraucht. Es meint, das Rück­wirkungsverbot - ein Grundrecht und Men­schenrecht - gelte nur für die Tatbestands­mäßigkeit, nicht aber für die Rechtswi­drigkeit. Da die Vordergerichte ein vom BVerfG nicht mehr überprüfbares Vorliegen der Tatbestandsmäßigkeit angenommen hat­ten, beschränkte sich dieses Gericht auf die Frage, ob das Rückwirkungsverbot auch die Rechtswidrigkeit der betreffenden Handlun­gen betreffe. Das hat es - mit hier nicht weiter auszuführenden Begründungen - verneint. Auf diese Weise wurde den angeklagten DDR-Bürgern das Grund- und Menschenrecht des Rückwirkungsverbotes versagt. Sie wurden gleichwohl - mit dem Segen des BVerfG - verurteilt. 3

II. Kausalität

In objektiver Hinsicht ist bei Erfolgsdelikten, namentlich bei Tötungsdelikten, die Prüfung des Kausalzusammenhangs, als Zusammen­hang zwischen Handlung und Erfolg, von maßgeblicher Bedeutung. Auch insoweit standen sich entgegengesetzte Lehren und Rechtsauffassungen gegenüber, infolge deren selbst bei übereinstimmendem Wortlaut der Strafbestimmungen unterschiedliche Ergeb­nisse zu Stande kommen.

In der DDR wurde die Kausalität als ein objektiver Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erkannt, der im Einzelfall - un­abhängig vom Wissen um diesen und vom Bewusstsein dessen - besteht oder nicht be­steht. Dabei wurde zwischen Ursachen und Bedingungen unterschieden, weil Ursachen ihre kausalen Wirkungen stets unter bestimm­ten Bedingungen entfalten. Dieser Kausalzu­sammenhang musste mit strenger Wissen­schaftlichkeit durch sorgfältige sachgerechte Prüfung aufgeklärt werden.

In der Bundesrepublik wird demgegenüber nicht von einem realen objektiven kausalen Zusammenhang, sondern nur von einer objek­tiven Zurechnung (Haftung) gesprochen. Von Ausnahmen abgesehen und im Unterschied zu den Kausalitätslehren anderer Länder gilt ganz überwiegend die auf den Reichsgerichts­rat von Buri (1873) zurückgehende Bedin­gungstheorie. Nach dieser, philosophisch letzt­lich auf Kants Agnostizismus (Unerkenn­barkeit der Welt) beruhenden Auffassung sei „Ursache jede Bedingung, die nicht hinweg­gedacht werden kann, ohne dass der straf­rechtlich relevante Erfolg entfiele“, also eine conditio sine qua non. Eine solche wird dem Angeklagten zugerechnet. Wegen der glei­chen Bedeutung aller Bedingungen wird diese Theorie auch als Äquivalenztheorie bezeich­net.

Bei der Kausalität handele es sich nach sol­cher Auffassung lediglich um eine Denk­form, mit deren Hilfe faktische Gegeben­heiten miteinander verknüpft werden. Da nach dieser (philosophisch idealistischen) Auffassung Kausalität in einem gedanklichen Konstrukt und nicht in einem Vorgang der realen Wirklichkeit besteht, ist offensichtlich, dass der Richter ihn erzeugt. Er bestimmt nach seinem Vorverständnis, ob eine dahin­gehende objektive Zurechnung anzunehmen sei oder nicht.

Das Reichsgericht hat in ständiger Recht­sprechung diese Theorie angewandt; der Bun­desgerichtshof folgt ihm auch auf diesem Gebiet bis auf den heutigen Tag.

Die Mängel dieser Kausalitätslehre sind seit langem bekannt; die oft unerträglichen Ergeb­nisse werden dann korrigiert, so durch andere Kausalitätslehren, wie die (im Zivilrecht an­gewandte) Äquivalenztheorie, nach der Ur­sache nur die Bedingung sei, die „allgemein nach der Lebenserfahrung geeignet sei, den tatbestandsmässigen Erfolg herbeizuführen“, sowie dann auch bei der Prüfung der sub­jektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen, nament­lich der Schuld

Jedenfalls wurde in der DDR aus gutem Grund diese letztlich subjektivistische Auf­fassung von der Kausalität abgelehnt; nach unserer Auffassung war die Kausalität ein grundsätzlich erkennbarer objektiver real existierender Vorgang, ein (gesellschaftsgefähr­licher) Kausalprozess.

In den Strafverfahren gegen DDR-Bürger wa­ren bundesdeutsche Staatsanwälte und Rich­ter von vornherein geneigt, zum Nachteil der Angeklagten in deren Handeln, z. B. im Ge­brauch der Schusswaffe, eine Bedingung zu sehen, die „nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg (in Gestalt des Todes des Grenzverletzers) entfiel“. Bei dieser Sicht- und Denkweise war auf dem Hinter­grund der ideologische Ausrichtung der bun­desdeutschen Staatsanwälte und Richter selbstverständlich ausgeblendet, dass es in erster Linie die Grenzverletzer waren, die für sich eine Gefahrensituation heraufbeschwo­ren und bei hartnäckiger Fortsetzung  ihrer Grenzverletzung, des Versuches über die Staatsgrenze in den Westen zu gelangen, sich selbst in akute Lebensgefahr brachten. Diese „Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der strafrechtlich relevante Erfolg entfiele“, ohne dass es zum Tod der Grenzverletzter käme, bleibt wegen der Vor­eingenommenheit der bundesdeutschen Rich­ter und Staatsanwälte regelmäßig außerhalb ihres Gesichtskreises. Mehr noch, ein Hin­weis auf diesen Umstand durch die Ver­teidigung zog eine entsprechende Rüge sei­tens des Gerichtsvorsitzenden nach sich. Das Verhalten der Grenzverletzer, die sich selbst gefährdeten, war tabu; davon durfte nicht gesprochen werden.

Der objektive, auch in diesen Fällen aus mehreren Elementen bestehende Kausalzusam­menhang wird von den bundesdeutschen Staatsanwälten und Richtern nur sehr ein­seitig wahrgenommen. Die Folge ist die rechts­widrige Verurteilung der Angeklagten.

Erst recht wirkte sich diese subjektivistische idealistische Kausalitätsauffassung in den Fällen aus, in denen Grenzverletzer bewusst und verbotenerweise in Minenfelder ein­drangen und sich buchstäblich selbst getötet oder verletzt hatten. Denn die als nicht hin­wegdenkbare Bedingung angenommene Ver­legung von Minen als solche war zunächst nur die Schaffung einer allgemeinen Gefah­renlage, wie wir sie im Alltag überall und ständig vorfinden, so besonders im Ver­kehrswesen. Dadurch, dass die Minenfelder eindeutig begrenzt und durch Warnschilder gekennzeichnet waren, war ein Eindringen in diese Minenfelder nur rechtswidrig und ver­botenerweise möglich, wenn der betreffende Grenzverletzer absichtsvoll-leichtfertig die Gefahr, von Minen getötet oder verletzt zu werden, missachtete. Es handelte sich somit keinesfalls um eine „Todesfalle“, in die je­mand hätte unversehens geraten können, wie die Medien schreiben.

Überlebende haben als Zeugen vor Gericht regelmäßig bekundet, dass ihnen die Mi­nenfelder bekannt waren, dass ihnen auch die Gefahr der Tötung oder Verletzung bewusst war, sie jedoch - leichtfertig - darauf vertraut hatten, unverletzt durchzukommen.

Bei einer solchen Fallkonstellation hat der leichtfertig handelnde Grenzverletzer sich selbst getötet; zwischen seinem leichtfertigen Verhalten und seiner eigenen Verletzung oder Tötung besteht ein objektiver eindeutiger recht enger Kausalzusammenhang.

Derartige bewusste Selbstgefährdung des Op­fers, hier der Grenzverletzer, schließt sonst auch in der Bundesrepublik regelmäßig eine strafrechtliche Verantwortlichkeit Dritter, vor­liegend der Grenzsoldaten, aus. Diesen sonst geläufigen Grundsatz des Ausschlusses einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit Dritter bei bewusster Selbstgefährdung des Opfers hat man bei DDR-Bürgern, namentlich bei DDR-Grenzsoldaten, einfach „vergessen“.

III. Schuld

Schuld war nach dem Strafrecht der DDR (§ 5 StGB/DDR) ein realer psychischer Vor­gang, dessen Wesen in der verantwortungs­losen Entscheidung zur Straftat bestand.

Nach bundesdeutschem Rechtsverständnis sei Schuld „Vorwerfbarkeit der Willensbildung“, wobei Willensfreiheit unterstellt wird (nor­mative Schuldbegründung). Hierzu gehört auch das Problem der rechtlich „fehlerhaften Ge­sinnung“. Der Richter meint, dem Angeklag­ten seine Tat subjektiv vorwerfen zu können.

Wiederum geht es nicht um einen real exi­stierenden (psychischen) Vorgang, sondern um das Werturteil, das der Richter über den Angeklagten bzw. sein angeklagtes Verhalten fällt. Wiederum entscheidet der Richter, ohne die objektive Realität der damaligen psychi­schen Vorgänge im Bewusstsein des Ange­klagten als solche untersucht und geprüft zu haben.

Sie werden, insbesondere gegenüber ange­klagten DDR-Bürgern, ohnehin regelmäßig gemäß den subjektiven Vorstellungen und Vorurteilen der Richter unterstellt.

Bei solchen Konstruktionen wie der Kau­salität und der Schuld als Vorwerfbarkeit ist ein Angeklagter - und zwar nicht nur in den Strafverfahren gegen DDR-Hoheitsträger - völlig der subjektiven Sichtweise des Richters ausgeliefert. Jegliche sachgerechte Verteidi­gung bleibt unberücksichtigt. Daran ändert auch nichts, dass von den Obergerichten womöglich eine andere (subjektive) Sichtweise zur Geltung gebracht wird oder werden kann - vielleicht sogar zu Gunsten eines Ange­klagten. Es bleibt bei der subjektiven Wer­tung und Sichtweise durch die Richter mit ihren Vorverständnissen oder Vorurteilen.

In der Bundesrepublik wurde im Jahre 1975 mit der Neugestaltung des allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs die Unterscheidung von Tatbestandsirrtum und Verbotsirrtum festge­schrieben.

Tatbestandsirrtum betrifft den Irrtum über bestimmte strafrechtlich relevante Tatsachen, tatsächliche Umstände, z. B. ob eine Tür ver­schlossen war, ob die Sache einem anderen gehörte, also für den Täter fremd war, ob der Angreifer ein Mensch oder ein Tier, z. B. ein Hund, war usw. Der Verbotsirrtum betrifft den Irrtum über das Verbotensein eines be­stimmten Verhaltens. Dabei wird das Be­wusstsein der Rechtswidrigkeit, das Un­rechtsbewusstsein als wichtiges Schuldmerk­mal angesehen.

Für diese Theorie hat die Anerkennung des Bewusstseins der Rechtswidrigkeit als Schuld­merkmal durch die Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Strafrecht des Bun­desgerichtshofs vom 18. März 1952 die maß­gebliche Rolle gespielt; diese Entscheidung wird als Markstein in der neueren (bundes-) deutschen Strafrechtsgeschichte angesehen.

Bei der Erarbeitung unseres Strafgesetzbu­ches in den 60er Jahren waren wir uns durch­aus dessen bewusst, dass bei der Schuld eines Täters auch geprüft werden muss, inwieweit der Täter nicht nur (vergangene, gegenwär­tige oder künftige) objektive Vorgänge, Tat­sachen, zutreffend erkannte oder nicht, sich womöglich insoweit in einem Irrtum über sol­che Tatsachen befand, sondern auch, dass bedeutsam sein kann, inwieweit er sein ei­genes Verhalten für rechtens (rechtmäßig) hielt oder für Unrecht, für rechtswidrig.

Dabei war zu berücksichtigen, dass die Straf­barkeit manches Handelns auch von außer­strafrechtlichen Regelungen, so Regelungen des Verwaltungsrechts, des Verkehrsrechts, des Arbeitsschutzrechts usw. abhängt. Dem gemäß war zu unterscheiden, ob der Täter auf Grund seiner Ausbildung und Stellung recht­lich verpflichtet war, die betreffenden Vor­schriften zu kennen, so-dass ihn eine leicht­fertige (verantwortungslose) Unkenntnis der­selben nicht zu entlasten vermochte. Nach dem DDR-Gesetz musste dies nach den Be­stimmungen über den Irrtum über Tatsachen untersucht und geprüft werden.

Letztlich blieb das Problem des „Verbotsirr­tums“ im Bereich des Strafgesetzbuches selbst. Hier konnten wir davon ausgehen, dass straf­rechtlich verantwortliche Bürger sehr wohl wissen, dass Diebstahl, Körperverletzungen, Mord und Totschlag usw. strafbar sind.

Soweit einzelne Bürger bzw. Straftäter sub-jektiv bestimmte Strafbestimmungen des DDR-Strafgesetzbuches nicht für rechtens, nicht für sie für verbindlich ansehen wollten, wie z. B. den ungesetzlichen Grenzübertritt oder Spionage oder andere staatsfeindlicher Handlungen, handelte es sich darum, dass diese Personen sich - auch in ihren Rechts­vorstellungen - bewusst außerhalb der Rechts­ordnung der DDR stellten. Solches konnte natürlich nicht zu ihren Gunsten berücksich­tigt werden.

Aufgrund dessen sahen wir damals keine Not­wendigkeit, eine Bestimmung über den Ver­botsirrtum zu schaffen.

Bei den Beratungen des Großen Senats für Strafrecht des Bundesgerichtshofs im Jahre 1952 über den Verbotsirrtum ging es insbe­sondere um die Voraussetzungen der Ver­meidbarkeit des Verbotsirrtums, die Einsicht, Unrecht zu tun, wie es dann im § 17 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches geregelt wur­de. War dieser Irrtum vermeidbar, war der Täter schuldig; war dieser Irrtum für ihn nicht vermeidbar, so handelte er ohne Schuld und blieb straflos

Diese Theorie über die Voraussetzung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums hat im übrigen in der bundesdeutschen Rechtspre­chung dazu beigetragen, dass Naziverbrecher ungeschoren davonkamen. Bei ihnen wurde angenommen, dass ihr Irrtum über das Verbo­tensein von Handlungen auf dem Hintergrund der NS-Gesetzgebung und der NS- Praxis für sie unvermeidbar war („Irrendes Gewissen“!). Sie blieben straflos, allenfalls wurden sie milde bestraft.

Bei DDR-Bürgern, so insbesondere bei Grenz­soldaten, wurde mit anderen Maßstäben gemessen: bei ihnen wurde durchweg, ohne die Lebensumstände und die Persönlichkeitsent­wicklung der Angeklagten in der DDR - unter denen sich auch ganz junge Grenzsoldaten befanden - überhaupt nur in Betracht zu ziehen, Vermeidbarkeit bejaht und damit das Vorliegen eines entschuldigenden Verbotsirr­tums verneint. Daher wurden sie verurteilt. Sie waren eben keine Nazis.

IV. Anstiftung und Beihilfe

Genau so subjektivistisch und damit mit der Gefahr von Willkür belastet sind die bun­desdeutschen Theorien über Anstiftung, mit­telbare Täterschaft, Beihilfe und strafbares Unterlassen.

Obwohl die Strafbestimmung über Anstiftung im Wortlaut der beiden deutschen Strafge­setzbücher fast völlig übereinstimmt und auch in der Bundesrepublik davon ausgegangen wird, dass der Anstifter den Tatentschluss des Haupttäters hervorgerufen haben muss, kommt es zu diametral entgegengesetzten Ergebnis­sen, weil mit dem DDR-Strafrecht fremden Theorien gearbeitet wird. Dazu gehört vor allem die subjektive Teilnahmelehre und die Theorie von der Tatherrschaft.

Übereinstimmend in beiden Rechtsordnungen wird die Auffassung vertreten, dass sich der Anstiftervorsatz sowohl auf die Herbei­führung des Tatentschlusses als auch auf die Ausführung der Haupttat durch den Täter gerichtet haben muss (so genannter doppelter Vorsatz).

Der Unterschied wurde ganz besonders bei der Heranziehung der dem DDR-Strafrecht unbekannten so genannten „Kettenanstiftung“ deutlich. Statt die gesetzlichen Voraussetzun­gen der Anstiftung bei jedem einzelnen Glied der Kette mehrerer Anstiftungen (A stiftet B, dieser C und dieser D an usw) zu prüfen, wurde in pauschaler Weise unterstellt, dass der erste Anstifter - über zahllose weitere Personen, bei denen eine Anstiftung nicht sorgfältig nachgewiesen wurde - letztendlich den letzten Handelnden, den Grenzsoldaten angestiftet habe.

Das entspricht durchaus der bundesdeutschen Rechtsprechung, so des Bundesgerichtshofes, wonach der Anstifter weder die Zahl noch die Namen der Zwischenglieder noch die des Haupttäters gekannt haben muss, wenn er nur eine konkrete Vorstellung (!) von der Haupt­tat gehabt habe.

Nun wird diese Vorstellung von der Haupttat, nämlich der Tötung eines Grenzverletzers durch Schusswaffengebrauch der Grenzsolda­ten, von den bundesdeutschen Richtern an­ders gesehen und verstanden als von den Vorgesetzten der Grenzsoldaten und füh­renden Militärs und Politikern der DDR. Die bundesdeutschen Staatsanwälte und Richter verstanden diese „Haupttat“ als Mord oder Totschlag, während die vorgenannten Vorge­setzten darin einen dem Gesetz entspre­chenden legitimen Schusswaffengebrauch, al­so keine Straftat und insbesondere keinen Mord oder Totschlag sahen.

Wie schon vorstehend erläutert, kommt es vor bundesdeutschen Gerichten nicht darauf an, welche Vorstellungen der Angeklagte zur Tatzeit selbst tatsächlich gehabt hat. Maß­geblich ist vielmehr, welche Vorstellungen der Richter dem Angeklagten zubilligt oder zutraut, was also der Richter meint, welche Vorstellungen der Angeklagte damals gehabt habe, wobei natürlich das Vorverständnis und die Vorurteile des Richters durchschlagen.

In Fällen der Anklage wegen Beihilfe verken­nen die bundesdeutschen Staatsanwälte und Richter, die sich gemäß der noch zu behan­delnden subjektiven Teilnahmelehre nur auf die Abgrenzung der Tatherrschaft konzentrie­ren, weiterhin, dass nach DDR-Recht und      -Rechtslehre die Handlung des Gehilfen für das Handeln des Haupttäters kausal wirksam geworden sein muss, was vor Gericht konkret zu beweisen gewesen wäre, aber stets unter­blieb.

V. Mittelbare Täterschaft

Besonders gravierend ist die Vermessenheit der bundesdeutschen Staatsanwälte und Rich­ter, vor allem des 5. Strafsenats des Bundes­gerichtshofs, beim Umgang mit den Bestim­mungen über die mittelbare Täterschaft. Nach DDR-Recht konnte eine strafbare mittelbare Täterschaft nur dann vorliegen, wenn der un­mittelbar Handelnde (der Grenzsoldat) selbst wegen der betreffenden Tat, einer vorsätz­lichen Tötung, nicht strafrechtlich verant­wortlich war, wenn er überhaupt straflos ge­blieben oder wo möglich nur wegen fahrläs­siger Tötung herangezogen worden wäre.

Nachdem reihenweise einfache Grenzsolda­ten, die in Übereinstimmung mit der Schuss­waffengebrauchsbestimmung des § 27 des Grenzgesetzes von der Schusswaffe Gebrauch gemacht hatten, wegen vorsätzlicher Tötung rechtskräftig verurteilt worden waren, war nach DDR-Recht eine Bestrafung ihrer Vor­gesetzten wegen Tötung in mittelbarer Täter­schaft ausgeschlossen.

