Herausgegeben im Auftrag des Weißenseer Arbeitskreises

(Kirchliche Bruderschaft in Berlin)

Weißenseer Blätter Verlag und v. i. S. d. P. Hanfried Müller

Ehrlichstraße 75 - D - 10318 Berlin


 

Heft 1 / 2005 

Aus dem Inhalt 1 / 2005

     Zu diesem Heft

     „Fünf Punkte, die für Christen unaufgebbar sind" / Erklärung der United Church of Christ (USA) 3

     Mai 1945. Erlebnis - Erinnerung - Geschichte / Hanfried Müller

     Drei Stimmen zur antifaschistisch-demokratischen Umwälzung in den Köpfen / Texte von Karl Barth - Thomas Mann - Albert Einstein

     Das Vermächtnis von Buchenwald – gestern, heute, morgen / Horst Schneider

     Naziaufmärsche gehören zur bundesdeutschen Rechtsordnung / Erich Buchholz

     Richtungskämpfe müssen ausgefochten werden / Hans Heinz Holz

     Arbeiterklasse, Zerfall, Organisation und Perspektive / Manfred Sohn

     Zum Terrorismus. Grundlagen und Charakteristisches / Hans Kölsch

     Damals Vietnam - heute Irak / Gerhard Feldbauer

     Dokumentation: Die DKP zur Besetzung des Irak (Auszug)

Der 17. Parteitag der DKP

     in der Sicht eines westdeutschen Kommunisten / Karl Anders

     in der Sicht eines ostdeutschen Kommunisten / Hans-Günter Szalkiewicz

 

     Wider die Islamophobie. Ein Brief des Jüdischen Kulturvereins Berlin e.V.

     Erschreckende Parallelen / Hanfried Müller

 

Literaturhinweise:

     Der Drahtzieher. Vernon Walters - Ein Geheimdienstgeneral des Kalten Krieges

     Ein neues Topos-Heft zu Peter Hacks

     Einladung zu einer festlichen Veranstaltung anläßlich des 60. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus


Zu diesem Heft

Wir beginnen dies Heft mit einer erfreulich besonnenen Stimme einer Kirche aus den USA: der Erklärung der United Church of Christ (mit der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in Kirchengemeinschaft verbunden) und stellen sie unter die, diesem Bekenntnistext entnommene, Überschrift: „Fünf Punkte, die für Christen unaufgebbar sind".

Nicht nur formal, sondern noch viel mehr inhaltlich erinnern diese Thesen und Verwerfungen an die Theologische Erklärung von Barmen, mit dem ein Rest der deutschen evangelischen Kirche nach einer allzu langen Zeit der Verwirrung und Lähmung 1934 endlich darauf hinzuweisen begann, daß das mit christlichen Vokabeln untersetzte religiöse Geschwätz der vom faschistischen Nationalismus Trunkenen alles andere als christlich sei. Die Freude über diese selbstkritische Mahnung aus den USA wird allerdings getrübt. Denn was sich bei uns zu Lande schamlos Kirche nennt, scheint weniger denn je zu begreifen, wie nötig wir selbst angesichts der hier wuchernden civil religion solch eine Besinnung hätten.

An den Tag der Befreiung erinnern wir einleitend mit Hanfried Müllers Rückblick auf den Mai 1945: Befreiung. Erlebnis - Erinnerung - Geschichte. Es folgen drei Dokumentationen aus der Feder sehr unterschiedlich geprägter Zeugen deutscher Kultur gegen die in Deutschland zur Macht gekommene Barbarei, nämlich von Karl Barth, Thomas Mann und Albert Einstein. Sie zeigen, wie man sich damals in bürgerlichen Kreisen die Freiheit vorstellte, zu der Deutschland, zur Selbstbefreiung nicht mehr fähig, von außen befreit wurde: grenzenlos mit Ausnahme nur dessen, was sich als unfähig erwiesen hatte, dem Faschismus Stand zu halten. Sie widerspiegeln auch die widersprüchliche Weite der Perspektiven, die sich damals dieser „Antihitlerkoalition" eröffneten, in der sich - anders als in der Koalition zwischen imperialistischen Konkurrenten des deutschen Faschismus und seinen sowjetisch-kommunistischen Todfeinden - über Klassengrenzen hinweg diejenigen getroffen hatten, denen die Nazis mit ihrer Angriffswut gegen alle humane Entwicklung unerträglich gewesen waren. Aber auch diese „Antihitlerkoalition" wurde immer unwirksamer, je mehr viele in ihr der Verführung erlagen, die Wiederaufnahme der antikommunistischen Offensive der Faschisten durch die imperialistischen Partner der Antihitlerkoalition neutralistisch als von beiden Seiten zu verantwortenden „kalten Krieg" zu verstehen und sich so neutralisieren zu lassen.

Die Erinnerung an den Tag der Befreiung schließt Horst Schneider ab mit seinem Beitrag: Das Vermächtnis von Buchenwald - gestern, heute, morgen. Dabei steht die Erinnerung an die Befreiung desjenigen KZ, dem die Selbstbefreiung gelang, und an den Schwur von Buchenwald nicht nur stellvertretend für alle 1945 durch den Sieg der Antihitlerkoalition aus Zuchthäusern, Vernichtungs- und Konzentrationslagern Befreiten, sondern insgesamt für die Befreiung Deutschlands vom Faschismus - so wenig sich auch seine herrschende Klasse und allzu viele ihr bis heute Hörige solcher Befreiung würdig erwiesen haben. Wie wenig sie dieser Befreiung würdig waren, zeigen sie bis heute, indem sie das Wort „Befreiung" wie die Pest scheuen und verschämt vom „Kriegsende", wenn nicht gar nur vom „verlorenen Krieg" reden. Verloren hatten ihren Krieg die Faschisten! Es ist bedrückend, wie viele Deutsche sich mit dem Satz vom verlorenen Krieg immer noch mit ihnen identifizieren und sich folgerichtig freuen, daß die Nachkommen der Faschisten allerdings nachträglich mit der Konterrevolution in halb Europa ihren Krieg doch noch gewonnen zu haben scheinen! Daß dieser postume Sieg von 1989 für das deutsche Volk furchtbare Verluste bedeutet, dringt erst allmählich, zu spät und immer wieder verdrängt, ins Bewußtsein deutscher Massen.

Wohin diese Restauration der gesellschaftlichen Ausgangsverhältnisse für den Sieg des Faschismus im vorigen Jahrhundert geführt hat, zeigt erschreckend der Aufsatz von Erich Buchholz: Naziaufmärsche gehören zur bundesdeutschen Rechtsordnung. Sechzig Jahre nach dem Potsdamer Abkommen klingt diese Überschrift höchst makaber, trifft aber leider zu bis auf die Frage, ob man diese „Rechtsordnung" nicht treffender „Unrechtsunordnung" nennen müßte

Das Potsdamer Abkommen war für deutsche Antifaschisten und Antinazis - obgleich auch sie unter manchen seiner Konsequenzen zu leiden hatten - die Magna Charta ihrer Befreiung vom Faschismus. Für die deutschen Faschisten und ihre Anhänger und Mitläufer, - sie stellten zumindest bis zur Wende mit der Schlacht von Stalingrad und der Landung der Westalliierten in der Normandie die quantitative Mehrheit aller Deutschen - war und ist es das grundlegende Dokument ihrer Niederlage. Nur in der sowjetisch besetzten Zone wurde es realisiert. In den drei westlichen Besetzungszonen versetzte es zumindest für einige Monate die Faschisten und viele, die sich durch Anpassung an sie und Kooperation mit ihnen kompromittiert hatten, in heilsame Angst und heilsamen Schrecken.

Hier begann in dieser Zeit insbesondere in der Kirche eine harte Auseinandersetzung über die jüngere deutsche Geschichte, die sogenannte „Schulddebatte". Sie hätte vielleicht zu einer auch subjektiven Befreiung vom faschistischen Ungeist führen können. Er war ja weit über den Kreis der Nazis hinaus in viele deutsche Köpfe schon vor dem Sieg des Faschismus, ihn vorbereitend und erleichternd, als vermeintliches „Nationalbewußtsein" eingedrungen und darin oft noch tiefer und nachhaltiger verankert als die Naziideologie. Aber schon sehr bald wurde deutlich, daß sich die schwer belehrbaren und oft unbekehrbaren Durchschnittsdeutschnationalen und Nazis zu Unrecht davor gefürchtet hatten, die Staaten der Antihitlerkoalition würden das von ihnen gemeinsam beschlossene Potsdamer Abkommen auch gemeinsam in ihren Besatzungszonen realisieren.

In dem Maße, in dem das Auseinanderbrechen der Antihitlerkoalition offenkundig wurde, wurde das Potsdamer Abkommen für die imperialistischen Besatzungsmächte obsolet. Das wirkte objektiv wie eine besatzungsrechtliche Zulassung der Renazifizierung, und die sich in ihrem Bereich bildenden deutschen Verwaltungsorgane und schließlich die BRD insgesamt beeilten sich, es auch ihrerseits so zu behandeln.

Die folgenden Beiträge sind den heutigen - soll man formulieren marxistisch-leninistischen oder kommunistisch-sozialistischen? - Perspektiven gewidmet und gewiß nicht einfach untereinander kommensurabel. Aber die WBl halten immer noch und immer wieder einiges von der gewiß nicht ganz ungefährlichen Parole, die Mao Tse Tung in einer bestimmten Zeit ausgegeben hatte: „Laßt viele Blumen blühen!". Sie darf allerdings nur insoweit gelten, als es sich wirklich um Blumen und weder um Giftpflanzen noch um Unkraut handelt. Um Blumen aber handelt es sich, wie wir meinen, sowohl bei den Erörterungen von Hans Heinz Holz, Richtungskämpfe müssen ausgefochten werden als auch bei den Zukunftserwägungen von Manfred Sohn, Arbeiterklasse, Zerfall, Organisation und Perspektive und ebenso bei dem Essay von Hans Kölsch Terrorismus - Grundlagen und Charakteristisches. Kölsch weist den Ausgangspunkt von Terrorismus in den Weltmachtambitionen der imperialistischen Staaten auf und beleuchtet die Gefahren oder Versuchungen für nationale und soziale Befreiungskämpfer, sich im Widerstand dagegen beim Gegner zu infizieren. Wie eine dialektische

Ergänzung dazu wirkt Gerhard Feldbauers Aufsatz Damals Vietnam - heute Irak.

Daran schließen wir eine Dokumentation der Positionsbestimmung der DKP zur Besatzung des Irak (aus einem Parteitagsbeschluß zur Beteiligung an der Demonstration gegen den Bush-Besuch in Mainz) und zwei erste Berichte über den DKP-Parteitag an: einen aus Westdeutschland von Karl Anders und einen aus Ostdeutschland von Hans-Günter Szalkiewicz. Außerdem dokumentieren wir einen Brief des Jüdischen Kulturvereins Berlin Wider die Islamophobie.

Eine Glosse, Erschreckende Parallelen, in der Hanfried Müller im Blick auf die Presseresonanz auf den Folter-Fall Daschner und in Erinnerung an den Nazifilm „Ich klage an" vor der Mobilisierung menschlicher Gefühle zwecks Demobilisierung menschlicher Moral warnt. Lektüreempfehlungen schließen das Heft ab.

(Redaktionsschluß am 1. III. 05)


 

Fünf Punkte, die für Christen unaufgebbar sind"

Erklärung der United Church of Christ (USA)

Begleitbrief

Liebe Kollegen und Kolleginnen,

wir schreiben Euch in einer Zeit, die, wie wir glauben, eine tiefe moralische Krise unserer Nation darstellt.

Wenn wir die Rhetorik hören, die von den höchsten Ebenen der amerikanischen Regierung kommt, dann hören wir mehr und mehr eine „Theologie des Krieges", die die USA in den Zustand eines messianischen Kreuzzuges versetzt, unter dem Deckmantel der christlichen Identifikation.

Es gibt - gab Zeiten in den USA und Orte in der Geschichte der Menschheit, wo politische Mächte versuchten, die Loyalität der Kirche Jesu Christi zu vereinnahmen. In solchen Zeiten muß die Kirche sich ihrer grundlegenden Glaubensinhalte vergewissern.

Wir glauben, daß 2004 in den USA so ein Ort, so eine Zeit ist. Wir sind zu der Überzeugung gelangt, daß es unsere Verantwortung als Christi Nachfolger ist, ein neues Bekenntnis zu Christus abzulegen.

In den letzten Wochen haben wir der beigefügten Erklärung zugestimmt. Wir nennen fünf Punkte, die nach unserer Meinung für Christen unaufgebbar sind, und weisen die gegenwärtige Lehre zurück, die diese Punkte auflösen würde.

Wir glauben, daß wir eine kritische und durchdachte Erklärung zu der „Theologie des Krieges", die uns gefährdet, abgegeben haben, und die eine bessere Alternative aufzeigt.

Erklärung:

Christus bekennen in einer Welt der Gewalt

Unsere Welt leidet unter Gewalt und Krieg.

Aber Jesus sagt: „Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes heißen" (Matth. 5, 9) Unschuldige Menschen, hier und im Ausland, werden durch terroristische Angriffe zunehmend geängstigt und gefährdet.

Aber Jesus sagt: „Liebe deinen Feind, bitte für die, die dich verfolgen" (Matth. 5, 44). Die Worte, die nie leicht waren, scheinen heute noch schwerer zu sein.

Dennoch, es kommt eine Zeit, in welcher Schweigen Verrat bedeutet.

Wie viele Kirchen haben seit dem 11. September 2001 hierüber gepredigt?

Wo bleibt die ernsthafte Debatte darüber, was es bedeutet, Christus in einer Welt der Gewalt zu bekennen? Meint christlicher „Realismus", sich auf die endlose Folge von vorbeugenden Kriegen einzustellen? Heißt es, die Augen zu verschließen vor Folter und einer hohen Anzahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung? Heißt es, eher aus Angst und Vorurteil heraus zu agieren als mit Verstand und Zurückhaltung?

Im Glauben Christus zu bekennen ist die Aufgabe der Kirche, und dies um so mehr, wenn ihr Bekenntnis von Militarismus und Nationalismus begleitet wird.

Eine „Theologie des Krieges" geht von den höchste Kreisen der amerikanischen Regierung aus:

- Die Sprache (göttlich) gerechtfertigter Herrschaft wird zunehmend gebraucht.

- Die Bedeutungen (Rollen) von Gott, Kirche und Nation werden durch das Gerede von „Mission" und „Göttlicher Auftrag", „die Welt vom Bösen zu befreien" verwischt.

Die Sicherheitsbelange unserer Nation verbieten einfache Lösungen. Niemand hat ein Monopol auf Wahrheit. Aber eine Politik, die internationalen Rat zurückweist, sollte sich nicht auch noch den Mantel der Religiosität umhängen. Das Ärgerliche, politischer Götzendienst ist heute verstärkt durch Politik der Angst.

In dieser Krisenzeit brauchen wir ein neues Bekenntnis zu Christus:

Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt ist, kennt keine nationalen Grenzen. Die ihn bekennen leben überall auf Erden.

Unsere Verpflichtung Christus gegenüber ist stärker als die nationale Identität. Wann immer Christentum Kompromisse mit weltlicher Macht eingeht, ist das Evangelium von Christus diskreditiert.

Wir verwerfen die falsche Lehre, daß je eine Nation beziehungsweise ein Staat mit den Worten beschrieben werden kann: „Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hatte es nicht ergriffen" (Joh. 1, 5.).

Dieses Schriftwort bezieht sich auf Christus allein. Kein politischer Führer hat das Recht, es in den Dienst der Kriege zu ziehen.

Christus verpflichtet Christen zu einer deutlichen Haltung gegen den Krieg. Die furchtbare Zerstörungskraft moderner Kriegführung unterstreicht diese Verpflichtung. Im Schatten des Kreuzes haben Christen die Verpflichtung, die Kosten, die Schäden, den Preis zu schätzen, ihre Stimme für die Opfer zu erheben und jede Alternative zu suchen, bevor eine Nation in den Krieg geht.

Wir sind mehr zu internationaler Zusammenarbeit verpflichtet als zu einseitiger Politikführung.

Wir verwerfen die falsche Lehre, daß ein Krieg gegen den Terrorismus Vorrang hat vor ethischen und legalen Normen. Manche Dinge sollten nie geschehen: Folter, grundlose Bombardierung von Zivilisten, der Gebrauch von Massenvernichtungswaffen - unabhängig von den Konsequenzen.

3) Christus befiehlt uns, nicht nur den Splitter in unseres Bruders Auge zu sehen, sondern auch den Balken in unserem eigenen. Alexander Solschenizin bemerkte, daß die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht zwischen einer Nation und anderen oder der einen Gruppe und der anderen geschieht. Sie geht mitten durch das menschliche Herz.

Wir verwerfen die falsche Lehre, daß Amerika eine „christliche Nation" sei, die nur das Gute repräsentiert, während ihre Gegner nur böse sind.

Wir verwerfen die Meinung, daß Amerika nichts zu bereuen habe, so wie wir die Meinung zurückweisen, daß es den Großteil des Bösen in der Welt repräsentiert. Alle haben gesündigt und mangeln des Ruhmes bei Gott (Röm. 2,23).

4) Christus zeigt uns, daß Feindesliebe das Zentrum des Evangeliums ist. „Als wir noch Sünder waren, starb Christus für uns" (Röm. 5, 8;10). Wir sollen sogar unsere Feinde lieben, da wir glauben: Gott hat in Christus uns und die ganze Welt geliebt.

Feindesliebe heißt nicht, vor feindlichen Plänen oder Übermacht zu kapitulieren. Es heißt, die Dämonisierung jedweden menschlichen Lebens, das nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, zurückzuweisen.

Wir verwerfen die falsche Lehre, daß ein Mensch außerhalb des Schutzes des Gesetzes stehen kann.

Wir verwerfen die Dämonisierung von angenommenen Feinden, da das nur den Weg zum Mißbrauch ebnet; und wir verwerfen die Mißhandlung von Gefangenen, ganz zu schweigen von womöglichen Vorteilen für die, die sie gefangen genommen haben beziehungsweise für ihre Bewacher.

5) Christus lehrt uns, daß Demut die Tugend ist, die dem Sünder zukommt, dem vergeben wurde. Sie mäßigt alle politischen Auseinandersetzungen und erlaubt, daß unsere eigenen politischen Wahrhnehmungen, in einer komplexen Welt, falsch sein können.

Wir verwerfen die falsche Lehre, daß die, die nicht politisch für unsere Nation sind, gegen sie sind, oder daß diejenigen. die die amerikanische Politik grundlegend in Frage stellen, zu den „Bösen" gehören. Solche groben Unterscheidungen, besonders, wenn sie von Christen kommen, sind Ausdruck der manichäischen Häresie, in der die Welt in absolut gute und absolut Böse gespalten wird.

Der Herr Jesus Christus ist entweder maßgeblich für Christen oder er ist es nicht. Seine Herrschaft darf von keiner irdischen Macht mißachtet werden. Seine Worte dürfen nicht für propagandistische Zwecke verdreht werden. Keine Nation beziehungsweise kein Staat darf sich an die Stelle Gottes setzen.

Wir glauben, daß es unabdingbar für Nachfolger Christi ist, diese Wahrheiten anzuerkennen.

Wir rufen Sie dringend dazu auf, diese Prinzipien zu bedenken, wenn Sie Ihre Entscheidungen als Staatsbürger treffen. Frieden zu schaffen ist das Zentrum unserer Berufung in einer gefährdeten Welt, in der Christus der Herr ist.

Der Begleitbrief zu diesem Bekenntnis ist unterzeichnet von Georges Washington Ivey, Professor of New Testament, Georg Hunicker, Richard B. Pierard, Hazel Thompson McCord, Professor of Systematic Theologie, Princeton, Glen Stassen, Richard B. Hays, Lewis Smedes, Professor of Christian Ethics, Fuller Theological Seminary, und für das Bekenntnis selbst zeichnet Jim Wallis, Editor, Sojourners.


 

Befreiung

Mai 1945 - Erlebnis - Erinnerung - Geschichte

von Hanfried Müller

Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht.

Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen,

nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen,

nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit.

Dietrich Bonhoeffer,

Stationen auf dem Wege zur Freiheit

Vor mir liegt ein Brief aus dem Nachlaß meiner Mutter, geschrieben am 26. Mai 1945 von Hanfried Müller, Gefr., Matriola 81 - g - 665163 H, US PW e 336, Naples / Italy:

„... Ich könnte allein Tage lang erzählen, deshalb beschränke ich mich auf das Schönste, auf die Tage nach meiner Gefangennahme ... Ich muß bekennen, daß ich mich zuerst befreit fühlte, denn die Gedankenfreiheit, die wir nun haben, ist etwas so lang Entbehrtes, so Köstliches, daß ich den Stacheldraht gar nicht sehe! ...".

So beschrieb damals ein neunzehnjähriger Soldat der deutschen Wehrmacht, wie er die Niederlage des Faschismus und das Ende des Krieges erlebte, nämlich als Befreiung.

Ein gewiß paradoxes Erlebnis vieler Deutscher, denn ihre Freiheit fing an mit einer Gefangenschaft, oder treffender gesagt: Nur indem sie eingesperrt wurden, wurde die Welt und wurden sie selbst befreit von Terror und Krieg.

Andere - unter Deutschen eine Minderheit - erlebten ihre Befreiung geradliniger: Vor ihnen öffneten sich die Tore von Gefangenen-, Vernichtungs-, Konzentrationslagern und Zuchthäusern. Oder, wenn sie „getaucht" waren und sich verbergen mußten, um zu überleben, konnten sie nun wieder „auftauchen", und wenn sie vertrieben und verjagt oder geächtet und darum „emigriert" waren, konnten sie zurückkehren. Für sie bedeutete das Ende von Faschismus und Krieg Befreiung ohne die Paradoxie, daß die Freiheit hinter Stacheldraht begann.

