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AbschiedZum Gedenken an Hanfried Müller 4. 1. 1925 bis 3. 3. 2009 Kurt Gossweiler, Berlin In: offensiv 2/2009
Wir haben den 30. Mai 1949. In der Deutschen Staatsoper - der spätere Admiralspalast - in Berlin findet die Abschlußtagung des „3. Deutschen Volkskongress für Einheit und gerechten Frieden" statt, an dem über 500 Delegierte aus den westlichen Besatzungszonen teilnehmen, um gegen die von dorther drohende Spaltung Deutschlands zusammen mit den Delegierten aus der sowjetischen Besatzungszone auf diesem Kongress ihre Stimme zu erheben. Der Kongress hat bereits den Entwurf der Verfassung einer deutschen demokratischen Republik mit nur einer Gegenstimme angenommen, als nächstes wird abgestimmt über das „Manifest an das deutsche Volk", das aufruft zum „Zusammenschluß aller national gesinnten Kräfte im Kampf für ein einiges, unabhängiges Deutschland, für den baldigen Abschluß eines Friedensvertrages und den Abzug der Besatzungsmächte." Auch dieses Manifest wird mit überwältigender Mehrheit angenommen, gegen nur drei Stimmen. Diese drei Gegenstimmen wurden von drei westdeutschen Delegierten abgegeben, alle drei evangelische Theologie-Studenten aus Göttingen, zwei Studenten und eine Studentin. Alle drei waren delegiert worden vom „Arbeitskreis zum Studium des Marxismus" an der Göttinger Universität. Einer der beiden Studenten war Hanfried Müller, die Studentin seine damalige Freundin und spätere Frau Rosemarie Streisand. Was hatte sie zu ihren Gegenstimmen veranlasst? Darüber hat Hanfried Müller berichtet in Erinnerungsaufzeichnungen, die er unvollendet hinterlassen hat, überschrieben: „Erfahrungen, Erinnerungen und Reflexionen aus der Geschichte von Kirche und Gesellschaft seit 1945". Hanfried Müller schreibt dort (S. 47-49 d. Ms.): „Wenn ich heute jenes Manifest, gegen das ich damals gestimmt habe, lese, finde ich es recht harmlos. Die Meinungsverschiedenheit entstand damals an dem Satz: `Auch die früheren Nationalsozialisten haben die Möglichkeit, durch ihre Mitarbeit zu zeigen, daß sie ihrem Vaterlande ehrlich und aufrichtig dienen wollen.´ Wir wollten ihnen diese Möglichkeit nur unter der Bedingung konzedieren, daß sie den Irrweg, auf den sie das deutsche Volk geführt hatten, bereuten und sich von ihm abwandten. Für einen solchen Ergänzungsantrag fanden wir – insbesondere unter westdeutschen (aber auch unter nun in der SED wirkenden) Kommunisten – durchaus Zustimmung, zum Beispiel bei Arnold Zweig sogar warme Sympathie. Wir sammelten für diese Antrag eine ganze Reihe Unterschriften und kamen dabei auch mit namhaften Repräsentanten der werdenden DDR ins Gespräch.." Diese Gespräche des jungen, 24-jährigen Studenten Hanfried Müller waren für seine und Rosemarie Streisands weitere politische Entwicklung offenkundig richtunggebend, beschreibt er doch deren Wirkung auf sie so: „Vor allem beeindruckte uns, daß in solchen Gesprächen gestandener Politiker, die um ihrer Überzeugung willen zwölf Jahre bitter verfolgt worden waren, mit uns jungen Leuten kein Rang zählte, nur das Argument. Wir begriffen, dass es ihnen um ein anderes, ein neues Deutschland ging. Aber die `nationale Frage´ war für uns verschlungen in die `Schuldfrage´. Uns überraschte die Toleranz, mit der diese kommunistischen, antifaschistischen, internationalistischen Arbeiterführer ihre ureigenen Ziele hinter einer nationaldemokratischen Gemeinsamkeit zurückstellten und mit der diese Opfer des Faschismus den `kleinen Nazis´ begegneten, ohne deren opportunistische Anpassung oder irregeleiteten Fanatismus doch der ganze Faschismus kaum funktioniert hätte. Sie hielten uns entgegen, wir ließen uns durch einen Kollektiv-Schuld-Komplex dazu verleiten, Internationalismus mit `Entente-Chauvinismus´ zu verwechseln, der nur die Kehrseite bürgerlichen Nationalismus sei. Und fixiert auf die `kleinen Nazis´, denen wir konkret begegnet seien, übersähen wir hinter deren Erscheinung das sozialökonomische Wesen des Faschismus. So wären wir der akuten Aufgabe nicht gewachsen, nämlich ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland aufzubauen, nicht gegen die, sondern mit der Mehrheit dieses Volkes, die sich gewiß von Goebbels habe verführen lassen. ... Aber wir lernten schnell. Es leuchtete uns ein, dass Deutsche, die unter Einsatz ihres Lebens – in internationalen Brigaden, Partisanengruppen oder Armeen der Anti-Hitler-Koalition – gegen den deutschen Faschismus gekämpft hatten, eine Aversion gegen den Gedanken einer `deutschen Kollektivschuld´ haben mußten. Andererseits hatte die KPD 1945 als einzige Partei öffentlich gesagt, was sie ihrerseits der internationalen Arbeiterbewegung schuldig geblieben sei, weil sie – die stärkste Partei der Internationale – es nicht vermocht hatte, den Faschismus in Deutschland aufzuhalten. Wir lernten diese Väter der DDR als durch Kampf und Leid geprägte, in ihrer Mischung von Strenge, Gerechtigkeit und – nicht zu übersehen – Barmherzigkeit tief imponierende Gestalten kennen." Sicherlich wurde durch dieses eindringliche Jugenderlebnis mit der Grund gelegt für die politische Entwicklung Hanfried Müllers vom „Anti-Nazi", zu dem er schon vom rheinländischen, aber nicht katholischen, sondern evangelischen Elternhaus her geworden war, „zu so etwas wie einem Kommunisten", wie er in seinen Erinnerungen selbst von sich sagt. (S.6). Ein möglicher weiterer Grund für diese Entwicklung ist vielleicht in dem zu sehen, was Dieter Kraft, einer der Schüler des Theologieprofessors Hanfried Müller an der Humboldt-Universität in einem Gedenkartikel in der Jungen Welt vom 10. März d.J. so formulierte: „Hanfried Müller war ein dialektischer Denker von einem so außergewöhnlichen Format, daß man schon Hegel bemühen muß, um vergleichsweise davon reden zu können." Ob der zweite Teil des Satzes berechtigt ist oder nicht, das zu beurteilen fehlen mir die Kenntnisse. Aber dass dialektisches Denken, wenngleich auf dem Gebiet der Theologie eingeübt, der Bejahung des dialektischen Denkens bei der Analyse gesellschaftlicher Bewegungen und Entwicklungen sehr förderlich sein kann – dafür legen die Schriften und das Wirken von Hanfried Müller überzeugend Zeugnis ab. Aus seinen Erinnerungen habe ich erst erfahren, dass nach dem ersten Weltkrieg eine Strömung, „dialektische Theologie" genannt, entstand, die nach 1933 eine führende Rolle im radikalen Flügel der Bekennenden Kirche spielte. (S.26) Von seinem theologischen Lehrer, den er am meisten schätzte, Hans Iwand, schrieb er: „Was man dabei mehr mit ihm einübte als von ihm `lernte´ war eine ungeheuer bewegte und bewegende Dialektik. Da gab es keine Erkenntnis, die man im Sinne eines toten Dogmatismus nach Hause tragen konnte. Bei ihm verwandelte sich jeder Gedanke wieder in Denken und gebar wiederum Denkanstöße, die oft viel später weiterführten." Von Hans Iwands dialektischer Theologie war Rosemarie Streisand nicht weniger beeindruckt und beeinflußt als Hanfried Müller. Beide, Hanfried Müller und Rosemarie Streisand gelangten in der Zeit des gemeinsamen Göttinger Studiums zu einer solchen Gemeinsamkeit der Ansichten, dass sich Hanfried Müller veranlasst sah, bei der Behandlung dieser Zeit einen „Einschub" einzufügen, in dem er uns Lesern mitteilt: „Seitdem sind es überwiegend gemeinsame Erinnerungen und Reflexion. Auch, was nur einer von uns erlebt oder reflektiert hat, haben wir untereinander besprochen und erörtert. Darum muß ich von diesem Datum an eigentlich nicht mehr im Singular, sondern im Dual