Darüber war sich auch das Landgericht Berlin in Sachen Kessler und anderen im klaren, weshalb es keine mittelbare Täterschaft, son­dern - letztlich auch fehlerhaft - „nur“ Anstif­tung angenommen hatte.

Dies gefiel dem 5. Strafsenat des Bundesge­richtshofs nicht. Er war sich zwar auch dar­über im klaren, dass nach der DDR-Be­stimmung über mittelbare Täterschaft die An­geklagten nicht wegen Mittäterschaft verur­teilt werden konnten. Er fand einen „Aus­weg“. In seiner Entscheidung vom 25. 07. 1994 zog er entgegen dem Einigungsvertrag, nach dem DDR-Recht anzuwenden gewesen wäre, die bundesdeutsche Strafbestimmung über mittelbarer Täterschaft heran und verur­teilte die Angeklagten gesetzwidrig wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft.

Im Unterschied zur DDR-Bestimmung war die bundesdeutsche Vorschrift in wesentli­chen Punkten unbestimmter und daher ausle­gungsfähiger. Zwar wird sie im Schrifttum und auch in der bundesdeutschen Spruchpra­xis ganz überwiegend so ausgelegt, wie die DDR-Bestimmung eindeutig lautet.

Aber in einigen Fällen hatte der Bundes­gerichtshof schon zuvor - und ihm zur Seite stehend Prof. Dr. Christian Friedrich Schroe­der (Universität Regensburg, Bundesrepublik) in seinem Buch „Der Täter hinter dem Täter“ - eine „Theorie“ entwickelt, nach der bei kriminell handelnden Managern von Wirt­schaftsunternehmen doch eine mittelbare Tä­terschaft anzunehmen sei. Sie hatten die „Tat­herrschaft“ besessen und waren deshalb als „Hintermann“ Täter. Dabei stürzte man sich auf die in der DDR abgelehnte subjektive Teilnahmelehre, die darauf abstellt, ob der Handelnde die Tat „als eigene wollte“ - dann war er Täter - oder ob der sie „als fremde wollte“ - dann war er nur Gehilfe. Der „Hin­termann“ habe die Tat des unmittelbar Han­delnden als „eigene Tat gewollt“. Deshalb sei er mittelbarer Täter.

Indem die bundesdeutsche Lehre und Recht­sprechung bei der Prüfung eines täterschaft­lichen Handelns gemäß der subjektiven Teil­nahmelehre auf den Willen des jeweiligen Angeklagten abstellt, wird Subjektivismus und Willkür in das Verfahren gebracht. Denn das Vorliegen eines solchen oder eines an­deren Willens bestimmt sich nach der Deu­tung und Wertung des Richters. Der Richter macht den einen zum Täter und den anderen „nur“ zum Gehilfen.

Mithilfe dieser Lehre wurden NS-Verbrecher geschont, indem in ihrem verbrecherischen Handeln, so der Ermordung von KZ-Häft­lingen, ein Handeln für einen anderen, den „Führer“, gesehen wurde. Sie hätten, so deu­tete man es, ihre Tat nicht „als eigene“, son­dern „als fremde“ gewollt. Daher waren sie nur Gehilfen und nicht Täter (das war nur der „Führer“). In betreffenden Fällen wurde das unter „Beihilfe“ laufende Verfahren wegen inzwischen eingetretener Verjährung einge­stellt. Der Haupttäter, der Führer, war ja tot.

Dieses Willkür fördernde subjektivistische, in der DDR abgelehnte Konstrukt wurde in je­nem Verfahren gegen Kessler und andere praktiziert und in der Folgezeit ebenfalls gegen führende Militärs und Politiker der DDR zur Geltung gebracht. Das ist schon perfide.4

Mit der auf die subjektive Teilnahmelehre ge­stützten Tatherrschaftslehre wird auf eine „Tatherrschaft“ des „Hintermannes“ abge­stellt, während das DDR-Recht und die Rechts­lehre in der DDR auf die Vornahme von im gesetzlichen Straftatbestand genau beschrie­bener objektiver Ausführungshandlungen ab­stellte und vor Gericht den Beweis derselben forderte.

Ausführungshandlungen von Tötungsdelikten hatten die in diesen Verfahren angeklagten DDR-Bürger zweifellos nicht vorgenommen, auch nicht unter Nutzung eines strafrechtlich selbst nicht verantwortlichen „Werkzeugs“, der Grenzsoldaten. Sie hätten daher nach DDR-Recht und Rechtslehre freigesprochen werden müssen.

VI. Strafbares Unterlassen

Da es in mehreren Fällen schwierig war, den angeklagten DDR-Bürgern ein aktives Han­deln nachzuweisen, das den Tod von Grenz­verletzern nach sich gezogen hätte, war man dazu übergegangen, den Angeklagten ein strafbares Unterlassen bzw. eine Beihilfe durch Unterlassen vorzuwerfen und sie des­wegen zu verurteilen.

Auch insoweit unterließen es die bundes­deutschen Staatsanwälte und Richter, sich an den diesbezüglichen Lehren in unseren Lehr­büchern zu orientieren. Sie blieben bei den ihnen geläufigen bundesdeutschen Lehren und Theorien.

Die Frage der strafrechtlichen Verantwort­lichkeit bei einem strafbaren Unterlassen wirft besondere Probleme der Kausalität auf. Denn ein Nichtstun, ein Unterlassen kann grundsätzlich keine schädlichen Folgen nach sich ziehen; die Unterlassung als Nichtvor­nahme einer Handlung verursacht schlechter­dings nichts. (Hans Welzel spricht vom „Phan­tom einer kausalen Unterlassung“). Es be­durfte daher besonderer Überlegungen und Theorien, aufgrund derer von dem Unter­lassenden ein bestimmtes aktives Tun, ein ak­tives Handeln zu verlangen, zu erwarten war.

In der DDR war ein Unterlassen nur dann strafrechtlich relevant, wenn konkrete, grund­sätzlich schriftlich fixierte Rechtspflichten zum Handeln bestanden; § 9 StGB/DDR ent­hielt eine Definition solcher Rechtspflichten. Wenn jemand gesetzlich oder kraft seiner Stellung rechtlich verpflichtet war, gefähr­liche Folgen abzuwenden, wenn ihm eine Er­folgsabwendungspflicht oblag, dann musste er handeln, so ein Arzt, ein Feuerwehrmann usw.

In der Bundesrepublik wurde eine weniger klare und eindeutige Theorie von einer „Ga­rantenstellung“ entwickelt, aufgrund derer ebenfalls Erfolgsabwendungspflichten ange­nommen wurden. Beim Unterlassen müsse der Täter als „Garant“ für die Abwendung des Erfolgs einstehen. Wem eine solche Garan­tenstellung zugeschrieben wird, nach der er in der betreffenden Situation hätte aktiv handeln müssen, hängt wiederum davon ab, inwieweit der Richter dem Angeklagten eine Garanten­stellung zuordnet, kraft derer er hätte zu Ab­wendung von Gefahren aktiv tätig geworden sein müssen. Dabei kommt auch eine Beihilfe durch Unterlassen in Betracht, sofern dem Gehilfen eine Garantenstellung oblag.

Mit dieser Konstruktion wurde in Verfahren gegen Mitglieder des Politbüros des ZK der SED gearbeitet, indem ihnen vorgeworfen wurde, in diesem Gremium nicht gegen das Grenzregime mit den „Todesschüssen“ und Minen aufgetreten zu sein.

Dabei wurde verkannt, dass Art. 7 der Ver­fassung der DDR auch Politbüromitgliedern die Verpflichtung auferlegte, die Unantast­barkeit der DDR zu gewährleisten. Weiter wurde „übersehen“, dass nach DDR-Recht und -Lehre eine Beihilfe durch strafbares Un­terlassen nur dann zu bejahen gewesen wäre, wenn dieses kausal wirksam wurde. Dahin­gehende Prüfungen unterließen die Gerichte.  

VII. Beweisrecht

Die Untersuchung der Justizpraxis der Bun­desrepublik kann nicht nur auf das materielle Strafrecht beschränkt bleiben. Denn dieses wird erst durch das Prozessrecht lebendig und wirklich. Materielles und formelles Recht stehen, wie bereits betont, in einem engen wechselseitigen Zusammenhang.

Die besten Strafgesetze können durch ein schlechtes Prozessrecht, durch schlechte Ver­fahrensdurchführung, durch schlechtes Judi­zieren pervertiert werden.

Dabei ist zu bedenken, dass die Unterschiede auf dem Gebiete des Prozessrechts zwischen der DDR und der Bundesrepublik noch kras­ser sind als im materiellen Recht. Das StGB der DDR und das der Bundesrepublik ent­halten in weiten Teilen ähnliche Strafbestim­mungen; es wird auch vielfach von ähnlichen Rechtsgrundsätzen ausgegangen, so dem Grundsatz der Gesetzlichkeit bzw. der Ge­setzmäßigkeit, dem Grundsatz nulla poena sine lege.

Demgegenüber weist das bundesdeutsche Straf­prozessrecht, das in seiner Struktur und auch in seinen Regelungen wesentlich dem des 19. Jahrhunderts, also des kaiserlichen Deutsch­lands entspricht, weitgehende Unterschiede gegenüber dem DDR-Prozessrecht auf.

Die Gelegenheit eines demokratischen Neu­anfangs nach 1945 eröffnete die Möglichkeit, die Erfahrungen mit dem traditionellen Straf­prozessrecht in Deutschland zu berücksich­tigen und seit langem bekannte Mängel und Ungereimtheiten zu beseitigen.

Zugleich wurde in der DDR auf eine bürger­nahe, den Bürgern verständliche, volksver­bundenen Rechtspflege Wert gelegt. Zu einer solchen gehörten außer der grundlegend per­sonellen Veränderung der Justiz, insbeson­dere durch Gewinnung von Volksrichtern, die breite Einbeziehung von Schöffen als gleich­berechtigte Richter, die einfachere und über­sichtliche Gestaltung des Ermittlungsverfah­rens, die klarere Stellung des Staatsanwalts, die Festlegung von Bearbeitungsfristen so­wie die Bestimmung, dass das Urteil bereits in der Beratung des Gerichts abgesetzt und abschließend fertig gestellt wird. Dadurch wurde die seit langem kritisierte Diskrepanz zwischen den mündlichen und den schriftli­chen Urteilsgründen ausgeschlossen; außer­dem wurde dadurch eine Beschleunigung des Abschlusses des Verfahrens erreicht.

Im folgenden beschränken wir uns auf zwei wichtige Komplexe des bundesdeutschen Strafverfahrens, nämlich auf das Beweisrecht und das Revisionsrecht, bei denen die Unterschiede zum DDR-Strafverfahren besonders krass und deutlich hervortreten und sich gegenüber dem DDR-Strafprozess als gewich­tige Nachteile für die angeklagten DDR-Bür­ger, als Beschneidung von prozessualen Rechten auswirken.

Was DDR-Juristen von der Praxis des bun­desdeutschen Beweisrechts vor bundesdeut­schen Gerichten erlebten, weitgehend nach­lesbar in den abgesetzten schriftlich vorlie­genden Urteilsgründen, erschien ihnen nicht nur fremd und kaum nachvollziehbar, sondern vielfach - und zwar durchaus begründet - un­vertretbar, ja unerträglich.

Wenn bei dem einen oder anderen DDR-Juri­sten anfänglich noch ein Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der bundesdeutschen Ju­stiz, auch hinsichtlich der beweisrechtlichen Prinzipien und Praxis, bestanden haben mag, das Erlebnis krasser Negierung jeglicher nach­vollziehbarer Beweisführung hat ihnen als­bald die Augen geöffnet.

Zum Beweisrecht in den Prozessordnungen der beiden deutschen Staaten verweise ich auf meinen Beitrag „Beweisaufnahme und Be­weisführung - zu den Unterschieden des Be­weisrechts in der DDR und in der BRD“5

Die Unterschiede des Beweisrechts im Straf­verfahren der DDR und in der Bundes­republik sind gravierend, was bisher, so weit ich es übersehe, sonst noch niemals themati­siert wurde.

In der DDR stand im gesamten Strafverfahren die Aufklärung und Feststellung der objek­tiven Wahrheit des Tatgeschehens im Mittel­punkt. Denn nur auf der Grundlage wahrer Feststellungen können gerechte Urteile ausge­sprochen werden, die einen Wahrspruch dar­stellen. In diesem Sinne heißt es in der Prä­ambel der (zweiten) Beweisrichtlinie des Obersten Gerichts der DDR vom 15. Juni 1988: „Wahre Feststellungen sind die Vor­aussetzung dafür, dass jeder Schuldige, aber kein Unschuldiger strafrechtlich zur Verant­wortung gezogen wird.“

Diese Verpflichtung zur Aufklärung und Feststellung der Wahrheit galt für die Un­tersuchungsorgane, den Staatsanwalt und das Gericht. Der Grundsatz der Aufklärung „von Amts wegen“ war durchgängig. Kein Untersu­chungsorgan, Staatsanwalt oder Gericht konn­te sich hinter Formalien der Beweisführung verstecken, um so die Feststellung der Wahr­heit zu durchkreuzen.

Demgegenüber dominiert, obzwar im § 244 Abs. 2 StPO der Bundesrepublik die Aufklä­rungspflicht des Gerichtes erwähnt wird, das Beweisantragsrecht. Dabei meint der Hinweis auf die Aufklärungspflicht des Gerichts vor­nehmlich - im Unterschied zum angloameri­kanischen Strafprozess - den Amtsermittlungs­grundsatz, der sich von der Parteimaxime des Zivilprozesses unterscheidet.

Danach ist das Strafgericht nicht auf Anträge der Parteien angewiesen. Es hat von sich aus die erforderlichen Beweise zu erheben. Zwar soll dies „zur Erforschung der Wahrheit“ die­nen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass das Gesetz dem Gericht nicht die Aufgabe stellt, die Wahrheit festzustellen. Die Feststellung der Wahrheit ist nach dem bundesdeutschen Strafprozessrecht kein gesetzlich vorgegebe­ner Auftrag.

Auch wenn im Gesetz auf die Erforschung der Wahrheit hingewiesen wird, enthält die genannte Vorschrift - grammatikalisch ein­deutig nachvollziehbar - die Aussage, die Be­weisaufnahme auf alle entscheidungserheb­lichen Tatsachen und Beweismittel zu er­strecken. Das Gesetz betrifft also - als Gegen­stand seiner Aussage - die Reichweite und den Umfang der Beweisaufnahme.

Dem gemäß verlangt die Aufklärung von Amts wegen lediglich, die in Betracht kom­menden Beweismittel in „rechtlich unanfecht­barer Weise“ in die Hauptverhandlung einzu­führen.

Mehr nicht!

Dies ist keineswegs nur zufällig so. Denn so formal wie das ganze Verfahren angelegt ist (so beweist das Protokoll bei Verhandlungen vor den Landgerichten, das kein Wortproto­koll ist, lediglich die Beachtung der Förm­lichkeiten des Verfahrens, aber nicht die in­haltlichen Aussagen von Angeklagten, Zeu­gen usw.), ist auch das bundesdeutsche Be­weisrecht.

Es beschäftigt sich überhaupt nicht damit, wie die Wahrheit erforscht wird, sondern ist formalistisch vornehmlich darauf ausgerich­tet, unter welchen Voraussetzungen seitens der Verteidigung Beweisanträge gestellt und vom Gericht abgelehnt werden können. Das ist dann vor allem für das Revisionsverfahren wichtig.

Der Strafverteidiger, der einen Beweisantrag stellen möchte, darf nicht nur daran denken, ob das im Antrag benannte Beweismittel (Zeuge, Urkunde usw.) seinen angeklagten Mandanten entlasten könnte; er muss vor al­lem darauf achten, dass die Form, die Art und Weise der Formulierung des Beweisantrages im Falle seiner Ablehnung so abgefasst ist, dass sich daraus ein Revisionsgrund herleiten lassen könnte. In gleicher Weise stellt das Gericht bei der Ablehnung eines Beweisan­trages der Verteidigung hinsichtlich der zu wählenden Formulierungen vor allem darauf ab, dass diese vor dem Revisionsgericht als hinreichend anerkannt werden. Dies zwingt beide Seiten zur Verwendung bestimmter stereotyper Formulierungen, die wie bei einer „Pause“ zueinander passen, die unter revisi­onsrechtlichen Gesichtspunkten Bestand ha­ben.

Es geht somit weitgehend nicht um die Wahr­heitsfeststellung selbst, sondern - so weit das Gericht nicht von sich aus nach dem Amtser­mittlungsgrundsatz handelt - um einen „Schlag­abtausch“ in Formalien, um eine von der eigentlich gebotenen Aufklärung des Sach­verhalts abgesetzte parallele justizielle Veranstaltung, um ein prozessuales Florettge­fecht, hinter dem sehr oft die Wahrheitsfest­stellung verschwindet.

All so etwas kannte das DDR-Prozessrecht - und zwar sowohl im Zivil- wie auch im Straf­verfahren - schon vom Grundsatz her nicht.

In der DDR stand die Wahrheit, die Er­mittlung und Aufklärung des kriminellen Tatgeschehens im Mittelpunkt. Denn nur wenn die Wahrheit über dieses Tatgeschehen festgestellt worden ist, kann ein richtiges Urteil ergehen.

Deshalb verpflichtete die Strafprozessord­nung der DDR, die Wahrheit festzustellen, wie dies im § 8 als Grundsatzbestimmung festgelegt ist.

In diesem Sinne sind auch die unter Mit­wirkung der Strafrechtswissenschaft der DDR ausgearbeiteten beiden Beweisrichtlinien des Obersten Gerichts beispielhaft.

In der DDR meinte man die Wahrheit selbst, in der Bundesrepublik geht es vielfach vor allem um Formalien des Beweisrechts.

Demgegenüber setzt eine Aufklärungspflicht des bundesdeutschen Gerichts erst ein, wenn die Umstände unter Berücksichtigung der Sachlage, einschließlich der Akten, „dazu drän­gen“ oder „nahe legen“, von einem be­stimmten Beweismittel Gebrauch zu machen.

Die gesetzliche Aufklärungspflicht des § 244 Abs.2 StPO ist somit auf die Nutzung be­stimmter Beweismittel ausgerichtet, auf die die Aufklärung zu „erstrecken“ ist.

Dem gemäß steht - wie bereits erwähnt - im bundesdeutschen Strafprozessrecht und in der Praxis der Strafverfahren das Beweisantrags­recht im Vordergrund, was insbesondere für die Tätigkeit der Verteidigung außerordentli­che Bedeutung hat.

Über Beweisanträge der Parteien ist zu ent­scheiden. Eine Ablehnung des Beweisantra­ges durch Gerichtsbeschluss ist nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen des § 244 StGB zulässig und bedarf einer entsprechen­den Begründung.

Demgegenüber stehen Beweisanregungen und Beweisermittlungsanträge „unterhalb“ der Be­weisanträge und können daher ohne ent­sprechenden Beschluss negiert bzw. miss­achtet werden. Beliebt ist auch, ordentliche Beweisanträge als bloße Beweisanregungen und Beweisermittlungsanträge abzuqualifizie­ren, weil sie - nach Ansicht des Gerichts - lediglich in die Form eines Beweisantrages „gekleidet“ seien, das Gericht aus seiner sub­jektiven Sicht meint, der betreffende Beweis­antrag sei nur ein zum Schein gestellter Be­weisantrag!

Das Kernstück des Beweisrechts nach dem bundesdeutschen Strafrecht ist der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gem. § 261 StPO, mit der die aus dem Mittelalter über­kommenen formalen Beweisregeln beseitigt wurden. Seither ist diese Vorschrift zu einer kaum einer Überprüfung und Kontrolle zu­gänglichen richterlichen Freiheit der Beweis­würdigung mutiert, die auch im Revisions­verfahren nicht überprüft werden kann.