Erinnere ich mich an die Geschichte dieser Befreiung, muß ich es anders sagen: Denn das, was ich als Paradoxie der Befreiung hinter Stacheldraht erlebte, folgte ja aus einer Paradoxie, die vorangegangen war: die Existenz fast eines ganzen Volkes nicht in Gefangenschaft und doch in Unfreiheit.

Wahrscheinlich die Mehrzahl der Deutschen hatte sich allerdings, solange die Blitzkriege der Nazis zu deutschen Blitzsiegen führten, im Lande der „nationalen Erhebung" und der Konzentrationslager, der „nationalsozialistischen Volkswohlfahrt" mit ihrem „Eintopfsonntag" und des Maximalprofits der Konzerne im allgemeinen nicht unfrei gefühlt.

Tatsächlich war sie so unfrei, daß sie gar nicht bemerkte, wie sehr sie sogar die Freiheit, selber zu denken, verloren hatte, in diesem Sinne des Wortes die „Gedankenfreiheit". Ich erinnere mich, daß ich (das muß etwa 1942 gewesen sein) einen Freund im Bibelkreis der Bekennenden Kirche, also des Teiles der Evangelischen Kirche, der den Nazis kritisch bis ablehnend begegnete, auf die Konzentrationslager ansprach und er entschieden bestritt, daß es so etwas gäbe - um dann, ohne den Selbstwiderspruch auch nur zu empfinden, zu schließen: „Wenn Du so weiter redest, kommst Du selbst hinein!"

Das war ja das deutsche Verhängnis gewesen: Je freier Menschen waren, desto mehr drohte ihnen Verhaftung und Tod. Und je unfreier sie waren, je williger sie sich den Nazis angepaßt hatten, insbesondere je bereitwilliger sie für sie und mit ihnen in den Krieg gezogen waren, sich immer selbst belügend, es ginge um Freiheit und Ehre ihres Vaterlandes und nicht etwa um „ukrainischen Weizen und kaukasisches Öl" (Originalton: Goebbels), desto weniger hatten sie sich unfrei gefühlt. Während sie selbst geknechtet andere knechteten - zuerst die deutschen Kommunisten, Sozialisten und Demokraten, dann die Schwächsten, die sie als „fremdrassig" ausstießen, die deutschen Juden, Sinti und Roma und schließlich fast alle europäischen Völker - grölten sie ihr Lied: „Nur der Freiheit gehört unser Leben!"

Die Paradoxie der Freiheit hinter Stacheldraht, die ich damals empfand, war nur die natürliche Kehrseite dieser „Freiheit" zur Knechtung anderer, dieser Unfreiheit ohne Stacheldraht, zu der die herrschenden Klassen in Deutschland die Mehrheit der Deutschen durch Terror, Demagogie und Korruption gezwungen, verführt und bestochen hatten bis dahin, daß dieses Volk sich schließlich schon deshalb nicht mehr selbst zu befreien wagte, weil es fürchtete, nach der Kapitulation seiner „Wehrmacht" genannten und als ehrbar geltenden Räuberbande würde ihm mit gleicher Münze heimgezahlt.

Wie sehr diese als ehrbar geltende Wehrmacht eine Räuberbande war, das hatte ich selbst als Okkupant in Italien gesehen, nicht nur im kleinen, wenn wir „ehrlichen deutschen Soldaten" den italienischen Bauern Feldfrüchte und Hühner stahlen (manchmal nur Mundraub, um nicht zu hungern, oft aber Kompensation eigener Ohnmacht durch Machtdemonstration gegen Schwächere), sondern vor allem im großen, im kriminellen Ausmaß der Kriegsverbrechen, die sich keineswegs nur die SS leistete. Wenn ich die „zur Abschreckung" an den Telegraphenmasten erhängten Partisanen hatte sehen müssen, hatte ich sie beinahe darum beneidet, daß sie wenigstens in einem guten Kampf für die Befreiung ihres Landes gefallen waren. Aber der Mut, ihrem Beispiel zu folgen, statt ihnen allenfalls unauffällig zu helfen, fehlte mir.

Wir deutschen Soldaten hatten unser Leben täglich von den Hitlers, Himmlers und Görings (und zwar für die Interessen der Krupps, Kierdorffs und Stinnes, aber das sah ich damals noch nicht!) einsetzen und uns zu dem zwingen lassen, was sie Mut und Tapferkeit nannten. Aber der wirkliche Mut, uns selber einzusetzen, statt uns einsetzen zu lassen, und so aus Kriegsknechten zu Freiheitskämpfern zu werden, hatte uns gefehlt. Das meine ich mit der Unfreiheit ohne Stacheldraht.

Die Freiheit hinter Stacheldraht begann mit der Befreiung von dem Zwang, sein Leben im Kampf für Unfreiheit und Unrecht einsetzen zu müssen. Unreflektiert war dieses Gefühl offenbar viel allgemeiner, als ich es schon kurze Zeit später noch in Erinnerung hatte. Zu meiner Verwunderung lese ich in dem eingangs zitierten Brief aus der Gefangenschaft, als wir in einem kleinen schnell gesammelten Bibelkreis Kirchenlieder gesungen hätten, habe bei dem Lied „Großer Gott, wir loben dich" das ganze Camp eingestimmt. Der Massenstimmung in diesem Gefangenenlager (allerdings war es ein reines Mannschaftslager, die Offiziere waren in anderen Camps) machte sich zuerst im (makabrer Weise so genannten und traditionell als Siegeslied gesungenen) „Choral von Leuthen" Luft und nicht etwa in der Melodie „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir ...", einer Stimmung, der ich im August 1945 nach meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft in Deutschland zwar wohl noch nicht mehrheitlich, aber verbreitet begegnete.

*

Nun mußte die äußere Befreiung von Faschismus und Krieg endlich innerlich nachvollzogen werden. Es ging, wie das einmal einer meiner marxistischen Freunde, Eberhard Hüttner, bis zu seinem frühen Tode stellvertretender Leiter der Arbeitsgruppe Kirchenfragen im ZK der SED, treffend formuliert hatte, „um die antifaschistisch-demokratische Umwälzung in den Köpfen".

Sie geschah für mich in drei Etappen, zuerst einer kirchlich-theologischen, dann einer politisch-demokratischen und schließlich einer sozial-ökonomischen Emanzipation. Diese letzte Phase der Befreiung war die schwerste und wichtigste.

In gewisser Weise galt für all diese drei Umwälzungen in unseren* Köpfen der siegesgewisse Optimismus in Brechts Aufbaulied, das wir allerdings erst später kennen lernten: „Fort mit den Trümmern und was Neues hin gebaut, und heraus gegen uns, wer sich traut!" Die Entdeckung, was alles in unseren Köpfen falsch widergespiegelt worden war, und die Entdeckerfreude bei jeder neuen Erkenntnis machte uns wahrscheinlich allen gegenüber, die nicht ebenso schnell voran eilten wie wir, unerträglich überheblich.

Als solche, die während der Nazizeit zumindest immer „dagegen" gewesen waren, entwickelten wir eine im Rückblick erschreckende Selbstgerechtigkeit, und der Preis unserer gewiß rasch fortschreitenden Erkenntnis - wie holten ja eine Bildung nach, von der wir 12 Jahre abgeschlossen gewesen waren, - war sicher der, daß wir in unserer Entdeckerfreude wohl stolzer waren, andere hinter uns zurückzulassen, als bestrebt, sie mitzunehmen.

Weder in der ersten Etappe geistiger Selbstbefreiung nach der äußeren Befreiung, der theologisch-reformatorischen Besinnung, noch in der zweite Etappe, der politisch-demokratischen Wende ist es unseren Lehrern gelungen, uns eine unserer immerhin reichlich verspäteten Erkenntnis doch angemessene Bescheidenheit zu vermitteln - wahrscheinlich, weil wir mit diesen Neubesinnungen immer noch im Rahmen der Reaktivierung der uns in der Kirche und unserer bürgerlichen Klasse zugänglichen progressiven Traditionen umzudenken lernten. Erst in der dritten Etappe, als wir uns, mit dem kommunistischen Manifest zu reden, als „Bourgeoisieideologen ... zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung ... hinaufgearbeitet"* hatten, begannen wir etwas bescheidener zu werden.

Ich erinnere mich, daß wir uns 1951 bei den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin in einer Privatwohnung mit Komsomolzen zusammensetzten (der Zentralrat der FDJ nannte das entsetzt „ein wildes Russentreffen") und die sowjetische Delegationsleiterin uns fragte: „und wer sind Eure Bundesgenossen?", worauf wir hochmütigen Einzelkämpfer völlig verblüfft darauf reagierten. Immerhin fingen wir seitdem an, etwas über unsere Zufriedenheit in der stolzen Selbstisolation von Besserwissern nachzudenken.

Die kirchlich-reformatorischen Befreiung

Der ganze Schwulst einerseits pietistischer, andererseits klerikaler Traditionen - eigentlich untereinander unverträglich, aber in den Irrungen und Wirrungen des offenen Kirchenkampfes gegen die Nazifraktion der deutschen Christen und des für die Gemeinden weithin verdeckt gebliebenen Kirchenkampfes gegen die deutschnational-faschistische Fraktion in vielen Führungspositionen der Bekennenden Kirche vielfach miteinander verwoben - mußte im Zug einer inneren Befreiung überwunden werden. Denn dabei handelte es sich um solche Positionen, die sich als unbrauchbar erwiesen hatten, dem Faschismus gegenüber standzuhalten.

Der erste Helfer bei diesem Prozeß „Evangelischer Selbstprüfung" war für mich Hermann Diem. Ihm begegnete ich schon im Kriegsgefangenenlager in Livorno, und durch ihn lernte ich gleich nach unserer Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft den besonders eindrucksvollen Paul Schempp kennen, mit dem Diem in der Württembergischen Sozietät verbunden war, dem neben dem Bonhoeffer-Kreis konsequentesten Flügel der bekennenden Kirche.

Nachdem ich noch 1945 in Bonn das Theologiestudium aufgenommen hatte, wurde Günter Dehn, einer der wenigen den religiösen Sozialisten nahestehenden dialektischen Theologen, zu unserem wichtigsten Mentor auf dem Wege zu (um den Titel der ersten Nachkriegstagung der Württembergischen Sozietät aufzunehmen) „Evangelischer Selbstprüfung". Und schließlich, fast genau ein Jahr nach dem Tag der Befreiung, am 10. Mai 1946, landete auf einem Rheinschlepper in Bonn Karl Barth, der Hauptwegweiser zu unserer Neuorientierung in „Christengemeinde und Bürgergemeinde".

Der Titel dieser etwas später, aber noch 1946, in Deutschland erschienenen Broschüre macht bereits deutlich, daß der Akt einer inneren kirchlich-theologischen Befreiung in Bewährung der von außen empfangenen Befreiung bereits den Übergang zur politisch-demokratischen Befreiung umschloß.

Diese reformatorische Wende vollzog sich in der sogenannten „Schulddebatte".

Als frisch immatrikulierte Theologiestudenten, die meisten von uns kirchlich erzogen von den sogenannten „jungen Brüdern", das heißt von solchen Pastoren, die sich nicht von den staatlich anerkannten, meist deutschchristlichen offiziellen Kirchenleitungen hatten ordinieren lassen, sondern als „Illegale" den antinazistischsten Flügel der Bekennenden Kirche gebildet hatten, fragten wir zuerst nach der Studentengemeinde.

Was wir statt dessen vorfanden, war ein alter, bis in die Knochen deutschnationaler Studentenpfarrer, umgeben von vier älteren Theologiestudenten, die noch im Kriege irgendwie hatten studieren können. Davon „frustriert" - das Wort gab es damals noch nicht - setzten wir uns zusammen und formulierten zuerst einmal ein - unser -„Schuldbekenntnis" ganz im Geiste der von Niemöller stammenden Passagen der damals im Mittelpunkt nicht nur kirchlicher Auseinandersetzung stehenden „Stuttgarter Schulderklärung", insbesondere des Satzes: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden!"

Das Stuttgarter Schuldbekenntnis stellte insgesamt viel eher eine Selbstrechtfertigung als eine Selbstanklage einer Kirche dar, die sich allenfalls vorwarf, „nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt zu haben" (wir hätten noch besser sein müssen!) und die sich „mit unseren Volk" zwar „in einer großen Gemeinschaft des Leidens" wußte, aber nicht etwa in einer „Gemeinschaft", sondern nur in einer „Solidarität der Schuld" mit ihm. Aber das empfanden wir damals kaum und wußten auch nicht, daß die Ökumene den deutschen Kirchenführern dieses Schuldbekenntnisses mühsam abgerungen hatte, um wieder Kontakte zu ihnen aufnehmen zu können.

So war unser „Schuldbekenntnis" zwar hinsichtlich der „deutschen Schuld" keineswegs zurückhaltender als das Stuttgarter Vorbild, aber es war ungleich viel ehrlicher in dem Bekenntnis kirchlicher Schuld an der deutschen Schuld.

Um unser Schuldbekenntnis sammelte sich schnell eine Gemeinde, und diese Gemeinde wählte sich, was für die Studentengemeinden nicht „vorgesehen" war und den alteingesessenen Studentenpfarrer ebenso wie die rheinische Kirchenleitung entsetzte, eine eigenständige Leitung, ein Presbyterium, das nicht etwa den Studentenpfarrer, sondern Günter Dehn bat, die Bibelstunden dieser Studentengemeinde zu halten.

Aufgrund dieser Selbständigkeit kam es zum Konflikt mit der - immerhin aus der Bekennenden Kirche (!) hervorgegangenen - rheinischen Kirchenleitung. Aber deren Versuche, uns in die ordnungsgemäße Botmäßigkeit zurückzuholen, mißlangen. Wir setzten schließlich sogar durch, daß wir uns selber einen Pfarrer wählen durften. Dafür wurden wir allerdings von den materiellen Genüssen, die das Kirchliche Hilfswerk zu bieten hatte, ausgeschlossen, fanden aber andererseits in der Studentenschaft mehr Resonanz als viele „reguläre" Studentengemeinden. Dabei war das Hauptthema, das wir in die Studentenschaft hinein trugen, die Frage unserer eigenen politischen Verantwortung für unsere, für die ganze Welt so verhängnisvolle, deutsche Geschichte und - wohl noch wichtiger - dafür, die künftige deutsche Geschichte so zu gestalten, daß der Faschismus für immer überwunden werde.

Der Übergang zur politisch-demokratischen Befreiung

Damit wurde, fast möchte ich sagen „in, mit und unter" der Frage nach der kirchlich-theologischen Neubesinnung, die Frage der politisch-demokratischen Neubesinnung zu unserem Thema. An diesem Thema brach die gegen den Nationalsozialismus aufgetretene Bekennende Kirche in ihren deutschnationalen und evangelisch-reformatorischen Teil auseinander.

Manifest wurde das mit dem am 8. August 1947 beschlossenen „Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum politischen Weg unseres Volkes", dem „Darmstädter Bruderratswort".

Es hätte freilich kaum unter der Ägide von Karl Barth und Hans Iwand beschlossen werden können, wenn die reaktionären Kirchenführer aus der sowjetischen Zone an der Beratung und Beschlußfassung beteiligt gewesen wären, denn sie begannen bereits unter dem Patronat des alten Deutschnationalen, Otto Dibelius, die Niederlage des Faschismus nicht als Befreiung zu begreifen, sondern sie als den leidvollen Übergang von einer „Diktatur" in eine andere darzustellen.

Im Darmstädter Bruderratswort - und das war es, worum es bereits in all unseren Auseinandersetzungen in der Bonner Studentengemeinde gegangen war - fand sich endlich eine klare Absage an den deutschnationalen Chauvinismus („wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne"), eine klare Absage an den konservativen deutschen Klerikalismus („wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine ‘christliche Front’ aufzurichten. Das Bündnis mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt. ... Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen"), eine klare Absage an den Manichäismus (wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten eine Front der Guten gegen die Bösen ... im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen" - wer denkt da heute nicht an Reagan und Bush?) und - geradezu überraschend, daß das schon 1947 in der Kirche erkannt wurde - eine Absage an den Antikommunismus („wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen."* )

Mit diesem Wort ergab sich nahtlos aus der kirchlich-theologisch-reformatorischen Befreiung, in der wir ja insbesondere die kirchliche Mitverantwortung an der Herausbildung des Faschismus in Deutschland entdeckt hatten, die Konsequenz, für die weitere politische Entwicklung mitverantwortlich zu sein und insofern die zweite Etappe der, der Befreiung von außen entsprechenden, Selbstbefreiung.

Politische Verantwortung hieß für uns, den Schutt faschistischer Ideologie zu allererst aus unseren eigenen Köpfen und dann aus den Köpfen in unserer kirchlichen und gesellschaftlichen Umwelt auszuräumen. Dabei meinten wir länger, als das tatsächlich der Fall war, uns im Konsens mit den von außen einwirkenden westlichen Besatzungsmächten und vielen in Westdeutschland gesellschaftlich bestimmenden Kräften zu befinden.

Erst im Rückblick bemerkten wir, wie schnell sich insbesondere die britische und die amerikanische Besatzungsmacht von den in Potsdam fixierten Zielen der Antihitlerkoalition abgewandt hatte. Den eigentlichen Beginn des dann so genannten „Kalten Krieges", die Byrnes-Rede in Stuttgart und die Churchillrede in Strasbourg, hatten wir kaum bemerkt, und auch erst sehr viel später ging uns im Rückblick auf, daß die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki bereits als Machtdemonstration gegen den Bundesgenossen von gestern, die Sowjetunion, gerichtet gewesen waren und daß man auch die Bombardierungen von Dresden, Chemnitz, Plauen, Magdeburg unter dem Gesichtspunkt sehen kann, daß damit Industriezentren zerstört wurden, von denen seit Jalta feststand, daß sie zur sowjetisch besetzten Zone gehören würden, so daß deren Zerstörung mehr den dortigen späteren Wiederaufbau treffen könnte als das bereits in Agonie liegende Hitlerreich. Die faschistoide Reaktion auf diese Bombardements, die gerade jetzt wieder aufflammt, ist allerdings doppelt verlogen. Denn wenn diese späten Bombardements Reparationsleistungen und Wiederaufbau in der sowjetischen Besatzungszone erschwerten oder gar erschweren sollten, dann dienten diese letzten Bomben des heißen Krieges gegen den Faschismus als erste Bomben des kalten Krieges gegen den Kommunismus doch gerade dem Interesse jener deutschen Imperialisten, die nun der „Terrorangriffe" gedenken, um von ihrem eigenen, bis zum Exzeß getriebenen Terror abzulenken. „Coventry" und „Dresden" miteinander zu verrechnen, heißt ein Verbrechen durch Vergleich mit einem Notwehrexzeß zu relativieren.

Uns aber ging es damals um wichtigere Fragen: um die Behauptung der Ideale bürgerlicher Demokratie gegen den sich in Westdeutschland erstaunlich schnell wieder regenden deutschen Imperialismus. Mit Demokratie meinten wir, gewiß in vieler Hinsicht illusorisch, ein Staatswesen, das historischen Rückschritt, insbesondere jede Weiterexistenz oder Neuformierung faschistischer Strukturen und Ideologien unterband, aber für historische Weiterentwicklung offen blieb.

Den Kampf darum nahmen wir in einem frisch-fröhlichen Jagen auf, im Rückblick betrachtet geradezu illusorisch siegesgewiß. Noch hatten wir, als die unverdienten Nutznießer des Sieges der Antihitlerkoalition, das Gefühl, gar keinen wirklich ernst zu nehmenden Gegner mehr zu haben. Wir fühlten uns, etwas bekümmert, daß wir die gefährlichen Schlachten nicht auf der richtigen Seite mit geschlagen und gewonnen hatten, nur noch dazu berufen, das Schlachtfeld nach gewonnener Schlacht von übrig gebliebenen, ewiggestrigen Marodeuren zu säubern.

Die erste Ahnung, daß wir dabei nicht den Segen der westlichen Besatzungsmächte hätten, überkam uns 1948 zum einen mit dem, was wir den „Sturm aufs Brandenburger Tor" nannten (geduldet von den Westalliierten hatten antikommunistische Banditen die Sieges-Fahne vom Brandenburger Tor herunter gerissen), und zum anderen, als die Engländer Max Reimann wegen seines Protestes gegen die Demontagen einsperrten.

Dabei wurde uns die ganze Zerrissenheit deutlich, in der wir uns damals befanden. Einerseits verlockte die Freiheitsdemagogie zur Option „für den Westen", andererseits erkannten wir immer mehr, daß verantwortete Freiheit sozial-ökonomische Gleichheit zur Voraussetzung hatte, und das zwang zur Option „für den Osten".

Daß „unsere" Besatungsmacht erneut ein Opfer des Faschismus einsperrte, empfanden wir als Skandal. Aber der Protest Reimanns gegen die Demontagen gefiel uns auch nicht. Hatten wir sie nicht mehr als reichlich durch die faschistischen Untaten verdient? Wir empfanden diesen Protest als leichtsinnige Öffnung für den Beifall unbelehrbarer Nazis, die sich gegen jegliche Wiedergutmachung durch Reparationen wehrten, und schrieben Reimann einen, man könnte sagen, kritischen Solidaritätsbrief. Erstaunlicherweise veröffentlichte ihn das in Ostberlin erscheinende „Forum", und wir bekamen Besuch von prominenten Kommunisten, die uns auf den Weg zur dritten Etappe unserer Befreiung, der sozialistisch-gesellschaftlichen nach der reformatorisch-kirchlichen und politisch-demokratischen, führten.

Das schlug sich zunächst darin nieder, daß ich mich einem „Arbeitskreis zum Studium des Marxismus" anschloß. Ihn leitete der linke Sozialdemokrat Dieter Goldschmidt. Von mir abgesehen bestand dieser Kreis nahezu ausschließlich aus Kommunisten. Er konnte damals einen Vertreter in den Studentenrat entsenden und delegierte mich. So wurde ich zum Repräsentanten des linken Flügels im Göttinger Studentenrat.