schreiben. Einen Dual aber gibt es im Deutschen kaum. Darum wird von hier an unvermeidlich aus dem „ich" des Autors häufig ein `wir´, das keinen allgemeinen Plural, sondern eben einen konkreten Dual bezeichnet." Dies Aussage nicht auszulassen, ist mir wichtig, weil ich beide später, als ich nach dem Sieg der Konterrevolution in den von ihnen geleiteten Kreis Aufnahme fand, sie genau als dieses „konkrete Dual" kennen und schätzen lernte. Das Erlebnis des Volkskongresses und der Beginn des „Kalten Krieges" führten dazu, dass bei beiden der Gedanke an eine Übersiedlung in die DDR entstehen konnte. „Das offensichtliche Ende der Anti-Hitler-Koalition", so Hanfried Müller in seinen Erinnerungen, „wirkte auf uns wie auf heranwachsende Kinder die Scheidung der Eltern. Die Scheidung derer, in deren Hand wir bisher vertrauensvoll die antifaschistische Umerziehung unseres Volkes gesehen hatten, stellte uns nun in unerwarteter Weise vor Entscheidungen in neuer Eigenständigkeit.. Um im Bilde zu bleiben: Wir mußten zwischen den auseinandergehenden Elternteilen wählen. ... Bei unserer Orientierung und Option half die Frage, welche Seite denn die bisher gemeinsame Sache verraten habe? Die Beantwortung der Frage war nicht allzu schwer. Es waren die Westalliierten, die von Tag zu Tag sichtbarer vom gemeinsamen Kriegs- und vor allem Friedensziel, der antifaschistisch-demokratischen Neuordnung ganz Deutschlands, abrückten. ... Auf der anderen Seite war es die Sowjetunion, die mit zum Teil verzweifelten Mitteln (bis zu der Stalin-Note von 1952) versuchte, das Potsdamer Abkommen zu realisieren." (S.32) Hinzu kam die beginnende Remilitarisierung der BRD. Hanfried Müller und Rosemarie Streisand hatten eine FDJ-Hochschulgruppe gegründet, deren Sprecher Hanfried war und die gemeinsam mit anderen linksorientierten Studentenorganisationen gegen die Remilitarisierung auftrat, Unterschriften für eine „Volksbefragungn gegen Remilitarisierung" sammelte, und am 1. Mai 1951 ein Transparent gegen die Remilitarisierung entfaltete. (S.51 ff.) Dafür wurde gegen beide ein Disziplinarverfahren eröffnet, das ihm unmöglich machte, sein Studium ordentlich mit Prüfung und Promotion abzuschließen. „So entschloß ich mich, nun ziemlich abrupt, zu dem, wozu ich ja ohnehin seit längerem neigte, nämlich zur Übersiedlung in die DDR." (S.61). Die erfolgte dann - natürlich für beide, wenn auch auf unterschiedlichem Wege - im Frühherbst 1952 (S.62 /63). Bald danach – am 5. November 1952 – heirateten beide und aus Rosemarie Streisand wurde nun Rosemarie Müller-Streisand. Beide sahen in der Übersiedlung die verlockende Möglichkeit, „in einem Lande auf sozialistischem Wege mitzuwirken, um der Kirche ein vernünftiges Verhältnis zur neuen Gesellschaftsformation zu vermitteln." (S.62) Das war in der evangelischen Kirche in der DDR, in der der erzreaktionäre Bischof Dibelius über großen Einfluß verfügte und einen hasserfüllten Kampf gegen die sozialistische Staatsmacht führte, und die evangelische Kirchenführung insgesamt sich mit - vielleicht! - ganz wenigen Ausnahmen nie anders denn als in Wahrheit zur Evangelischen Kirche der BRD gehörig betrachtete, ein Unternehmen, bei dem man dazu verurteilt war, im kirchlichen Raum nur eine Randerscheinung zu bleiben, auch wenn man Mitglied der Synode war. Umso mehr Anerkennung und Achtung verdient die Unerschütterlichkeit, mit der die beiden diesem ihrem Anliegen treu blieben. Und wenn Hanfried Müller von sich sagt, er habe fast vierzig Jahre in diesem Land DDR gelebt und es „als mein Land und meinen Staat empfunden" (S.46), dann gilt das sicher genau so auch für Rosemarie Müller-Streisand.. Um in dem oben genannten Sinne in die Kirche hineinwirken zu können, wurde auf Initiative der beiden 1958 der „Weißenseer Arbeitskreis" (WAK) in der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg gebildet. (Über ihn und seine Aktivitäten wird in einem Artikel von Jürgen Schöller „Zur Geschichte des Weißenseer Arbeitskreises" berichtet, der in dem Buch „Wider die Resignation der Linken. Stimmen gegen Antikommunismus, Konterrevolution und Annexion", GNN Verlag 1994, S. 17-21, veröffentlicht ist.) Um eine größere Breitenwirkung zu erzielen, beschloß der Arbeitskreis - wiederum natürlich auf Anregung der beiden -, eine Zeitschrift herauszugeben. Und so erschien denn im Jahre 1982 Heft 1 der „Weißenseer Blätter , unter deren Titel vermerkt war: „Herausgegeben im Auftrag des Weißenseer Arbeitskreises (Kirchliche Bruderschaft in Berlin Brandenburg) Hefte zu Fragen aus Theologie, Kirche und Gesellschaft" Hanfried Müller, Initiator des Arbeitskreises und der Zeitschrift, schrieb über sie im Vorwort zu dem Band „Wider die Resignation" (S.10): „Die WBl erscheinen seit 1982 (in der DDR als `nichtlizenzpflichtiges Druckerzeugnis´) im Auftrage des Weißenseer Arbeitskreises, der Kirchlichen Bruderschaft in Berlin-Brandenburg. Sie opponierten und opponieren gegen jeden politischen Klerikalismus und kirchlichen Antikommunismus. Das war in der DDR ein Unicum. Dem Staatssekretär für Kirchenfragen waren sie des Sektierertums verdächtig,, und der Repräsentant des DDR-Kirchenbundes empfahl, sie `mit Vorsicht zu genießen´. Vielleicht gerade darum waren sie für viele ein `Geheimtip´. Kirchliches und politisches `Establishment´ schwieg und schweigt sie am liebsten tot, nur in Ausnahmefällen verliert es die Contenance und reagiert lebhaft, so einst epd (evangelischer pressedienst, K.G.) auf den Artikel `Die FDGO (Freiheitlich-Demokratische Grundordnung, K.G.) als Bekenntnisschrift der EKD‘ (Evangelische Kirche Deutschlands, K.G.) oder später der PDS-Vorstand auf Sahra Wagenknechts Untersuchung `Marxismus und Opportunismus´ (in Heft 4/1992 der WBl., K.G.) Dieser Gratiswerbung verdankten die WBl viele Neubezieher." Zu dieser Gratiswerbung gehörte auch der Beschluß des PDS-Parteivorstandes zum Wagenknecht-Artikel vom 30. November 1992, abgedruckt im `PDS-Pressedienst´ vom 4. Dezember 1992: „1. Der Bundesvorstand der PDS erklärt, daß er die Positionen seines Mitglieds Sahra Wagenknecht, geäußert in dem Artikel `Marxismus und Opportunismus - Kämpfe in der sozialistischen Bewegung gestern und heute` in der Zeitschrift `Weißenseer Blätter´ 4/92 für unvereinbar hält mit den politischen und programmatischen Positionen der Partei seit dem außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989. Der Parteivorstand sieht in den von Sahra Wagenknecht in ihrem Artikel geäußerten Positionen eine positive Haltung zum Stalinismusmodell. Sahra Wagenknecht wurde von der Funktion der Verantwortlichen für die Organisation und Auswertung der Programmdiskussion in der PDS entbunden." Nach diesem sehr knappen Überblick über den Entwicklungsweg Hanfried Müllers zu einem auch über Deutschlands Grenzen hinaus spätestens seit dem - zeitweiligen - Sieg der Konterrevolution 1989 stark beachteten konsequenten Streiter gegen die Reaktion jeglicher Färbung in Theologie und Politik füge ich noch einige eigene Erinnerungen an meine Begegnungen mit Hanfried Müller uns seinem Kreis an. Nach dem – zeitweiligen! – Sieg der Konterrevolution hat sich die Dialektik des Geschichtsganges auch darin bestätigt, dass selbst dieses böseste Ereignis noch Gutes hervorbrachte: es führte Menschen zusammen, die – ohne es zu wissen – schon lange zusammengehörten, und die ohne dieses böse Ereignis sich wohl nie begegnet wären: ich meine damit die Zusammenführung von Kommunisten wie "Kled", also Karl Eduard von Schnitzler und Martha Raffael, Heinz und Ruth