Der Zusammenhang - besser das Zusammen­spiel - von Aufklärungspflicht gem. § 244 Abs. 2 StPO und freier Beweiswürdigung gem. § 261 StPO stellt sich folgendermaßen dar:

Wenn das Gericht (selbst) ohne Vorbehalt von einem bestimmten Sachverhalt überzeugt ist, liegen ihm weitere Beweiserhebungen fern. Wenn dann - seitens der Verteidigung - Beweisanträge gestellt werden, muss das Ge­richt über diese entscheiden, wobei es davon ausgehen wird (da es von einem bestimmten Sachverhalt bereits überzeugt ist), dass diese nicht benötigt werden. Nun muss das Gericht nur noch einen „gesetzlichen Grund“ finden, sie abzulehnen.

Die Rüge (sog. Aufklärungsrüge), der Richter hätte - ohne weitere Beweiserhebung - (noch) nicht von dem betreffenden Sachverhalt über­zeugt sein dürfen, geht (im Revisionsver­fahren) angesichts der freien Beweiswürdi­gung gem. § 261 StPO  fehl; sie bleibt  regel­mäßig erfolglos.

Im übrigen verlangt das bundesdeutsche Be­weisrecht keine Wahrheitsfeststellung, son­dern lediglich eine Wahrscheinlichkeit, ein Für-wahr-halten des Gerichts; es genügt, dass das Gericht subjektiv von dem überzeugt ist, was es in seinem Urteil als „tatsächliche Feststellungen“ festschreibt !

Diese richterliche Freiheit der Beweiswür­digung ist von der Wissenschaft der Bun­desrepublik augenscheinlich relativ wenig be­arbeitet und untersucht worden, offensichtlich deshalb, weil die freie Beweiswürdigung die Domäne des Strafrichters ist - ganz so wie die Strafzumessung, die dem Richter zusteht, über Jahrzehnte von der wissenschaftlichen Untersuchung ausgespart blieb.

Jedenfalls gilt: Dass strafrechtliche Urteile nicht mit der historischen Wahrheit, d.h. auch mit der Realität des strafrechtlichen Gesche­hens, übereinstimmen, hat noch nie daran ge­hindert, dass solche Urteile rechtskräftig wur­den.

VIII. Revisionsrecht

Die Konstruktion und Konzeption des bun­desdeutschen Beweisrechts muss im Zusam­menhang mit dem bundesdeutschen Revisi­onsrecht und seiner Praxis gesehen werden.

Nach dem traditionellen und dann auch im bundesdeutschen Strafprozessrecht ist die Re­vision ein Rechtsmittel gegen erstinstanzliche und auch zweitinstanzliche Urteile des Land­gerichts; je nach dem ist dann das Oberlan­desgericht (in Berlin das Kammergericht) oder der Bundesgerichtshof das Revisionsgericht.

Die Besonderheit der Revision besteht darin, dass dieses Verfahren grundsätzlich auf die Überprüfung von Rechtsfragen beschränkt ist. Das Revisionsgericht ist keine Tatsachen­instanz, die Feststellungen des Tatrichters werden grundsätzlich nicht überprüft.

In der DDR gab es auf Grund der Er­fahrungen mit dem früheren deutschen Pro­zess- und insbesondere Revisionsrecht seit dem Erlass der ersten Strafprozessordnung der DDR im Jahre 1952 das Rechtsmittel der auf Rechtsfragen beschränkte Revision nicht mehr. Gegen Urteile stand dem Angeklagten das Rechtsmittel der Berufung, dem Staats­anwalt das des Protestes zu. In der Be­rufungsinstanz wurde auch der Sachverhalt vollständig überprüft.

Wegen des Revisionsrechts in der Bundesrepublik ist für die Abfassung der erstinstanzlichen Urteile wichtig, dass sie revisionssicher abgefasst sind, wofür die Gerichte seit 1975 mehr Zeit haben als zuvor, als sie diese Urteile binnen einer Woche abzusetzen hatten, und zwar je nach Dauer der Hauptver­handlung viele Wochen oder Monate.

Da kein Wortprotokoll vorliegt und gefertigt wurde, hängt die Fixierung des Sachverhalts, der „tatsächlichen Feststellungen“ davon ab, was sich die Richter persönlich aus der Be­weisaufnahme notiert haben oder was – nach Monaten - in ihrem Gedächtnis festgehalten blieb.

Solches eröffnet die Möglichkeit, das Urteil, so weit es den in der Hauptverhandlung festgestellten Sachverhalt in den „tatsächlichen Feststellungen“ wiedergibt, von vornherein so abzufassen, in Formulierungen so auszudrücken, dass es für das Revisionsgericht nicht angreifbar ist.

Dem entspricht, dass verschiedene stereotype Wendungen (auch des materiellen Rechts) verwendet werden. Als Adressat solcher Ur­teile versteht und anerkennt das Revisions­gericht diese, wenn sie dem üblichen juri­stischen Sprachgebrauch entsprechen.

Die schriftlich abgesetzten Urteile sind aus­schließlich an das Revisionsgericht adressiert. Außer diesem erhalten es lediglich Staatsan­waltschaft und Verteidigung. Für die Öffent­lichkeit ist, so weit sie an den Ergebnissen des Verfahrens interessiert ist, die mündliche Begründung der Entscheidung des Gerichts relevant. Aber diese mündliche Begründung gelangt nicht zum Revisionsgericht; sie findet sich auch nicht in den Akten. Sie ist justiziell belanglos, justizielle Propaganda und PR-Lei­stung, ein „ Geschwätz“ für die Öffentlichkeit ohne jede juristische Relevanz.

Juristisch bedeutsam und von Gewicht ist ausschließlich das dann schriftlich abgesetzte, revisionssicher formulierte Urteil, das für das Revisionsgericht geschrieben ist.

So erklärt sich auch die eigenartige Praxis, dass der Staatsanwalt und der Angeklagte, der (letzterer über seinen Verteidiger) Revision einlegen möchte, dies binnen einer Woche erledigen muss. In dieser einen Woche lässt das Gericht die Akten liegen und wartet ab, ob Revision eingelegt wird. Wird keine Revision eingelegt, muss man sich mit der Abfassung des schriftlichen Urteils keine Mühe machen; es hat ohnehin keine praktische justizielle Bedeutung mehr und wird nur noch für die Akten geschrieben, auch wenn es der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger zuge­stellt wird - für deren Akten.

Nach einer Woche weiß das Gericht, ob es sich auf eine Revision seines Urteils ein­stellen und nun sehr sorgfältig revisionssicher formulieren muss.

Für das bundesdeutsche Strafverfahren ist charakteristisch, dass zunächst das verkün­dete Urteil nur mündlich begründet wird. Später, oft Monate später, - sofern gegen das Urteil binnen einer Woche ein Rechtsmittel eingelegt wurde - wird ein für höhere Instan­zen geschriebenes revisionssicheres schriftli­ches Urteil abgesetzt. In diesen schriftlichen Urteilsgründen wird für die höhere Instanz sorgfältig, revisionssicher, formuliert. Daher sind solche Urteile für juristische Laien auch kaum verständlich. Die bundesdeutsche Justiz interessiert auch überhaupt nicht, ob der An­geklagte, die Hauptperson des Verfahrens, das Urteil versteht oder nicht. Die Urteile werden mit Blick auf die höhere Instanz, also mit „Blick nach oben“, abgefasst, ganz so wie sich - nachvollziehbar - die gesamte Rechtsprechung (und bereits die juristische Ausbildung) maßgeblich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung, an der „herrschenden Meinung“ (h. M.) orientiert.

Es erscheint daher nicht abwegig, - mit Brehm in der Festschrift für Ekkehard Schumann - davon zu sprechen, dass „der Richter der un­teren Instanzen nicht die Frage (stellt), was Recht ist, ... sondern fragt, ob sein Urteil in der oberen Instanz halten wird. ...“ Das bedeutet, dass er die Rolle „des“ - NB unabhängigen !! - „Richters verlässt und wie ein untergeordne­ter Beamter handelt, den vorrangig interes­siert, was wohl der Vorgesetzte denkt“, ... so dass von „Beamtengerichten“ zu sprechen sei....

Es bedarf keiner näheren Begründung, dass die zuverlässige Feststellung des Tatgesche­hens um so schwieriger wird, je größer der zeitliche Abstand zwischen der Tat und der Beweisaufnahme in der maßgeblichen ge­richtlichen Hauptverhandlung ist.

In der DDR wurden nicht nur die Ermitt­lungen zügig durchgeführt und innerhalb ent­sprechender gesetzlicher Fristen (§ 103 StPO/ DDR) zum Abschluss gebracht, auch die ge­richtlichen Strafverfahren lagen innerhalb der gesetzlichen Fristen (§ 203 Abs.3 StPO/ DDR). Daher war es auch aus diesem Grunde eher möglich, die Wahrheit festzustellen als heutzutage, wo oft Jahre vergehen, bis über den Tatvorwurf vor Gericht verhandelt wird und deshalb gar nicht so selten auch eine Verletzung des Menschenrechts auf Einhal­tung einer angemessenen Frist (Art. 6 Abs.1 EMRK) zu rügen ist.

Wenn zwischen der Tat und der maßgeb­lichen Beweisaufnahme - unter Umständen sogar nach Zurückverweisung durch das Re­visionsgericht an die erste Instanz - Jahre, manchmal um die zehn Jahre vergehen und wenn dann nicht hinreichende objektive Be­weismittel gesichert wurden, so dass alles von Zeugenaussagen abhängt, liegt die Unsicher­heit der Wahrheitsfeststellung auf der Hand. Manche Zeugen sind nicht mehr erreichbar, andere Zeugen können sich nicht mehr zu­verlässig erinnern; soweit sie vor vielen Jah­ren vor der Polizei Angaben gemacht haben und ihnen diese jetzt in der Beweisaufnahme vor Gericht vorgehalten werden, wird entge­gen allen Prozessprinzipien die damalige po­lizeiliche Zeugenvernehmung zum maßgebli­chen Beweisstück, zumal das Protokoll dieser Zeugenvernehmung sich vollständig in den Akten befindet, während eine Zeugenaussa­ge in einer früheren Hauptverhandlung nir­gends schriftlich fixiert ist.

Das Protokoll der Vernehmung durch die Polizei erlangt so ein unvertretbares Überge­wicht. Solches ist vor allem deshalb so be­denklich, weil nicht wenige polizeiliche Ver­nehmungen in einer kaum noch dem Gesetz entsprechenden Weise, wenn nicht direkt ge­setzwidrig, ohne Anwesenheit Unbeteiligter, insbesondere eines Rechtsanwalts, durch­ge­führt werden.

Derartige Probleme gab es in der DDR schon deshalb nicht, weil die Urteile bereits wäh­rend der Beratung des Gerichts abgesetzt, schriftlich ausformuliert worden sein muss­ten, um dann öffentlich verkündet zu werden. Hier war kein Raum mehr dafür, sich mit der Abfassung der Urteilsgründe entweder über­haupt keine Mühe machen zu müssen, weil die Sache nicht in die Revision geht, oder sich auf die Ausformulierung einer revisions­sicheren Urteilsbegründung zu konzentrieren.

In der BRD ist die freie Beweiswürdigung durch den Tatrichter selbst - wie bereits be­tont - dem Revisionsgericht grundsätzlich nicht zugänglich und von diesem grundsätz­lich nicht überprüfbar. Sie interessiert nur unter dem Aspekt der Grenzen der freien Beweiswürdigung, der Begrenzung derselben, so unter dem Gesichtspunkt, ob das Gericht noch weitere Beweise hätte erheben müssen.

Die Hauptsache, nämlich, ob die tatrichter­liche Beweiswürdigung zutreffend ist, ob sie dem Gebot der Wahrheitserforschung ent­spricht, wird vom Revisionsgericht grundsätz­lich nicht überprüft. Dem Revisionsgericht genügt das Feststellen eines subjektiven Für-wahr-haltens des Tatrichters, das grundsätz­lich nicht überprüfbar ist.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache und Erfahrung, dass die Richter in ihren „tatsächliche Feststellungen“ in den Ur­teilsgründen das wiedergeben, was sie sub­jektiv meinen, was von den Angeklagten und Zeugen gesagt worden sei. Erfahrung vor bundesdeutschen Gerichten ist indessen, dass sich die Einlassungen von Angeklagten und Zeugen in den gerichtlichen „tatsächlichen Feststellungen“ des Öfteren unvollständig, entstellt oder schlicht  falsch  wiederfinden.

Aber was in diesen „tatsächlichen Feststel­lungen“ steht, ist unverrückbar und unangreif­bar, auch wenn es tatsächlich falsch ist. Zu oft sind diese nicht mehr angreifbaren „tatsäch­lichen Feststellungen“ der Tatgerichte, auf denen die Verurteilung beruht, objektiv falsch, unwahr.

Aber der Tatrichter entscheidet über das Er­gebnis der Beweisaufnahme „nach seiner freien, aus dem Inbegriff (?!) der Verhand­lungen geschöpften Überzeugung“. Wie er zu dieser Überzeugung gelangt, bleibt weitge­hend im Dunkeln.

Wo objektive Beweismittel  fehlen, es für die freie Beweiswürdigung auf subjektive Be­weismittel und auf ihre subjektive Deutung, auch die subjektive Deutung der Glaubwür­digkeit der Einlassung, ankommt, darf von der bundesdeutsche Strafjustiz nicht erwartet werden, dass die objektive Wahrheit des Tat­geschehens festgestellt wurde, dass Wahr­sprüche ergehen.

In die freie Beweiswürdigung fällt auch, wie bestimmte Einlassungen von Angeklagten und Zeugen beurteilt werden. Bestimmten Zeugen wird von vornherein mit besonderem Misstrauen begegnet, ihre Glaubwürdigkeit bezweifelt; ihre Einlassungen werden von vornherein als unzutreffend abgetan. Das Vorverständnis, oft ein politisches Vorurteil der Richter ist nicht zu übersehen, oft nicht einmal zu überhören.

Diese „freie Beweiswürdigung“ des Tatrich­ters wirkt sich besonders auf die Feststellung innerer Tatsachen, also hinsichtlich des Wis­sens und Wollens des Täters bzw. des An­geklagten, seiner Motive und Absichten, aus. Der Tatrichter „stellt fest“, und zwar nach seiner subjektiven Vorstellung nach seinem Vorverständnis oder Vorurteil, unangreifbar und unverrückbar, aus welchen Gründen und mit welchen Absichten der Angeklagte ge­handelt habe. Dabei muss der Richter in den Urteilsgründen nicht einmal darstellen, aus wel­chen objektiven Tatsachen er den Schluss auf die maßgeblichen inneren Tatsachen zieht. Es genügt die schlichte Behauptung des Tatrich­ters, dass - nach seiner Meinung - Vorsatz oder Absicht vorgelegen haben. Faktisch wer­den auf diese Weise entscheidungserhebliche innere Tatsachen, wie Vorsatz, Absicht oder Motiv, vielfach unterstellt. Die Freiheit der Beweiswürdigung des Tatrichters steht über der Wahrheit.

Die Überprüfungsmöglichkeiten im Revisi­onsverfahren beschränken sich darauf, dass der Tatrichter gegenüber dem Revisionsge­richt seinen Denkvorgang, seine Denkvoll­züge in den schriftlichen Urteilsgründen so darstellt, dass diese nicht all zu offensichtlich den „Denkgesetzen“ zuwiderlaufen. Dabei genügt, dass die Schlussfolgerungen des Tat­richters „als möglich, wenngleich nicht als zwingend“ angesehen werden können. So le­sen wir es in den Formulierungen der Urteile  der Tatrichter. Selbstverständlich haben die Richter gelernt, ihre (wirklichen oder vorge­gebenen) Denkvollzüge so darzustellen, dass das Revisionsgericht daran keinen Anstoß nimmt. Sie haben es eben gelernt, Urteile re­visionssicher abzusetzen.

Aus dem Dargestellten folgt, dass es bei der gegen betreffende Urteile eingelegten Revi­sion ganz wesentlich um Verfahrensrügen geht, insbesondere um Aufklärungsrügen oder Rügen fehlerhafter Behandlung von Beweis­anträgen usw., also überhaupt nicht direkt um die Frage, inwieweit das angegriffene Urteil auf wahren oder unwahren Tatsachenfest­stellungen beruht, ob es sachlich richtig oder falsch ist. Denn diese sind mit der Revision nicht angreifbar.

Beweisanträge der Verteidigung werden viel­fach von den Gerichten nach allen Regeln der juristischen Kunst möglichst abgelehnt, damit das Gericht sich nicht mit den unter Beweis gestellten Tatsachen und den dazu angebo­tenen Beweismitteln im Urteil auseinander­setzen muss. Es genügt und ist dem Gericht genehmer, Beweisanträge in einer Art und Weise der Begründung abzulehnen, die vom Revisionsgericht voraussichtlich akzeptiert wird.

Dazu gehört vor allem die Behauptung der Bedeutungslosigkeit des angebotenen Bewei­ses, die behauptete Unerreichbarkeit von Zeu­gen oder Beweismitteln sowie die - für das Gericht mitunter gefährliche - Wahrunterstel­lung, wodurch vermieden und ausgeschlos­sen wird, dass das betreffende Beweismittel vor Gericht gebracht werden bzw. der betref­fende Zeuge gehört werden muss.

Auch die Ablehnung von Beweisanträgen mit revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Begründungen haben die bundesdeutschen Richter gelernt, was überdeutlich an der flos­kelhaften Verwendung bestimmter Stereotype in den betreffenden Gerichtsbeschlüssen ab­zulesen ist. Besonders leicht fällt den Gerich­ten die Ablehnung von Beweisanträgen, wenn diesen ein formeller Mangel anhaftet.

Der formelle Mangel eines Beweisantrages steht im bundesdeutschen Strafprozess über der Wahrheit, über dem Erfordernis der Fest­stellung der Wahrheit.

Jedenfalls zeigt sich sehr deutlich: Wenn das Gericht ein gewisses Beweisthema oder ge­wisse Beweismittel nicht haben, nicht in die Beweisaufnahme einführen möchte, überbür­det es der Verteidigung die Beweislast, indem es die Verteidigung nötigt, Beweisanträge zu stellen.

Im Ergebnis dieser Erörterungen erscheint es nicht übertrieben zu sagen: das bundesdeut­sche Beweis- und Revisionsrecht bewirkt – selbst wenn ungewollt und unbeabsichtigt – vielfach die Verhinderung der Aufklärung der Wahrheit des Tatgeschehens und folglich, dass es zu Fehlurteilen, zu Unrechtsurteilen kommt – auch und gerade gegenüber ange­klagten DDR- Bürgern.

 

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Ein Briefwechsel von Hanfried Müller mit Erich Buchholz

zum Thema Justiz und Klassenfragen

von Hanfried Müller

Lieber Herr Buchholz,

solidarisch und mit großem Respekt wie si­cher auch die meisten Leser der WBl verfolge ich die unermüdlichen Anstrengungen von Ih­nen und erfreulich vielen anderen soziali­stischen Juristen, gesetzestreue DDR-Bürger auf dem Felde der Rechtsprechung in vielen Prozessen gegen ihre Kriminalisierung durch die bundesdeutsche Justiz zu verteidigen. Daß solche Verteidigung beim „positiven“, soll heißen, beim, ob zu Recht oder Unrecht, jeweils geltenden, Recht ansetzen muß, wenn sie vor Gericht wirksam werden soll, ist dabei natürlich auch dem Laien auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft klar.