Der Göttinger Studentenrat wurde damals von zwei Themen bestimmt: Einer „Patenschaft" mit der Studentenvertretung der Universität Leipzig (sie sollte der Erhaltung der Einheit Deutschlands im Sinne des Potsdamer Abkommens dienen), und dem damals eskalierenden Kampf gegen die westdeutsche Remilitarisierung.

In beiden Fragen standen sich an der Universität zwei etwa gleich starke Lager gegenüber: Der Demokratische Studentenbund (mit Peter Bender), der Sozialistische Studentenbund (mit Peter von Oertzen) und der „Arbeitskreis zum Studium des Marxismus" (schon kurze Zeit später, was alle wußten, was aber keinen irritierte, verwandelt in die an den Universitäten bereits verbotene FDJ-Hochschulgruppe) auf der einen Seite, auf der anderen Seite die CDU-Hochschulgruppe, fast alle Vertreter der Forstwirtschaftlichen Fakultät und insbesondere die wieder erstandenen Korporationen, damals der eigentlich neo(?)faschistische Kern an den westdeutschen Universitäten.

Zunächst war - nicht nur an der Göttinger Universität, sondern innenpolitisch wohl insgesamt - die Opposition gegen die Remilitarisierung fast ebenso stark wie die Regierungsparteien von der CDU bis zur äußersten Rechten, die uns aber als Vollzugsorgan des Willens der us-amerikanischen und britischen Besatzungsmacht überlegen waren. Nicht zuletzt deshalb liefen dann auch bald die Gewerkschaften und die SPD ins gegnerische Lager über und die Regierung Adenauer begann konsequent mit dem Gegenangriff. Sie konzentrierte ihn auf den linken Flügel unter den Gegnern der westdeutschen Remilitarisierung, zuerst auf die schon von Heinemann kurz vor seinem Rücktritt als Innenminister an den Universitäten und im Bereich des Staatsdienstes verbotenen „13 Organisationen" (12 progressive, darunter die FDJ und VVN, und als Feigenblatt eine neofaschistische, die „Sozialistische Reichspartei"). Die Methode, einen Vernichtungsschlag gegen die Linke durch ein Bauernopfer zur Rechten zu tarnen, wie sie heute bei der Novellierung des Demonstrationsrechtes geübt wird, bewährte sich schon damals! Und dann kam man zur eigentlich gemeinten Sache: einer immer intensiveren Kommunistenverfolgung, die 1956 zum von Anfang an erstrebten KPD-Verbot führte.

Der Übergang zur sozialökonomischen Befreiung

Nun, als das Auseinanderbrechen der Antihitlerkoalition zwischen den imperialistischen Konkurrenten und den sozialistischen Gegnern des Faschismus bereits nicht mehr zu übersehen war, mußten wir, die wir uns noch 1948 als „Kamele zwischen Ost und West" gefühlt hatten, uns entscheiden, wohin wir gehörten. Die letzte Etappe des Weges in die Freiheit - nach der reformatorischen und politischen nun die soziale Wende - war zu beschreiten.

Sie fiel uns subjektiv schwerer als die beiden ersten Etappen. Denn nun mußten wir uns - nicht einfach negierend, aber kritisch-dialektisch - von unseren großen kirchlichen und politischen Leitbildern auf dem Wege zur Freiheit lösen, von Karl Barth, Thomas Mann, Albert Einstein und den vielen anderen, deren idealistisch-moralischer Antinazismus uns bisher zureichend Wegweiser gewesen war. Nun bedurfte es des Fortschritts zu historisch-dialektisch-materialistisch sozial begründetem Antifaschismus. So erforderte diese letzte Etappe der Selbstbefreiung objektiv den weitesten Schritt bei der Selbstreinigung von unfruchtbar gewordenen Traditionen.

Denn bei dieser Selbstbefreiung ging es für uns um die Lösung aus unserer, der in Westdeutschland noch herrschenden, Klasse, mit der die Kirche nur allzu eng verbunden war. Diese Klasse hatte auf ihrem Wege zu Imperialismus und Faschismus all ihre humanistisch-progressiven Traditionen verleugnet und damit jedes Recht auf Führung der Nation verspielt. Trotzdem fiel uns die Emanzipation von ihr schwer. Im Bürgertum, dem wir entstammten, hatte man sich ja als herrschende Klasse mit der Gesellschaft gleichgesetzt: Nur indem man zu dieser herrschenden Klasse gehörte, empfand man sich als „zur Gesellschaft gehörig"; und wer nicht zu dieser Klasse gehörte, sie verlassen oder verraten hatte, gehörte nicht mehr „zur Gesellschaft". So war der Abschied von dieser Klasse für uns der Abschied von unserer Gesellschaft. Er wurde uns erleichtert, durch unsere enge freundschaftliche Verbundenheit mit den Göttinger Kommunisten. Aber in der neuen sozialistischen Gesellschaft, in der DDR, in der wir nach diesem Abschied ankamen, gehörten wir nur bedingt - als Bundesgenossen willkommen, aber nicht als Genossen betrachtet (als parteilose Kommunisten waren wir das ja auch nicht) - dazu.

Für Bundesgenossen christlicher Provenienz war in der DDR eigentlich die CDU als Blockpartei vorgesehen. Sie sollte für den Sozialismus aufgeschlossene religiöse Kreise in die volksdemokratische Entwicklung integrieren. Aber wir paßten in diese Konzeption nicht hinein, und das bereitete der CDU, der SED und natürlich auch uns zuweilen einige Schwierigkeiten. Wir waren (der SED wie der CDU unbegreiflich) nicht-religiöse Christen, die sich darum frei fühlten, viel historisch-dialektisch-materialistischer zu denken, als das für sie vorgesehen war. Die in der CDU übliche Differenzierung zwischen der Bejahung des „historischen Materialismus" und der Verneinung des „dialektischen Materialismus" war uns so wenig möglich wie das Verständnis für diese - ja auch im Bereich des Hochschul- und Bildungswesen übliche - undialektische Aufteilung überhaupt. Wir waren für die CDU nicht religiös genug (damit hatte sie recht) und für die SED zu „religiös", weil sie nie verstand, was wir mit unserer strikten Unterscheidung zwischen Christusglauben und religiöser Weltanschauung eigentlich meinten. So bedurfte es - noch einmal eine paradoxe Erfahrung - erst der Konterrevolution, damit unsere kommunistischen Freunde uns wieder so unbefangen begegnen konnten wie einst in den Anfängen unserer Kampfgemeinschaft in Westdeutschland.

*

In gewisser Weise war 1952, als wir, nicht ganz freiwillig*, in die DDR übergesiedelt waren, der Prozeß unserer Selbstbefreiung - nicht beendet; beendet ist er nie, solange die Geschichte weitergeht und solange wir leben, aber - zu seinem Ziel gekommen: Dem Ziel der Befreiung als Christen von unserer babylonischen Gefangenschaft in der Bürgerlichkeit unserer Kirchen, dem Ziel unserer Befreiung als Bürger von dem historischen Abstieg des Citoyen zum Bourgeois, des Bourgeois zum Imperialisten und des Imperialisten zum Faschisten und schließlich dem Ziel unserer Befreiung aus der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt, die ihre historische Mission erfüllt und darum keine menschliche Zukunft mehr vor sich hatte.

Wir hatten bestätigt gefunden, was Dietrich Bonhoeffer im Mai 1944 aus dem Gefängnis geschrieben hatte: „Auf unsere Privilegien werden wir gelassen und in der Erkenntnis einer geschichtlichen Gerechtigkeit verzichten können. Es mögen Ereignisse und Verhältnisse eintreten, die über unsere Wünsche und Rechte hinweggehen. Dann werden wir uns nicht in verbittertem und unfruchtbarem Stolz, sondern in bewußter Beugung unter ein göttliches Gericht und in weitherziger und selbstloser Teilnahme am ganzen und an den Leiden unserer Mitmenschen als lebensstark erweisen."*

Nicht zufällig schließe ich meine Reflexionen über den Weg von der „Befreiung" durch die Antihitlerkoalition zu der Bewährung der Freiheit in reformatorischer Theologie, demokratischer Besinnung und schließlich in der Wende von bürgerlichen Traditionen zur revolutionären sozialistischen Bewegung mit einem Bonhoeffer-Zitat.

Beim ersten Lesen seiner Gefängnisbriefe im Jahr 1951 merkte ich, daß ich in der Bearbeitung dieses Erbes den Prozeß eigener kirchlicher, politischer und sozialer Befreiung seit dem „Tag der Befreiung" am besten reflektieren könnte. Die Grundzüge meines Bonhoeffer-Buches standen bei der wichtigsten Zäsur meines Weges zur Freiheit, bei meiner Übersiedlung in die DDR, fest. Heinrich Vogel taufte diesen „Beitrag zu der Beziehung des Wortes Gottes auf die societas in Dietrich Bonhoeffers theologischer Entwicklung" auf den Titel „Von der Kirche zur Welt". Zweifellos hat dieser Titel die Verbreitung des Buches gefördert, aber auch ein Mißverständnis nahe gelegt. Weder führte dieser Weg von der Kirche weg - ich habe ein Leben lang versucht, sie auf diesem Weg mitzunehmen - noch führte er undifferenziert zur Welt, sondern zu einer höchst kritischen Sicht der in sich so widersprüchlichen Welt. Der Inhalt des Buches war viel dialektischer, als es der schöne Name zeigt, den Heinrich Vogel ihm gab. Und wenn manche Rezensenten später meinten, dies Buch sei ein typisches „DDR-Produkt", dann irrten sie. Es war das Produkt des Weges zur Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft Westdeutschlands, die, kaum daß sie hatte ahnen können, was Befreiung vom Faschismus heißen würde, vor dieser Freiheit zurückschreckte und den Rückweg in den Imperialismus einschlug, während ich ihn bis zur historisch-dialektisch-materialistischen Einsicht weiter zu gehen versuchte.

*

Nach dem 8. Mai 1945 gab es noch einmal einen Tag der Befreiung in Deutschland, nunmehr allerdings nur noch in einem Teil Deutschlands: den 11. August 1961. Was wir damals gewonnen hatten, haben wir inzwischen - auch durch eigene Schuld - wieder verloren. Ich erlebte diesen Verlust der gewonnenen Freiheit wiederum ebenso paradox, wie ich 1945 ihren Gewinn erlebt hatte: War damals wirkliche Freiheit für viele Deutsche nur hinter Stacheldraht, sechzehn Jahre später nur hinter einem antifaschistischen Schutzwall zu haben, so ist sie nun wieder nur in der verschworenen Gemeinschaft derer präsent, die wissen, daß die Zukunft des Imperialismus nur Barbarei sein kann - wie das Mittelalter nach dem Zusammenbruch der Antike - , wenn es denen, die Geschichte verstehen, nicht gelingt, noch einmal revolutionär Geschichte zu machen.


 

Drei Stimmen zur antifaschistisch-demokratischen Umwälzung

in deutschen Köpfen

Karl Barth:*

Hitler ist tot. Nehmen wir an, er sei es. Aber was hülfe das der Welt und den Deutschen selbst, ... wenn sie etwa unter allen Zeichen des Verdrusses und des ehrlichen Entsetzens über Hitler doch nur auf einen neuen Staat der Herrschaft nach innen, der Drohung nach außen hoffen und zielen, wenn sie statt auf 1848 aufs neue auf ein 1866 und 1870 zurückkommen wollten und sollten? Der eigentlich gefährliche deutsche Feind war und ist nicht das Dritte Reich. Das war nur der Schlangenkopf, die spektakulärste Erscheinung dieses Feindes, die heute von außen zusammengeschlagen, von innen als böser Traum ausgeträumt wurde. Der eigentlich gefährliche deutsche Feind war und ist der Geist, die Gesinnung und Haltung derer, die als sogenannten „Deutschnationale" nach dem letzten Krieg unter dem Pathos einer deutschen Befreiungsbewegung allen Autoritarismus und Imperialismus, allen Kapitalismus und Militarismus der vorausgegangenen Zeit jetzt erst - in der Opposition gegen Versailles und gegen die allzu schwache Gründung von Weimar - zu vollen Ehren gebracht, die alles Gute, das den Regelungen von 1919 immerhin nicht ganz abging, systematisch sabotiert und die schließlich - betrogene Betrüger freilich - das deutsche Volk dem Mann ausgeliefert haben, der es nun, indem er es zur Weltgefahr machte, in den Abgrund geführt hat. Ob die Deutschen vom Nationalsozialismus so geheilt sind, daß das Nachwachsen eines ähnlichen Schlangenkopfes auch innerlich, auch von ihnen selbst aus, unmöglich ist, das ist die eine Frage, die heute, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, noch offen ist. Denn sie ist damit nicht beantwortet, daß die Gestalt jenes Staates der Herrschaft und der Drohung heute von außen vorläufig zerschlagen ist. Eine Idee kann man nämlich nicht und nicht einmal vorläufig von außen zerschlagen. Mit Potsdam ist Potsdam nur äußerlich und also nicht wirklich zu überwinden. ...

Indem Hitler Rußland angriff, hat er eine Schleuse geöffnet, die nun schwerlich wieder zu schließen ist. Anders als durch einen dritten Weltkrieg, für den niemand willig und fähig zu sein scheint, ist die Tatsache nicht rückgängig zu machen, daß Rußland heute bis nahe an die Mitte Europas vorgedrungen ist ... vor allem: der russische Kommunismus, vor dem die europäische Gesellschaft nun seit fünfundzwanzig Jahren so große Angst gehabt hat. ...Die Kirche - und nun eben zuerst die deutsche Kirche - muß damit rechnen, sich dadurch gewissermaßen an die Luft gesetzt sehen. Wird sie die Kraft und die Freiheit haben, das nicht nur zu erleiden, sondern aus der Erkenntnis ihrer eigenen Sache heraus gut zu heißen?

Was an Gefährdung ihres äußeren Bestandes drohen mag, das muß nun überstanden werden. In ihrer Botschaft wird sie frei bleiben, wenn sie sich nur nicht weigert, nun gerade von ihrer Botschaft her über die positive Beziehung zur formalen Demokratie hinaus nach einer positiven Beziehung auch zur sozialen Demokratie zu fragen - nicht nach irgendwelchen neuen Bindungen nun an die Linksparteien, die diese Programm auf ihre Fahnen geschrieben haben, wohl aber nach dem Wort, das das relative Recht, das hinter diesem Programm und diesen Parteien steht, nicht aus- sondern in sich schließt. ...

Deutsche Nüchternheit würde jetzt ... darin bestehen, daß man sich nicht darauf versteift, nun möglichst schnell und völlig zu den Zuständen der Zeit vor 1933 zurückzukehren. Auch dann nicht, wenn man mit Grund froh wäre, wenigstens das wieder zu haben, was man damals hatte. Es ist wieder eine kleine Illusion, wenn man übersieht, und vielleicht geradezu übersehen will, daß die Zustände der Zeit vor 1933 beherrscht waren von einer Bewegung, deren Geist das Aufkommen des Nationalsozialismus nicht nur nicht gehindert, sondern gefördert hat. ... Der beherrschende Geist jener Zeit war der deutschnationale Geist, d.h. der Geist des als Fronde weiterlebenden bismarckisch-kaiserlichen Deutschland. Seine Vertreter waren es, die Hitler innerlich und dann auch äußerlich freie Bahn gegeben haben. Wer zu jenen Zuständen zurückkehren will, der will dahin zurückkehren, von wo das Übel seinen Anfang nahm. Die Katastrophe, die über Deutschland ergangen ist, hat nicht nur den Irrtum des Hitlerreiches, sie hat auch den Irrtum in den Wurzeln aufgedeckt, aus denen das Hitlerreich hervorgegangen ist. Restauration ... allein heißt Reaktion, Wiederherstellung der alten Gefahrenquellen. ... Wäre es nicht mutig und notwendig zugleich, sich jetzt wenigstens darüber einmal zu einigen: was jetzt kommen muß, das müssen auf alle Fälle solche deutschen Zustände und ein solcher deutscher Geist sein, in denen Möglichkeiten wie die, die wir nun wirklich werden sahen, als solche und in ihrer Wurzel beseitigt sind? Und weil der russische Kommunismus im künftigen Deutschland auf alle Fälle eine politische, eine wirtschaftliche, eine geistige Macht sein wird, so wäre es weise, hinzuzufügen: man wird dieser Begegnung nur dann gewachsen sein, wenn man ihr ungehemmt durch überlieferte, ungehemmt auch durch gewisse neu aufgekommene Vorurteile jedenfalls aufgeschlossen und verständniswillig entgengeht. Und was jetzt kommen muß, das müssen auf alle Fälle solche deutschen Zustände und ein solcher deutscher Geist sein, die es dem deutschen Menschen erlauben, in der Auseinandersetzung mit dem heute für ihn so akut gewordenen Ideen und Forderungen des Ostens ein gute Gewissen zu haben! Wenn diese Kriterien gelten, dann ist es Reformation und nicht Restauration, was heute not tut. Wer das ablehnt, wer jetzt immer noch nach rückwärts liebäugeln zu sollen glaubt, der sehe zu, was er tut. Er weiß vielleicht nicht, was er tut. Aber das ändert nichts daran: er geht gefährliche Wege.

Man vergißt es zwar immer wieder, aber man kann es heute wissen, daß es im Krieg und zwar gerade in den von den großen Völkern und Völkergruppen geführten Kriegen eigentlich und im Grunde immer um Kohle und Kali, um Erz und Öl und Gummi geht, um Absatzgebiete und Kommunikationswege, um sichere Grenzen und Einflußsphären als Basis für weitere Machtentfaltungen zu weiterer Machtgewinnung „wirtschaftlicher" Art. Es ist heute vor allem vor den Augen aller, die sehen wollen, daß es in der ganzen Welt eine weitverzweigte, durch die moderne Technik gewaltig in Bewegung gesetzte und vorwärtsgetriebene und diese ihrerseits immer weiter vorwärtstreibende Industrie gibt, die als Kriegsindustrie mit allen ihren Verbindungen zu Industrie, Technik und Handel anderer Art ein gebieterisches Bedürfnis danach hat, daß von Zeit zu Zeit unter möglichst großem Verschleiß des vorhandenen Materials und zur Anregung weiterer Nachfrage nach solchem aufs neue Kriege geführt werden und also entstehen müssen.

Thomas Mann:*

Warum muß immer der deutsche Freiheitsdrang auf innere Unfreiheit hinauslaufen? Warum mußte er endlich gar zum Attentat auf die Freiheit aller anderen, auf die Freiheit selbst werden? Der Grund ist, daß Deutschland nie eine Revolution gehabt und gelernt hat, den Begriff der Nation mit dem der Freiheit zu vereinigen. Die "Nation" wurde in der Französischen Revolution geboren, sie ist ein revolutionärer und freiheitlicher Begriff, der das Menschheitliche einschließt und innenpolitisch Freiheit, außenpolitisch Europa meint. Alles Gewinnende des französischen politischen Geistes beruht auf dieser glücklichen Einheit; alles Verengende und Deprimierende des deutschen patriotischen Enthusiasmus beruht darauf, daß diese Einheit sich niemals bilden konnte. Man kann sagen, daß der Begriff der "Nation" selbst, in seiner geschichtlichen Verbundenheit mit dem der Freiheit, in Deutschland fremd ist. ... Die deutsche Freiheitsidee ist völkisch-antieuropäisch, dem Barbarischen immer sehr nahe, wenn sie nicht geradezu in offene und erklärte Barbarei ausbricht wie in unseren Tagen. Aber das Ästhetisch-Abstoßende und Rüde, das schon ihren Trägern und Vorkämpfern zur Zeit der Freiheitskriege anhaftet, dem studentischen Burschenschaftswesen und solchen Typen wie Jahn und Maßmann, zeugt von ihrem unglücklichen Charakter. Goethe war wahrhaftig nicht fremd der Volkskultur und hatte nicht nur die klassizistische "Iphigenie", sondern auch so kerndeutsche Dinge wie "Faust I", "Götz" und die "Sprüche in Reimen" geschrieben. Dennoch war zur Erbitterung aller Patrioten sein Verhalten zum Kriege gegen Napoleon von vollkommener Kälte, - nicht nur aus Loyalität gegen seinen Pair, den großen Kaiser, sondern auch weil er das barbarisch-völkische Element in dieser Erhebung widerwärtig empfinden mußte. ... Gewiß ist, daß das Verhältnis des deutschen Gemütes zur Politik ein Unverhältnis, ein Verhältnis der Unberufenheit ist. Es äußert sich das historisch darin, daß alle deutschen Revolutionen fehlschlugen; die von 1525, die von 1813, die 48er Revolution, die an der politischen Hilflosigkeit des deutschen Bürgertums scheiterte, und endlich die von 1918. ...

Politik ... schließt viel Hartes, Notwendiges, Amoralisches, viel von "expediency" und Zugeständnis an die Materie, viel Allzumenschliches und dem Gemeinen Verhaftetes ein, und schwerlich hat es je einen Politiker, einen Staatsmann gegeben, der Großes erreichte und sich nicht danach hätte fragen müssen, ob er sich noch zu den anständigen Menschen zählen dürfe. Und dennoch, so wenig der Mensch nur dem Naturreich angehört, so wenig ist die Politik nur im Bösen beschlossen. ...

Die zur Politik berufenen und geborenen Völker wissen denn auch instinktiv die politische Einheit von Gewissen und Tat, von Geist und Macht wenigstens subjektiv immer zu wahren; sie treiben Politik als eine Kunst des Lebens und der Macht, bei der es ohne den Einschlag von Lebensnützlich-Bösem und allzu Irdischem nicht abgeht, die aber das Höhere, die Idee, das Menscheitlich-Anständige und Sittliche nie ganz aus den Augen läßt: eben hierin empfinden sie "politisch" und werden fertig mit der Welt und mit sich selbst auf diese Weise. Ein solches auf Kompromiß beruhendes Fertigwerden mit dem Leben erscheint dem Deutschen als Heuchelei. Er ist nicht dazu geboren, mit dem Leben fertig zu werden, und er erweist seine Unberufenheit zur Politik, indem er sie auf eine plump ehrliche Weise mißversteht. ... Der Deutsche, als Politiker, glaubt sich so benehmen zu müssen, daß der Menschheit Hören und Sehen vergeht - dies eben hält er für Politik. Sie ist ihm das Böse, - so meint er denn um ihretwillen recht zum Teufel werden zu sollen. ...