Kessler, Ulrich Huar, Hermann Leihkauf, mich und andere, - mit Theologen wie Hanfried Müller, Rosemarie Müller-Streisand, Renate Schönfeld und anderen. Wie kam es bei mir zum unerwarteten Kontakt mit Theologen, die zu meiner großen Überraschung in sogenannten weltlichen Fragen „unsere" Klassiker - Marx, Engels und sogar Lenin - nicht nur genau so gut kannten, wie mancher meiner Genossen-Kollegen, sondern sich auch so verhielten, wie das „unsere" Klassiker von Kommunisten in konterrevolutionären Zeiten verlangten, indem sie klar und kompromißlos gegen die neuen Herren Stellung bezogen, während einige meiner früheren Historikerkollegen und -genossen zu Anpassern und Wendehälsen mutierten? Das kam so: Als in den letzten Wochen der DDR der Bund der Antifaschisten gegründet wurde, stellte – wie das ND berichtete -, einer der Teilnehmer der Gründungsversammlung den Antrag, der Bund müsse in seiner Satzung nicht nur den Faschismus, sondern auch den „Stalinismus" verurteilen. Gegen diesen Antrag trat – wie ebenfalls dem ND zu entnehmen war -, ganz entschieden auf ausgerechnet eine Pfarrerin. Das war eine ebenso ungewöhnliche wie erfreuliche Meldung, so dass ich der Pfarrerin wenigstens meine Freude über ihr Auftreten und meine Zustimmung mitteilen wollte, weshalb ich an das ND schrieb und um ihre Adresse bat. Die bekam ich auch, und so schrieb ich der Pfarrerin Renate Schönfeld nach Groß-Ziethen ein Danke-Schön und solidarische Grüße, was dazu führte, dass wir sie bald darauf bei uns als Gast begrüßen durften. Bei dieser Gelegenheit erzählte sie uns, dass sie in Berlin-Marzahn in jedem Monat eine Veranstaltung durchführe, mit jeweils einem Referenten und anschließender Diskussion, und sie würde sich freuen, wenn ich zur nächsten „Marzahner Runde" – so der Name bis heute, obwohl der Ort der Veranstaltung schon mehrfach gewechselt hat – kommen würde. Das tat ich denn auch, es war im Dezember 1990. Ich fand dort in der Marzahner Runde keine Gemeinde von christlichen Gläubigen vor, sondern eher eine Parteiversammlung von Noch- und Ex-Mitgliedern der Partei, der ich damals auch (und noch bis 2001) angehörte, die wie ich dem Wendekurs der neuen Führung der zur PDS gewandelten SED kritisch bis ablehnend gegenüberstanden, und sich Klarheit über die Ursachen der Niederlage und darüber verschaffen wollten, was jetzt zu tun sei. Der damalige Referent sprach denn auch über den Rückschlag, den der Sozialismus erlitten hatte, jedoch mit einem fatalistischen Unterton, etwa in der Richtung, dieses Ende sei wohl von Anfang an unvermeidlich gewesen. Das ging mir sehr gegen den Strich, aber als „Neuling" hielt ich mich zurück. Renate Schönfeld hat dann mich Neuling der Runde vorgestellt als Spezialisten für Faschismusfragen, und fragte mich, ob ich bereit sei, in der nächsten Sitzung im Januar 1991 ein Referat zu Fragen des Faschismus zu übernehmen. Ich sagte zu, aber nicht zu einem Referat über den Faschismus, sondern ich würde im Anschluß an das heutige Referat zu der Frage sprechen, ob der Sozialismus in Deutschland nach 1945 keine Chance gehabt hätte. Damit waren alle einverstanden, und so habe ich im Januar 1991 in der Marzahner Runde meine erste Ausarbeitung zu den Ursachen unserer Niederlage, die meiner Überzeugung nach keineswegs unvermeidlich war, vorgetragen. Durch Renate Schönfeld erfuhr ich dann, dass es noch eine zweite von Theologen geleitete kleinere Runde, aber mit gleichgerichteter Tendenz gäbe, die ebenfalls jeden Monat zusammenkäme. Wenn ich einverstanden sei, würde sie mich auch dort einführen. Ich sagte gerne zu, hatte ich in Renates Runde mich doch mehr unter Gleichgesinnten gefühlt, als in meiner Wohn-Partei-Gruppe, in der der Gysi-Geist dominant war, und die deshalb nicht mehr meine