Aber ich habe den Eindruck, daß ihm diese Konzentration auf das positive Recht - auf das obsolet gewordene eigene sozialistische und auf das als „Fremdjustiz“ wirksam ge­wordene - oft das Verständnis erschwert. Der Streit, welche rechtlichen Normen dabei jeweils zu Recht oder Unrecht und mit welchem Vorverständnis angewandt werden, wirkt ermüdend auf ihn; das Wesen der Gegensätze vermag er oft mehr zu ahnen als zu erkennen, und so verzichtet er darauf, der Argumentation im Einzelnen verständnisvoll zu folgen. Und insbesondere „hängt er ab“, wenn es um die Frage geht, welche Widersprüche in der Rechtssystematik beziehungsweise Rechtsdogmatik hinter diesen positiv-recht­lichen Normen sogar dann stehen, wenn diese im Wortlaut übereinstimmen. Er denkt ja viel mehr von daher, was ihm als recht und gerecht erscheint, als im Blick darauf, was warum als Recht gelten soll.

Ich denke, man könnte diesen Laien auf juristischem Gebiet, zu denen ich mich auch selber zähle, den Zugang zu der Problematik, die in unzähligen Prozessen gegen gesetzes­treue DDR-Bürger wegen ihres in der DDR legitimen Verhaltens eine Rolle spielt, das Verständnis erleichtern, wenn einmal ein Fachjurist deren historischen und sozial-öko­nomischen Gründe und Hintergründe kurz aufzeigte. Eben darum möchte ich Sie bitten!

Dabei scheint mir das Problem der „Fremd­justiz“ mehrschichtig zu sein, je nachdem, ob es nur um die Fremdheit zwischen territorial-landesgeschichtlich unterschiedlich ausge­prägten Rechtstraditionen oder um die Fremd­heit zwischen etablierten Rechtssystemen und deren rebellischer Durchlöcherung oder um die Fremdheit zwischen Rechtssystemen sozi­alökonomisch gegensätzlich strukturierter Ge­sellschaftsordnungen geht.

1.

Zum einen scheint es sich mir um die verhältnismäßig banale Frage zu handeln, wie der Übergang von einer territorialen Rechts­ordnung zu einer anderen so zu vollziehen ist, daß beiden (oft auch in der Formulierung) gemeinsame allgemeine Rechtsregeln, wie z. B. das Verbot der Rückwirkung von straf­rechtlichen Gesetzen, geachtet werden. Dies Problem hat sich ja schon oft, zum Beispiel bei den zahlreichen politischen Grenzverschie­bungen zwischen sozialökonomisch gleich strukturierten, sprich bürgerlichen, Staaten in der europäischen Geschichte ergeben. Man denke etwa an die Verschiebungen der deutsch-französischen Grenze im Blick auf Elsaß-Lothringen oder im Blick auf das Saarland.

Dabei wurden dann eben Gauner und Diebe, oder auch Gewalttäter und Mörder nach der Regel bestraft, daß das zur Tatzeit mildere Recht - ob es nun im okkupierenden oder ok­kupierten Territorium gegolten hatte - ange­wandt wurde. Problematisch konnte das al­lenfalls hinsichtlich der sozialen Folgen der Tat werden, z. B. bei der gesellschaftlichen Reintegration von Straftätern im Allgemeinen oder speziell dort, wo etwa ein spezifisches Beamtenrecht dazu führte, daß die eigentliche Strafe existenzgefährdend verschärfte Folgen hatte.

2.

Zum anderen aber habe ich den Eindruck, daß hinter den Konflikten in Strafrechtsfragen, die mit der Annexion der DDR durch die BRD entstanden sind, ein viel gravierenderes Problem steht, nämlich daß es sich dabei nicht um eine Grenzverschiebung zwischen Staaten grundsätzlich gleicher Gesellschafts­ordnung handelt, sondern um eine solche, die in der Rückeroberung eines in einer revoluti­onären Entwicklung verlorenen Gebietes wur­zelt, so daß nun nicht nur national oder ter­ritorial unterschiedlich kodifizierte, in ihrem sozialökonomischen Klassencharakter aber kommensurable Rechtordnungen aufeinander stoßen, sondern Rechtsordnungen, die in ge-gensätzlichen sozialökonomischen Systemen verankert und darum in ihrem gesellschaftlich wesentlichen Gehalt nicht miteinander kom­mensurabel sind.

Dabei ergibt sich dann das von Ihnen im Blick auf konkrete Prozesse schon mehrfach angesprochene Problem, daß ein noch nicht spezifisch juristisches, sondern gesellschaft­lich allgemeines „Vorverständnis“ dessen, was überhaupt Recht sei, beim Verständnis der kodifizierten Normen gegensätzlich wirkt.

Um es an einer mir wesentlich erscheinenden, wenn nicht grundlegenden Frage zu erläutern: Nach bürgerlichem Verständnis ist insbeson­dere aus fremder Arbeit gewonnener und ak­kumulierter Mehrwert legitimes „Privat“-Ei­gentum, nach sozialistischem Verständnis aber sind nur durch eigene Arbeit geschaffene Werte legitimes „persönliches“ Eigentum.

Für das Strafrecht allerdings dürfte diese In­kommensurabilität solange eine geringere Rol­le spielen, wie es darin um - ich würde sa­lopp sagen - „banale“ Kriminalität geht, das heißt um ein gesellschaftswidriges Handeln, das unter kapitalistischen wie sozialistischen Verhältnissen insofern asozial ist, als entwe­der die Interessen des gesamten Gesellschafts­systems oder in dessen Interesse geschützte individuelle Interessen geschädigt werden.

Schon hier müßte allerdings meines Erach­tens die Frage berücksichtigt werden, inwie­weit Juristen die Rechtsordnung einer sozial-ökonomisch anders strukturierten Gesell­schaft zu begreifen, d.h. nicht nur allenfalls intellektuell nachzuvollziehen, sondern aus ihrem Wesen heraus zu verstehen vermögen.

Ich habe den Eindruck, daß solche Verständ­nismöglichkeit nur einlinig möglich ist: Zwar können sozialistische Juristen bürgerliches Recht - nicht im Sinne von Zivilrecht im en­geren, sondern im Sinne von bourgeoisem Recht im weiteren Sinne - verstehen, und zwar darum, weil vergangene Gesellschafts­formationen in den über sie hinausgegange­nen im historischen Rückblick als eigene Vorgeschichte „aufgehoben“ und so begreif­lich sind. Andererseits aber können bürger­liche Juristen eine sozialistische Rechtsord­nung in diesem Sinne nicht verstehen, weil solches Verständnis ihren Klassenhorizont sprengen und sie also aus bürgerlichen zu so­zialistischen Juristen machen würde. An die­sem Punkt ist, wie ich vermute, bei den bür­gerlichen Juristen, die jetzt über sozialistische „Täter“ urteilen, neben allerlei Dummheit und Bosheit auch viel - historisch gesellschaft­lich begründete - Ignoranz im Spiel.

3.

Ungemein viel härter aber scheinen mir die Widersprüche im Rechtsbewußtsein zwischen bürgerlich-imperialistischen Anklägern und Rich­tern und sozialistischen Angeklagten und ih­ren Verteidigern auf einem Gebiet zu sein, von dem man sich zunächst fragen muß, wie es eigentlich zum Gegenstand juristischer „Vergangenheitsbewältigung“ geworden ist, nämlich auf dem Gebiet der sogenannten „Regierungskriminalität“. Dadurch also, daß der annektierende Staat die sogenannten „Ho­heitsträger“ des annektierten Landes seinem Recht unterwirft, ohne deren in ihrem Her­kunftslande geregelte besondere Rechtsstel­lung zu berücksichtigen, indem er also etwa dort in Wahrnehmung von Hoheitsrechten pflichtgemäß vollzogene Freiheitsbeschrän­kungen als „Freiheitsberaubung“ kriminali­siert oder solche Verletzungen und Tötun­gen, die dort nicht nur nicht verboten, son­dern geboten, gesetzlich sanktioniert waren, als kriminelle Handlungen verfolgt. De facto verletzt er damit das Rückwirkungsverbot ebenso, wie es z. B. ein Staat täte, der, nachdem er die Todesstrafe abgeschafft hat, Richter und alle, die daran mitgewirkt hatten, wegen Tötungsdelikten verfolgte.

Wenn ich recht sehe - gegebenenfalls bitte ich um Korrektur - wurde dieser Bereich der Exekutive und Jurisdiktion bei der kriegeri­schen oder friedlichen Grenzerweiterung von Staaten in der Regel nicht kriminalisiert. Viel­mehr genügte dem Sieger in aller Regel die Entmachtung der bisherigen Exekutive und die Beschränkung der bisherigen Jurisdiktion auf Delikte in der Vergangenheit. Nur wenn der Entmachtete sich gegen seine Entmach­tung auflehnte, wurde er kriminalisiert, das heißt aber eben nicht rückwirkend. So be­schränkte sich zum Beispiel auch die Anti-Hitler-Koalition nach ihrem Sieg in ihrer Rechtsprechung über deutsche „Hoheitsträ­ger“ vor dem Nürnberger Gerichtshof auf deren völkerrechtlichen Delikte! Und wenn man an die Entstehung des „Einigungsvertrages“ denkt, der ja der Zustimmung aller vier ehemaligen Siegermächte bedurfte, gewinnt man den Eindruck, daß die alte Regel bei Annexionen oder Vereinigung von Staaten ge­wahrt werden und niemand für etwas bestraft werden sollte, wozu er im Bereich der für ihn geltenden Rechtsordnung berechtigt, ja sogar verpflichtet gewesen war. Wodurch aber kam es dann ganz anders, als beim ersten Blick auf den bloßen Wortlaut des „Einigungsvertrages“ allgemein zu erwarten war?

Ich habe den Eindruck, daß es zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses auf Seiten des einen „Vertragspartners“ (besser spräche man von einem Vertrags-Scheinpartner!, denn der Ver­trag wurde ja de facto nur von der Siegerseite formuliert) bereits nichts mehr gab, was man als, sei es sozialistische oder bürgerliche, „Rechtsordnung“ hätte bezeichnen können. Die lokal im Territorium der DDR tobende Konterrevolution verschiedener Observanz von den selbsternannten „Bürgerrechtlern“ bis zu den von Gorbatschow faszinierten SED-Rebellen hatte zunächst (das geschieht ja in Konterrevolutionen nicht anders als in Revolutionen) das „alte Recht“, also das in der DDR geltende sozialistische Recht, so durchlöchert, ohne prinzipiell neues einiger­maßen koinzidentes Recht zu setzen, daß fak­tisch ein Zustand der Anarchie entstanden war, in dem die Straßen widerhallten vom Ruf nach „Rache“ für alles Mögliche, vor al­lem aber für alles Sozialistische und das, was man dafür hielt.

Wegen des Zusammenbruchs des sozialisti­schen Systems, der von der Sowjetunion her auf das Territorium der DDR durchgriff, war eine revoltierende, überwiegend asoziale Min­derheit, die sich die Verwirrung und Passivi­tät einer zielbewußt desorientierten Öffent­lichkeit zunutze machte, nicht mehr zu bändi­gen und leistete dem deutschen Imperialis­mus, der es nicht daran hatte fehlen lassen, diese Revoluzzer anzuleiten und aufzuhet­zen, den unschätzbaren Dienst, den Schein zu erwecken, er entspräche mit der Annexion der DDR nur einem dort manifest gewordenen Volkswillen.

Wahrscheinlich führte der Radau dieser Re­bellion die Machthaber in der BRD, die doch eigentlich wissen mußten, inwieweit sie mit ihren Medien als Lautverstärker deren un­überhörbare Lautstärke bewirkt hatten, zu dem, sich erst sehr langsam aufklärenden, Irr­tum, diese Rebellen repräsentierten authen­tisch das Mehrheitsbewußtsein der DDR-Be­völkerung und also müsse man, um diese dauerhaft in die BRD zu integrieren, die Wünsche dieser Rebellen realisieren.

Diesen alten „Dissidenten“ und neuen Kon­junkturittern aber war ihre wichtigste For­derung die „Bestrafung“ der bisherigen „Funk­tionäre“.

Die Abwendung von der bisher nach Anne­xionen üblichen Behandlung des Problems der Rechtskontinuität initiierte dann der aus westdeutschen Geheimdienstkreisen hervor­gegangene BRD-Justizminister Kinkel mit seiner berüchtigten Forderung, die DDR mit juristischen Mitteln zu delegitimieren. Dieser Aufruf eines Repräsentanten der Exekutive an die Jurisdiktion (er war an „unabhängige“ Richter, nicht etwa an der Exekutive unter­stellte Staatsanwälte gerichtet) war schon als solcher verfassungswidrig, weil er alle Regeln der Gewaltenteilung negierte. Aber er war na­türlich, wenn auch rechtlich illegitim, so doch politisch ungemein wirksam.

Denn je länger desto mehr zeigte sich ein ei­genständiges Interesse der BRD daran, nicht etwa die DDR-Bevölkerung durch wirkliche Gleichbehandlung zu gewinnen, sondern sie großenteils zu kriminalisieren und ihre Füh­rungsschicht eben zu „delegitimieren“. Denn dieser Weg führte viel wohlfeiler und zu­kunftsträchtiger zur Kapitalakkumulation im al­ten westlichen Teil der Bundesrepublik. Zwar war und ist auch die juristische Verfolgung der DDR-Nomenklatura recht kostspielig, aber im­merhin ist sie unendlich viel preiswerter, als es die ökonomische und soziale Gleichstellung der DDR-Bürger mit den BRD-Bürgern gewe­sen wäre; und so werden dann zwar zugun­sten monopolistischer Maximalprofite überall Staatsausgaben reduziert, bezeichnenderweise nicht aber bei der „Gauckbehörde“ und den durch sie initiierten Prozessen.

Dieser wohl für den eingeschlagenen Weg aus­schlaggebende Gesichtspunkt wird erst allmäh­lich offenkundig. Der Abbau aller sozialen, aber auch vieler bürgerlicher Freiheitsrechte, dessen das Kapital in der Gesamt-BRD bei tendenziell weiterhin sinkender Profitrate zur Sicherung seiner Maximalprofite bedarf, ließ sich am leichtesten einführen, wenn man da­mit (nach der Devise: teile und herrsche!) bei dem DDR-Teil der nunmehr gesamtdeutschen Gesellschaft anfing. Mit gesamtdeutscher Soli­darität war aufgrund der Jahrzehnte lang in der BRD betriebenen Anti-DDR-Hetze trotz aller Wiedervereinigungseuphorie im bundesrepu­blikanischen Stammgebiet nicht zu rechnen. Was aber auf diesem Wege an sozialer Si­cherheit und Rechtsstaatlichkeit „im Osten“ bereits beseitigt worden war, stand der zu­künftigen weiteren Demontage von „Sozial­staatlichkeit“ und bürgerlicher Rechtsstaatlich­keit, nunmehr auch „im Westen“ nicht mehr im Wege.

Aber die altbundesdeutschen Bürger beginnen erst jetzt, zu spät, zu bemerken, daß der Weg zum Abbau auch ihrer sozialen Errungen­schaften bei der Behandlung der „ehemaligen DDR-Bürger“ erfolgreich erprobt worden ist.

In der Hoffnung auf eine sachkundige Klä­rung der von mir mehr gewitterten als durch­schauten Probleme grüße ich Sie

Ihr (gez.) Hanfried Müller



Lieber Herr Müller,

Ihr Brief schließt mit dem Satz, dass die alt-bundesdeutschen Bürger zu spät bemerkten, dass der Weg zum Abbau auch ihrer sozialen Errungenschaften bei der Behandlung der ehe­maligen DDR-Bürger erfolgreich erprobt wur­de, wobei - wenn ich hinzufügen darf - der Wegfall der sozialistischen DDR dem Großkapital ein unbegrenztes Wüten beim Abbau des Sozialstaates eröffnet.

In Ihrem Brief erkenne ich folgende Fragen, auf die eine Antwort zu geben ich mich bemühen möchte, auch wenn ich mich nicht in jeder Hinsicht ausreichend kompetent sehe:

1. Das Verhältnis von Recht und geschriebenem Gesetz, dem „positiven“ Recht, unter Berücksichtigung Ihrer Bemerkung, dass den juristischen Laien eher beschäftigt, was recht und gerecht sei, als warum etwas als Recht gilt.

2. Die unterschiedliche Anwendung im Wort­laut gleicher Rechtsvorschriften und ob DDR-Juristen das bundesdeutsche Recht eher zu verstehen vermögen als umgekehrt bundesdeutsche Juristen das DDR-Recht. Hierzu ist auf den substanziellen Unterschied zwischen dem Recht der DDR und dem bundesdeutschen Recht einzugehen.

3. Der Übergang von einer Rechtsordnung in eine andere, was nur ein Folgeproblem der Staatennachfolge ist; hierzu gehört die von Ihnen angesprochene „Rückeroberung eines in seiner revolutionären Entwicklung verlorenen Gebietes“, das Thema Konterrevolution und Annexion.

Zu 1:

Ich sehe in der historischen Entwicklung des ungeschriebenen Rechts zum geschriebenen positiven Recht, zum Gesetz, einen kulturgeschichtlichen Fortschritt.

Unter frühen, altertümlichen Verhältnissen, in denen das jeweilige durch Gewohnheit und Übung gewordene Recht in einer überschaubaren sozialen Gemeinde (so auch noch in der polis des griechischen Altertums) galt, war auf Grund gemeinsamer Erfahrung und Überzeugung recht klar, was als Recht verstanden wurde, und dieses wurde auch mit weitgehender Billigung der Gemeinschaft angewandt.

Je mehr sich jedoch mit der ökonomischen und politischen Entwicklung der Gesellschaft auch das Recht entwickelte, vor allem differenzierter wurde, und nicht zuletzt durch abgehobene beamtete Richter angewandt wurde, desto umstrittener wurde, was jeweils Recht sei oder sein soll. Diese Entwicklung begann schon im alten Rom, wo es zunehmend geschriebene Gesetze und eine Jurisprudenz gab.

Aus dieser Entwicklung ist über die Jahrhunderte ein (juristisches) Regelwerk herausgekommen, das sich von den ursprünglichen elementaren Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit zunehmend entfernte, verselb­ständigte. Es wurde eine eigenständige Ma­terie, ein in sich geschlossenes System von Rechtsnormen und Doktrinen, zu dem auch eine mit lateinischem Vokabular versetzte besondere "Juristensprache" gehört, was die Volksfremdheit dieses Rechts und der dazu gehörigen Justiz bewirkt. Dieses „sich selbst genügende und sich selbst  bewegende“ juristische System stellt ein eigenständiges juristisches Gegenstück zum wirklichen Leben der Gesellschaft dar.

Es wird vielfach zu einem juristischen Rauch­vorhang, hinter dem sich die eigentlichen - ökonomischen und politischen - Auseinandersetzungen vollziehen.

Mithilfe dieses Regelwerks, das die zum politischen Willen erhobenen Interessen der herrschenden Kräfte im Lande ausdrückt, wird es möglich, ihre Interessen in "geord­neten" und "gepflegten" Bahnen und Formen durchzusetzen, den Schein einer Rechtsstaatlichkeit zu demonstrieren.

Marx hatte schon darauf hingewiesen, dass die moderne Justiz in der Substanz letztlich nichts anderes ist als das frühere mittelalterliche "Recht" der direkten Gewaltanwendung, nur etwas verfeinert.

Gleichwohl vermögen die geschriebenen Gesetze, indem sie der Machtausübung gewisse Grenzen setzen, ein bestimmtes Maß an Rechts­sicherheit zu bewirken. Darin sehe ich den kulturgeschichtlichen Fortschritt.