Oder nehmen Sie die vielleicht berühmteste Eigenschaft der Deutschen, diejenige, die man mit dem sehr schwer übersetzbaren Wort "Innerlichkeit" bezeichnet: ... Die deutsche Romantik, was ist sie anderes als ein Ausdruck jener schönsten deutschen Eigenschaft, der deutschen Innerlichkeit? Viel Sehnsüchtig-Verträumtes, Phatastisch-Geisterhaftes und Tief-Skurriles, auch ein hohes artistisches Raffinement, eine alles überschwebende Ironie verbindet sich mit dem Begriff der Romantik. Aber nicht dies ist eigentlich, woran ich denke, wenn ich von deutscher Romantik spreche. Es ist vielmehr eine gewisse dunkle Mächtigkeit und Frömmigkeit, man könnte auch sagen: Altertümlichkeit der Seele, welche sich den chtonischen, irrationalen und dämonischen Kräften des Lebens, das will sagen: den eigentlichen Quellen des Lebens nahe fühlt und einer nur vernünftigen Weltbetrachtung und Weltbehandlung, die Widersetzlichkeit tieferen Wissens, tieferer Verbundenheit mit dem Heiligen bietet. Die Deutschen sind ein Volk der romantischen Gegenrevolution gegen den philosophischen Intellektualismus und Rationalismus der Aufklärung - eines Aufstandes der Musik gegen die Literatur, der Mystik gegen die Klarheit. Die Romantik ist nichts weniger als schwächliche Schwärmerei; sie ist die Tiefe, welche sich zugleich als Kraft, als Fülle empfindet; ein Pessimismus der Ehrlichkeit, der es mit dem Seienden, Wirklichen, Geschichtlichen gegen Kritik und Meliorismus, kurz mit der Macht gegen den Geist hält und äußerst gering denkt von aller rhetorischen Tugendhaftigkeit und idealistischen Weltbeschönigung. ...

Goethe hat die lakonische Definition gegeben, das Klassische sei das Gesunde und das Romantische das Kranke. Eine schmerzliche Aufstellung für den, der die Romantik liebt bis in ihre Sünden und Laster hinein. Aber es ist nicht zu leugnen, daß sie noch in ihren holdesten, ätherischsten, zugleich volkstümlichen und sublimen Erscheinungen den Krankheitskeim in sich trägt, wie die Rose den Wurm, daß sie ihrem innersten Wesen nach Verführung ist, und zwar Verführung zum Tode. ...

Und, heruntergekommen auf ein klägliches Massenniveau, das Niveau eines Hitler, brach der deutsche Romantismus aus in hysterische Barbarei, in einen Rausch und Krampf von Überheblichkeit und Verbrechen, der nun in der nationalen Katastrophe, einem physischen und psychischen Kollaps ohnegleichen, sein schauerliches Ende findet.

 

Albert Einstein: *

... Nun kann ich kurz sagen, worin ich das Wesen der gegenwärtigen Krise sehe. Sie betrifft die Stellung des Individuums zur Gesellschaft. Das Individuum fühlt sich mehr als je abhängig von der Gesellschaft. Aber es fühlt diese Abhängigkeit nicht in positivem Sinne als organische Verbundenheit, als Geborgen-Sein. sondern eher als eine Art Gefährdung seiner natürlichen Rechte, ja seiner wirtschaftlichen Existenz. Seine Stellung in der Gesellschaft ist ferner von solcher Art, daß seine egoistischen Triebkomponenten in ihrer Entwicklung gefördert werden, die ohnehin schwächeren sozialen Triebkomponenten aber weitgehend verkümmern. So verschieden auch die Stellen der Individuen in der Gesellschaft sind, an dieser Verkümmerung leiden sie alle. In der unsichtbaren Zelle ihres Egoismus eingesperrt, fühlen sie sich unsicher, vereinsamt und der naiven und unbekümmerten Daseinsfreude beraubt. Das Individuum mit seinem fragilen, kurzen Dasein kann sein Leben nur als sinnvoll empfinden durch sein Wirken für die Gesellschaft.

Ich sehe die eigentliche Wurzel des Übels in der partiellen wirtschaftlichen Anarchie der Gesellschaft. Es ist eine riesige Produktions-Gemeinschaft, deren Mitglieder dauernd danach streben, einander nach Möglichkeit die Früchte der gemeinsamen Arbeit wegzunehmen - nicht mit Gewalt, sondern unter im allgemeinen strikter Befolgung gesetzlich festgelegter Regeln. Wesentlich ist dabei, daß es zugelassen wird, daß die sogenannten Kapitalgüter, welche es den Arbeitenden ermöglichen, Konsumgüter (Nahrung, Kleidung etc.) und neue Kapitalgüter herzustellen, Privatbesitz von Individuen sein können und zum großen Teil sind. Diese Kapitalgüter sind teils Naturschätze (Boden, Bergwerke etc.), teils Produkte menschlicher Arbeit (Gebäude, Maschinen etc.).

Ich will nun im folgenden der Einfachheit halber die Nicht-Kapitalbesitzer "Arbeiter" nennen, obwohl dies nicht genau dem Sprachgebrauch entspricht. Der Kapitalbesitzer kann dem Arbeiter seine Arbeitskraft abkaufen. Mit Benützung des Kapitals erzeugt der Arbeiter neue Güter, die Eigentum des Kapitalbesitzers werden. Wesentlich ist bei diesem Prozeß, wieviel der Arbeiter in Sachwert gemessen für seine Arbeit erhält im Vergleich mit dem Sachwerte der von ihm erzeugten Güter. Insoweit der Arbeitsvertrag "frei" ist, richtet sich die Bezahlung des Arbeiters unter Berücksichtigung seiner Mindestbedürfnisse, nach der Zahl der konkurrierenden Arbeiter im Verhältnis zu der Menge der vom Kapitalbesitzer benötigten Arbeitskräfte und nicht nach dem Sachwerte der von ihnen erzeugten Güter. Wesentlich ist: Die Bezahlung der Arbeit ist auch im Prinzip nicht bedingt durch den Wert der durch sie erzeugten Güter.

Das Privatkapital hat die Tendenz, sich in wenigen Händen zu konzentrieren, teils infolge der Konkurrenz zwischen den Kapitalbesitzern, teils auch wegen des Umstandes, daß der technologische Fortschritt und die mit ihm verbundene fortschreitende Arbeitsteilung die größeren Produktions-Organismen gegenüber den kleineren begünstigt. Es resultiert eine Oligarchie des Privatkapitals, deren Macht auch eine demokratische politische Organisation der Gesellschaft nicht gewachsen ist. Dies hängt damit zusammen, daß die Wahl in die gesetzgebenden Körperschaften von Vorschlägen der politischen Parteien abhängt; die Finanzierung der Parteien aber ist weitgehend vom Privatkapital abhängig, das auf solche Weise gewissermaßen zwischen die Wählerschaft und die gesetzgebenden Körperschaften geschaltet ist. Dies bedingt, daß die Volksvertreter die Interessen der nicht begüterten Volksteile nicht in genügendem Maße vertreten. Außerdem ist es unter den obwaltenden Verhältnissen unvermeidlich, daß das Privatkapital die Informationsquellen des Publikums (Presse, Radio, Schulwesen) teils direkt, teils indirekt kontrolliert. Dadurch wird es dem einzelnen schwer, sich ein objektives Urteil zu bilden und von seinen politischen Rechten einen vernünftigen Gebrauch zu machen. Der so skizzierte Zustand ist charakterisiert durch die beiden Grundsätze:

Die Arbeitsmittel (Kapital) sind Privatbesitz, und die Besitzer verfügen frei über die Verwendung der Arbeitsmittel. Der Arbeitsvertrag ist frei.

Eine in solchem Sinne rein privatkapitalistische Wirtschaft gibt es nirgends. Insbesondere ist es den Arbeitern nach langen politischen Kämpfen gelungen, eine etwas gemilderte Form des "freien Arbeitsvertrages" für gewisse Kategorien von Arbeitern zu erreichen. Aber im Ganzen genommen unterscheidet sich unsere Wirtschaft nur wenig vom "reinen Kapitalismus"

Es wird produziert für den Profit, statt für den Bedarf. Es ist nicht dafür gesorgt, daß die ganze arbeitsfähige Bevölkerung am Produktionsprozeß beteiligt ist. Es gibt immer ein "Heer der Arbeitslosen". Jeder muß um seinen Arbeitsplatz zittern, wenn er einen hat. Für die Arbeitslosen und schlecht Bezahlten zu produzieren, lohnt sich im allgemeinen nicht. Viel Not und Schrumpfung der Produktion von Konsumgütern ist die Folge. Der technologische Fortschritt hat zur Folge, daß die Arbeitslosigkeit zunimmt, statt die Arbeitslast aller zu vermindern. Das Profitmotiv in Verbindung mit der Konkurrenz der Kapitalbesitzer bringt eine Instabilität in der Verwendung des Kapitals mit sich, die zu den immer häufiger sich wiederholenden "Depressionen" führt. Hemmungslose Konkurrenz führt zu einer maßlosen Verschwendung von Arbeitskraft und zu der schon erwähnten Verkrüppelung der sozialen Seite in der Veranlagung der Individuen. Diese Verkrüppelung halte ich für das größte Übel, das der "Kapitalismus" mit sich bringt. Dieses Übel macht sich schon im Erziehungswesen geltend, in welchem das junge Individuum mit einem übertriebenen kompetitiven Geist erfüllt wird: eine Vorbereitung für das spätere Berufsleben.

Nach meiner Überzeugung gibt es nur einen Weg zur Beseitigung dieser schweren Übel, nämlich die Etablierung der sozialistischen Wirtschaft, vereint mit einer auf soziale Ziele eingestellten Erziehung: Die Arbeitsmittel werden Eigentum der Gesellschaft und werden von dieser planwirtschaftlich verwendet. Die Planwirtschaft mit ihrer dem elementaren Warenbedarf der Gesellschaft angepaßten Gütererzeugung verteilt die zu leistende Arbeit auf alle arbeitsfähigen Individuen und sichert alle gegen Not. Die Erziehung des Individuums erstrebt neben der Entwicklung der individuellen Fähigkeiten die Erweckung eines auf den Dienst am Nebenmenschen gerichteten Ideals, das an die Stelle der Glorifizierung von Macht und Erfolg zu treten hat.

Planwirtschaft ist noch kein Sozialismus. Planwirtschaft kann mit einer völligen Versklavung des Individuums verbunden sein. Der Sozialismus hat es mit einem politisch-sozialen Problem zu tun, das nicht leicht zu lösen ist: Wie bringt man es bei so weitgehender Zentralisierung der politischen und ökonomischen Macht zuwege, daß die Bürokratie nicht zu mächtig wird und zu sehr anschwillt, daß das Individuum nicht politisch verkümmert und mit ihm das demokratische Gegengewicht gegen die Macht der Bürokratie?

Klarheit über die Ziele und Probleme des Sozialismus ist für unsere Zeit des Überganges von größter Bedeutung. Leider ist bei dem jetzigen Zustande der Gesellschaft die freie Diskussion dieser Dinge durch ein mächtiges Tabu erschwert.


 

Das Vermächtnis von Buchenwald - gestern, heute, morgen

von Horst Schneider

Buchenwald und Weimar werden im Jahre 2005 abermals in spezifischer Weise ins Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit treten. Anläßlich des 60. Jahrestags der Selbstbefreiung der Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald am 11. April 1945 - unmittelbar vor dem Eintreffen von US-Truppen - wird Bundeskanzler Schröder an dem Gedenken teilnehmen. Ein neuer Appell von Buchenwald ist in Vorbereitung.1 Der Anlaß ist Grund genug, um an die Geschichte des Nazi-Konzentrationslagers Buchenwald, die Entstehung und Geschichte der Mahn- und Gedenkstätte, den Streit um die „doppelte Vergangenheit" und das aktuelle Vermächtnis nachzudenken.

Weimar und Buchenwald symbolisieren in einzigartiger Weise Größe und Tragik deutscher Geschichte. Der „ Geist von Weimar", verkörpert in Dichtern wie Goethe, Schiller und Herder, Philosophen wie Schopenhauer und Nietzsche, Komponisten wie Franz Liszt, hat sein Gegenbild in Buchenwald, auf dem Rücken des Ettersbergs, der sich in Schriften eben dieser Dichter wiederfindet, „ein Ort der Spazierritte, der Pirschgänge, dichterischer Einfälle, holder Muße." 2

Die Weimarer Bürger wußten von der Existenz dieses Lagers, sie mußten nicht erst durch US–Soldaten im Mai 1945 an die Stätte des Verbrechens und Grauens geführt werden. Sie hatten, wie Arnold Zweig schrieb, „oft genug Gelegenheit, auf Lastwagen herangeführte ‘Sträflinge’ mit geschorenen Köpfen, viele den gelben Judenstern auf der Brust, vorüberfahren sehen, zu Arbeitsplätzen am Rande der berühmten Stadt - und sahen nichts, wußten nichts und glaubten nichts." 3

Arnold Zweig schrieb vom „ Rätsel der modernen Zeit." Angesichts der Fortsetzung von Verbrechen an Menschen und der existentiellen Bedrohung der Menschheit ist es höchste Zeit, zur Lösung des „ Rätsels" beizutragen. Es ist auch zwingend, jenen Verfechtern einer „Erinnerungskultur" entgegenzutreten, die ihren Job mit der Verteufelung des Antifaschismus und der „Abwicklung" antifaschistischer Tradition und Gedenkstätten sichern wollen. Schiller nannte solche Leute in seiner Antrittsvorlesung als Historiker in Jena am 26. Mai 1989 verächtlich „Brotgelehrte". 4

„Theoretische" Grundlage für die „Abwickler" ist in der Regel die Totalitarismus-Doktrin, deren Kern der „Diktaturenvergleich" ist, meist die Gleichsetzung des „SED–Unrechtsstaats" mit dem „Dritten Reich." 5

Nach dem Willen der CDU soll die Totalitarismus-Doktrin sogar in den Rang einer verbindlichen Gesetzesnorm erhoben werden. Im Entwurf, den sie Anfang 2004 im Bundestag einreichte und der am 17. Juni (!) 2004 beschlossen werden sollte, heißen die ersten Sätze:

„Der Bundestag wolle beschließen: Zu den konstitutiven Elementen des wiedervereinigten Deutschland gehört das Gedenken an die Opfer der beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts: Nationalsozialismus und Kommunismus. Beide sind Bestandteile der deutschen Geschichte." 6

Der Widerstand vor allem des Zentralrats der Juden und antifaschistischer Opferverbände führte dazu, daß der Vorstoß der CDU bisher gescheitert ist. Es wäre jedoch blauäugig zu hoffen, daß die Einreicher des Gesetzes künftig der historischen Wahrheit und der Vernunft die Ehre erweisen werden. Gerade die Auseinandersetzung um das Vermächtnis von Buchenwald ist ein Lehrbeispiel für den Inhalt und die Schärfe der aktuellen „Erinnerungsschlacht." 7 Ein Blick auf die Literatur zeigt das. 8

„Jedem das Seine"

Diese zynische Losung prangte über dem Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald, dessen Leidensgeschichte im Sommer 1937 begann. 9

Der Zeitpunkt war kein Zufall. Die Aggression gegen die Tschechoslowakei stand bevor. Das existierende Lager in Dachau sollte für den zu erwartenden „ Nachschub" entlastet werden. Der „innere" Widerstand sollte unmöglich gemacht werden.

Himmler hatte schon Anfang 1937 vor Wehrmachts- und SS-Offizieren erklärt:

Im Falle des Krieges gegen die Tschechoslowakei müsse jeder Widerstand unterbunden werden. 10

Am 15. Juli 1937 trafen die ersten 149 Häftlinge, darunter 52 politisch Verfolgte (rotes Dreieck) auf dem Ettersberg ein. Anfangs wurden auch Häftlinge der „ Aktion arbeitsscheu" in Buchenwald eingeliefert (grüne Winkel) und am Aufbau des Lagers beteiligt.

Nach der „Reichskristallnacht" im November 1938 wurden zeitweilig über 10.000 jüdische Häftlinge nach Buchenwald verschleppt.

Im Laufe der Jahre bis 1945 gab es außer dem zentralen Lager auf dem Ettersberg noch 136 Außenlager mit insgesamt 250. 000 Häftlingen aus 35 Ländern.

Mehr als 56. 000 Buchenwald-Häftlinge wurden ermordet oder kamen um.

Zum Lageralltag gehörte die „Vernichtung durch Arbeit" ebenso wie die Verbrechen der SS an Gefangenen. Bruno Apitz hat das Leben und Sterben in Buchenwald in „Nackt unter Wölfen" beschrieben. Die DEFA drehte unter diesem Titel einen Film, in dem so hervorragende Schauspieler wie Erwin Geschonnek und Gerry Wolf mitwirkten.

Emil Carlebach beschrieb das System des Terrors der SS in Buchenwald in „Buchenwald ein Konzentrationslager" in den Kapiteln: Erziehung zum Sadismus ;Die Lampenschirme der Kommandeuse; Das System der Strafen; Der „Sonderbau"; Medizinische Experimente an Gefangenen - im Interesse der IG Farben; Die Genickschußanlage; Morde an alliierten Offizieren.

In Buchenwald führten Ärzte „ Sonderbehandlungen" an Juden und Sinti und Roma durch, „erprobten" Impfstoffe an Häftlingen und spritzten Arbeitsunfähige zu Tode. Über 8 000 sowjetische Offiziere wurden ermordet, wofür außerhalb des Lagergeländes ein „Pferdestall" mit Genickschußanlage errichtet wurde.

Auf Befehl Himmlers wurden in der Schlußphase des Krieges Häftlinge ermordet, von denen zu erwarten war, daß sie eine führende Rolle beim Neuaufbau Deutschlands übernehmen könnten. Zu den in Buchenwald zu Tode Gekommenen gehörten der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann, der führende Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid, der Pfarrer Paul Schneider und 56.000 andere Antifaschisten. Buchenwald wurde wie Auschwitz, Dachau und Maidanek zu einem der Symbole faschistischen Verbrechens und Terrors.

„Widerstand hinter Stacheldraht"

Buchenwald war und bleibt aber auch leuchtendes Symbol des „ Widerstands hinter Stacheldraht." Das ist bezeugt und bewiesen. 11

Der Widerstand zielte zunächst darauf ab, die Haftbedingungen und Überlebenschancen für möglichst viele zu verbessern. Da die SS wie auch in anderen Lagern eine Art „ Selbstverwaltung" der Häftlinge zuließ, war die Besetzung von Funktionen und deren Nutzung ein entscheidender Kampfabschnitt des Widerstandes. Anfangs hatten kriminelle Totschläger wichtige Funktionen inne. Allmählich gelang es, Antifaschisten im Lagerschutz, der Feuerwehr, im Sanitätstrupp und der Krankenbaracke unterzubringen. Das erleichterte den Aufbau einer illegalen Lagerleitung und ermöglichte, eine illegale bewaffnete Militärorganisation zu schaffen. Der Krankenbau wurde zu einem Zentrum des illegalen Widerstandes, dem auch gefährdete Kameraden das Überleben verdankten. Es ist kein Zufall, daß nach 1990 die kommunistischen Kapos Zielscheibe einer organisierten Medienkampagne wurden, an der sich auch „Abwickler" beteiligten. 12

Nachdem BILD gedruckt hatte „Kommunisten mordeten gemeinsam mit der SS," begann auch eine „wissenschaftliche" Kontroverse. Ausgangspunkt und Grundlage waren Aktenfunde aus dem SED-Nachlass. Ende der vierziger/ Anfang der fünfziger Jahre gab es „Parteiüberprüfungen," bei denen das Verhalten ehemaliger KZ-Häftlinge, die nach 1945 hohe Funktionen bekleideten, daraufhin überprüft wurden, ob sie sich gegenüber ihren Kameraden solidarisch und ehrenhaft verhalten hatten oder nicht. Auch ungerechtfertigte Vorwürfe standen zur Diskussion.

Diese innerparteiliche und seit Jahrzehnten abgeschlossene Prüfung mißbrauchten Nutzer der „Akten" zu einer weiteren unappetitlichen Kampagne, in der sich Historiker zum Gralshüter der Moral aufschwangen. Lutz Niethammer glaubte folgern zu dürfen:

„An die Futterkrippen - die Küchen und Magazine -… erinnerten sich die Genossen, als sie 1943 um die Funktionsstellen kämpften." 13

Daß von den Inhabern der „Funktionsstellen" Leben oder Tod anderer abhängen konnte, scheint für einen Historiker (mit Lehrstuhl in Jena, wo auch Schiller gelehrt hat) schwer begreiflich zu sein.

Später und an anderer Stelle relativierte Niethammer sein Urteil über die Rolle der „roten Kapos." Akten seien kein Mittel, um die „Kollaboration der KPD und der SS im KZ Buchenwald im Sinne einer totalitären Denk- und Tatgemeinschaft nachzuweisen oder auch nur wahrscheinlich zu machen." 14 Da bleibt zu fragen: Wer will eine „totalitäre Denk- und Tatgemeinschaft" nachweisen und welche infamen Absichten hat er? Warum soll die KPD in eine Reihe mit der SS gestellt werden? Geht es infamer? Emil Carlebach, KZ-Häftling in Buchenwald und international geachteter Antifaschist, hat den Fälschern und Verleumdern zum Thema „ rote Kapos" die verdiente und überzeugende Abfuhr erteilt.15

Zu den Ergebnissen des illegalen Widerstandes gehört, daß etwa 20.000 Buchenwald–Häftlinge die Zeit im Konzentrationslagers überlebten und daß diese Überlebenden am 11. April 1945 den bewaffneten Aufstand wagen konnten.