politische Heimat sein konnte, wenn ich auch mit einigen langjährig bekannten Genossen freundschaftlich verbunden war. So wurde ich denn im Januar 1991 in diesen von Hanfried Müller und Rosemarie Müller-Streisand ins Leben gerufenen und betreuten und in ihrem Hause tagenden Kreis eingeführt, dessen Ursprung der bereits erwähnte Weißenseer Arbeitskreis war. Zur Unterscheidung von Renate Schönfelds „Marzahner Runde" bürgerte sich in den neunziger Jahren für ihn die Bezeichnung „Linke Runde" ein. Ihre Teilnehmer waren ursprünglich fast nur Theologen gewesen, und Fragen der Theologie und Kirche und ihres Verhältnisses zur Gesellschaft hatten im Vordergrund gestanden. Das hatte sich Ende der achtziger Jahre, vor allem aber nach dem Untergang der DDR, so sehr geändert, dass, als ich von Renate Schönfeld dort eingeführt wurde, Theologen nach meiner Erinnerung höchstens noch die Hälfte der Teilnehmerschaft bildeten, und im Mittelpunkt der Diskussion nicht mehr theologische Fragen standen, sondern die politischen Fragen: Wie konnte es geschehen? Was ist zu tun, was kann, was muss getan werden? Was ich zu der Frage, wie es geschehen konnte, dort sagte und in der Marzahner Runde vorgetragen hatte, wurde in diesem Kreise sehr interessiert und überwiegend zustimmend aufgenommen, ganz besonders auch von Hanfried Müller. Von ihm kam gleich die Frage, ob ich einer Veröffentlichung in den Weißenseer Blättern zustimmen würde, eine Frage, die natürlich mit großer Freude bejaht wurde – wo sonst wäre denn mein Vortrag publiziert worden? In dem ehemaligen Organ der Partei, deren Mitglied ich noch war, im „Neuen Deutschland", mit Sicherheit nicht. So erschien denn mein Vortrag aus Renate Schönfelds Marzahner Runde in Heft 2/1991 der Weißenseer Blätter mit der Überschrift „Hatte der Sozialismus nach 1945 keine Chance?", also in einer Zeitschrift der „Kirchlichen Bruderschaft in Berlin-Brandenburg". Dies war meine erste Veröffentlichung auf meinem neuen Hauptforschungsgebiet, dem „modernen Revisionismus". (Ein „Nebenforschungsgebiet" ist er für mich schon seit 1956, seit den ersten deutlich negativen Auswirkungen des XX. Parteitages der KPdSU, gewesen.) Diese Zeitschrift wurde nun nicht nur für mich, sondern auch für solche von den Feinden der DDR seit eh und je mit wütendem Hass verfolgten und nun jeder Publikationsmöglichkeit beraubten Kämpfern gegen den BRD-Imperialismus, wie Kled Schnitzler, zu ihrem einzigen und auf Jahre hinaus auch ihrem wichtigsten Publikationsorgan. Wer hätte sich zu DDR-Zeiten eine solche Kombination vorstellen können! Das zeigt: wir Kommunisten hatten in Sachen antiimperialistisches und antikapitalistisches Bündnis noch viel hinzuzulernen! Im Unterschied zur Marzahner Runde, die immer mit einem Referat zu einem bestimmten Thema begann, um das dann auch die Diskussion kreiste, wurde in der Linken Runde nur ausnahmsweise einmal ein Thema vorgegeben; die aber dennoch immer lebhaften Diskussionen ergaben sich zu den jeweils wichtigsten aktuellen politischen Ereignissen, Veröffentlichungen oder auch Veröffentlichungsprojekten. Ein Dauerthema war natürlich die Frage nach den Ursachen des Siegs der Konterrevolution, der XX. Parteitag der KPdSU, die Rolle Stalins und Chruschtschows. Hanfried Müller sagt in seinen Erinnerungen zu Stalin(S.117/18): „Stalin stand angesichts der Notwendigkeit des Aufbaus des Sozialismus in nur einem, (und zudem höchst rückständigen) Lande für die Entscheidung, auf der einen Seite unter riesigen Opfern eine Grundindustrie aus dem Boden zu stampfen und dabei den revolutionären Prozess gegen die Isolation einer Avantgarde von den sie tragenden Massen einerseits, andererseits vor dem Rückfall zu schützen, der durch eine schleichende Rekapitalisierung vom Lande her