Auf dem Gebiete des Strafrechts ist, insbesondere im Gefolge der strafrechtlichen Aufklärung, der von Feuerbach klassisch formulierte Satz zum fundamentalen Prinzip geworden: keine Strafe ohne Gesetz, nulla poe­na sine lege. Er umschließt das Rückwirkungsverbot als notwendiges Element des Prinzips der Gesetzlichkeit des Strafens - bzw. wie man in der Bundesrepublik formuliert - der Gesetzmäßigkeit des Strafens.

Zwangsläufig entstand mit der Festschreibung des positiven Rechts in geschriebenen Gesetzen der immerwährende Widerspruch zwischen dem nun festgeschriebenen Recht, den vom Gesetzgeber erlassenen Gesetzen, und dem, was sich die verschiedenen Menschen und Menschengruppen gemäß ihren Interessen und Anschauungen als Recht vorstellen, für Recht halten und durch rechtspolitische Forderungen zur Geltung bringen wollen: "er­kämpft das Menschenrecht! "

Da das geschriebene Recht der Machtausübung gewisse Grenzen setzt, eröffneten noch vor dem ersten Weltkrieg reaktionären Kräfte einen Kampf gegen den ihnen lästig gewordenen „Rechtspositivismus“; es begann die „Auflösung der Gesetzlichkeit“, von der Engels sprach. Sowohl das Frontmachen gegen den Rechtspositivismus als auch die Auflösung der Gesetzlichkeit begegnen uns tagtäglich in der Bundesrepublik, nicht nur bei der „Aufarbeitung“ des „DDR-Unrechts“. Die Nazis trieben den Kampf gegen den „Rechts­positivismus“ und seine offene Negierung auf die Spitze: sie behaupteten, das deutsche Recht entspringe dem Blut des deutschen Volkes und die nicht strikt an das geschriebene Gesetz gebundenen Richter hätten so zu entscheiden, wie der „Führer“ als „Oberster Gerichtsherr“ jeweils entschieden haben würde.

Der frühere Justizminister der Weimarer Republik Radbruch -  ein entschiedener Gegner der Nazis - setzte sich nach 1945 mit der nazistischen Justiz ausführlich auseinander, er setzte sich nach wie vor für eine unbedingte Einhaltung des geschriebenen Rechts, des Ge­setzes ein, auch wenn dieses schlecht oder sogar ungerecht wäre. Die Bindung an das Gesetz, namentlich die Bindung des Richters an das Gesetz, erbringe ein bestimmtes Maß an Rechtssicherheit, die selbst einen hohen Wert darstelle; zugleich fördere dies die Rechtseinheitlichkeit.

Im Ergebnis dessen ist, so auch von mir, insbesondere auf dem Gebiete des Strafrechts stets eine strikte Gesetzlichkeit, die strikte Bindung der Strafrichter an das Strafgesetz zu fordern, auch wenn das so zustande gekommene einzelne Urteil im Gefolge der Rechtsanwendung aus dieser oder jener Sicht ungerecht sein mag.

Zu 2:

Die unterschiedliche Anwendung gleicher Rechtsvorschriften ist für Juristen nichts Besonderes. Die Auslegung der Gesetze ist ein Hauptgegenstand der juristischen Ausbildung. Mit den verschiedenen Auslegungsregeln können unterschiedliche, auch entgegengesetzte Ergebnisse der Rechtsanwendung erreicht werden, ohne dass man von einem Rechtsbruch sprechen müsste.

Es ist deshalb nicht falsch, wenn das Volk sagt: Juristen können alles begründen! Das galt früher und gilt in der Bundesrepublik nicht minder.

Mithin ist maßgeblich, welches Motiv der Rechtsanwender, der Richter, im konkreten Fall hat und auf welche Ergebnisse er abzielt. Die betreffende juristische Argumentation und Gesetzesauslegung wird er finden.

Ich erinnere mich an die Worte zweier alter Landgerichtsräte wenige Jahre nach dem Krieg. Beide sagten unabhängig voneinander über ihre Erfahrungen als Richter zu mir: „Junger Mann, wir machen das immer so: wir überlegen zuerst, was herauskommen soll; dann suchen wir die entsprechenden Paragrafen!“

Die in Ihrem Brief geäußerte Annahme, dass die westdeutschen Juristen zum Recht der DDR keinen Zugang haben und es nicht verstehen, dürfte zutreffen. Jedenfalls ist dies unser übereinstimmender Eindruck vor allem aus den Prozessen, die der so genannten „strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR- Unrecht“ dienen. Die westdeutschen Juristen haben nicht nur eine innere Distanz zu dem ihnen fremden DDR-Recht; sie hatten offenbar auch wenig Neigung, sich mit diesem und den ihm zu Grunde liegenden rechtstheoretischen Anschauungen bekannt zu machen; schließlich war das DDR-Recht in ihren Augen das „Recht“ eines Unrechtsstaates.

Ob DDR-Juristen das bundesdeutsche Recht eher verstehen, möchte ich so nicht bestätigen. Insbesondere die jüngeren Kollegen, die erst in den 70er und 80er Jahren in der DDR Jura studierten, dürften Schwierigkeiten damit haben. Denn ihnen wurde bei ihrer Ausbildung das alte deutsche bzw. das bundesdeutsche Recht nicht mehr als solches, als geltendes Recht vermittelt, sondern aus der Position der Kritik und der Auseinandersetzung.

Die DDR-Juristen, die in den 50er und 60er Jahren studiert hatten, die sich also noch mit dem alten RStGB (mit den diversen Änderungen) und dem BGB (mit noch viel größeren Änderungen) bekannt gemacht hatten, bekamen dadurch zumindest eine gewisse Vorstellung von dem überkommenen deutschen, nun dem bundesdeutschen Recht und vermögen deshalb dieses eher zu verstehen, sich mit ihm auseinander zu setzen.

Allerdings meine ich, dass auch diese Juristen nicht so detailliert in die alte deutsche bzw. bundesdeutsche Rechtsdogmatik, die überkommene Rechtsprechung und die überkommene herrschende Meinung eingeführt bzw. mit ihr vertraut gemacht wurden. Denn auch bei ihrer Ausbildung ging es zunehmend darum, ihnen ein der DDR gemäßes Bild vom Recht zu vermitteln und ihnen neue Lehren nahezubringen. Jedenfalls auf dem Gebiete des Strafrechts wurde unbeschadet des Fortbestehens alter Rechtsvorschriften (neben neu­en) bereits Anfang der 50er Jahre eine neue Strafrechtslehre vermittelt, die sich von den spätbürgerlichen imperialistischen und faschi­stischen Strafrechtslehren des 20. Jahrhunderts grundlegend unterschied, von dieser abgrenzte und mit ihr auseinander setzte.

Aber vor allem wirkt bei den bundesdeutschen Juristen gegenüber der Rechtsordnung der DDR eine klassenmäßige Erkenntnisschranke, die sie nicht ohne weiteres zu  überschreiten vermögen. Insbesondere kann sich der bürgerliche Jurist keine Gesellschafts- und Rechtsordnung vorstellen, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und als Voraussetzung dessen das diesbezügliche Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft ist, dass das Eigentum an Sachen, insbesondere an Immobilien, nicht Gegenstand profitabler Verwertung sein, dass die Profitmacherei ausgeschlossen sein soll.

So erscheint dem bundesdeutschen Juristen das DDR-Recht nicht nur fremd, sondern jenseits des Rechts liegend, also Unrecht.

Die Gegensätze des DDR-Rechts und des bundesdeutschen Rechts sind nur auf dem Hintergrund der entgegengesetzten sozialen und insbesondere ökonomischen Grundlagen der beiden Gesellschaftsordnungen in der DDR und in der Bundesrepublik zu verstehen.

Als Konsequenz ist in allen gerichtlichen Ent­scheidungen, einschließlich der des Bundesverfassungsgerichts, zu erkennen: in der Bundesrepublik bestehen die maßgeblichen Freiheitsrechte, besonders in Gestalt des Rechts auf und am Eigentum, darin, Profite zu machen, das Eigentum „wirtschaftlich zu verwerten“.

Dies steht aber im diametralem Gegensatz zu den Grundlagen des Rechts der DDR, nach dem es darum ging, die natürlichen Gegebenheiten, Bodenschätze usw. und die Produktionsmittel (nach einem einheitlichen Plan) im Interesse der Gesellschaft und des Einzelnen zu nutzen, weshalb hier vornehmlich der Gebrauchswert und nicht der Verkehrswert der Dinge und Waren interessierte. Besonders deutlich ist dies in der rechtlichen Regelung des Verkehrs mit Immobilien zu erkennen. In der DDR stand die Nutzung des Grund und Bodens im Mittelpunkt und nicht die Spekulation mit Immobilien; dazu gehört auch, was für westdeutsche Juristen kaum nachvollziehbar ist, dass Grund und Boden den Bürgern unentgeltlich zur Nutzung überlassen wurde.

Eine Konsequenz der diesbezüglichen bürgerlichen juristischen Denkweise ist in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu erkennen, dass der wieder in seine Rechte eingesetzte alte Grundstückseigentümer - auch rückwirkend - vom Bodennutzer Zahlungen verlangen kann, die er in der DDR nicht zu erbringen hatte.

Ähnlich wird auch in strafrechtlichen Kommentaren immer wieder das Recht auf Wirtschaftlichkeit im Umgang mit Vermögenswerten als Ausdruck der bürgerlichen Freiheiten betont.

Im Strafrecht spiegelt sich im übrigen die entgegengesetzte Sichtweise darin wider, dass die gesellschaftlichen Schutzobjekte, Frieden und die sozialistische Staatsmacht in der DDR, einen erstrangigen strafrechtlichen Schutz genossen und Verletzungen gesamtgesellschaftlicher Interessen streng geahndet werden, so auch solche Straftaten wie Spionage, Landesverräterische Agententätigkeit, Diversion, Sabotage, Staatsfeindlicher Menschenhandel, der Ungesetzliche Grenzübertritt und die Ungesetzliche Verbindungsaufnahme mit westlichen, gegen die DDR arbeitenden Stellen.

Demgegenüber nimmt im traditionellen bürgerlichen, auch im westdeutschen Strafrecht - abgesehen vom ausgebauten Staatsschutz - der Schutz des Eigentums einen hohen Stellenwert ein.

Zu 3

Was schließlich den Übergang von einer Rechtsordnung in eine andere, auch die „Rückeroberung“ mit Annexion und Konterrevolution betrifft, so scheint mir unerlässlich, diese Vorgänge in ihrem internationalen Zusammenhang zu sehen.

Nachdem Hitler-Deutschland zusammen mit den italienischen Faschisten und in Kooperation mit den spanischen Faschisten sowie im Gleichschritt mit den japanischen Militaristen sich durch Aggression fast ganz Europa unterworfen hatte, musste die Befreiung vom Hitler-Faschismus, und auch von den italienischen Faschisten sowie den japanischen Militaristen, internationalen weltweiten Charakter annehmen. Das spiegelt sich in den entsprechenden internationalen Abreden und Verträgen der Alliierten wider, so in den von Teheran, Jalta, Potsdam, zuvor auch von Moskau, in dem Londoner Statut über den In­ternationalen Militärgerichtshof und in den Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg und in Tokio sowie in der Annahme der diesbezüglichen Grundsätze der Strafbarkeit der Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und der Kriegsverbrechen durch die UNO.

Zwangsläufig war die weitere Entwicklung Deutschlands in besonderem Maße von den internationalen Bedingungen, vom internationalen Kräfteverhältnis abhängig. Namentlich bestimmten die vier Alliierten das Schicksal Deutschlands.

Die Eröffnung des „kalten Krieges“ durch die bekannte Rede Churchills in Anwesenheit von Truman in Fulton im Frühjahr 1946 hatte die Bildung der offen gegen die Sowjetunion gerichteten NATO im Gefolge, was zwangsläufig eine Antwort in Gestalt des Warschauer Paktes nach sich zog.

Nachdem die drei westlichen Alliierten hinter dem Rücken des vierten Partners im Juni 1948 durch eine separater Währungsreform die Wirtschaft Deutschlands gespalten hatten, veranlassten sie auf Grund ihrer Londoner Empfehlungen auch die Bildung eines westdeutschen Staates, dessen Hauptfunktion von Anfang an darin bestand, Ostdeutschland unter die Herrschaft des Westens, des Kapitalismus, zu bringen, was unschwer dem Grund­gesetz zu entnehmen ist.

Dabei war, wie der Strafrechtler weiß, jedes Mittel recht; durch kriminelle Anschläge und andere Machenschaften wurde das dem Potsdamer Abkommen gemäße Bemühen um den Aufbau eines ostdeutschen Gesellschaftssystems gestört, beeinträchtigt und behindert, zum Teil von westdeutschem Boden aus, vielfach ausgeführt auf dem Staatsgebiet der DDR, aber regelmäßig im Zusammenwirken mit westlichen Kräften, im Zusammenwirken von innen und von außen.

Als zwangsläufige Antwort auf diese separate Staatsbildung wurde in Ostdeutschland ein zweiter deutscher Staat, die Deutsche Demokratische Republik, gegründet, was nur dank der sowjetischen Besatzungsmacht möglich war, die diesen Staat als erste völkerrechtlich anerkannte und in der Folgezeit in jeder Hinsicht unterstützte. Nicht nur das Entstehen der DDR, sondern auch ihr Bestehen und Fortbestehen hing in jeder Hinsicht, politisch, ökonomisch, militärisch, maßgeblich von der So­wjetunion ab, wie auch der westdeutsche Teilstaat fest in das westliche Staatensystem, insbesondere die NATO, eingebunden war.

Als sich Gorbatschow und Schewardnadse in den späten 80er Jahren anschickten, die DDR wie eine „heiße Kartoffel fallen zu lassen“, sie zu verraten, und dies auch dem Westen signalisierten, war das Fortbestehen der DDR in Frage gestellt, eine Frage der Zeit.

Hinzukam, dass aus verschiedenen hier nicht näher zu untersuchenden Gründen zunehmend gegen die Politik der DDR wirkende „oppo­sitionelle Kräfte“ faktisch feindlich aktiv wurden und sich zusammenschlossen. Deren Aktivität entwickelte sich vielfach in einer Grau­zone rechtlich noch zulässiger und bereits illegaler Art, auch in strafbaren Formen, wobei systematisch getestet wurde, was sich die Staatsmacht der DDR noch gefallen lassen würde.

Im Hinblick auf Ihre Fragen muss in diesem Zusammenhang betont werden, dass diese op­positionellen Kräfte sich nicht nur unter dem Dach der (evangelischen) Kirche organisieren und zusammenfinden konnten, sondern ganz wesentlich mit logistischer, finanzieller und ideologischer Unterstützung bundesdeutscher Stellen und Organisationen agierten. So konn­ten sie westdeutsche und westberliner Medien, Verlage und Zeitschriften nutzen und auf diesem Wege Tausende DDR-Bürger erreichen und beeinflussen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, in der DDR offen illegale Sender errichten oder Schriftstücke verbreiten zu müssen.

Diese Einbeziehung und Nutzbarmachung westdeutscher Institutionen für die Aktivitäten der staatsfeindlichen Opposition nahm regelmäßig kriminelle Gestalt an, sei es als „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“, als Zoll - und Devisendelikte, als Landesverrat.

Ohne diese massive logistische Unterstützung durch bundesdeutsche Stellen, Organisationen und Einrichtungen wären die keineswegs so zahlreichen gegnerischen oppositionelle Kräf­te in der DDR auf sich selbst gestellt und somit in ihrer Wirksamkeit sehr begrenzt geblieben. Sie hätten niemals eine „Revolution“ vorbereiten oder veranstalten können, was sich diese Oppositionellen nach wie vor einbilden.

Tatsächlich handelte es sich bei diesen um eine überschaubare Zahl von Personen, die den Sicherheitsorganen mehr oder weniger be­kannt waren. Sie waren aber ein Ansatzpunkt für die feindliche Tätigkeit von außen und sie hatten die Möglichkeit, über westliche Institutionen, auch Medien und Verlage, als Multiplikatoren sowohl in die DDR hinein als auch international wirksam zu werden; dadurch erschien die Opposition in der DDR, auch in der internationalen Öffentlichkeit, weit größer als sie tatsächlich war.

Dieses Zusammenspiel zwischen inneren und äußeren gegnerischen Kräften, was uns aus der Geschichte von Revolutionen hinreichend bekannt ist, ist ein wesentlicher tatsächlicher Umstand, der erklärt, was schließlich geschah, aber oft aus dem Blickfeld gerät.

Nach schwerwiegenden politischen Fehlern und Versäumnissen der Führung der DDR, besonders in den späten achtziger Jahren, und aufgrund unübersehbarer Schwächen und Mängel der Wirtschaft äußerte sich Unzufriedenheit von DDR-Bürgern auch in massenhaften strafbaren Republikfluchten, von denen zunehmend viele nicht mehr konsequent strafrechtlich verfolgt wurden.

Andererseits kam es zu durchaus noch verfassungsmäßig erlaubten Formen der Meinungsäußerung in Gestalt von Demonstrationen, wo­bei treue DDR-Bürger, die mit der politischen Führung unzufrieden waren, Oppositionelle und auch feindliche Kräfte zusammenkamen.

Diese Bemühungen und Aktivitäten selbst sind wohl noch nicht sämtlich politisch als Konterrevolution anzusehen; verwiesen sei auf den Aufruf von Stefan Heym und Christa Wolf "Unser Land... " Er war bei scharfer Kritik an der politischen Führung der DDR darauf gerichtet, was die DDR Bürger wollten, nämlich eine bessere DDR und einen bes­seren Sozialismus. Indessen kommt es letztlich nicht darauf an, was der Einzelne sich vorstellt, was er wollte, sondern was er objektiv bewirkte.

Bereits zu diesem Zeitpunkt fanden sich in dieser Bewegung  zunehmend auch eindeutig konterrevolutionäre Kräfte, die sich anschick­ten, nach dem Sturz Honeckers und dem Auswechseln der Regierung der DDR, unter der Regierung Modrow, antisozialistisch und staatsfeindlich zu wirken.

Durch die von Schabowski ausgelöste chaotische Öffnung der Grenzen war der Regierung der DDR nicht nur hinsichtlich der Gestaltung des Ausreiserechts das Gesetz des Handelns aus der Hand geschlagen worden, sodass sie sich auf Schadensbegrenzung konzentrieren musste.

Vor allem eröffnete dieser Vorgang feindlichen, alsbald auch offen faschistischen Kräften aus der Bundesrepublik breiten Zugang in die DDR und damit die Möglichkeit eines konterrevolutionären Wirkens in der DDR. Das äußerte sich in Verbrechen verschiedenster Art, wie Nötigung, Drohungen, Zerstörung von Symbolen des Staates der DDR.

Von nun an agierte von Woche zu Woche deutlicher die Konterrevolution. Sie wurde auch in der letzten Regierung und in den Beschlüssen der letzten Volkskammer wirksam.

Hatte die Regierung Modrow mit der Schaffung einer Treuhandgesellschaft zur Wahrung des Volkseigentum in veränderten Rechtsformen den Interessen der DDR-Bürger entsprochen, so hat die allerletzte Regierung und Volkskammer mit der darin tonangebenden reaktionären Mehrheit objektiv Konterrevolution betrieben, so in Gestalt von "Rechts"- Akten, die ausgerechnet am 17. Juni verabschiedet wurden: Die sozialistischen Grundsätze der DDR-Verfassung wurden aufgehoben und eine auf Privatisierung des Volkseigentums ausgerichtete Treuhandanstalt instal­liert.

Solche politisch konterrevolutionären Akte erfüllten nach dem Recht der DDR den objektiven Straftatbestand des Hochverrats, weil sie objektiv darauf gerichtet waren, „die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR.... zu beseitigen“ (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 StGB/DDR)..