Wenige Tage später leisteten 21. 000 „ Männer und Knaben" den Schwur von Buchenwald, in dem es heißt: „ …Unsere Sache ist gerecht - unser muß der Sieg sein -. Wir führten in vielen Sprachen den gleichen, harten opferreichen Kampf. Und dieser Kampf ist noch nicht zu Ende. Noch wehen Hitlerfahnen! Noch leben die Mörder unserer Kameraden! Noch laufen unsere sadistischen Peiniger frei herum!... Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung! Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel!" 16

„Das Ehrenmal ist kein toter Stein" (Otto Grotewohl)

In der DDR war es Ehrenpflicht, keineswegs „ verordneter" Antifaschismus, an die Kämpfer und Opfer in den Konzentrationslagern zu erinnern und ihr Vermächtnis in Ehre zu halten. Buchenwald spielte dabei eine besondere Rolle, auf die eingangs hingewiesen wurde. Schon 1951 beschloß die Regierung der DDR, in Buchenwald eine würdige Mahn- und Gedenkstätte zu errichten. Architekten, bildende Künstler, ehemalige Häftlinge, eine breite Öffentlichkeit waren an der Diskussion um das Projekt beteiligt. Als Ort der Gedenkstätte wurde der Südabhang des Ettersberges bestimmt. Die Weihe des Ehrenmals erfolge durch Ministerpräsident Otto Grotewohl.

Die Einweihung des Buchenwald-Denkmals am 14. September 1958 war Gelegenheit, den Buchenwald-Schwur vom April 1945 der aktuellen Situation entsprechend zu erneuern. 17 Otto Grotewohl überschrieb seine Rede „Mahnung für alle Zeiten" und nutzte sie, um auf die unterschiedliche Entwicklung in der DDR und in der BRD aufmerksam zu machen: „Vor der Welt stehen heute zwei deutsche Staaten. Der eine hat aus den Fehlern der Geschichte gelernt. Er hat gute und richtige Lehren gezogen." Was er über den aggressiven Charakter und die reaktionäre Entwicklung des anderen deutschen Staates sagte, kann aus der Sicht von heute genauer geprüft werden, als es 1958 möglich war. 18 Korrigieren müßte sich Otto Grotewohl in seinen grundsätzlichen Einschätzungen - leider - nicht.

Arnold Zweig schrieb anläßlich der Einweihung der Mahn- und Gedenkstätte: „Jetzt aber geht von Buchenwald und seinem Widerspiel Weimar die unbedingte Aufforderung aus, jeden Ansatz dessen zu zertreten, was noch einmal zu ähnlichen Beschmutzungen unserer geistigen Welt, aller geschaffenen Güter führen könnte." 19

(Bundeskanzler Willy Brandt besuchte anläßlich der „Erfurter Begegnung" mit Willy Stoph am 14. März 1970 Buchenwald und legte in Begleitung von DDR-Außenminister Otto Winzer einen Kranz nieder. Eine Rede hielt er nicht. - Nun wird sich Gerhard Schröder an der Mahnung Otto Grotewohls messen lassen müssen.)

Im Zentrum des Mahnmals steht unterhalb des Glockenturms die Buchenwald-Gruppe von Fritz Cremer, Bronzefiguren von über 3 m Höhe, im Mittelpunkt der „Schwörende", links ein Kind (von über 900 Kindern unter 16 Jahren, die es im Lager gegeben hatte). Das Mahnmal in Buchenwald sollte an den Weg der Inhaftierten erinnern von der ersten Stele, die den Lageraufbau ins Bild bringt, die zweite, die die Kameradschaft unter den Häftlingen würdigt, die dritte, die die Arbeit im Steinbruch darstellt (der Steinarbeiter mit der erhobenen Faust ist Rudi Arndt), die vierte, die die Ausbeutung der Häftlinge zeigt, schließlich die illegale Thälmannfeier, eine Art Vorbereitung auf die Selbstbefreiung der Häftlinge. Schöpfer und Erbauer des Denkmals war Fritz Cremer, die Verse schrieb Johannes R. Becher.

„Todesfabriken der Kommunisten"?

Nach 1945 diente das ehemalige Nazi-Konzentrationslager Buchenwald der sowjetischen Besatzungsmacht zur Internierung von Nazi- und Kriegsverbrechern, wie das z.B. die US-Besatzungsmacht in Dachau tat. Grundlage dafür waren die Beschlüsse der Alliierten für die Nachkriegsbesetzung in Deutschland, wie sie u.a. in Jalta verabschiedet wurden. Über das „Speziallager 2" in Buchenwald und andere gibt es inzwischen eine umfangreiche Literatur mit sehr unterschiedlichen Wertungen. Für die einen sind das „Todesfabriken der Kommunisten", 20 für die anderen die tragische, aber unvermeidliche Konsequenz für die Verbrechen der (zum Teil) inhaftierten Naziverbrecher. 21

Zu den Tatsachen gehört, daß in der DDR die Existenz von sowjetischen Speziallagern nicht Gegenstand einer spezifischen Forschung und des Gedenkens war, und eine Gedenkstätte für die „Opfer der USA-Besatzung", z.B. in Dachau gibt es zu Recht natürlich bis heute nicht. Woraus resultiert die besondere „ Liebe" von Totalitarismusforschern für das „Speziallager 2"?

In Buchenwald scheint eine historische Tatsache die Behauptung von Totalitarismusforschern zu bestätigen. Auf dem Gelände des Nazi-Konzentrationslagers errichteten sowjetische Organe nach 1945 das „Speziallager 2", eines in der Kette von Lagern, die die Alliierten in Ost und West zur Inhaftierung von Kriegsverbrechern und Naziaktivisten verwendeten. Sie waren keine GULAGS.

In Buchenwald wurde nach 1990 wie auch in anderen Gedenkstätten der DDR angestrebt, die „doppelte Vergangenheit", die aufeinanderfolgenden „zwei Diktaturen in Deutschland", zum Gegenstand der Erinnerungskultur zu machen. Theoretische Grundlage für die entsprechenden Konstruktionen liefert die Totalitarismus-Doktrin, die im Kern die Gleichheit (bestenfalls Ähnlichkeit) der „nationalsozialistischen" Diktatur mit dem „Unrechtsstaat" DDR behauptet.22

Über die Entstehung, Funktion und Entwicklung des sowjetischen „Speziallagers 2" gibt es inzwischen Forschungsergebnisse.23 Das Lager wurde nach dem Abzug der USA-Truppen von August 1945 an zur Inhaftierung von Kriegsverbrechern und Naziführern verwendet, die in 40 Holzbaracken untergebracht wurden. Das Krematorium wurde stillgelegt. Am 24. Oktober 1945 betrug die Zahl der Inhaftierten 4.400; eine Zahl , die sich in den folgenden Monaten erhöhte. Die Höchstziffer betrug im März 1947 16.377 Internierte. Die Zahl der in der Haft, vorwiegend an Hunger und Krankheit, Verstorbenen betrug 7.113. Unter den Internierten gab es auch Leute, die unter Werwolfverdacht standen, unerlaubt Waffen besaßen, auch Opfer von Denunziationen. Zweifellos ist die Existenz von Internierungs-Speziallagern in allen Besatzungszonen primär eine Folge der faschistischen Verbrechen und des barbarischen Krieges. Ohne das Vorausgegangene wäre die Antihitlerkoalition nicht entstanden, hätten die Sieger Deutschland nicht besetzen müssen. Es gilt Ralph Giordanos Erkenntnis:„Und auch für das, was dann beim Einmarsch über die deutschen Ostgrenzen geschah, hat selbstverständlich der deutsche Aggressor, haben Hitler und seine Anhänger, die großen wie die kleinen, die Primärverantwortung".24 Seit dem 25. Mai 1997 dokumentiert eine ständige Ausstellung die Geschichte des Speziallagers 2 in Buchenwald.25

 

Die „ Erinnerungsschlacht" um Buchenwald

Den Begriff „Erinnerungsschlacht" verwendete Norbert Frei in seinem Artikel in „ Die Zeit" vom 21. Oktober 2004 für seinen Titel „ Die Erinnerungsschlacht um den 60. Jahrestag des Kriegsendes hat begonnen".

Die „Erinnerungsschlacht" um die Gedenkkultur in Buchenwald wie auch in anderen Gedenkstätten, die in der DDR an die Verbrechen der Nazidiktatur und den Widerstand gegen den Faschismus erinnerten, tobt seit 1990 und war von Innenminister Schäuble verordnet.26 Der Antifaschismus in der DDR war „abzuwickeln", der „Diktaturenvergleich" durchzusetzen. Inzwischen darf der Interessierte das Ergebnis besichtigen.27

Anfang der neunziger Jahre wirkte im Auftrag der thüringischen Landesregierung eine elfköpfige Expertengruppe unter Leitung von Prof. Dr. Eberhard Jäckel (Stuttgart), in der u.a. Dr. Konrad Adam von der FAZ und Barbara Diestel von der KZ-Gedenkstätte Dachau mitarbeiteten. Im Ergebnis von drei Sitzungen entstanden Empfehlungen zur „Neuorientierung der Gedenkstätte Buchenwald". 28 Zu ihren Vorschlägen gehörte, „die Geschichte des Speziallagers zu erforschen und die Erinnerung an die Opfer des Speziallagers und des Konzentrationslagers räumlich zu trennen". 29

Horst Schuh scheint die Quintessenz der „ Neuorientierung" besonders gut begriffen zu haben: „In Buchenwald sind die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts nahtlos aufeinander gefolgt: Eines der größten Konzentrationslager der nationalsozialistischen Zeit wurde von einem Hunger- und Schweigelager abgelöst, um sodann vier Jahrzehnte als ‘antifaschistischer Olymp’ des SED-Regimes zu dienen." 30 (Mit Verlaub: Wie wäre dann die Nutzung des ersten Konzentrationslagers der Nazis, Dachau, durch die US-Truppen zu werten? - Ein Denkmal für die vielen „Opfer" des Internierungslagers Dachau existiert bisher nicht und wird wohl auch nicht entstehen. Warum wohl nicht?)

Schuh bietet eine namenlose DDR-Schülerin als „Zeitzeugin" auf, um die Notwendigkeit der „Neuorientierung" im (un)heiligen Geiste der Totalitarismus-Doktrin zu begründen. Diese Autorin beschwert sich darüber, dass sie im Literaturunterricht der DDR Bücher wie Bruno Apitz’ „Nackt unter Wölfen," Anna Seghers’ „Das siebte Kreuz" und Dieter Nolls „Die Abenteuer des Werner Holt" kennenlernte. Unter dem „Deckmantel der Literatur" habe eine „Gleichsetzung" von Antifaschismus und Kommunismus stattgefunden.31 Hier zeigt sich, wie unterschiedlich ein Buch bewertet werden kann und welche ideologische Brille die Autorin inzwischen bevorzugt. Anna Seghers trägt daran keine Schuld. Und es wird der „bekehrten" Autorin keine Sorge bereiten, daß in dem Buch, in dem sie sich äußert, die wahrheitswidrige und verleumderische Gleichsetzung der DDR mit dem Hitlerstaat roter Faden ist. Die Konzeption, die Opfer des Faschismus nun auch mit den von der Sowjetunion Inhaftierten zu „saldieren" 32 , Kriegsverbrecher und Naziaktivisten, die für den Krieg und die faschistischen Verbrechen verantwortlich waren, in den Rang von Märtyrern „kommunistischen Unrechts" zu erheben, mußte zwangsläufig zu heftigen Kontroversen in den Opferverbänden und der Öffentlichkeit führen, die bis heute nicht beendet sind.33

Für „gebrannte Kinder", für Kriegs- und Hitlergegner, sind damit Zukunftsaufgaben bestimmt. Der schwarzbraunen Flut in der Literatur der Rechtsextremen 34 und ihrer „willigen Helfer" unter Geschichtsrevisionisten muß entschieden Widerstand geleistet werden. Die antifaschistische Tradition muß verteidigt, gepflegt und entwickelt werden. Der sächsische CDU-Landtagsabgeordnete Lars Rower glaubte in der Landtagsdebatte über den Rechtsextremismus am 10. Dezember 2004 höhnen zu dürfen: „Die alten Genossen würden am liebsten wieder Jugendweihefeiern an der ‘Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald’ durchführen". 35 Warum nicht, wenn das die braune Pest zurückdrängt, wäre zu fragen.

Der von manchen geschmähte und gefürchtete Karl Eduard von Schnitzler fand: „Wenn uns heute Ahnungslose, mehr noch als Böswillige einen ‘verordneten Antifaschismus’ vorwerfen, genügt die Gegenfrage: Wie gut wäre es gewesen, wenn man in den Westzonen und in der BRD Antifaschismus wenigstens verordnet hätte?" 36

Für das „ andere Deutschland", für anständige Deutsche, bleibt der Schwur von Buchenwald gültig.


 

Naziaufmärsche gehören zur bundesdeutschen Rechtsordnung

von Erich Buchholz

In Anrufen, Briefen und persönlichen Gesprächen beklagen sich immer wieder Menschen darüber, daß an verschiedensten Orten den Neofaschisten erlaubt wird, ihre provokatorischen Aufmärsche durchzuführen. Überdies geht, so wird berichtet, nicht selten die Polizei gegen Antifaschisten vor, die diese „braune Pest" nicht ertragen können und sich in den ihnen möglichen Formen dagegen zu wehren suchen. - So etwas gab es in der DDR nicht! Hat der Faschismus in Deutschland wieder eine Heimstatt oder doch zumindest seine Duldung?

Ich bin gleichfalls empört und entrüstet über diese sichtbare Wiederbelebung des Faschismus in Deutschland. Als Jurist darf ich aber nicht nur empört sein. Zunächst sei zur derzeitigen Rechtslage in der Bundesrepublik erläutert:

I.

Nach Art. 8 des Grundgesetzes (GG), das nach dem „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" auf das Staatsgebiet der DDR, das sog. Beitrittsgebiet, erstreckt wurde, steht allen Deutschen (!) als ein Grundrecht das Recht zu, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Dieses Grundrecht als solches genießt in der Rechtsordnung der Bundesrepublik einen hohen Rang. Das zeigt sich schon daran, daß in dem vorgenannten Art. 8 - abgesehen von möglichen Beschränkungen durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes bei Versammlungen unter freiem Himmel - keinerlei Einschränkung zu finden ist. Das Grundgesetz spart sich auch in diesem Artikel jegliche inhaltliche Bestimmung der Grundrechte und jede inhaltliche Begrenzung derselben. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung steht - zumindest zunächst - auch Feinden der Demokratie, so den Neofaschisten, dieses Grundrecht zu.

In dem grundsätzlich unbeschränkten Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird nach bundesdeutscher Kommentierung und Rechtsprechung, so auch der des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), eine wichtige Ergänzung zum Grundrecht der Meinungsfreiheit gesehen. Insbesondere soll es der Gewährleistung „kollektiver Meinungsbildung und -Kundgabe im Kampf der Meinungen mit geistigen Mitteln" dienen; es wird als „ein wichtiges Recht im Prozeß der demokratischen Meinungs- und Willensbildung" angesehen.

Wie alle anderen Grundrechte auch richtet sich das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nach der in der BRD herrschenden Grundrechtslehre gegen den Staat, gegen die öffentliche Gewalt in allen ihren Erscheinungsformen. Zugleich sei der Staat, die öffentliche Gewalt, durch dieses Grundrecht dazu verpflichtet, eine rechtmäßige Versammlung, dazu zählt auch eine solche von Neofaschisten, vor der Gewalt Dritter, so also auch vor eventuellen Gegendemonstrationen von Antifaschisten, zu schützen!

Der Schutz der neofaschistischen Aufmärsche vor Gegendemonstrationen von Antifaschisten durch Einsatz von Polizeikräften ist somit durch die Rechtsordnung der Bundesrepublik geboten. Inwieweit Polizeikräfte bei einem solchen Einsatz auf Grund ihrer persönlichen politischen Einstellung oder aus anderen Gründen das gebotene Maß überschreiten und - auf dem Hintergrund der Legitimität ihres Polizeieinsatzes - gegen wirkliche oder angebliche Linksextremisten besonders brutal vorgehen oder sie in einer „juristischen Grauzone" straflos schikanieren, ist eine andere Frage.

Die Erfahrung mit entsprechenden Strafanzeigen gegen Polizeibeamte zeigt, daß letztendlich zu oft das Recht nicht auf der Seite der antifaschistischen Gegendemonstranten steht, daß die Strafanzeigen, auch wegen der zeugenschaftlichen Kumpanei von Polizeibeamten, vielfach ins Leere gehen und die Verfahren letztlich eingestellt werden oder mit geringen Strafen enden.

Bei den unter dem Schutz des Art. 8 GG stehenden Versammlungen handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Menschenansammlung, wie wir sie besonders auf Märkten, bei Ausstellungen, in Theater- und Filmvorführungen, Konzerten usw. erleben, sondern - wie es in den Kommentaren heißt - „um Zusammenkünfte zur Erörterung bestimmter Gegenstände", wo „Meinungen zwecks Einwirkung auf Dritte, so besonders die Öffentlichkeit kundgetan" werden.

Art. 8 GG unterscheidet Versammlungen in Räumen - diese können, soweit sie friedlich und ohne Waffen stattfinden, grundsätzlich ohne Anmeldung oder Erlaubnis abgehalten werden - und Versammlungen unter freiem Himmel: Bei diesen sind Beschränkungen zulässig; da sie öffentlich stattfinden und auch öffentlichen Zugang erlauben, sind diese nicht nach außen abgeschlossen. Wegen ihrer besonderen potentiellen Gefährlichkeit für den öffentlichen Frieden kann bei solchen Versammlungen das Recht der Versammlungsfreiheit unter Sicherheitsgesichtspunkten durch Gesetz unmittelbar oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Deshalb bedürfen solche Versammlungen einer Anmeldung bei der zuständigen Behörde.

Die Grundrechtsbestimmung des Art. 8 GG ist durch das Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (VersammlG) (i. d. F. vom 11. August 1999) untersetzt. Erfreulicherweise überschreitet § 1 dieses Gesetzes die im Art. 8 GG zu findende Beschränkung dieses Grundrechts auf Deutsche. Im § 1 des VersammlG wird das Versammlungsrecht im Einklang mit Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) jedermann, also allen Menschen, zugestanden, nicht nur Deutschen.

Allerdings, darf der Jurist anmerken, findet sich diese menschenrechtskonforme Formulierung nur in einem einfachen Gesetz und nicht im auch nach 1990 unverändert gebliebenen Grundgesetz, das in der Bundesrepublik die Funktion einer Verfassung erfüllt; auch gilt die zum Völkerrecht gehörende Europäische Menschenrechtskonvention nach herrschender bundesdeutscher staatsrechtlicher Meinung und Rechtsprechung innerstaatlich nur als einfaches Bundesgesetz und steht somit unter dem Grundgesetz.

Bei Ausländern und Staatenlosen wird ihr Recht auf Versammlungsfreiheit verfassungsrechtlich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Artikels 2 Abs. 1 GG hergeleitet.

Nach Absatz 2 des § 1 VersammlG steht in Konkretisierung des Art. 8 GG das Versammlungsrecht nicht demjenigen zu, der das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gem. Art. 18 GG verwirkt hat. Eine solche Verwirkung und ihr Ausmaß müssen durch das BVerfG ausgesprochen worden seien. Bekanntlich wurde gegen Veranstalter der neonazistischen Kundgebungen bisher eine solche Verwirkung durch das BVerfG nicht ausgesprochen.

Weiterhin hat nach dem vorgenannten Absatz 2 des § 1 VersammlG auch derjenige nicht das Recht auf Versammlungsfreiheit, der mit der Durchführung oder Teilnahme an einer solchen Veranstaltung die Ziele einer nach Art. 21 Abs. 2 GG durch das BVerfG für verfassungswidrig erklärten Partei oder eine Teil- oder Ersatzorganisation einer Partei fördern will. Ebenso ist einer für verfassungswidrig erklärten Partei das Versammlungsrecht genommen.

Wie gut bekannt, wurde in der Bundesrepublik zwar die Kommunistische Partei Deutschlands am 17. August 1956 nach Art. 21 GG verboten. Aber weder die sich offen als neofaschistische Partei zeigende NPD noch die nicht minder eindeutig faschistische DVU wurden bisher vom BVerfG als verfassungswidrige Partei verboten. (Zum mißlungenen NPD-Verbot siehe auch meinen Aufsatz in WBl 1/2002,S. 57 ff.)

Schließlich hat auch eine Vereinigung, die nach Art. 9 Absatz 2 GG durch die zuständige Behörde rechtskräftig verboten wurde, das Versammlungsrecht nicht mehr. Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, können nämlich gemäß Art. 9 Abs. 2 GG verboten werden. Ein solches Verbot muß aber selbstverständlich in aller Form durch die zuständige Behörde ausgesprochen worden und darf auch nicht etwa im Zuge eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufgehoben worden sein, muß also rechtskräftig geworden sein.

Meines Erachtens bestehen in der Bundesrepublik durchaus Vereinigungen, deren Verbot eine Reihe von Tatsachen nahe legen. Bestrebungen gegen die verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung liegen auf der Hand. Solange jedoch noch kein rechtskräftiges Verbot verhängt ist, steht auch solchen Vereinigungen, die ein Verbot verdient haben, das Versammlungsrecht grundsätzlich zu.

In der Bundesrepublik kommt es zu einer Einschränkung des Rechts auf Versammlungsfreiheit, etwa für Feinde der Demokratie wie die Neonazis erst dann, wenn, und erst dadurch, daß betreffende Personen, Parteien oder Vereinigungen wegen ihrer Verfassungswidrigkeit rechtskräftig bzw. justizförmig verboten wurden. Bis dahin können sie - und das kann Jahre dauern - das Recht aus Art. 8 GG ausüben und gegen die Demokratie missbrauchen. (Mit dem - illegitimen - Verbot der KPD hatte das BVerfG in „Karls-Ruhe" etwa fünf Jahre zu tun!)