drohte. Die Entscheidung fiel gegen Trotzki und Bucharin. Sie enthielt zugleich die schmerzhafte Bewältigung der `konstantinischen Wende´ der Revolution von der Zerschlagung fremder zum Aufbau eigener Staatsmacht. Dafür und für die Wahrung des Klassenherrschaft gegen jeden Angriff von innen und außen wurde der Preis der Beeinträchtigung der Balance zwischen innerparteilicher Demokratie und demokratischem Zentralismus gezahlt und die damit verbundene Erschwernis künftiger Entwicklung der sozialistischen Demokratie in Kauf genommen. Gewiß, auch dafür steht der Name Stalin. Aber war das ein `Fehler´? Es gibt Situationen, man könnte von historischen Dilemmata sprechen, die dazu zwingen, Bitternisse in Kauf zu nehmen, um Schlimmeres zu vermeiden. So mußte um des Sieges über den Faschismus willen in Kauf genommen werden, dass man den Kampf gegen ihn nur als großen vaterländischen Krieg´ und nicht als sozialistischen Befreiungsschlag gewinnen konnte. Zweifellos bremste das die weitere Reifung des Sozialismus in der Sowjetunion ab. Aber er führte zum Sieg über den Faschismus, und dafür vor allem steht der Name Stalin!" Und zum XX. Parteitag und zu Chruschtschow ist in den Erinnerungen zu lesen: „Der XX. Parteitag blieb natürlich bei den Antikommunisten nicht ungenutzt. Ihr massendemagogisch wertvollster Gewinn daraus war es, daß sie ihren Antikommunismus nun als `Antistalinismus´ artikulieren konnten, so daß er auch unter kommunistischen Bündnispartnern und bis in die kommunistischen Parteien und sozialistischer Länder hinein ungestraft propagiert werden konnte. An die Stelle der Frage: `Für oder gegen Privateigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln´ trat damit die Frage für oder gegen Stalin´. ..." „Trotz aller Kritik am XX. Parteitag der KPdSU war mir damals nicht deutlich, daß schon damals in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre die Aufstiegsphase im Frühsozialismus in eine Abstiegsphase umschlug, so daß bereits hier von einer konterrevolutionären Wende zu sprechen gewesen wäre. Wir waren zwar vom ersten Tage an gegen den XX. Parteitag, aber wir haben seine Folgen verniedlicht, als wir Chruschtschow nur als `Hampelmann auf der Bühne der Weltpolitik´ und nicht als ernsthafte Gefahr für den Sozialismus sahen" (S.122) Diese Seite aus Hanfried Müllers Erinnerungen macht verständlich, weshalb er ohne jegliche Bedenken meine seinerzeit sowohl von PDS- wie von DKP-Seite heftig angefeindete Brüsseler Rede auf dem 1.-Mai-Seminar 1994 der Partei der Arbeit Belgiens „Der Anti-Stalinismus – das Haupthindernis für die Einheit aller antiimperialistischen Kräfte" in das Heft 4/94 der WBl aufnahm. Die Teilnehmer der Linken Runde, die – neben den Gastgebern und Renate Schönfeld – mir diese Runde besonders gewinnreich machten, waren damals von den Theologen besonders Dieter Frielinghaus und Dieter Kraft, von der „weltlichen" Seite natürlich Kled Schnitzler, sodann der leider sehr früh verstorbene Friedrich Jung, ein Mediziner, dem u..a. die Aufsicht über die in der DDR hergestellten Pharmaka oblag und dessen strenger Kontrolle es mit zu verdanken ist, dass die Medikamente in der DDR nur zur Gesundung der Patienten und nicht zur Gewinnung von Maximalprofiten der Pharmaindustrie, wie in der BRD selbstverständlich, in die Apotheken geliefert wurden, und Margit Schaumäker, erste Nachrichtensprecherin des DDR-Fernsehens, dessen Geschichte sie bis zu seinem Ende mitgestaltet hat. Mit dem Hause Müller-Streisand ist sie jahrzehntelang eng befreundet und sie war eine unentbehrliche Mitarbeiterin bei der Gestaltung der Weißenseer Blätter. Im Laufe der Jahre veränderte sich die Zusammensetzung der Linken Runde, sei es durch Tod oder Ausscheiden aus anderen Gründen von Mitgliedern