Mit der Zustimmung zum ersten Staatsvertrag wurde objektiv auch dahin gewirkt, den Hochverrat gem. § 96 Abs. 1 Nr.2 StGB/DDR auch in der Gestalt zu unternehmen, „das Gebiet der DDR einem anderen Staat einzuverleiben.“

Die DDR ist somit, nachdem sie von Gorbatschow und Schewardnadse verraten worden war, den Westmächten und der Bundesrepublik buchstäblich „zum Fraß vorgeworfen“ worden, was in der Form konterrevolutionärer hochverräterischer "Rechts"-Akte stattfand.

Die Einverleibung der DDR durch die Bundesrepublik verletzt das völkerrechtliche Annexionsverbot und stellt eine völkerrechtwidrige Annexion dar, was an den „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich im Jahre 1938 erinnert.

Dass diese Annexion nicht durch Einmarsch von Truppen erfolgte bzw. mit solchem Einmarsch begann, sondern die „Rechtsform“ von Verträgen zwischen den beiden deutschen Staaten und auch mit den vier Alliierten annahm, ändert nichts am Wesen der Sache, zumal die DDR und ihre Bürger der Sache nach - worauf Sie zutreffend hinweisen -  an der Ausarbeitung und dem Abschluss dieser Verträge nicht beteiligt und nicht tatsächlich vertreten waren.

Die Personen, die formal als Unterhändler der DDR auftraten, standen zumindest politisch- ideologisch auf der anderen Seite, soweit sie nicht direkt den Wünschen oder Weisungen des Bundeskanzlers folgten.

Beide Staatsverträge waren der Sache nach keine zweiseitigen Verträge, sondern bundesdeutsches Diktat, auch wenn teilweise Interessen von DDR-Bürgern berücksichtigt wurden. Maßgeblich waren die Bonner Interessen.

Dass dabei außerdem massenhaft politische und ökonomische Fehler gemacht wurden, was später eingestanden wurde, bestätigt nur, wie hektisch und „mit der heißen Nadel genäht“ diese Verträge unter politischem Zeitdruck durchgepeitscht wurden

Aber so, wie nach der medizinisch falschen Amputation eines wichtigen Gliedes weder Entschuldigungen noch Schmerzensgeld oder eine Prothese den Fehler des Operateurs wirk­lich wieder aufzuheben vermögen, ebenso we­nig ist das korrigierbar, was 1990 und danach den DDR-Bürgern genommen und zu ihren Lasten verändert worden war.

Im übrigen waren sich weder die Abgeordneten des Bundestages noch die der letzten Volkskammer bei der Abstimmung darüber im klaren, wozu sie ihr Ja gaben. Eine normalerweise üblichen Behandlung der Gesetzesvorlagen in mehreren Lesungen und in den Ausschüssen sowie eine Debatte über Veränderung bestimmter Bestimmungen gab es überhaupt nicht, beide Parlamente konnten nur zustimmen oder auch nicht.

Der politische Zeitdruck bestand, wie Kohl durchaus bewusst war, darin, dass die Gunst der Stunde genutzt werden musste - denn etwas später wäre der „Beitritt“ der DDR „zum Geltungsbereich des Grundgesetzes“ schon nicht mehr so glatt gelaufen, womöglich wäre vieles anders verlaufen.

Vor allem wurde dieser Vorgang von einer üblen demagogischen, fast hysterischen Hetze gegen die DDR, ihre politischen Repräsentanten, gegen die „Bonzen“ und gegen das Ministerium für Staatssicherheit begleitet, die eine sachliche Auseinandersetzung über Ursachen und Schlussfolgerungen ausschloss.

Der Strafrechtler weiß, dass Verbrechen auch in Rechtsformen, so in Verträge, gekleidet sein können, wie wir es besonders beim Betrug, bei Untreue, auch bei Nötigung und Erpressung (z. B. auch in Gestalt von Knebelverträgen) kennen. Auch sonst werden nicht alle Verträge redlich und in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung abgeschlossen. Nach dem BGB sind Rechtsgeschäfte, so auch Ver­träge, nichtig, die gegen das Gesetz oder gegen die guten Sitten verstoßen.

Der Völkerrecht kennt den von Anfang an völkerrechtswidrigen und daher nichtigen „An­schluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland und ebenso das Münchener Abkommen über die CSR, wo vier Großmächte durch solche Leute, wie Hitler, Mussolini, Daladier und Chamberlein, zu Lasten eines Dritten, der CSR, sich völkerrechtswidrig verabredet hatten.

Jedenfalls bei mir kommen Assoziationen zu diesen heute allgemein als rechtswidrig angesehenen Vorgängen auf, wenn ich an die beiden Staatsverträge des Jahres 1990 denke.

Was den Übergang von einer Rechtsordnung in eine andere betrifft, und zwar vorliegend von der Rechtsordnung eines dann beseitigten Staates in die Rechtsordnung des anderen, übrig bleibenden Staates, so ist dies als Konsequenz der Staatennachfolge zu sehen. Denn jede Rechtsordnung hängt von dem jeweiligen Staat ab. Es gibt keine Rechtsordnung ohne Staat, der die Gesetze durch seine gesetzgebenden Organe erlässt und deren Einhaltung durch seine staatlichen Behörden kontrolliert. Recht ist nichts ohne eine Macht, die es durchsetzt.

Die Staatennachfolge ist - soweit ich das über­sehe - im modernen Völkerrecht wohl nicht so ganz eindeutig, sicher auch deshalb, weil die historischen Umstände der Staatennachfolge in den letzten Jahrhunderten sehr unterschiedlich waren, so etwa bei der Kolonialisierung und dann der Befreiung von der Kolonialmacht, bei Revolutionen, im Gefolge von Bürgerkriegen oder beim Zusammenschluss von Staaten.

Die Bildung des Deutschen Kaiserreichs 1871 war - obzwar dieses ein Bundesstaat wurde - auf vielen Gebieten mit der Staatennachfolge des Deutschen Kaiserreichs gegenüber den Ländern, wie Preußen oder Bayern, verbunden. Durch die spätere Schaffung einheitlicher Reichsgesetze, so des BGB und des RStGB, trat an die Stelle früheren Landesrechts, unter weitgehende Berücksichtigung desselben, Reichsrecht. Vor allem aber handelte es sich dabei nicht um Nachfolge eines fremden Staates.

Staatennachfolge durch einen fremden Staat ist wohl meist als Annexion bekannt geworden, wobei diese vielfach unter unmittelbarer Gewaltanwendung oder der Androhung von Gewalt erfolgte, es sich also um die Unterwerfung eines anderen Staates handelte.

Bei solcher Unterwerfung eines anderen Staa­tes mit dessen Rechtsordnung hängt viel davon ab, inwieweit die beiden Rechtsordnungen, die des unterwerfenden Staates und die des unterworfenen Staates, zumindest in ihrer sozialen Charakteristik und Funktionen ähnlich waren, soweit nicht der unterwerfende Staat, wie das alte Rom oder das Britische Imperium, den unterworfenen Völkern - in Grenzen - ihr Recht, ihre Rechtsordnung  ließ.

Eine vollständige Unterwerfung eines fremden Staates mit der Beseitigung von dessen Rechtsordnung bzw. mit der Ablösung von dessen Rechtsordnung durch die des unterwerfenden Staates scheint mir sonst wohl kaum vorgekommen zu sein, außer dem hier zu besprechenden Fall der auch juristischen Eroberung und Unterwerfung der DDR.

Diese „Rückeroberung“ - wie Sie schreiben - war nicht nur ein konterrevolutionärer, sondern ein direkt feindlicher Akt der Unterwerfung eines fremden Staates und dessen Bürger unter die Siegermacht - in Vertragsform.

Die Alliierten hatten Hitler-Deutschland vollständig besiegt, am Ende stand die bedingungslose Kapitulation; die Alliierten übernahmen die oberste Gewalt in Deutschland. Sie haben sich aber Deutschland nicht unterworfen und deshalb auch - abgesehen von der Beseitigung der eindeutig nazistischen Gesetze und Einrichtungen - keine wesentlichen Eingriffe in die Rechtsordnung Deutschlands vorgenommen; sie haben nicht ihr Recht Deutschland und dem deutschen Volk aufoktroyiert.

Somit stellt sich aus juristischer Sicht der "Beitritt "der DDR" zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" als seltener Fall einer „Rück­eroberung“ und Unterwerfung dar, verbunden nicht nur mit einem „Austausch der Eliten“, einer massenhaften Demütigung und Entmün­digung der DDR-Bürger, sondern auch des Austauschs der gesamten Rechtsordnung, was die „Freiheit“ einschließt, gegenüber DDR-Bürgern das Rückwirkungsverbot außer Kraft zu setzen.

Mit solidarischen Grüßen

Ihr (gez.) Erich Buchholz

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Demographie zum Bangemachen

von Gerd Bosbach

Entnommen aus Transparent. Zeitschrift für die Kritische Masse in der Rheinischen Kirche. 18. Jg. Nr. 72, April 2004. S. 24-28. Dort erschienen unter dem Titel „Die modernen Kaffeesatzleser“.

 „Transparent“ stellte dem Abdruck folgenden Vorspann voran: „Gerd Bosbach hat die demografi­schen Zahlen des Statistischen Bundesamtes wider den Strich gebürstet und in einen Gesamtrahmen ge­stellt. Kein Anlass zur Aufregung, sagt der Autor, wenn er sich die demografische Entwicklung ansieht. Anhand der 2003 veröffentlichten Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes für die Jahre bis 2050 weist er nach, dass die Zahlen von Politikern häufig dramatisiert werden, wenn sie den Umbau des Sozialstaates vorantreiben“,  und gab folgende biographische Informationen zum Autor:

Prof. Dr. Gerd Bosbach lehrt Statistik, Mathematik und Empirik an der Fachhochschule Koblenz, Standort Remagen. Geboren 1953 in Euskirchen, hat er im Bereich Statistik an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln promoviert. Berufserfahrung sammelte er u. a. bei dem Statistischen Bundesamt (1988-1991), dort vor allem in der Bonner Beratungsstelle für Mini­sterien und Bundestag und in der Abteilung Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. ... Der zunächst in der FR (22. .3. 2004) dokumentierte (gekürzte), hier aber vollständige Text erschien ebenfalls in der Zeitschrift „Gewerkschaftliche Monatshefte“ (Ausgabe 2/04)


In der politisch-ökonomischen Diskussion der letzten Monate spielte die 10. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statisti­schen Bundesamtes, veröffentlicht im Juni 2003, eine große Rolle. Die zu erwartende demografische Entwicklung dient als Haupt­argumentation für Veränderungen im Ren­tensystem, aber auch für Einschnitte im Ge­sundheitswesen. Beispielhaft seien zwei Zi­tate aus dem Sommer 2003 genannt: „Wir Sozialdemokraten haben in der Vergangen­heit die drohende Überalterung unserer Ge­sellschaft verschlafen. Jetzt sind wir auf­gewacht. Unsere Antwort heißt: Agenda 2010! Die Demografie macht den Umbau unserer Sozialsysteme zwingend notwendig.“ (Franz Müntefering, SPD, Generalsekretär). „Und wir müssen anerkennen und aussprechen, dass die Altersentwicklung unserer Gesell­schaft, wenn wir jetzt nichts ändern, schon zu unseren Lebzeiten dazu führen würde, dass unsere vorbildlichen Systeme der Gesund­heitsversorgung und Alterssicherung nicht mehr bezahlbar wären.“ (Bundeskanzler Ger­hard Schröder)

Während über die Konsequenzen hart disku­tiert und gestritten wird, gelten die Berech­nungen der Statistiker selbst als unumstritten, und gleich einem Naturgesetz wird ange­nommen, dass alles in 47 Jahren genau so eintritt.

Dass diese Prognosegläubigkeit unberechtigt ist und auch von den Fachleuten des Statisti­schen Bundesamtes gar nicht so gesehen wird, wird zu erörtern sein. Und selbst, wenn die Vorhersagen so eintreffen würden, haben sie bei weitem nicht die Dramatik, die uns in den letzten Monaten vorgeführt wurde - wie Fakten und Sichtweisen, die von den Fach­leuten des Amtes dargestellt werden, belegen.

Wesentliche Annahmen und Ergebnisse der Bevölkerungsvorausberechnung

Die wesentlichen Voraussetzungen und Mo­dellannahmen für die Berechnungen sind:

1.   Bevölkerungsstand und -aufbau zum 31. 12. 2001;

2.   Konstanz der Geburtenhäufigkeit von 1,4 Kindern pro Frau bis 2050 (in den neuen Bundesländern erst ab 2011);

3.   Zunahme der Lebenserwartung. Dazu wur­den drei Varianten untersucht. Den mei­sten Veröffentlichungen, auch jenen des Amtes, liegt die mittlere Variante zu Grun­de. Danach wird die Lebenserwartung Neugeborener im Jahre 2050  rund 6 Jahre mehr betragen als heute (für Jungen 81,1 Jahre, für Mädchen 86,6 Jahre);

4.   Saldo zwischen Zu- und Abwanderungen von Ausländern nach bzw. aus Deutsch­land. Auch dort wurden drei Varianten be­rechnet, wovon die mittlere Variante mit einem jährlichen Wanderungsüberschuss nach Deutschland von 200 000 Personen Grundlage der meisten Publikationen ist.

Mit diesen und einigen wenigen, vergleichs­weise unbedeutenden Annahmen lässt sich der Bevölkerungsaufbau für alle Folgejahre berechnen. Schwerpunkt der öffentlichen Dar­stellung wurde auf das Jahresende 2050 gelegt, aber auch die Situationen an den Zwi­schenzeitpunkten 2010, 2020, 2030 und 2040 sind veröffentlicht.

„Die Alterung wird also nicht erst in 50 Jah­ren zu Problemen führen, sondern bereits in den nächsten beiden Jahrzehnten eine große Herausforderung für Wirtschaft, Gesellschaft sowie vor allem für die sozialen Sicherungs­systeme darstellen. Diese Entwicklung ist vorgegeben und unausweichlich ...“ So in­terpretierte der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Johann Hahlen, die Ergebnisse anlässlich der Pressekonferenz zur Vorstel­lung der Modellrechnung am 6. Juni 2003.

Die Zahlen, auf die sich Hahlen stützt: Auf hundert Menschen mittleren Alters (20 bis unter 60 Jahre) kommen 2001 44 Ältere und 2050 78 Ältere.

Aber stimmt das wirklich? Drei gewichtige, unten aufgeführte statistischlogische Argu­mente wecken starke Zweifel.

So ist auch in einer Pressemitteilung des Sta­tistischen Bundesamtes vom Tage der Ver­öffentlichung der Berechnung zu lesen: „Weil die Entwicklung der genannten Bestimmungs­größen mit zunehmendem Abstand vom Ba­siszeitpunkt 31. 12. 2001 immer unsicherer wird, haben solche langfristigen Rechnungen Modellcharakter. Sie sind für den jeweiligen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten keine Prognosen, sondern setzen die oben beschrie­benen Annahmen um.“

Die Fachleute des Amtes wissen also nichts von der angeblichen Unausweichlichkeit der Entwicklung, wie sie der Jurist und politische Beamte Johann Hahlen - direkt dem Bundes­ministerium des Innern unterstellt, in dem er vorher 18 Jahre lang tätig war - der entsetzten Öffentlichkeit präsentiert.

Aber selbst wenn die Modellrechnungen Wirk­lichkeit würden, zeigen vier Betrachtungen deutlich auf, dass die Folgen einer Alterung der Gesellschaft nicht zu Wohlstandsverlust führen müssen. Auch diese Variante stützt sich überwiegend auf Fakten, die die Fach­leute des Amtes am 6. Juni der Presse über­geben haben, allerdings von der Öffentlich­keit weitgehend unbemerkt.

Dass die Argumente statistischer Natur sind, sei der Profession des Autors geschuldet und ist auch beabsichtigt, um der behaupteten Unumstößlichkeit des statistischen „Naturge­setzes“ Demografie die Grundlage zu ent­ziehen.

Argument 1:

50-Jahres-Prognosen sind moderne Kaf­feesatzleserei

Ein Blick um 50 Jahre zurück bestätigt obige These eindrucksvoll: Zwangsläufig hätte man 1950 bei einer Schätzung für das Jahr 2000 u. a. folgende Einflussfaktoren übersehen müssen:

·  Entwicklung und Verbreitung der Antiba­bypille;

·  Anwerbung und Zuzug von ausländischen Arbeitskräften und ihren Familien;

·  Trend zur Kleinfamilie bzw. Single-Dasein;

·  Öffnung der Grenzen im Osten mit dem Zu­zug von etwa 2,5 Millionen Aussiedlern aus den osteuropäischen Ländern nach Deutsch­land.

Auch die besten Berechnungsprogramme hät­ten nichts genutzt, denn auch diese können nur existierende, bekannte Trends fortschrei­ben. Strukturbrüche sind nicht vorhersagbar - das Problem jeder Langfristprognose!

Noch deutlicher wird die Problematik, wenn wir annehmen, im Jahre 1900 sei eine 50-Jah­res-Prognose gewagt worden. Es wären schlicht zwei Weltkriege übersehen worden!

Wenn zutreffende 50-Jahres-Prognosen also in der Vergangenheit unmöglich waren, war­um sollen sie in unserer schnellebigen Zeit plötzlich wie Naturgesetze gelten?

Diese Einsicht teilen auch die Experten des Amtes, was allerdings in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wird.

Argument 2:

Die Modellannahmen sind durch die Politik beeinflussbar

Politiker und Presse stellen die demografische Entwicklung als unveränderbar dar. Dabei sind zwei wichtige Annahmen des Berechnungs­modells direkt durch die Politik beeinfluss­bar:

1.   Kinderanzahl pro Frau: Mit familien- und kinderfreundlicher Politik, mit Berufschan­cen für Mütter lässt sich einiges bewirken. Das zeigt z. B. Frankreich, das mit ent­sprechender Politik die Anzahl der Kinder pro Frau von 1993 mit 1,65 zum Jahr 2000 auf 1,88 (plus 14 Prozent) steigern konnte.

2.   Wanderungsüberschuss: Der Zuzug von Ausländern nach Deutschland ist ganz of­fensichtlich eine Frage der Ausländer-, Eu­ropa- und Integrationspolitik. So hängt der Zuzug von EU-Bürgern aus den neuen Bei­trittsländern, vor allem nach der vollständi­gen Freizügigkeit für Arbeitnehmer, stark von der Attraktivität Deutschlands ab. Und allein die politische Entscheidung, die Tür­kei in die EU aufzunehmen, hätte immen­sen Einfluss auf den Bevölkerungsstand.

Zwei der drei wichtigen Stellschrauben des Rechenmodells sind also von der Politik ab­hängig und nicht umgekehrt.

Auch die dritte wichtige Modellannahme, der Anstieg der Lebenserwartung um ca. 6 Jahre, ist alles andere als eine sichere Prognose. Nicht nur Kinderärzte sind angesichts von Adipositas (Fettleibigkeit) bei ca. 25 Prozent der Kinder, Bewegungsarmut, frühzeitigem Konsum von Alkohol, Nikotin und Drogen, unsicher, ob der Trend tatsächlich langfristig in diese Richtung geht.

Argument 3:

„Lebensdauer“ und Trefferquote von Be­völkerungsvorausberechnungen

Wegen der großen Unsicherheiten bei den Modellannahmen sieht sich das Statistische Bundesamt meist schon nach kurzer Zeit ge­zwungen, neue Berechnungen vorzunehmen. Die „Lebensdauer“ der letzten 9 koordinier­ten Bevölkerungsvorausberechnungen betrug im Schnitt vier Jahre. Beispielsweise sind die letzten drei „alten“ Berechnungen in den Jah­ren 1992, 1994 und 2000 veröffentlicht wor­den. Zusätzlich wurde im Jahre 1995 eine Rechnung im Auftrag des Bundesinnenmini­steriums durchgeführt und 1996 vom BMI veröffentlicht.