Betrifft § 1 Abs. 2 VersammlG die generelle Beschränkung des Versammlungsrechts von Grundrechtsträgern im Ergebnis rechtskräftiger bzw. justizförmiger Verbote (wie sie auch andere Grundrechte betreffen kann), so regelt § 15 dieses Gesetzes die Voraussetzungen des Verbotes und der Auflösung einer bestimmten Veranstaltung sowie die Erteilung von Auflagen für ihre Durchführung.

Nach § 14 des VersammlG ist eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder ein Aufzug spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstandes der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden.

Ein Verbot, eine Auflösung oder eine Auflage ist nach § 15 des VersammlG zulässig, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei der Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet ist. Damit werden an ein Verbot, an eine Auflösung oder an die Erteilung von Auflagen gegenüber dem Veranstalter einer Versammlung bzw. eines Aufzuges oder Aufmarsches hohe Anforderungen gestellt. Das entspricht dem eingangs bezeichneten hohen Rang des Rechts auf Versammlungsfreiheit.

Wer sich also z.B. veranlaßt sieht, das Verbot einer neonazistischen Versammlung zu beantragen, muß somit hinreichende tatsächliche Umstände vortragen, aus denen sich bereits im voraus eine unmittelbare Gefährdung für die öffentliche Sicherheit bei der Durchführung der Veranstaltung ergibt. Das dürfte, wie die Erfahrung zeigt, schwer sein. Denn die Veranstalter solcher neofaschistischen Aufmärsche kennen die Rechtslage und verstehen, sie für ihre antidemokratischen Zwecke auszunutzen; auch lassen sie sich von Rechtskundigen beraten. Sie werden daher ihre Anmeldung so gestalten, daß sich daraus keine Anhaltspunkte für ein Verbot, für eine Auflösung oder für Auflagen ergeben. Auch haben sie bei der Durchführung ihrer Aufmärsche zunehmend gelernt, diese frei von Symbolen zu lassen, die nach dem Strafgesetz verboten und unter Strafe gestellt sind, so die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86 a StGB). Vielfach werden sie auch vermeiden, Propagandamittel verfassungswidriger Organisationen (§ 86 StGB) zu verbreiten, und sie werden auch eine nach § 130 StGB strafbare Volksverhetzung oder eine strafbare Billigung von Straftaten (§ 140 StGB) (wie sie in Gestalt von Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Körperverletzung bis zu Mord und Totschlag in der „Reichskristallnacht" 1938, dem antijüdischen Pogrom, von Nazis massenhaft begangen wurden) unterlassen.

Die allgemeine nachvollziehbare Besorgnis, daß die provokativen neonazistischen Aufzüge und Aufmärsche zu Auseinandersetzungen oder Tätlichkeiten führen können, genügt nach der Rechtslage für ein Verbot und für eine Auflösung der Veranstaltung oder für die Erteilung von Auflagen nicht.

II.

Als Grundsatzentscheidung zur Frage der Versammlungsfreiheit darf der Beschluß des Ersten Senats des BVerfG vom 14. Mai 1985 angesehen werden, in dem es um das Verbot von Demonstrationen gegen die Errichtung des Kernkraftwerks Brokdorf ging.

Seit dieser Grundsatzentscheidung gab es insbesondere zwei weitere vorliegende nicht uninteressante Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, nämlich zu „Sitzdemonstrationen". Bei diesen ging es darum, ob eine Bestrafung von Teilnehmern an diesen Demonstrationen wegen Nötigung (§ 240 StGB) mit dem Prinzip der Strafgesetzlichkeit (Art. 103 Abs. 2 GG) sowie angesichts des hohen Ranges der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit mit dem Art. 8 GG vereinbar ist.

Konnte das Gericht am 11. November 1986 wegen Stimmengleichheit (4 zu 4) nicht feststellen, daß das Analogieverbot des Artikels 103 Abs. 2 GG verletzt wird, wenn die Strafgerichte § 240 StGB bei Sitzblockaden anwenden, so entschied am 10. Januar 1995 der personell anders zusammengesetzte Erste Senat bei einem leichten Stimmenübergewicht von fünf zu drei, daß die erweiterte Auslegung der vorgenannten Strafbestimmung und die Verurteilung wegen Nötigung gem. § 240 StGB verfassungswidrig sei. - Es kommt also auch beim BVerfG sehr auf den Zeitpunkt und die personelle Zusammensetzung des Spruchkörpers an.

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Demonstrationen von Neonazis sind hier nicht bekannt.

Da die vorgenannte Grundsatzentscheidung für die Rechtslage und die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Demonstrationen von Neonazis Bedeutung haben dürfte, soll auf diese näher eingegangen werden. In ihr gelangte das BVerfG zu der Erkenntnis, daß die in den Ausgangsverfahren angegriffenen Maßnahmen sowie die zu Grunde liegenden gesetzlichen Vorschriften die Beschwerdeführer in der im Art. 8 GG verankerten Freiheit beschränkten, die geplanten Demonstrationen durchzuführen.

Der Schutz des Art. 8 GG ist, so betont das BVerfG, nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfaßt vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen; auch solche mit Demonstrationscharakter gehören dazu, bei denen die Versammlungsfreiheit zum Zwecke plakativer oder Aufsehen erregender Kundgabe in Anspruch genommen wird.

Als Abwehrrecht, das auch und vor allem anders denkenden Minderheiten zugute kommt - bzw. kommen soll -, gewährleiste, meint das BVerfG, Art. 8 GG den Grundrechtsträgern das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung; zugleich untersagt diese Bestimmung staatlichen Zwang, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fernzubleiben.

In einem freiheitlichen Staatswesen gewähre das Grundrecht des Art. 8 GG das Recht, sich ungehindert und ohne besondere Erlaubnis zu versammeln - als Zeichen der „Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit des selbstbewußten Bürgers". In der Geltung für politische Veranstaltungen verkörpere die Freiheitsgarantie zugleich eine Grundentscheidung, die in ihrer Bedeutung über den Schutz gegen staatliche Eingriffe in die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung hinausreiche.

Die Meinungsfreiheit werde seit langem zu den unentbehrlichen grundlegenden Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens gezählt, das für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung konstituierend sei. Denn dieses Recht ermögliche „die ständige geistige Auseinandersetzung und den Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform."

In seiner idealisierten Vorstellung von dem bundesdeutschen politischen System meint das BVerfG, es könne die Versammlungsfreiheit „als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe verstanden werden, auch wenn speziell bei Demonstrationen das argumentative Moment zurücktritt, welches bei der Meinungsfreiheit eine größere Rolle spielt".

Indem der Demonstrant seine Meinung in physischer Präsenz, in voller Öffentlichkeit und ohne Zwischenschaltung von Medien kundgäbe, entfalte auch er seine Persönlichkeit in unmittelbarer Weise. „In ihrer idealtypischen Ausformung" - lesen wir weiter - „sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, wobei die Teilnehmer einerseits in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugung erfahren und andererseits nach außen gedanklich - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen", heißt es wie in einem Lehr- oder Märchenbuch über die freiheitliche demokratische Grundordnung in der vorgenannten Entscheidung.

Die Gefahr, daß solche Meinungskundgabe demagogisch mißbraucht und in fragwürdiger Weise emotionalisiert werden könnte, könne im Bereich der Versammlungsfreiheit ebenso wenig maßgebend für die grundsätzliche Einschätzung sein wie auf dem Gebiet der Meinungs- und Pressefreiheit, glaubt das BVerfG. Damit sichert es auch Feinden der Demokratie wie den Neonazis die Ausübung der Versammlungsfreiheit zu - bis der jeweilige Grundrechtsträger dieses Recht verliert.

Um die grundsätzliche Bedeutung der Versammlungsfreiheit zu erfassen, müsse die Eigenart des Willensbildungsprozesses im demokratischen Gemeinwesen berücksichtigt werden. So gehe die freiheitlich-demokratische Ordnung, wie das BVerfG in seinem KPD-Verbotsurteil vom 17. August 1956 erklärt habe, davon aus, „daß die bestehenden, historisch gewordenen staatlichen gesellschaftlichen Verhältnisse verbesserungsfähig und -bedürftig seien", womit „eine nie endende Aufgabe gestellt" sei, die durch stets erneute Willensentscheidung gelöst werden müsse". Ob das BVerfG dies auch heute so sieht und insbesondere, ob es in den Aktivitäten neofaschistischer Kräfte einen Beitrag zu dieser nie endenden Aufgabe sieht, wissen wir nicht. Jedenfalls meint das BVerfG: „Der Weg zur Bildung dieser Willensentscheidung sei ein Prozeß von ‚trial and error’..., der durch ständige geistige Auseinandersetzung, gegenseitige Kontrolle und Kritik .... die beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie als Resultante und Ausgleich zwischen den im Staat wirksamen politischen Kräften" biete. In einer Demokratie müsse die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt verlaufen; das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung äußere sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung, die sich in einem demokratischen Staatswesen frei, offen, unreglementiert und grundsätzlich „staatsfrei" vollziehen müsse.

Immerhin erkannte das BVerfG realistisch, daß „die Bürger an diesem Prozeß in unterschiedlichem Maße beteiligt sind", daß „große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien beträchtlichen Einfluß ausüben können, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflußnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen" !! Insoweit wird ein wichtiger Grund für die Berechtigung von Demonstrationen dargestellt.

Die ungehinderte Ausübung des Freiheitsrechts wirke nicht nur dem „Bewußtsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit" entgegen, meint das BVerfG, sie liege letztlich auch deshalb im „wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse", weil sich im „Kräfteparallelogramm der politischen Willensbildung im allgemeinen erst dann eine relativ richtige Resultante herausbilden" könne, wenn „alle Vektoren einigermaßen kräftig entwickelt sind" – womit bereits damals auf ernste Probleme der bundesdeutschen Demokratie aufmerksam gemacht wurde.

„Namentlich in Demokratien mit parlamentarischen Repräsentativsystemen und geringen plebiszitären Mitwirkungsrechten" (!), meint das BVerfG weiter, habe die Versammlungsfreiheit die „Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselements." „Andererseits", erkennt das BVerfG, „ist hier der Einfluß selbst der Wählermehrheit zwischen den Wahlen recht begrenzt, die Staatsgewalt wird durch besondere Organe ausgeübt und durch einen überlegenen bürokratischen Apparat verwaltet." Die Akzeptanz der Entscheidungen der Behörden werde davon beeinflußt, ob zuvor die Minderheit auf die Meinungs- und Willensbildung hinreichend Einfluß nehmen konnte. Demonstrativer Protest könne insbesondere notwendig werden, wenn die Repräsentativorgane mögliche Mißstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen, erklärte das BVerfG bereits vor fast 20 Jahren. Und weiter: Die stabilisierende Funktion der Versammlungsfreiheit für das repräsentative System gestatte Unzufriedenen, Unmut und Kritik öffentlich vorzubringen und abzuarbeiten und fungiere als notwendige Bedingung eines politischen „Frühwarnsystems", das Störpotentiale anzeige, Integrationsdefizite sichtbar und damit auch Korrekturen der offiziellen Politik möglich mache.

Ob das BVerfG auch im Jahre 2004 die Demokratie-Situation in diesem Lande so vorsichtig umschreiben würde, darf man sich heute fragen.

Trotz des hohen Ranges ist - wie das BVerfG weiter feststellt - die Versammlungsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet. Art. 8 GG garantiere nur das Recht, sich „friedlich und ohne Waffen zu versammeln". Hinzu kommt der Gesetzesvorbehalt für Versammlungen unter freiem Himmel. Denn bei diesen Versammlungen besteht wegen der Berührung mit der Außenwelt ein besonderer namentlich organisations- und verfahrensrechtlicher Regelungsbedarf.

Im Unterschied zur Weimarer Verfassung, die in Art. 123 ausdrücklich bestimmte, daß Versammlungen unter freiem Himmel „durch Reichsgesetz anmeldepflichtig gemacht und bei unmittelbarer Gefahr für die öffentliche Sicherheit verboten werden" konnten, begnügt sich das Grundgesetz mit einem einfachen, scheinbar gegenständlich unbeschränkten Gesetzesvorbehalt.

Die Geltungskraft dieser Grundrechtsverbürgung bleibt aber nicht auf den Bereich beschränkt, den der Gesetzgeber ihr unter Respektierung ihres Wesensgehaltes beläßt. Wie bei der Meinungsfreiheit, die nach dem Wortlaut der Verfassung zwar ihre Schranken in den Grenzen der allgemeinen Gesetze findet, deren Reichweite aber nicht beliebig durch einfache Gesetze relativiert werden dürfe, sei zu beachten, daß der Gesetzgeber die Ausübung der Versammlungsfreiheit nur zum Schutz gleichwertiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzen dürfe. So könne sich eine Notwendigkeit zu freiheitsbeschränkenden Eingriffen im Bereich der Versammlungsfreiheit daraus ergeben, daß der Demonstrant bei deren Ausübung Rechtspositionen Dritter beeinträchtigte. Aber auch bei solchen Eingriffen hätten die staatlichen Organe die grundrechtsbeschränkenden Gesetze stets im Lichte der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratische Staat auszulegen und sich bei ihren Maßnahmen auf das zu beschränken, was zum Schutze gleichwertiger Rechtsgüter notwendig sei.

Daraus folgt für unseren Gegenstand: Veranstaltern von neofaschistischen Demonstrationen wird eine starke Rechtsposition zuerkannt.

Behördliche Maßnahmen, die über die Anwendung grundrechtsbeschränkender Gesetze hinausgehen und etwaigen Zugang zu einer Demonstration durch Behinderung von Anfahrten und schleppende vorbeugende Kontrollen unzumutbar erschweren oder ihren staatsfreien unreglementierten Charakter durch exzessive Observationen und Registrierung verändern, sind mit den grundgesetzlichen Anforderungen unvereinbar, womit 1985 das Anliegen der Kernkraftgegner gestärkt wurde.

Dies liest sich heute wie die Beschreibung eines Idealzustandes, von dem die Bundesrepublik heute weiter entfernt ist denn je, der indessen als Anforderung an die behördlichen Maßnahmen demokratiefeindlichen neofaschistischen Kräften unvertretbaren Freiheitsraum gewährt.

Realistisch steht das BVerfG auch Bedenken gegen die Unbestimmtheit der Eingriffsvoraussetzungen „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung" gegenüber; sie würden um so problematischer, als die Entscheidung über die Eingriffe im Ermessen der unteren Verwaltungsbehörden und der Vollzugspolizei liegen.

Der Begriff „der öffentlichen Sicherheit" umfaßt nach Polizeirecht den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum und Vermögen des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und der staatlichen Einrichtungen, wobei in der Regel eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit angenommen wird, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht.

Unter „öffentliche Ordnung" wird nach Polizeirecht die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebietes angesehen wird.

Das BVerfG teilte die Bedenken, daß die Begriffserklärung nach Polizeirecht allein noch keine verfassungskonforme Gesetzesanwendung sichere. Verbot oder Auflösung setzten zum einen als ultima ratio voraus, daß das mildere Mittel der Auflagenerteilung ausgeschöpft sei. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenze nicht nur das Ermessen in der Auswahl der Mittel, sondern ebenso das Entschließungsermessen der zuständigen Behörde. Die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit habe nur dann zurückzutreten, wenn eine Güterabwägung unter Berücksichtigung der Bedeutung des Freiheitsrechts ergibt, daß dies zum Schutze anderer gleichwertiger Rechtsgüter notwendig sei.

Die Frage, ob der Schutz der Demokratie vor neofaschistischen, demokratiefeindlichen Aktivitäten zu solchen gleichwertigen Rechtsgütern gehört, wurde in der Brokdorf-Entscheidung des BVerfG nicht entschieden. Damals meinte dieses Gericht: keinesfalls rechtfertige jedes beliebige Interesse eine Einschränkung dieses Freiheitsrechts; Belästigungen, wie sie sich zwangsläufig aus der Massenhaftigkeit der Grundrechtsausübung ergeben und sich ohne Nachteile für den Veranstaltungszweck nicht vermeiden lassen, würden Dritte im allgemeinen ertragen müssen. Aus bloßen verkehrstechnischen Gründen würden Versammlungsverbote um so weniger in Betracht kommen, als in aller Regel ein Nebeneinander der Straßenbenutzung durch Demonstranten und fließenden Verkehr durch Auflagen erreichbar sei. Verbot und Auflösungen seien keine Rechtspflicht der zuständigen Behörde, sondern eine Ermächtigung, von welcher die Behörde angesichts der hohen Bedeutung der Versammlungsfreiheit im allgemeinen nur dann pflichtgemäß Gebrauch machen dürfe, wenn weitere Voraussetzungen für ein Eingreifen hinzukämen; sie seien also nur bei einer „unmittelbaren Gefährdung" der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung statthaft. Durch das Erfordernis der Unmittelbarkeit werden die Eingriffsvoraussetzungen stärker als im allgemeinen Polizeirecht eingeengt. Erforderlich sei im konkreten Fall eine Gefahrenprognose. Die Grundlagen dieser Prognose, einer Wahrscheinlichkeit, müssen ausgewiesen werden. Sie müssen auf „erkennbaren Umständen" beruhen, auf Tatsachen, Sachverhalten und sonstige Einzelheiten; bloßer Verdacht oder Vermutungen können nicht ausreichen. Angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde insbesondere bei Erlaß eines vorbeugenden Verbotes keine zu hohe Anforderung an die Gefahrenprognose stellen, zumal ihr bei irriger Einschätzung noch die Möglichkeit einer späteren Auflösung verbleibt. Den besorgten Bürgern allerdings, die ein Verbot neofaschistischer Demonstrationen fordern, wird diese Argumentation und Sichtweise ins Gesicht schlagen.

Auf Grund von Erfahrungen mit anderen Demonstrationen, zu denen aber nicht die neofaschistischen gehören, gilt, meint das BVerfG, bei Klarstellung der Rechtslage sollten beiderseits Provokationen und Aggressionsanreize unterbleiben; die Veranstalter sollten auf die Teilnehmer mit dem Ziel friedlichen Verhaltens unter Isolierung von Gewalttätern einwirken; die Staatsmacht sollte sich - gegebenenfalls unter Bildung polizeifreier Räume (!) - besonnen zurückhalten und übermäßige Reaktionen vermeiden; eine rechtzeitige Kontaktaufnahme wird empfohlen, bei der beide Seiten sich kennen lernen, Informationen austauschen und möglicherweise zu einer vertrauensvollen Kooperation finden, welche die Bewältigung auch unvorhergesehener Konfliktsituationen erleichtert.

Jedenfalls sei die neuere verfassungsgerichtliche Rechtsprechung heranzuziehen, wonach die Grundrechte nicht nur die Ausgestaltung des materiellen Rechts beeinflussen, sondern zugleich Maßstäbe für eine den Grundrechtsschutz effektuierenden Organisations- und Verfahrensgestaltung sowie für eine grundrechtsfreundliche Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften abgeben. An die staatlichen Behörden ergeht die Forderung, nach dem Vorbild friedlich verlaufener Großdemonstrationen versammlungsfreundlich zu verfahren und nicht ohne zureichenden Grund hinter bewährten Erfahrungen zurückzubleiben. Diese Erfahrungen sollten nicht nur in Erwägung gezogen, sondern auch tatsächlich erprobt werden.

Wie soll das bei neofaschistische Demonstrationen aussehen?

Die Bereitschaft Einzelner, als Veranstalter oder Leiter verantwortlich in Erscheinung zu treten, mag auch deshalb abgenommen haben - meint das BVerfG nicht ohne Grund -, weil das Risiko, straf- und haftungsrechtlich herangezogen zu werden, mangels klarer Vorschriften und kalkulierbarer Rechtsprechung zumindest zeitweise unabsehbar war. Es sei in erster Linie Sache des Gesetzgebers, aus solchen Veränderungen und Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen. Bis dahin lasse sich nicht ausschließen, daß die versammlungsrechtliche Regelung als lückenhaft beurteilt werden müsse.

(...) Ein Teilnehmer verhält sich jedenfalls dann unfriedlich, wenn er Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen begeht. Von den Demonstranten sei ein friedliches Verhalten um so mehr zu erwarten, als sie dadurch nur gewinnen können, während sie bei gewalttätigen Konfrontationen am Ende stets der Staatsgewalt unterliegen werden und zugleich die von ihnen verfolgten Ziele verdunkeln. Aber für die Gesamtheit friedlicher Teilnehmer müsse der von der Verfassung jedem Staatsbürger garantierte Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begingen; denn es könnte zum Fortfall des Grundrechtsschutzes führen, wenn es der „Täter" in der Hand hätte, Demonstrationen „umzufunktionieren" und sie, entgegen dem Willen der anderen Teilnehmer, rechtswidrig werden zu lassen. Darum sei ein vorbeugendes Verbot der gesamten Veranstaltung wegen befürchteter Ausschreitungen einer gewaltorientierten Minderheit nur unter strengen Voraussetzungen und unter verfassungskonformer Anwendung des § 15 VersammlG zulässig.

Seit der Brockdorf-Entscheidung des BVerfG hat sich, so weit ich sehe, insoweit nicht viel getan; ergänzt wurde das Versammlungsgesetz indessen durch das Vermummungsverbot und die Befugnis der Polizei zu Bild- und Tonaufnahmen von Demonstrationen.

(Aus Raumgründen kürzen die WBl mit freundlicher Genehmigung des Autors diesen Beitrag um die Darstellung des Demonstrationsrechtes in der DDR in einem Teil III.)

IV.

Die politische Klasse der Bundesrepublik, die in ihr herrschenden Klassenkräfte, wollten zu keiner Zeit eine scharfe Abgrenzung zum Hitler-Faschismus und haben solche auch weder in der Gesetzgebung noch in anderen politischen Maßnahmen vorgenommen.