der ersten oder der zweiten Stunde, und es kamen neue hinzu. Von denen sind an erster Stelle zu nennen Heinz Kessler und seine Frau Ruth. Heinz Kesslers Teilnahme war ein unermesslicher Gewinn für unsere Bemühungen, uns Klarheit über das Geschehen auf der Regierungsebene in den letzten Jahren der DDR zu verschaffen. Vieles von dem, was Heinz Kessler in seinem Buche „Zur Sache und zur Person" veröffentlicht hat, kam in unseren Tagungen zur Sprache. Zum anderen halfen uns Heinz und Ruth Kesslers Berichte über ihre mehrfachen Reisen in das sozialistische Land in der Karibik unser Wissen über dessen Schwierigkeiten und Fortschritte zu vertiefen und unsere inneren Bindungen an dieses Land noch inniger zu gestalten. Hocherfreulich war auch, dass die Linke Runde erweitert wurde durch den Hinzutritt von Hermann Leihkauf. Mit ihm, dem exzellenten Politökonomen und ehemaligen Mitarbeiter in der Staatlichen Plankomission der DDR, verloren die Diskussionen über ökonomische Sachverhalte und Entwicklungen in Vergangenheit und Gegenwart den nicht seltenen Charakter von Meinungen und Vermutungen auf Grund von ungenauen Kenntnissen, weil Hermann Leihkauf mit einem phänomenalen Zahlengedächtnis und exakten Kenntnissen die Dinge immer genau auf den Punkt brachte. In der linken Runde fehlte auch nicht das Element des Internationalismus. Mit dem aus Ägypten stammenden Psychosomatiker Abe Eid hatten wir einen Spezialisten für die immer wieder brennend aktuellen Nah-Ost-Probleme, und zu der von uns hochgeschätzten Kommunistischen Partei Griechenlands hatten wir mit dem samt Familie schon seit Jahrzehnten in Deutschland beheimateten Korrespondenten des Zentralorgans der KP Griechenlands, Risospastis, Thanassis Georgiou, einen Kommunisten in unserem Kreise, der an den bewaffneten Kämpfen der Demokratischen Armee Griechenlands während und nach dem Zweiten Weltkrieg teilgenommen hat und der uns bei den Fragen, was zu tun sei, immer wieder an den Erfahrungen seiner Partei und ihres Kampfes teilhaben ließ. Im Dezember 2008 fand unsere letzte Tagung statt. Dort war bei Hanfried Müller keinerlei Zeichen einer Krankheit, gar noch einer lebensbedrohenden, zu bemerken. Sorgen um den Gesundheitszustand machte ich mir – und machten sich sicherlich auch andere Teilnehmer – nur bei Rosemarie, hatte sie doch ein Jahr zuvor einen physischen Zusammenbruch erlebt, der einen Krankenhausaufenthalt notwendig gemacht hatte, und hatte sie doch danach nicht wieder zur vorherigen Kraft und Aktivität zurückgefunden. Aber dass dies unsere letzte Zusammenkunft sein könnte, - daran hatte wohl keiner von uns gedacht. So traf mich im Januar die Nachricht von seiner Einlieferung ins Krankenhaus mit einer schweren Lungenentzündung völlig unvorbereitet. Aber als dann die Nachricht kam, er sei wieder nach Hause entlassen worden, hoffte ich, er sei auf dem Wege der Gesundung, die ihm erlauben würde, das Projekt seiner Erinnerungen zu Ende zu führen und bald auch wieder die Linke Runde zusammenzurufen. Den bisher fertigen Teil der Erinnerungen hatte er mir und anderen mit der Bitte um Meinungsäußerung, ob sich dies denn lohnen würde, übergeben. Dann aber im Februar die alarmierende Nachricht, Hanfried Müller habe in der Nacht mit Notfallauto wieder ins Krankenhaus gebracht werden müssen. Sein Ringen mit seiner Krankheit konnte er schon nicht mehr gewinnen – am 3. März erlag er ihr. Er hinterließ eine große Trauergemeinde. Am Tage seiner Beisetzung begleiteten die ihn auf seinem letzten Wege, die dazu noch in der Lage waren, um ihm für all das zu danken, was er ihnen an Erkenntnissen, an Mut und Standhaftigkeit vermittelt hatte, um den Kampf um eine sozialistische Zukunft weiter zu führen.
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