Zwei Schlaglichter belegen die großen Unsi­cherheiten bei Bevölkerungsprognosen:

·  Das Amt errechnete in seiner 7. Vorausbe­rechnung für das Jahr 2030 einen Bevölke­rungsstand von 69,9 Millionen Einwoh­nern. Nur zwei Jahre später, in der 8. Vor­ausberechnung, lag der Wert je nach Vari­ante um 3,8 bis 11,2 Millionen höher!

·  In seiner 10. Vorausberechnung sind 9 Vari­anten berechnet und veröffentlicht worden. Die Spannbreite für die erwartete Bevölke­rung für das Jahr 2050 reicht von 67,0 (Va­riante 1) bis 81,3 Millionen (Variante 9), beträgt also 14,3 Millionen Menschen. (Für die meist zitierte mittlere Variante 5 wurden 75,1 Millionen Bundesbürger errechnet.)

Alle diese Fakten zeigen, dass die von vielen Politikern und leider auch von vielen Jour­nalisten als sicher beschriebene Entwicklung  im höchsten Grade unsicher ist.

Trotz der oben geäußerten Unsicherheiten über die Entwicklung der Bevölkerung ist na­türlich nicht auszuschließen, dass die zukünf­tige Realität in der Nähe der Vorausberech­nungen liegen kann. Dies hätte aber bei wei­tem nicht die dramatischen Auswirkungen, wie sie vielfach an die Wand gemalt werden. Das zeigen die folgenden Überlegungen an­hand der Daten der Variante 5 der amtlichen Berechnung. Diese so genannte mittlere der neun gerechneten Varianten liegt auch den meisten Veröffentlichungen des Amtes und der Presse zugrunde.

Übrigens wurden die meisten der folgenden Überlegungen auch von den Fachleuten des Amtes angestellt und in der ausführlichen Presseveröffentlichung dargestellt, z. T. leider etwas verschämt im Tabellenanhang.

Argument 4:

Auch die Jungen wollen ernährt werden

Bei so gut wie allen Betrachtungen zum The­ma Demografie wird so getan, als wenn die erwerbsfähige Bevölkerung (meist als 20- bis unter 60-Jährige angenommen) nur ihre Alten zu ernähren hätte. Dass Kinder und Jugend­liche neben Essen, Kleidung und Wohnen - oft von den Eltern finanziert - auch gesell­schaftliche Ausgaben erfordern, z. B. für Kin­dergärten, Schulen, Gesundheit, inkl. Per­sonal wird meist nicht beachtet. Bei seriösen Betrachtungen darf nicht nur der Alten­quotient, sondern muss auch der Jugend­quotient dargestellt werden. Die Summe bei­der, der so genannte Gesamtquotient, ist eine aussagekräftige Größe über die von den Er­werbsfähigen zu versorgenden Menschen.

Aus der Veröffentlichung der Fachleute des Statistischen Bundesamtes, die sich diesem Gedanken nicht verschließen, sind die fol­genden Daten entnommen: Auf hundert Men­schen mittleren Alters (20 bis 60 Jahre) kom­men im Jahre 2001 44 Ältere und 38 Junge, macht insgesamt 82. 2050 sind es 78 Ältere und 34 Junge, macht insgesamt 112.

Während der Altenquotient um 77 Prozent steigt, ergibt sich für den Gesamtquotienten ein Plus von 37 Prozent. Die Dramatik hat sich allein bei Einbeziehung der jungen Ge­neration in der Betrachtung schon halbiert.

Auch hier lohnt ein Blick in die Vergangen­heit. 1970 gab es auf 100 Erwerbsfähige 60 Junge und 40 Ältere, also eine Gesamtzahl von 100. D. h. auch bei Eintreffen der Pro-gnose des Statistischen Bundesamtes wächst die Zahl der zu Versorgenden bis 2050 nur um 12 Prozent gegenüber 1970!

Argument 5:

Sechs Jahre länger leben, keinen Tag län­ger arbeiten

Mit dieser zugegeben provozierenden Über­schrift sei auf eine merkwürdige Blickver­engung der Dramatisierer hingewiesen. Sie nehmen an, dass die Menschen deutlich län­ger leben, dass dadurch die Erwerbsfähigen überfordert sind, es also einen Arbeitskräfte­mangel gibt. Trotzdem gehen sie bei ihren Berechnungen von demselben Renteneintritts­alter wie heute aus! Manche nehmen für heu­te und für 2050 dabei das offizielle Alter von 65, manche das tatsächliche durchschnittli­che Renteneintrittsalter von 6o Jahren. Aber übereinstimmend wählen sie für 2003 und 2050 dasselbe Alter!

Auch hier unterscheiden sich die Fachleute des Bundesamtes wohltuend. Sie berechnen auch eine Entwicklung, wonach heute bis 60 und 2050 bis 65 Jahre gearbeitet wird.

2001 kommen auf hundert Menschen mitt­leren Alters 44 Ältere und 38 Junge, insge­samt 82. Dabei wird das mittlere Alter von 20 bis unter 60 Jahre definiert. Anders 2050, da wird das mittlere Alter von 20 bis unter 65 Jahre definiert. Und dann kämen auf 100 in diesem mittleren Alter 55 Ältere und 30 Jun­ge, sind insgesamt 85. Die obigen Zahlen der amtlichen Statistiker sprechen für sich!

Damit soll nicht für eine generelle Anhebung des tatsächlichen Renteneintrittsalters um 5 Jahre plädiert werden. Aber den heutigen, vielfach durch Arbeitslosigkeit oder ihre An­drohung verursachten Zustand der Frühver­rentung auf das Jahr 2050 bei längerer Le­benserwartung und angeblichem Arbeitskräf­temangel festzuschreiben, ist schlichtweg un­seriös. Und auch wenn das tatsächliche Ren­teneintrittsalter nicht auf 65, sondern auf 63 Jahre ansteigt, ist bei dieser Gesamtbetrach­tung jegliche Dramatik der demografischen Entwicklung verloren gegangen.

Argument 6:

Produktivitätsfortschritt erlaubt mehr Rent­ner

Die aktuelle Diskussion ist von einer stati­schen Betrachtungsweise geprägt. Die Lei­stungsfähigkeit eines heutigen Beschäftigten wird auch für das Jahr 2050 unterstellt. Nur so kann ein Anstieg der Zahl der zu er­nährenden Rentner bedrohlich wirken. Damit wird ausgeblendet, dass aufgrund des tech­nischen Fortschritts ein Arbeitnehmer immer mehr herstellen kann. Wie hoch die Arbeits­produktivität steigt, kann niemand voraus­sagen. Die Werte der letzten  Jahrzehnte zu unterstellen, wäre nicht seriös. Um das Aus­maß von Produktivitätsentwicklung sichtbar machen zu können, beziehe ich mich im Fol­genden auf die Prognosen der Herzog- und der Rürup-Kommission, rechne also weiter­hin mit den niedrigen Zahlen der „Dramati­sierer“.

Nach der Herzog-Kommission wird die Ar­beitsproduktivität jährlich um 1,25 Prozent steigen, was in den Jahren von 2001 bis 2050 eine Gesamtsteigerung von 84 Prozent bedeu­tet.

Die Rürup-Kommission dagegen rechnet so­gar mit einer jährlichen Steigerung von 1,80 Prozent, was im betrachteten Zeitraum eine Gesamtsteigerung von 140 Prozent zur Folge hätte.

Aufgrund dieser Leistungssteigerung von min­destens 84 Prozent bis 2050 ist jeder Be­schäftigte, der seinen Anteil an der gestie­genen Produktivität auch erhält, in der Lage, etwas mehr für Rentner und Kinder abzuge­ben, ohne selbst auf die Teilnahme am Fort­schritt verzichten zu müssen. Eine Einschrän­kung, wie uns immer wieder eingeredet wird, ist wirklich nicht nötig.

Eine vereinfachte Überschlagsrechnung soll die immense Wirkung von Produktivitäts­steigerungen verdeutlichen: Erhält heute ein Arbeitnehmer inkl. Sozialversicherungsanteil des Arbeitgebers 3.000 Euro, so zahlt er etwa 600 Euro (20 Prozent) für Rentner. Es ver­bleiben ihm also 2400 Euro. Nach der niedri­geren Annahme der Produktivitätssteigerung um 1,25 Prozent (Herzog-Kommission) wür­den aus den 3.00 Euro inflationsbereinigt 50 Jahre später 5.583 Euro. Bei einer Steigerung des Abgabe-Satzes für Rentner auf 30 Pro­zent verblieben dem Arbeitnehmer immerhin noch satte 3.908 Euro (plus 63 Prozent). Selbst bei einer völlig unrealistischen Ver­doppelung des Beitrages auf 40 Prozent Rentenversicherung verblieben dem Arbeit­nehmer mit 3.350 Euro noch 40 Prozent mehr als heute. Von „unbezahlbar“ kann also gar keine Rede sein, wenn die Produktivitäts­steigerungen auch anteilig an die Arbeitneh­mer ausgezahlt werden.

Dabei ist noch nicht berücksichtigt: Anhe­bung des Renteneintrittsalters auf über 60 Jahre, Einsparungen durch die ca. 30 Prozent weniger Kinder und Jugendliche, Abbau der Arbeitslosigkeit. Und angenommen wurde immerhin nur die niedrigste der von den Fachleuten prognostizierten Produktivitäts­steigerungen.

Argument 7:

Auswahl des „Worst Case“

Bei genauer Datenbetrachtung der Ergebnisse des Statistischen Bundesamtes fällt auf, dass mit dem Datum 2050 die für die Prognose ungünstigste 10-Jahres-Stufe ausgewählt wur­de. Wären die Berechnungen bis 2060 geführt worden, wären die heute geburtenstarken Jahr­gänge der 30- bis 40-Jährigen, 2050 noch in nennenswerter Zahl Rentner, überwiegend ver­storben. Das Zahlenverhältnis würde sich wieder zu Gunsten der Erwerbsfähigen ver­ändern. Und für 2040 zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes ebenfalls eine gün­stigere Situation. als für 2050.

War die Auswahl des Jahres mit der höchsten „Dramatik“ Zufall?

Zum Schluß ein paar ketzerische Fragen.

Nach diesen harten statistischen Fakten seien einige Fragen gestattet:

·  Warum wurden diese viel zu langfristigen Rechnungen durchgeführt und werden nun fast täglich dramatisch vorgeführt?

·  Versucht die Regierung tatsächlich bis zum Jahre 2050 zu planen? (Es entspräche einer Planung Adenauers im Jahre 1956 für heute!)

Man beachte also den Zusammenhang, in dem die „demografische Zeitbombe“ benutzt wird.

Während der ersten Lesung der Gesundheits­reform im Deutschen Bundestag am 9. Sep­tember 2003 sagte Bundesgesundheitsmini­sterin Ulla Schmidt: „Diese Solidarität unter veränderten ökonomischen Bedingungen in einer globalisierten Welt, aber auch ange­sichts der veränderten demografischen Ent­wicklung zu gewährleisten, ist unsere Auf­gabe. Dass wir alle glücklicherweise immer älter werden und die Lebenserwartung steigt, auf der anderen Seite aber zu wenig Kinder geboren werden, ist die größte Herausfor­derung des 21. Jahrhunderts.“ (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90 / Die Grünen)

So oder ähnlich wird heute jedes Mal argu­mentiert, wenn wegen aktueller Probleme in das Gesundheits- oder Rentensystem einge­griffen wird. Dabei hat das Statistische Bun­desamt die deutliche Auswirkung der Alterung erst für die Jahre nach 2020 berechnet. Bis 2010 steigt der Altersquotient so gut wie gar nicht, bis 2020 moderat.

Und damit zur letzten ketzerischen Frage: Soll mit dem „Hammer“ Demografie von ei­nem ganz anderen Schauplatz gesellschaftli­cher Auseinandersetzungen abgelenkt wer­den? Will man die Löhne und Gehälter der Arbeitnehmer langfristig von der Teilhabe am Produktivitätsfortschritt abkoppeln? Dann wä­ren die Arbeitnehmer tatsächlich nicht so leicht in der Lage, die Versorgung der Jungen und Älteren zu übernehmen. Das hätte allerdings weniger mit den „unausweichlichen“ Folgen des Alterungsprozesses zu tun, sondern wäre eine bewusste politische Entscheidung hin­sichtlich der Verteilung des gesellschaftli­chen Reichtums.

 

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Lügen, Halbwahrheiten und die Wirklichkeit

Eine Widerlegung der ständig propagierten neoliberalen Mythen

von Otto Meyer


Die neoliberale Konterreform mit Um- und Ab­bau des Sozialstaates und Zerstörung des Öffentlichen Sektors hat eine Systemände­rung zum Ziel: „Zerschlagt das Soziale am Staat, damit der vom Kapital dominierte Markt allein herrscht!“ Der Regierungsapparat soll sich auf Militär, Polizei und Überwachung konzentrieren. Der Staat soll den Armen genommen werden, um ihn den Reichen zu geben. Dies neoliberale System-Umbaupro­gramm arbeitet mit immer wiederkehrenden Propaganda-Mythen. Wie alle Mythen sollen sie reale Verhältnisse und Veränderungen erklären und als nicht anders möglich hinstellen, als unabänderliche Gesetze. Sie nutzen gängige Vorurteile, oft aus der Vergangenheit, die verklärt werden. Propaganda-Mythen verdrehen die Wirklichkeit, Halbwahrheiten werden aufgebauscht, die Lügen sind verschleiert. So wird der neoliberale „Sach­zwang“ aufgebaut: „Es gibt keine Alternative!“ = There is no alternative=Tina!

Mythos: „Kostenexplosion in den Sozial­systemen“

Die Tatsachen aus dem statistischen Jahrbuch zeigen keine „Explosion“: Die Ausgaben für die Rentenversicherungen der Arbeiter und Angestellten lagen 1975 bei 10,1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), 1980 bei 9,3 Prozent und 2001 bei 10,8 Prozent - obwohl durch die massenhaft erzwungenen Frühverrentungen des Anteil der Menschen, die von Rente leben müssen, sich mehr als verdoppelt hat. Der Anteil der Kosten für die Gesetzliche Krankenversicherung am BIP liegt ebenfalls sei 25 Jahren immer um die 6 Prozent und betrug 2001 = 6,8 Prozent. Eine messbare Erhöhung gab es lediglich bei den Kosten für die Arbeitslosigkiet, nämlich von 1,2 Prozent in 1975 auf 3,1 Prozent in 1992 und dann in 2001 sogar wieder eine Absen­kung auf 2,1 Prozent, obwohl die Zahl der Arbeitslosen ja um einige Millionen gewach­sen ist. Aber die Propaganda-Mythen arbeiten mit der verdrehten Halbwahrheit: Sie zeigen z. B. in einer steil aufsteigenden Kurve, wie in 14 Jahren die Kosten um 100 Prozent ge­stiegen sind - ohne darauf hinzuweisen, dass die Preise und die Gesamtwirtschaftsleistung ebenfalls um 100 Prozent zugenommen haben.

Mythos: Die Lohnnebenkosten sind zu hoch"

Es gibt keine Lohn-„Neben“-kosten. Gemeint sind die Sozialabgaben von den Bruttolohn­kosten, und die sind nicht eine Nebensache, sondern ein wichtiger Bestandteil des Lohnes. Das merkt jeder, der als Freiberufler oder Ich-AGler sich selbst gegen Zeiten der Arbeitslo­sigkeit, der Krankheit oder fürs Alter versi­chern muss. Wer sagt: „Die Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden“, will die Löhne senken. Er propagiert Lohnraub. Schröder sagt, seine Agenda 2010 senke die Lohnneben­kosten und schaffe so mehr Arbeitsplätze. Er lügt doppelt:

1. Seine sogenannten „Reformen“ senken die Sozialabgaben nur für den Unternehmer - der Arbeiter oder die Arbeiterin muss für Zahn­ersatz usw. sich privat versichern und zahlt entsprechend mehr:

Schröders Lohnsenkungsprogramm schafft kei­ne Beschäftigung, eher werden noch mehr Arbeitsplätze vernichtet, weil die Leute sich immer weniger kaufen können.

Die Sozialbeiträge machen hierzulande seit Jahrzehnten um die 15 Prozent vom BIP aus (ausgegeben werden gut 19 Prozent, 4 Pro­zent werden aus Steuern aufgefüllt), sie sind also für die gesamte Volkswirtschaft nicht gestiegen. Allerdings gibt es ein Problem: Die Sozialabzüge sind für den einzelnen Be­schäftigten heute um 25 Prozent höher als vor 25 Jahren, weil immer mehr arbeitslos oder in Minijobs gedrängt wurden. Und für sie wird wenig oder gar nichts in die Sozialkassen eingezahlt, sie müssen aber mit versorgt werden. Weil der Anteil der Bruttolöhne am Volkseinkommen zu Gunsten der Vermögens­einkommen zurückgeschraubt wurde und die Einkommen der höher Verdienenden und Reichen von den Abgaben freigestellt werden, müssen die Sozialleistungen von der gesunkenen Zahl jener aufgebracht werden, die noch eine volle Stelle haben. Deshalb hat der einzelne Arbeiter höhere Abzüge! - Die richtige Konsequenz müsste heißen: Alle Einkommen, auch Kapitalein­künfte, werden mit dem gleichen Prozentsatz für Sozialabgaben herangezogen!

Mythos: „Abgaben und Steuern sind in Deutschland zu hoch!“

Der deutsche Sozialstaat ist in Europa schon lange kein Vorzeigemodell mehr, er belegt in der EU-Sozialrangliste nur noch einen Platz im unteren Mittelfeld. Die Steuern lagen in 2001 bei 21,7 Prozent vom Bruttoinlandspro­dukt. Dies war der niedrigste Satz in der EU (FR 21. 1. 01.) Deutschland ist für hohe Ein­kommen und für große Vermögen zu einer Steueroase geworden: wenig Erbschaftssteu­ern, keine Vermögenssteuer, geringe Gewer­besteuer, kaum Körperschaftssteuer. Und wenn man die Sozialabgaben („Lohnnebenkosten“) zur Steuer dazu zählt, kommt die BRD auf 36,4 Prozent Abgaben vom BIP. In allen EU-Nachbarländern liegen die Gesamtabgaben wesentlich höher: in Holland bei 43 Prozent, in Österreich und Italien bei 44 Prozent, in Frankreich bei 46 Prozent, in Schwe­den gar bei 53 Prozent. In all diesen Ländern sieht die Arbeitslosenstatistik besser aus als bei uns! Das deutsche Steuer- und Abgaben-Dumping führt zu weniger Beschäftigung!

Mythos: „Die staatlichen Kassen sind leer und deshalb müssen alle sparen!“

Dieser Mythos ist besonders wirksam, weil er mit einer Teilwahrheit arbeitet und Sparen als eine ehrwürdige Tugend gilt. Die Teilwahr­heit ist: die Kassen der Kommunen, der Län­der und des Bundes sind tatsächlich ziemlich leer - aber wodurch sind sie leer geworden? Die Kassen sind durch eine gezielte Steuer­senkungspolitik für die Kapitalseite leergefegt worden. Wenn Weltkonzerne wie Daimler, Siemens, Bayer oder Telekom in Folge der Eichelschen Steuerreform keine Gewerbe­steuer mehr zahlen und bei der Körper­schaftssteuer sogar noch einiges zurückfor­dern konnten, dann muss der Staat natürlich auf allen Ebenen arm werden.