Schon dem Grundgesetz als solchem - im Unterschied zu den Verfassungen der DDR - ist nicht entnehmbar, daß das deutsche Volk vom Hitlerfaschismus befreit wurde; die Masse der Deutschen und namentlich die in der Bundesrepublik tonangebenden Kräfte sahen sich 1945 in erster Linie besiegt, aber nicht befreit.

Die in der Bundesrepublik vorherrschenden staatsrechtlichen Auffassungen gehen nicht davon aus, daß das Deutsche Reich, das Dritte Reich, unter den Schlägen der Alliierten im Mai 1945 untergegangen ist. Vielmehr bestand es für sie - auch während der Spaltung Deutschlands - zumindest de jure fort. Zwischen Deutschem Reich und Bundesrepublik wird vielfach sogar Identität angenommen. Das spiegelt sich auch darin wieder, daß sich die Bundesrepublik selbst, ihre maßgeblichen staatlichen Behörden, auch die Gerichte und namentlich der Bundesgerichtshof (BGH), in der Tradition des Deutschen Reiches, der BGH in der Tradition des Reichsgerichts, auch des nazistischen, stehend sieht.

Durch Art. 131 des Grundgesetzes wurden den ehemaligen Angehörigen des öffentlichen Dienstes des Deutschen Reiches die wohlerworbenen Versorgungen (Pensionen) gesichert. Diese Frage war den Vätern des Grundgesetzes so wichtig, daß sie sie im Grundgesetz verankerten und nicht ein einfaches Gesetz dafür als ausreichend ansahen. Alsbald wurde ein besonderes „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen" (zuletzt geändert am 27. Dezember 1993) erlassen.

Bekannt, ja offenkundig ist die umfängliche Übernahme von Beamten, Richtern, Staatsanwälten, aber auch Offizieren, die bereits Hitler gedient hatten, in Westdeutschland bzw. in der Bundesrepublik. Einige von ihnen, auch Kriegsverbrecher und andere Militaristen, kamen in Schlüsselpositionen der Bundesrepublik. Hitler-Generale, wie Speidel, Heusinger, Kammhuber, übernahmen höchste Kommandostellen in der Bundeswehr. Als Minister und Staatssekretäre der Bundesregierung fungierten ehemalige aktive Nazis, wie Oberländer, Globke und Seebohm. 80 Prozent der Beamten des Bonner Außenministeriums waren schon in der Nazizeit Mitarbeiter des faschistischen Auswärtigen Amtes gewesen. Nahezu 90 Prozent der Richter und Staatsanwälte in Westdeutschland bzw. in der Bundesrepublik hatten diese Ämter bereits in der Nazizeit inne. Die revanchistischen Landsmannschaften und militaristische Soldaten- und Traditionsverbände treten immer stärker mit staatlicher Förderung hervor und bestimmen mit ihren unverblümt expansionistischen Forderungen nach wie vor zunehmend das Gesicht der Bundesrepublik. Aufgrund dessen ist und wäre es ausgeschlossen, daß sich dieser Staat hinreichend scharf und eindeutig vom Hitlerfaschismus abgrenzte und distanzierte.

Im ganzen Grundgesetz gibt es nur eine einzige spezielle Vorschrift zum „Nationalsozialismus", nämlich den Art. 139 mit der ursprünglichen Überschrift „Befreiungsgesetze" bzw. später „Fortgelten der Vorschriften über Entnazifizierung", nach dem die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus" erlassenen Rechtsvorschriften von den Bestimmungen des Grundgesetzes „nicht berührt" werden. Der in diesem Artikel 139 enthaltener Vorbehalt (!) gilt ausdrücklich nur für das beim Inkrafttreten des Grundgesetzes vorhandene Entnazifizierungsrecht, dessen Grundzüge besatzungsrechtlichen Ursprungs sind. Die von den Alliierten geschaffenen Entnazifizierungsvorschriften konnte der bundesdeutsche Gesetzgeber im Jahr 1949 wahrlich nicht außer Acht lassen.

Dazu gehörte das Verbot der NSdAP, ihrer Unter- und Parallelgliederungen und aller ihrer etwaigen Nachfolgeorganisationen. Wäre dieses Verbot zu einem klaren und bestimmenden Verfassungsgrundsatz geworden, dann wäre damit auch die Wirkung von Art. 8 GG grundsätzlich insoweit eingeschränkt, als faschistische, nationalsozialistischen Grundsätzen und Traditionen verbundene oder so genannte neofachistische Parteien und Organisationen automatisch verfassungswidrig und als illegal verboten gewesen wären. Nicht ob sie verfassungswidrig, sondern nur, ob sie tatsächlich Traditionsträger des Faschismus seien, wäre jeweils verfassungsrechtlich zu entscheiden gewesen.

Statt dessen besteht in der Bundesrepublik lediglich darin Klarheit, daß der Zweck dieser „Übergangsbestimmung" (!) sich darin erschöpfe, die vorbehaltenen Vorschriften „unabhängig von ihrer rechtsstaatlichen Problematik und ihrer Übereinstimmung mit den Grundrechten" (!) in den neu geschaffenen Verfassungszustand zu überführen und den planmäßigen Abschluß der Entnazifizierung ohne Gefährdung ihrer Rechtsgrundlagen zu ermöglichen. Das allerdings ist bisher kaum geschehen. Und tatsächlich will das Grundgesetz diese Entnazifizierungsvorschriften bezeichnender Weise auch keinesfalls „konservieren, d. h. nicht auf Dauer in ihrem Bestand schützen". Vielmehr gilt seit dem letzten Entnazifizierungsabschlußgesetz im Jahr 1953 dieser Artikel 139 als gegenstandslos! Seine Vorschrift enthält also, wie in Kommentaren ausdrücklich betont wird, keine fortdauernde antinationalsozialistische Grundentscheidung der Verfassung!

Soweit nationalsozialistische Bestrebungen im Parteien-, Vereins- oder Versammlungsrecht eine Rolle spielen - was der Gegenstand dieses Aufsatzes ist -, argumentiert die Rechtsprechung nicht mit Art. 139 GG! Sofern überhaupt gegen faschistischen Bestrebungen „argumentiert" wird, geschieht dies ausschließlich mit den oben dargestellten formalen Elementen des Parteien-, Vereins- und Versammlungsrechts, und zwar in der Weise, wie sie oben dargestellt wurde.

Demgegenüber enthielt die ursprünglich von den ostdeutschen Ländern für ganz Deutschland vorgeschlagene, dann fast zwanzig Jahre für die DDR geltende - Verfassung von 1949 jedenfalls in den Art. 5 und 6 eine eindeutige antifaschistische Aussage, und im gleichen Sinne ist eine solche „Antifaschismusklausel" in den Art. 6, 8 und 91 der Verfassung der DDR von 1968 zu finden.

Schon vor Jahren wurde die Wiederbelebung faschistischen Gedankenguts so unübersehbar, daß sich der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, genötigt sah, zu erklären: „Wehret den Anfängen, heißt es oft, wenn es um den Kampf gegen den Rechtsextremismus geht. Doch wir sind längst über dieses Stadium hinaus. Was wir fast täglich erleben, hat nichts mehr mit ‚Anfängen’ zu tun". Angesichts dieser Situation in Deutschland brachte die Fraktion der PDS in den Bundestag eine Vorlage ein, nämlich einen „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes", um eine Antifaschismusklausel in das Grundgesetz zu bringen. Dieser Antrag wurde nicht nur, wie bekannt, abgelehnt und verworfen. Vor allem wurde in der Debatte dieses Antrags am 16. Februar 2001 verbreitet die Auffassung vertreten, dann bedürfe es auch einer entsprechenden Bestimmung gegen den „Linksextremismus". (Siehe meinen Beitrag „Antifaschismusklausel ins Grundgesetz?" in den WBl. 1/2001,S. 27 ff.)

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß zu den ersten politischen Aktivitäten der Bundesregierung noch unter der Kanzlerschaft Adenauers, neben dem Einbringen des offen gegen die Kommunisten gerichteten 1. Strafrechtsänderungsgesetzes, dem „Blitzgesetz", ein beim Bundesverfassungsgericht gestellter Antrag auf Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 22. 11. 1951 gehörte.

In heuchlerischer Weise stellte diese Regierung bei diesem Gericht gleichzeitig auch einen Antrag auf Verbot einer politisch unbedeutenden rechten Partei, der „Sozialistischen Reichspartei", SRP, um den Anschein zu erwecken, man wende sich sowohl gegen „Linksextremismus" wie auch gegen „Rechtsextremismus". In der Praxis gab es jedoch große Unterschiede: Gegen Kommunisten und solche, die für Kommunisten gehalten wurden oder mit ihnen kooperierten, wurden in riesiger Zahl rechtswidrige Strafverfahren durchgeführt, darunter auch solche, die das BVerfG später als verfassungswidrig kennzeichnen mußte. Denn die DKP war bis zu ihrem Verbot eine legale Partei und daher eine Strafverfolgung ihrer Mitglieder allein wegen Zugehörigkeit zu ihr oder wegen legitimen Wirkens für sie unzulässig; die darauf zielende Strafbestimmung des § 90 a Abs. 3 StGB war verfassungswidrig. Diese Vorschrift verlegte lediglich die Strafverfolgung auf den Zeitraum nach einem dahingehenden Verbotsurteil des BVerfG, wobei eine Strafbarkeit entsprechender Handlungen gleichwohl auch rückwirkend angenommen wurde. Nach dem Spruch des BVerfG vom 21. März 1961 war diese verfassungswidrige Bestimmung nichtig.

Auf der gleichen heuchlerischen Linie, sich sowohl gegen den Linksextremismus als auch gegen den Rechtsextremismus zu wenden, bewegte sich die Debatte im Bundestag zu dem Antrag der PDS, eine Antifaschismusklausel im Grundgesetz zu verankern. Heuchlerisch ist diese Argumentation, weil sie die Offenheit einer Verfassung für historischen Fortschritt und für historischen Rückschritt gleichsetzt. Tatsächlich aber muß jede demokratische Verfassung für historisch gebotenen Fortschritt offen sein, aber ebenso jedem Rückschritt in die Barbarei wehren. Der Bundestag des Jahres 2000 jedoch wollte keine konsequente Abgrenzung gegen die Barbarei, zum Faschismus. Demgegenüber ist in tatsächlicher Hinsicht über jeden Zweifel erhaben und durch die letzten Jahre zunehmend belegt, daß Elemente faschistischen Gedankenguts, so besonders Nationalismus, Ausländerfeindlichkeit und auch antisemitische Züge, sich nicht nur auf den „rechten Rand" der Gesellschaft beschränken, sondern „in der Mitte der Gesellschaft" beheimatet sind. Beispiele gibt es zur Genüge. Schon zeigt sich das Ausland darüber besorgt.

Die vorstehend beschriebene Rechtslage und die verfassungsrechtliche Rechtsprechung leisten faschistischen Bestrebungen Vorschub; sie erleichtern und ermöglichen das Vordringen des Neofaschismus in Deutschland.

Es besteht Veranlassung, an das Potsdamer Abkommen zu erinnern, das für ganz Deutschland verbindliche Bestimmungen enthält. Dort heißt es unter III A 3 III:

„Die nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen Gliederungen und Unterorganisationen ist zu vernichten; alle nationalsozialistischen Ämter sind aufzulösen; es sind Sicherheiten dafür zu schaffen, daß sie in keiner Form wieder auferstehen können; jeder nazistischen und militaristischen Betätigung und Propaganda ist vorzubeugen."

Es ist bemerkenswert, daß weder das BVerfG noch sonst westdeutsche Politiker der etablierten Parteien auf diese Bestimmung des Potsdamer Abkommens zurückgriffen. Scheut man das Potsdamer Abkommen wie der Teufel das Weihwasser?

Bekanntlich wurden in Westdeutschland und in Westberlin entgegen dem Potsdamer Abkommen keinerlei Vorkehrungen getroffen, um ein Wiederauferstehen des Nazismus und von Naziorganisationen zu verhindern. Alsbald nach 1945 konnten sich dort verschiedene Ersatzorganisationen der Nazipartei unter unterschiedlichen Bezeichnungen bilden und betätigen, so Traditions- und Kameradschaftsverbände, die Landsmannschaften, die HIAG usw. Sie unterlagen und unterliegen keinem Verbot und keiner Verfolgung. In diesen verkappten Naziorganisationen wurde und wird nazistischer Ungeist in unterschiedlichsten Formen gepflegt, konserviert und der Zeit angepaßt. So blieb er in den Köpfen vieler Deutscher lebendig.

Auch im Rahmen der so genannten etablierten Parteien, besonders der CSU und CDU, konnte sich nazistisches Gedankengut erhalten; diese Parteien hatten deshalb mehrfach Veranlassung, sich z.B. mit antisemitischen Äußerungen einzelner ihrer Mitglieder zu befassen.

In Westdeutschland und Westberlin unterblieb die im Potsdamer Abkommen vorgeschriebene konsequente und umfassende geistig-ideologische Auseinandersetzung mit der nazistischen Ideologie und ihren Quellen wie dem Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Militarismus usw. So konnten dort Nationalismus, Rassismus. Militarismus und Antikommunismus weitgehend ungestört zur Geltung kommen.

Dadurch wurden über Jahrzehnte hinweg Bedingungen dafür geschaffen, daß neofaschistische Parteien, zunächst die SRP, in den letzten Jahren die DVU und NPD, Zulauf bekamen und sogar in Landesparlamente gelangen konnten.

Daß die Massenarbeitslosigkeit - wie wir aus den letzten Jahren der Weimarer Republik wissen - politisch ungebildete und naive Menschen dazu führen kann, rechten Parolen und Parteien zu folgen, ist bekannt. Wenn jedoch CSU und CDU das als die Ursache für diesen Zulauf bezeichnen, um es der derzeitigen Bundesregierung anzukreiden, dann verschweigen sie geflissentlich, daß sich Massenarbeitslosigkeit bereits unter ihrer eigenen, der CDU/CSU-Regierung Kohl, zu entwickeln begonnen und erhebliche Ausmaße erreicht hatte. Vor allem aber verschweigen diese Politiker, daß insbesondere sie selbst die gebotene Auseinandersetzung mit nazistischem Ungeist unterlassen und diesem gegenüber eine Toleranz bewiesen haben, die nur als seine Förderung anzusehen ist.

Während in Westdeutschland und West-Berlin die gebotene konsequente Auseinandersetzung mit dem Faschismus und die erforderliche Verfolgung neofachistischer Organisationen unterblieb, wurde bereits Ende der vierziger Jahre und dann massiv in den fünfziger Jahren gegen sozialistische und kommunistische Ideen und ihnen nahestehende Personen vorgegangen und über sie ein ideologisches - und nicht nur ideologisches - Verdikt verhängt. Aus allen Rohren der Medien wurde und wird gegen sie geschossen, und gegen Sozialisten und Kommunisten und ihnen Nahestehende ging man mit dem Verbot von Organisationen wie der FDJ und VVN sowie mit Strafprozessen und schließlich mit dem KPD-Verbot vor. In dieser Richtung wurde und wird das ganze Arsenal der Propaganda und psychologischen Kriegführung, der juristischen, polizeilichen und anderer Machtinstrumenten eingesetzt.

Angesichts dieser Tatsache erweist sich der neutralistisch-objektivistische Standpunkt zur Demonstrationsfreiheit und andern bürgerlichen Freiheiten im Verein mit der seit Jahrzehnten geübten Toleranz gegenüber nazistischem Gedankengut und nazistischen Organisationen nicht nur als Heuchelei. Vielmehr beweist dies, daß die wirtschaftlich und politisch herrschenden Kräfte in der Bundesrepublik die faschistische Ideologie und in ihrem Sinne agierende Organisationen als Gegenkraft gegen jegliche sozialistische Ideen und Bestrebungen benötigen.


 

Richtungskämpfe müssen ausgefochten werden

Analyse. Zwei Linien in einer Partei?

Über den programmatischen Streit in europäischen kommunistischen Parteien

von Hans Heinz Holz *

Gegenwärtig werden die kommunistischen Parteien von heftigen Richtungskämpfen erschüttert. Ob in Italien die Rifondazione Communista¸ in Frankreich die Parti Communiste, in Spanien die kommunistische Linke, in Österreich die Kommunistische Partei oder in Deutschland die DKP - überall finden Auseinandersetzungen um die Programminhalte und Parteilinie statt. Es wäre falsch, hier einfach von Opportunismus und Reformismus einerseits, von Orthodoxie und Dogmatismus andererseits zu sprechen. Vielmehr müssen die Ursachen geklärt werden, aus denen die Richtungsdifferenzen hervorgehen, um die Wiederherstellung der gemeinsamen Grundlagen kommunistischer Politik in Angriff nehmen zu können.

Die Erklärung Otto Bruckners zu seinem Austritt aus der KPÖ ist ein Indiz für die tiefen persönlichen Zerwürfnisse, die sich aus dem Kampf um eine Rekonsolidierung kommunistischer Identität ergeben haben. Richtungskämpfe werden als Machtkämpfe ausgetragen. Machtkämpfe machen sich an Personen fest. Das ist ein organisationssoziologischer Mechanismus, der durchbrochen werden muß. Es geht darum, daß kommunistischen Parteien die Klarheit ihrer revolutionären Programmatik, ihres marxistisch-leninistischen Geschichtsverständnisses in einer defätistischen Reaktion auf die Niederlage abhanden zu kommen droht. Die Reaktion darauf kann nicht sein, die Partei zu verlassen, sondern sie von ihren Wurzeln her zu festigen. Und das schließt den Kampf gegen falsche "Erneuerungs"parolen und gegen eine Reduktion auf eine verschwommene "linke" Emotionalität ein. Darum müssen Richtungskämpfe ausgefochten und dürfen nicht unter einem scheinbaren Einverständnis versteckt werden.

Die Niederlage des Sozialismus in der Sowjetunion hat die kommunistischen Parteien Europas in eine tiefe Krise gestürzt. Ich betone: Europas. Denn kommunistischer Kampfgeist ist in Indien und Lateinamerika, im Nahen Osten und in Südafrika und anderen Gegenden der kapitalistischen Welt ungebrochen. Deren Verbindung mit der Befreiung aus der Abhängigkeit von den imperialistischen Metropolen bedeutet für die soziale Revolution einen bodenständigen Kraftquell, der Widerstand gegen den Imperialismus hat hier eine zweifache Wurzel.

Anders in Europa. Der Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg, der Aufstieg zur zweiten Weltmacht und zum Träger einer internationalen Politik des Friedens - so prekär er auch immer sein mochte - machte die Sowjetunion zum zentralen Orientierungspunkt der kommunistischen Parteien. Als dieses zentralisierende Zentrum zerbrach, zerfiel auch die indentitätsstiftende Einheit der weltpolitischen Zielsetzung.

Ursprünge der Krise

Die außenpolitische Stärke des sozialistischen Gesellschaftssystems hatte manche innere Schwäche verdeckt. Mängel und Stagnationserscheinungen waren als nebensächlich abgetan worden oder verschwanden in der großen welthistorischen Perspektive. Daß mit der sozialistischen Produktionsweise die sich viel langsamer vollziehende Entwicklung sozialistischen Bewußtseins nicht Schritt hielt, blieb in einer technizistisch-ökonomistischen Fortschrittskonzeption oft unbeachtet; der ideologische Klassenkampf erlahmte oder nahm Formen an, die der Differenziertheit der Probleme nicht gerecht wurden. Das Verändern der Eigentumsverhältnisse hat nicht gleichzeitig den Wandel der Klassenverhältnisse zur Folge, zu denen eben auch das Bewußtsein gehört; beide verlaufen als ungleichmäßiger Prozeß.

Die auf Standards der bürgerlichen Welt ausgerichtete Konsumkonzeption und die moralisierende Verurteilung statt historisch analysierender Kritik der während der Konsolidierungs- und Abwehrphase im Aufbau der Sowjetunion begangenen Verbrechen hatten seit dem XX. Parteitag der KPdSU eine Unsicherheit in Wertmaßstäben und Selbstbewußtsein der Kommunisten erzeugt, die nicht nur den Widerstand gegen die Gorbatschowsche Konterrevolution lähmte, sondern auch die Infiltration bürgerlicher Ideologie in die westeuropäischen Parteien begünstigte.

Die Ereignisse der Jahre 1989/90 sind nur die letzte Phase dieser Entwicklung gewesen. Phänomene wie der "Euro-Kommunismus", die Illusionen des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", die "Erneuerer-Fraktion" in der DKP und ähnliche Erscheinungen in anderen europäischen kommunistischen Parteien gingen voran; ideologische Anfänge reichen bis in die endsechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück.

In den Ländern des sozialistischen Aufbaus wurden die Gesellschaftswissenschaftler vielfach zu Legitimationsinstrumenten der gerade betriebenen praktischen Politik und verloren die Funktion, in kritischer Auseinandersetzung mit der Realität vorwärts weisende Impulse auszulösen. Damit begab sich auch die Partei ihrer Avantgarderolle, die ja im Aufbau des Sozialismus darin zu bestehen hätte, sowohl einerseits die Stabilität der bestehenden sozialistischen Gesellschaft zu verteidigen, als auch andererseits kritisch über den jeweils erreichten Zustand hinaus auf die nächsten Schritte zum Kommunismus zu drängen. Die Selbsttäuschung, man sei bereits auf der Stufe eines "entwickelten Sozialismus" im Übergang zum Kommunismus, mußte Enttäuschungen gegenüber dem tatsächlichen Zustand der Gesellschaft befördern. Die während des Aufbaus des Sozialismus fort bestehenden Klassenstrukturen und darin begründete Einstellungen wurden harmonisierend verdrängt und zeigten sich erst in dem Augenblick, als die sozialistische Gesellschaft gegen die Konterrevolution hätte verteidigt werden müssen.