Wenn zusätzlich der Spitzensteuersatz von 53 Prozent in 1999 auf 42 Prozent in 2005 ge­senkt wird, dann hat davon der Durchschnitts­verdiener gar nichts, weil er den Spitzensteu­ersatz nie erreichen kann. Aber ein Herr Acker­mann von der Deutschen Bank mit 11 Mill. Jahreseinkommen kann 1,2 Mill. Euro mehr auf sein Konto verbuchen. So erklärt sich auch der Appell: „Wir müssen alle sparen!“ Ja, 90 Prozent der Bevölkerung muss sich arm sparen, damit die 10 Prozent der Ober­schicht ihre Kapitalrenditen kräftig erhöhen können. Das Geldvermögen hierzulande ist in 2003 um 170 Mrd. Euro auf 3 900 Mrd. weiter aufgehäuft worden. Die Armen müssen sparen, damit die Reichen noch reicher wer­den!

Mythos: „Die hohen Staatsschulden bela­sten unsere Kinder und Enkel!“

Auch hier appelliert der Mythos an eine alte Volksweisheit: Schulden sind schlecht, und Eltern, die ihren Kindern nur Schulden hin­terlassen, sind ganz schlechte Eltern. Die Teilwahrheit ist: Ja, die Staatsschulden der BRD sind hoch, mit z. Zt. 1,3 Billionen Euro betragen sie 61 Prozent vom BIP. Ob sie zu hoch sind, ist schwer zu entscheiden; in USA liegt ihr Anteil bei über 70 Prozent, in Japan bei 140 Prozent. Offenbar funktioniert der heutige Kapitalismus nur von mit Hilfe von Staatsverschuldungen. Denn was sind Staats­schulden? Sind sie dasselbe wie die Schulden einer Familie oder eines kleinen Betriebes? Nein, keineswegs. Der Staat leiht sich das Geld ja sozusagen „innerhalb der Familie“, d. h. von seinen eigenen Bürgern. 90 Prozent der Bundesschatzbriefe usw. sind Guthaben von vermögenden Deutschen - die übrigens noch viel mehr auch im Ausland besitzen. Und das geliehene Geld wird dringend ge­braucht, um für uns alle Bildung, sozialen Frieden, Umweltschutz oder Infrastruktur wenigstens noch halbwegs aufrecht zu erhal­ten, es dient also gerade auch unseren Kin­dern.

Die Staatschulden werden nur dann Lasten für einen Großteil unserer Kinder sein, wenn der kleinere, reichere Teil „unserer“ Kinder die Staatsschuldtitel als Vermögen unge­schmälert erbt. Für die Kinder der Reichen würden Bundesschatzbriefe überhaupt keine Last, sondern eher ein Segen sein! Allerdings nur so lange, wie alles so bliebe, d. h. wenn es weiterhin keine Vermögensteuern und kaum eine Erbschaftssteuer geben würde. Doch der Irrsinn, dass der Staat den Reichen immer mehr Steuern erlässt, um sich anschließend das erlassene Geld von denselben Leuten ge­gen Zins und Zinseszins zu leihen, muss be­endet werden: Spätestens die Enkel fechten's besser aus.

Mythos: „Demografie: Zu viele Alte und zu wenig Junge zwingen zum Sozialabbau!“

Die Neoliberalen behaupten, es wären zu vie­le Alte zu alt geworden und seit Jahrzehnten schon zu wenige Kinder nachgewachsen. Des­halb müssten die Renten gesenkt und die Kran­ken- und Pflegeleistungen drastisch gekürzt werden. - Aber wie verträgt sich das mit der Tatsache, dass wir 5 Millionen Arbeitslose haben, davon fast 1 Million unter 25 Jahren? Offenbar sind doch zu viele da und nicht zu wenige, um auch Alte pflegen zu können. - Wenn man sie denn liesse! Man lässt aber Hun­derttausende von Jugendlichen ohne Arbeit und Ausbildung, weil das für die Gewinne der Konzerne zu teuer sein soll. Es ist nicht des­halb weniger Geld in den Rentenkassen, weil zu wenige arbeitsfähige Menschen nachge­wachsen wären. Offenbar sind sogar zu viele da! Die Rentenkassen sind leer gemacht wor­den durch massiven Stellenabbau, auch durch Wegfall der Beiträge von Arbeitslosen, von Minijobbern oder Ich-AGlern. Mit Demo­grafie hat das alles nichts zu tun, wohl aber mit einem Kapitalismus, der wuchern will und muss, auch auf Kosten der sozialen Ab­sicherungen der arbeitenden Bevölkerung.

Dass mit der Keule „Demografie“ massiv Ängste erzeugt werden, ist leider wahr. Alte fragen sich, wie lange sie wohl noch leben dürfen. Die Jungen sehen sich von den an­geblich zu vielen Greisen ausgesaugt - Gene­rationenkampf statt Klassenkampf! Hier wird Angstpropaganda mit manipulierten Hoch­rechnungen getrieben. Tatsächlich ist z. B. die Lebenszeit in der Arbeiterrentenversiche­rung für Männer in den zurückliegenden 10 Jahren um 2,5 Monate gesunken! (vgl. Rainer Roth, Nebensache Mensch, Frankfurt/M. 2003, S. 436). Und wer behauptet, die Zahl der Ge­burten würde die nächsten 50 Jahre weiter zu­rückgehen, will an der miserablen Situation für Eltern mit Kindern nichts ändern. Lieber holt man sich die Menschen als ausgebildete Kräfte aus Russland, Indien usw., weil man so die Kosten für 20 Jahre Kindheit und Aus­bildung hierzulande sparen kann!

Mythos „Globalisierung“

Hierbei handelt es sich um einen besonders in Mode gekommenen Mythos, von dem Angst und Schrecken ausgehen. Gewerkschaften und Betriebsräte gehen vor ihm in die Knie. Ob Müntefering, Vogel oder Eppler - das sind die Leute, die der SPD-Basis erklären sollen, warum Schröder nicht nur den Sozialstaat schreddert, sondern schon große Teile seiner eigenen Partei weggeschreddert hat - alle sa­gen: Die Globalisierung zwingt uns, den So­zialstaat so ab- und umzubauen, dass die deut­sche Industrie auch in 2010 noch auf dem Weltmarkt mithalten kann. Die Löhne müssen drastisch runter und die Arbeitszeit muss er­höht werden, weil Inder und Chinesen zu viel geringeren Löhnen und doppelt so lange ar­beiten. Das sei ein „Zwang aus der Globali­sierung“, dazu gebe es „keine Alternative“, also „Tina!“

Tatsächlich ist der grenzüberschreitende Wa­renhandel mit den meisten Ländern der „3. Welt“ sogar rückläufig, eine Zunahme findet nur zwischen den Industrieländern selber statt, die Hälfte davon wird innerhalb von Tochter­firmen großer Konzerne gehandelt! Auch die Investitionen werden zu 90 Prozent in an­deren Industrieländern getätigt, um sich dort vor Ort Marktanteile zu sichern. Die deut­schen Konzerne liefern ihre Exporte zu über 70 Prozent in den EU-Raum, 10 Prozent gehen in die USA. Mit China und Indien zu drohen, ist ein Witz: Deutschland liefert auch in diese Länder mehr Waren, als es von dort bezieht - obwohl dort doch so fleißig und bil­lig gearbeitet wird! Würde es stimmen, dass geringere Löhne Arbeitsplätze bringen, dann müsste in jedem Drittweltland nicht nur Voll­beschäftigung, sondern ein Mangel an Ar­beitskräften herrschen.

In Wahrheit ist die deutsche Industrie der größte Globalisierungsgewinner. In 2003 wur­den Waren für 130 Mrd. Euro mehr von hier ausgeführt als eingeführt. Das ist der größte Exportüberschuss weltweit. Dieser Überschuss hat sich in den letzten sechs Jahren mehr als verdreifacht! Übrigens gilt die positive Han­delsbilanz selbst noch in Bezug auf Polen und Tschechien. Derart hohe Exporte zeigen, dass deutsche Waren nicht mit zu hohen Löhnen, sondern mit zu niedrigen Lohnstückkosten hergestellt worden sind. Die deutschen Arbei­ter produzieren viel mehr, als sie selber und die von ihnen mit zu unterhaltenden Kinder, Kranken, Arbeitslosen und Alten verbrau­chen!

Der deutsche Sozialstaat und die deutschen Löhne weisen ein zu niedriges Niveau auf. Und so nutzen die deutschen Multis und Groß­banken den Handelsüberschuss für den Auf­kauf ausländischer Firmen, aber nicht zur Be­lebung von Handel und Wandel im Inland. Mit Lohnverzicht und Kürzung bei den So­zialausgaben bezahlen demnach die deut­schen Arbeiter letztlich sogar den „Export“ ihrer eigenen Arbeitsplätze! Höhere Kapital­steuern und Sozialbeiträge könnten das ver­hindern.

(Entnommen aus „unsere Zeit“ vom 2. 4. 04 S. 3

 

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FDJ-Berlin, K. Liebknecht-Haus, Weydingerstraße 14-16:

Wollt ihr etwa die DDR wiederhaben?

Fragt man uns und wir sagen:

Wir wollen:

Einen Staat, in dem man nicht länger vor Hartz & Rürup und all den anderen Knechten und Lohndrückern Angst haben muß: Einen Staat, in dem das alles, diese verlogene „soziale“ Marktwirtschaft abgeschafft wird! Einen Staat, in dem es Sinn macht, zu lernen, zu studieren, zu arbeiten, wo jede Hand, jeder Kopf gebraucht wird, ohne Massenarbeitslosigkeit! Einen Staat, in dem Kinder nicht länger zum Kostenfaktor erniedrigt sind. In dem Frauen Hoch­schulen besuchen, statt am Herd zu versauern!

Einen Staat, den wir gemeinsam planen, in dem wir selber entscheiden über den Reich­tum, den wir gemeinsam schaffen! Einen Staat ohne eine Hand voll Milliardäre hier und Millionen Arme dort. Einen Staat, in dem Fabriken und all das, was wir erarbeiten, uns gehört! Einen Staat, in dem die Konzerne und Banken, die Siemens, Daimler & Deutsche Bank, die sich an unserer Arbeit bereichern und zwei Weltkriege angezettelt haben, endlich enteignet werden!

Einen Staat, in dem Frieden Gesetz ist! Einen Staat, der kompromißlos gegen Nazis vorgeht, gegen die mit Knüppeln und hinter Schreibtischen! Einen Staat, der Menschen nicht abschiebt, sondern sie willkommen heißt, in dem Völkerfreundschaft Gesetz ist! Einen Staat, in dem all denen der Mund verboten wird, die nach „Ostgebieten“ brüllen und in Landsmannschaften Blut und Boden frönen! Einen Staat, der überall dort hilft, wo man den Menschen noch bedrängt! Einen Staat eben, für den man sich anderen Ortes nicht schämen muß.

Nun wißt Ihr, was wir wollen. Wir wissen, daß es einen Staat gab, der von all diesen Dingen immerhin etwas erreicht hat, die DDR! Dieses Land war somit ein winziger Anfang von dem, wovon man so viel redet unter Linken. Dieses Land gibt es nicht mehr. Heute reden wir in einem Land, das nur noch eine faulende, stinkende Endstation ist, die man BRD nennt.

Manch einer haßt die DDR. So schön, um sie zu lieben, war sie sicher nicht, doch sie war das Beste, was die Deutschen je zu Wege gebracht haben! Zählt uns nicht die vielen Dinge auf, mit denen die DDR schief lag. Wir wissen davon!

Wir wollen nicht länger reden von einem Staat ohne Fehler, den es sowieso nicht geben kann. Ja, selbst wenn diese DDR noch schlimmer war, als uns das Fernsehen jeden Tag vorlügt: ja, wir wollen diesen winzigen Anfang! Diesen Sack Probleme und Fehler der DDR, den wollen wir auch. Denn wir haben große Lust, uns zu versuchen an diesen Aufgaben! Weil es in einer fehlerhaften Gesellschaft hilft, an Fehlern zu arbeiten! In einer faulenden Gesellschaft wie dieser, die eine Sackgasse darstellt, in der wollen wir nicht länger den Doktor spielen. Ein Anfang aber, wie klein er auch sein mag, ist immer die Zukunft.

„Wenn die DDR ein saurer Apfel ist, aber die BRD ist ein fauler.“ - Peter Hacks

 

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Presseerklärung

zu den Prozessen des Eigentümers des Sporthauses Ziegenhals

gegen Verteidiger der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte

Der derzeitige Eigentümer des Sporthauses Ziegenhals, der vor über einem Jahr die Ernst-Thäl­mann-Gedenkstätte widerrechtlich verschlossen hat, versucht mit kostenpflichtigen Abmahnun­gen, einstweiligen Verfügungen und Unterlassungsklagen Antifaschisten, die die Schließung der Gedenkstätte anprangern und ihn beim Namen nennen, mundtot zu machen. Ein Richter hat beim Prozess gegen die „junge Welt“ festgestellt, dass dieser Herr „flächendeckend gegen eine Vielzahl von Veröffentlichungen vorgegangen ist“, in denen sein Name im Zusammenhang mit der Schließung der Gedenkstätte genannt ist. Mit Hilfe der Gerichte will dieser hohe branden­burgische Ministerialbeamte die Meinungsfreiheit für Antifaschisten außer Kraft setzen und die Pressefreiheit aushebeln. Und das ist ihm teilweise schon gelungen - auch wenn die Richter nicht allen seinen Darstellungen folgen konnten. Immerhin hat das Landgericht Berlin, im Zuge der einstweiligen Verfügung gegen den Freundeskreis „Ernst-Thälmann-Gedenkstätte Ziegen­hals“ im März 2004 die Aussage nicht verbieten können, „dass viele Beobachter geäußert hätten, dass eine abgekartete Aktion einflussreicher rechter Kreise zur Beseitigung der Gedenkstätte im Gange gewesen sei“.

Solidarität ist notwendig. Die Prozesse müssen von einer demokratischen Öffentlichkeit beob­achtet werden!

Bisher bekannte Termine im Landgericht Berlin, Tegeler Weg 17-21, 10589 Berlin:

Erika Wehling-Pangerl (Unterlassungsklage); Neues Deutschland (Hauptsacheverfahren gegen einstw. Verfü­gung); KPD / Hans Wauer (Unterlassungsklage)¸ Prof. Dr. theol. Heinrich Fink; Frank Flegel / Zeitschrift "Offen­siv"; Dr. sc. Dr. h.c Kurt Gossweiler; Dietmar Koschmieder / junge Welt; Rolf Priemer / Zeitung der DKP "un­sere Zeit"; Dr. Eva Ruppert; Egon Schansker, Horst Singer / Heimatspiegel (Dahme-Spreeewald); Dr. Hans-Gün­ter Szalkiewicz, DKP / Berliner Anstoß; Hans Wauer, KPD / Rote Fahne.

Die Unterzeichner sind alle selbst von kostenpflichtigen Abmahnungen, sonstigen Geldforderungen, einstweiligen Verfügungen oder Unterlassungsklagen betroffen. - Stand: 28.08.2004

 

Stand 6. 11. 04: „Ein dramatischer Eingriff in die Pressefreiheit verhindert!“

Am 6. November meldete die jungen Welt auf S. 1, das Kammergericht habe in der Hauptverhand­lung am 5. 11. 04 das Landgerichtsurteil aufgehoben, durch das es zuvor verboten war, den Na­men jenes brandenburgischen höheren Beamten zu nennen, der das Grundstück in Ziegenhals, zu dem die Thälmann-Gedenkstätte gehört, ersteigert und begonnen hätte, die Gedenkstätte zu schließen. Dem Urteil waren zahlreiche Abmahnungen, einstweilige Verfügungen und Unterlassungsklagen vorausgegangen und die Betroffenen mit Bußgeldern und Anwaltskosten belastet worden. Nunmehr aber wurde Herr Gerd Gröger rechtskräftig darüber belehrt, daß in der Abwä­gung zwischen dem öffentlichem Interesse an einer Gedenkstätte und seinem privaten Interesse an Diskretion das öffentliche Interesse überwiegt. Kommentar vom Geschäftsführer der jungen Welt, Dietmar Koschmieder: „Ein dramatischer Eingriff in die Pressefreiheit verhindert!“

 

 

 

Karl Heinz Bernhardt * 21. 7. 1927 12. 8. 2004

Unsere Aufgabe kann ... nicht die Verwirklichung einer speziellen christlichen Friedenskonzeption sein - wenn es sie gäbe -, sondern die Mitwirkung bei der Beseitigung einer Gefahr, die alle Menschen bedroht. Dieser Aufgabe haben wir uns zu stellen, unabhängig von kirchlichen Eigeninteressen, unabhängig von traditionell gepflegten politischen Vorurteilen, die unser Engagement hemmen, und von der Illusion einer christlichen Hegemonie in den Fragen des Friedens, die uns untüchtig macht zur Kooperation mit anderen, von der aber der Erfolg des Ringens um den Frieden in der Welt ganz wesentlich abhängt.

Karl-Heinz Bernhardt, Schalom in WBl. 5/83, S. 45, 1/84, S. 4 und 2/84, S. 50

 

 


 

Weißenseer Blätter

Verlag und v.i.S.d.P. Hanfried Müller, Ehrlichstraße 75- D - 10318 Berlin

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Die WBl erscheinen nach Bedarf drei- bis fünfmal jährlich. Der Bezug ist un­entgeltlich. Unverkürzter Nachdruck ist bei Quellenangabe und Lieferung eines Be­legexemplars gestattet. (Kürzungen bedürfen der Zustimmung der Redaktion.) Wir bitten unter dem Kennwort „WBl“ und wenn möglich unter Angabe der Bezieher­nummer    (rechts  oben  im  Adressenetikett)    um Spenden  auf  unser  Konto  bei   der

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Fußnoten


[1] Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus junge Welt vom 22. September 2004, S. 7

* Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus ossietzky 20/2004, S. 697-699

* Entommen aus Amos / Transparent, Zeitschrift für die kritische Masse in der Rheinischen Kirche, 3/4, S. 62

* Hier ausgelassen: „Aber hier bewege ich mich schon in der Thematik des nachfolgenden Referenten und halte mich deshalb zurück“.  Red. WBl

[2] S. Y. Kaufmann. Politik entscheidet. ND vom 22. 10. 04

[3] Vgl. V. Mika, Thesen über die Stalinzeit und die Stalinismus-Doktrin. Weißenseer Blätter, H.1/2003

[4] H. Neubert, Die Hypothek des kommunistischen Erbes, VSA-Verlag Hamburg 2002. Vgl. die. Auseinandersetzung damit in: Weißenseer Blätter, H 1/2004

[5] Vgl. die Erläuterung der theoretischen Grundlagen des Chemnitzer Parteiprogramms der PDS von M. Brie und D. Klein: Sozialismus als Tagesaufgabe, Karl Dietz Ver­lag Berlin 2002. Vgl. die Auseinandersetzung damit in den Weißenseer Blättern H 1-2004.

[6] Vgl. V. Mika. Über die Unschuld der Konterrevolution. Weißenseer Blätter. H 1-2004

[7] H. Neubert, a. a .O. S.70

[8] Vgl. Die ganze Wahrheit über den Stalinismus, Einheit H. 12-1989, S. 1164.

[9] H. Neubert, a.a.O.., S. 79

[10] H. Neubert. A.a.O., S. 32 ff.

1 Näheres dazu in dem Buch "Sieger-Justiz?", Kai Homiliusverlag 2003

2 Marx Engels Werke Bd. 1, Seite 145

3 Siehe dazu auch "Sieger-Justiz?", a.a.O., S. 453 ff

4 Siehe dazu auch "Sieger-Justiz?" a.a.O. S. 352 ff.

5 in Weissenseer Blätter Heft 2/2002, Seite 26 ff.