Weltpolitische Rahmenbedingungen

Die weltpolitische Konstellation begünstigte die gesellschaftspolitische Stagnation und Pragmatik in den sozialistischen Staaten. Umringt von den durch permanente Hochrüstung immer bedrohlicher werdenden imperialistischen Mächten unter der Führung der USA war die Politik der sozialistischen Länder vordringlich auf die Erhaltung des Friedens und der Stärkung der Friedenskräfte ausgerichtet. Das bedeutete auf allen Ebenen die Herstellung breiter Bündnisse über die Klassenfronten hinweg, unter Zurückstellung revolutionärer Ziele der kommunistischen Parteien.

Es gibt keinen Zweifel, daß diese strategische Orientierung richtig war. Angesichts der Gefahr eines Krieges mit atomaren und anderen Massenvernichtungswaffen hatte die Friedenssicherung höchste Priorität. Eine solche Politik erfordert jedoch ein subtiles Auspendeln zwischen der Pragmatik alltäglichen Handelns und dem Festhalten an den Prinzipien revolutionärer Gesellschaftsveränderung.. Statt dessen wurde die Politik der friedlichen Koexistenz mehr und mehr zu einem Prozeß der Öffnung für kapitalistische Einflüsse - ökonomische und ideologische. Selbstverständlich mußte es auch zu Widersprüchen zwischen nationalen Kampfbedingungen und Klasseninteressen und den weltpolitischen Belangen der Vormacht Sowjetunion kommen, die theoretisch hätten verarbeitet und ausgeglichen werden müssen, statt dessen aber verkleistert wurden. So verblaßte das Bewußtsein von der Universalität des Klassenkampfs und der Einschätzung seiner verschiedenen Fronten und Kampfformen und des Zusammenhangs zwischen ihnen.

Voraussetzungen des Reformismus

Wo kommunistische Parteien stark waren und parlamentarische Mehrheiten in Provinzen und Kommunen erringen konnten (wie z. B. in Italien und Frankreich), wurden sie mehr und mehr in die bürgerliche Staatlichkeit eingebunden; sie waren genötigt, praktische politische Verantwortung im Rahmen eines gesamthaft hochkapitalistischen Systems zu übernehmen und wurden damit praktisch auf die Möglichkeit systeminterner Reformen beschränkt. Wider Willen reduzierte sich dann kommunistische Politik auf den Bereich sozialdemokratischer Strategien und entwickelte auch ihre theoretischen Fragestellungen im Hinblick auf diese zu bewältigenden Aufgaben. Der Abstieg des italienischen PCI von Togliatti bis zu d'Alema belegt diesen Gang der Dinge.

So gab es im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in den nationalen kommunistischen Parteien Europas mehrere objektiv widersprüchliche Tendenzen, die zu einem Abbau revolutionären Potentials führten und die ideologische Integration förderten:

Die relative Unbeweglichkeit der weltpolitischen Blockbildung zweier antagonistischer, aber koexistierender Gesellschaftssysteme, die Rücksichtnahme auf Partner klassenübergreifender Bündnisse im Friedenskampf; das Versanden des Klassenkampfs in den im Aufbau begriffenen sozialistischen Gesellschaften und die damit verbundene Fortdauer bürgerlicher Bewußtseinsinhalte, die auch auf die Ideologiebildung der westlichen Parteien abfärbte, die Konzentration auf (wenigstens vorläufig) reformerische Aktivitäten im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus, auf den ja auch außerparlamentarische Bewegungen bezogen blieben. Wie auch immer subjektiv die Handelnden ihre Absichten verstanden haben mögen - objektiv vollzog sich eine "Sozialdemokratisierung" der kommunistischen Parteien in der Praxis, während in den Köpfen das revolutionäre Selbstverständnis erhalten blieb. Diese Konsequenz, die im politischen Alltag nicht offen in Erscheinung trat, mußte im Augenblick der Krise ihre Wirkungen zeigen.

Mit der Zerschlagung des sozialistischen Blocks änderte sich die Lage für die kommunistischen Parteien. Die Koordination unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung und Stärkung des sozialistischen Lagers und die Unterordnung nationaler Interessen unter dieses gemeinsame weltpolitische Ziel entfiel. Ihre nationalen Strategien waren aber auf pragmatisches Handeln im Rahmen bürgerlicher Gesellschaften angelegt. Das konnte nicht ohne Folgen für ihre politische Neupositionierung bleiben.

Das sozialistische Ziel

Die Niederlage des Sozialismus in Osteuropa und der vorläufige Sieg des Kapitalismus hatten mit der Schwächung der Arbeiterbewegung einen immensen Restaurationsschub zur Folge. Ausgerichtet auf die bürgerliche Gesellschaft und in ihrer Mitgliederzahl stark geschrumpft, sehen die kommunistischen Parteien heute ihre Aufgabe in der Verteidigung der in den vergangenen Jahren erreichten Reformen zur Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse. Widerstand gegen den rücksichtslosen Sozialabbau, gegen die Weltherrschaftsansprüche des US-Imperialismus, gegen die Formierungsideologie des Neoliberalismus sind die Kampfziele, die die gebliebene Anhängerschaft mobilisieren.

So weit, so gut. Aber politische Defensive ist kein positives Ziel. Sie wird, insbesondere aus der Position der Schwäche, der offensiven Ausbeutungsstrategie der herrschenden Klasse immer unterlegen sein und selbst trotz möglicher Zwischenerfolge schließlich eine Niederlage erleiden. Nur im Angriff auf die Wesensverfassung des Kapitals können die Ziele formuliert werden, die in einem langen und opferreichen Kampf mehr und mehr die Massen ergreifen und in Bewegung versetzen.

Ziele benennen eine Zukunft, sie sind Inhalt einer Weltanschauung. Die Weltanschauung, die dem Kapitalismus revolutionäre Ziele entgegensetzt, ist die Theorie von Marx, Engels und Lenin und den auf sie folgenden marxistischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Sie ist der begründete Entwurf einer offensiven Strategie zur Gesellschaftsveränderung. In einer defensiven Haltung kann man wenig mit ihr anfangen: sie bleibt dann ein "Hintergrundrauschen". An der Ernsthaftigkeit, mit der der Marxismus-Leninismus zum Leitfaden und Inhalt des Handelns gemacht wird, erweist sich die Klarheit kommunistischer Politik. In voller Offenheit und mit aller Radikalität ist sie die Voraussetzung, die verunsicherten und nach Orientierung suchenden Massen zu gewinnen; nicht durch Eingehen auf ihre Unsicherheit, sondern durch kämpferische Darstellung einer Alternative, die sich auf den Schauplätzen des Klassenkampfs bewährt. Das kann für eine Partei eine lange Durststrecke bedeuten, aber ohne Bereitschaft dazu wird sie das System nicht aufbrechen.

Viel Taktik und keine Strategie

Hier scheiden sich die Geister! Wer schon aus den vergangenen Jahren die Einpassung in die Mechanismen des Systems mitbringt, wird in der Niederlage lieber an den vertrauten Mustern festhalten und den scheinbar so hoffnungslosen Sprung in eine offensive Minderheitsstrategie nicht wagen. Auch wenn ich eine andere Position vertrete und sie mit zahlreichen Beispielen aus der Geschichte untermauern könnte, meine ich das nicht als Vorwurf. Es ist durchaus verständlich und ehrenhaft, einen einmal eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen. Nur ersetzt der Respekt vor dem ehrlichen Willen nicht die Analyse der Wirklichkeit! Und die zeigt, daß Pragmatik und Anpassung, Defensive und Preisgabe grundsätzlicher Erkenntnisse zum Reformismus führen, in dem die weltgeschichtliche Programmatik des Kommunismus untergeht.-

Wer also mit Marx radikal sein will, d. h. an die Wurzeln gehen, um nicht die Symptome, sondern die Ursachen des menschenverachtenden, menscheitsbedrohenden Kapitalismus zu beseitigen, der muß von den Grundkenntnissen des Marxismus-Leninismus ausgehen. Er muß, nicht nur verbal, sondern in der Praxis an der Lehre vom Klassenkampf festhalten, muß seinen Klassenstandpunkt bestimmen und zur Geltung bringen. Er muß die Dialektik der Widersprüche und das Verhältnis von Wesen und Erscheinung begreifen und danach sein Handeln einrichten. Jede kommunistische Bewegung bedarf dieses revolutionären, klassenbewußten, theoriegeschulten Kerns, der sie davor bewahrt, sich in den Opportunitäten der täglich notwendigen Entscheidungen und Kompromisse zu verlieren.

Das ist der grundsätzliche Gegensatz in den Richtungskämpfen, die heute in den kommunistischen Parteien ausgefochten werden. An welchen konkreten Problemen sie sich auch entzünden mögen - Imperialismusfrage, Globalisierung, Sozialismusvorstellungen, Parteiverständnis, Bündnisperspektiven - immer geht es letztlich darum, ob eine defensive und pragmatische oder eine offensive und prinzipienfeste Politik gemacht werden soll.

Kommunistische Identität

Aber sind wir nicht durch die Niederlage des Sozialismus in die Defensive gedrängt? Müssen wir nicht auf eine multimediale Gehirnwäsche Rücksicht nehmen, die den gesamten Versuch, den Sozialismus aufzubauen, als eine Summe von Fehlern und Verbrechen darstellt? Ist der Sozialismus nicht wirklich an seinen Mängeln gescheitert? Müssen wir nicht liebgewordene Vorstellungen aus der Vergangenheit revidieren?

Natürlich sind diese Fragen berechtigt. Aber wer so fragt, will Antworten, ehe er die Sache begriffen hat.

Die Sache ist: Es gab den Sieg der Oktoberrevolution und den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft unter den schwierigsten Bedingungen der ökonomischen und politischen Unreife, der aggressiven Einkreisung, der konterrevolutionären Klassenkämpfe. Es gab den Aufstieg dieser Gesellschaft zur zweiten Weltmacht, den Sieg über den deutschen Faschismus. Es gab eine grandiose soziale Besserstellung und kulturelle Bildung der Massen.

Die Sache ist auch: Dieser Weg forderte ungeheure Opfer. Auf ihm wurden auch Verbrechen begangen, die nicht hingenommen und gerechtfertigt werden dürfen. Es gab schließlich eine bürokratische Erstarrung, die die Initiative der Menschen lähmte und die Weiterentwicklung zum Erliegen brachte.

Kommunisten brauchen sich dieser Epoche nicht zu schämen. Ihre Aufgabe ist zu erklären, wie aus den Widersprüchen, unter denen das Positive geleistet wurde, das Negative entsprang. Sie müssen die Dialektik der Geschichte begreifen. Nur so kann für die Zukunft gelernt werden, was getan werden muß und was zu vermeiden ist. Die Entwicklung der Menschheit verläuft nicht in der Harmonie des Ideals, "hart im Raume stoßen sich die Sachen" (Schiller). Wer die Geschichte moralisierend betrachtet, bezieht den kleinbürgerlichen Ort des Lehnstuhls hinter dem Ofen. Auch das ist ein Aspekt des Richtungsstreits in den kommunistischen Parteien.

Wir haben nicht nur die politische Schlacht um den Sozialismus verloren, sondern auch die weltanschauliche um unser Geschichtsverständnis. Das theoretische Instrument der materialistischen Dialektik ist uns entglitten. Kleinbürgerliche Ideologie ist in den wissenschaftlichen Sozialismus eingesickert. Gegen die eine wie die andere Niederlage gilt es, offensiv den Kampf aufzunehmen und das heißt auch: Die Identität der kommunistischen Bewegung in ihrer Gesamtheit zu bewahren. Das ist die richtige Richtung, und darum sind die gegenwärtigen Richtungskämpfe ein notwendiger Klärungs- und Reinigungsprozeß, dessen es bedarf, um dem Ziel des Sozialismus wieder ein solides organisatorisches Fundament zu geben.


 

Arbeiterklasse, Zerfall, Organisation und Perspektive

Von Manfred Sohn

Nach der Diskussion überarbeitete Fassung des Referats vor dem Marzahner Gesprächskreis am 15. Januar 2005 in Berlin - Wie das Referat vor der streitfreudigen Diskussion vom 15. Januar gliedert sich auch dieser Artikel in kurze, dann etwas ausführlicher erläuterte Thesen, um die Debatte auch in schriftlicher Form griffiger zu machen.

These 1: Die Arbeiterklasse schrumpft

Es liegt für Marxisten und Marxistinnen auf der Hand, daß eine solche These ins Mark unseres Selbstverständnisses zu zielen scheint. Und selbstverständlich hängt sie in hohem Maße von der Definition der Arbeiterklasse ab.

Diese Definition hat von marxistischer Seite im Laufe der letzten Jahrzehnte nach dem „Manifest" eine Reihe von Änderungen erfahren, durch die überwiegend Teile produktiv tätiger oder von solcher Tätigkeit ausgeschlossener Menschen in den Definitionskreis der Arbeiterklasse aufgenommen wurden, die ihr vorher nicht angehörten.

Dadurch ist in unserer Literatur die Arbeiterklasse kontinuierlich weiter gewachsen.

Wenn das eine wissenschaftlich korrekte Abbildung der stattgefundenen Prozesse ist, kann die nicht zu leugnende Serie von Niederlagen dieser stetig wachsenden Arbeiterklasse, die sie seit den 60er Jahren in Europa erfahren hat, eigentlich nur durch innere Deformations- und Zersetzungsprozesse, also subjektive Veränderungen, erklärt werden. Das führt aber in der analytischen Konsequenz zu einer immer stärkeren Bewertung der Medien- und Manipulationsmacht der Herrschenden bis dahin, daß in solchen Positionen dann zunehmend nicht mehr das Sein das Bewußtsein, sondern das herrschende Bewußtsein das Sein zu prägen scheint.

Aber dieser Schein täuscht.

Das Mysterium des schwindenden Einflusses einer doch unentwegt wachsenden Klasse klärt sich dann, wenn wir uns auf die klassische Analyse dieser Klasse zurück besinnen.

Ob im Manifest, in Lenin’s Früh- oder Lenin’s Spätschriften, mit Arbeiterklasse war immer die „Klasse der städtischen Arbeiter und überhaupt (der) Fabrikarbeiter, (der) Industriearbeiter" gemeint, die „imstande ist, die ganze Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten zu führen im Kampf für den Sturz der Macht des Kapitals ...".

Die so definierte Arbeiterklasse wuchs tatsächlich von ca. 1800 bis ca. 1930 unentwegt, gespeist aus wachsenden Bevölkerungszahlen, der Landwirtschaft und dem ausblutenden Kleinbürgertum.

Eine erste Abschwächung im Wachstumstempo - das ansonsten nur periodisch durch zyklische Krisen unterbrochen wurde - setzte kurz vor dem II. Weltkrieg und dann endgültig ab ca. 1960 ein und erfuhr einen realen Rückgang in den entwickelten kapitalistischen Nationen mit Einsetzen der wissenschaftlich-technischen Revolution.

Dieser Prozeß ist zeitweise konterkariert worden durch zwei gegenläufige Prozesse: das Wachstum der eng mit der Arbeiterklasse verbundenen wissenschaftlich-technischen Intelligenz und das Wachstum der Zahl der Industriearbeiter in den stärkeren Entwicklungsländern, also vor allem in Indien, China, Mexiko, Taiwan usw.

Diese gegenläufigen Prozesse sind inzwischen nicht mehr in der Lage, das beschleunigte Schrumpfen der im kapitalistischen Industrieprozess beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter überzukompensieren. Daher kommt die Internationale Arbeitsorganisation ILO zu dem Schluß, daß auch weltweit inzwischen die Zahl der Industriearbeitsplätze rund 176 Millionen im Jahre 1997 gesunken sein dürfte.

Der Streit darüber, ob die Arbeiterklasse nun schrumpft oder wächst oder in ihr nur einfach interessante Veränderungen stattfinden, die die Frage überflüssig werden lassen, mag akademisch klingen. Er ist es aber deshalb nicht, weil die Zugänge zum organisierten Handeln gegen die Macht des Kapitals eben anders sind für einen, der mit 30.000 anderen jeden Morgen in die Krupp-Werke zieht, als für einen 25jährigen, der statt Ausbeutung zu erfahren nach der Schule durch diverse Beschäftigungsmaßnahmen gelaufen ist. Die Frage, ob die Weichenstellungen, die zur Zeit stattfinden, marginal sind, kann getrost für 20 Jahre auf Wiedervorlage gelegt werden. Meiner Meinung nach ist offensichtlich, daß wir es in unserem Land, in Europa und den anderen entwickelten kapitalistischen Nationen mit der Herausbildung einer besitzlosen Schicht zu tun haben, die für die kapitalistische Verwertung überflüssig sind, die also in den industriellen Ausbeutungsprozess niemals hineingezogen wurden und niemals hineingezogen werden.

These 2: Das Schrumpfen der Arbeiterklasse hat mit dem kommunistischen Ziel nicht nur nichts zu tun, es ist ihr Ziel.

Wir dürften uns einig sein: Unser Ziel ist nicht der Sozialismus. Unser Ziel ist der Kommunismus, in dem unsere Urenkel morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben und nach dem Essen kritisieren können - oder andersherum. Das geht nur, wenn die Herstellung der zum Leben notwendigen Dinge - Essen, Wohnungen, Kleidung, Gebrauchsgegenstände - hocheffektiv organisiert ist. Selbst in der kapitalistischen Pervertierung kommen wir diesem Ziel beständig näher. Der Zeitpunkt, in dem 1 Bauer 100 Menschen ernähren kann, ist längst überschritten. In einer Fabrik in einem Dorf meines Kreises Peine ist jüngst eine Maschine installiert worden, die pro Minute 200 Kugelschreiber automatisch erstellt. Wenn diese Maschine - Wartungszeiten eingerechnet - eineinhalb Jahre läuft, haben die daran im Dreischichtsystem stehenden drei Menschen aus meinem Nachbardorf jeden Bundesbürger mit einem Schreiber versorgt. Sinnvoll organisiert könnten sie danach ihre produktive Tätigkeit für das Reich der Notwendigkeiten für den Rest ihres Lebens einstellen und sich wichtigeren Dingen wie Kindererziehung, Beziehungsfragen, Kultur und Kunst widmen. Sowenig wie sich der Bauer des Feudalismus eine gute Zukunft ohne schwere Ackerpferde vorstellen konnte so wenig mögen wir uns eine gute Zukunft ohne Arbeiterinnen und Arbeiter vorstellen können - aber im Kommunismus hat die Arbeiterklasse genauso wenig verloren wie der Ackergaul im Kapitalismus.

These 3: Die Größe der Arbeiterklasse ändert nichts an ihrer Funktion als Kern des revolutionären Prozesses

Unser Ziel ist die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und Grund und Boden und damit einhergehend die Beseitigung der Lohnarbeit.

Zum ersten Mal gelang das - für einige Jahrzehnte - den russischen Revolutionären 1917. Dies war, wie Lenin wiederholt klargestellt hat, keine Frage von Mehrheit und Minderheit, sondern eine Entscheidung „Klasse gegen Klasse".

Weil die Arbeiterklasse danach beständig weiter wuchs - tatsächlich und per Definition noch etwas länger - schien es zeitweise so, daß die Frage „Klasse oder Mehrheit?" sich auflöste. Das ist aber nicht der Fall. Die Kämpfe der Zukunft werden sich wieder klarer nicht nach arithmetischen, sondern nach der Frage der Klasseninteressen sortieren lassen.

Revolutionen laufen immer nach einigem Zickzack auf die Frage „Wer wen?" hinaus. Gegen die Eigentümer an Produktionsmitteln kann diese Frage solange nicht positiv beantwortet werden, solange die revolutionären Kräfte nicht die Höhen der materiellen Produktion besetzt halten und ggf. den materiellen Reproduktionsprozeß unterbrechen können. Bevor nicht eine solche Machtposition erarbeitet ist, bleibt auch in Zukunft jedes revolutionäre Projekt Träumerei und Kinderkram.

Diese Frage hat aber mit der Frage, ob die Arbeiterklasse nun die Mehrheit der Bevölkerung bildet oder nicht, überhaupt nichts zu tun - genauso wenig wie 1917, als die überwiegende Mehrheit in Rußland nicht Arbeiter, sondern Bauern und entwurzelte Soldaten waren.

These 4: Angesichts dieser Veränderungen wird die Rolle der Partei komplizierter und vielfältiger

Ob die Partei Partei heißt, ist völlig egal. Sie kann auch „Wohlfahrtsausschuß" heißen oder „Verein für das Gemeineigentum". Entscheidend ist, daß sie in der Lage ist, die in unserer Zeit objektiv auseinanderfallenden Elemente der kapitalistischen Gesellschaft auf das Ziel ihrer Überwindung hin zu koordinieren.

Wenn aber richtig ist, daß der Kapitalismus beginnt, die Arbeiterklasse selbst zu zersetzen und die industrielle Reservearmee in ein stehendes Heer der Überflüssigen zu verwandeln, dann muß sich die Rekrutierungsarbeit der Kommunisten ändern. Die Tatsache, daß dies durch Fixierung auf den Irrglauben, die Arbeiterklasse wachse weiter, nicht geschieht, ist einer der Gründe für das gegenwärtige Elend unserer Bewegung.

Hans Heinz Holz hat auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt und in der jungen Welt dazu aufgefordert, wieder stärker offensiv zu denken. Er hat völlig recht. Das ist in der Politik genauso wie im Krieg oder im Fußball: Die Kunst der Defensive ist überlebenswichtig unmittelbar nach einer schweren Niederlage oder wenn der Gegner heftig angreift. Aber wer sich auf Dauer in der Defensive einschnüren läßt, geht früher oder später zugrunde. Noch niemals in der Geschichte des Fußballs ist ein Spiel in der eigenen Hälfte gewonnen worden, egal, wie gut organisiert die Abwehr und die glänzend der Torwart war.

Sowohl die erwähnte Konferenz als auch die Demonstration am Tag darauf haben eine Sorge beseitigt, die im ersten Jahrzehnt nach unseren Epochenniederlage von 1989 zu Recht da war: Die Sorge, ob nicht der rote Faden der Geschichte reißt. Angesichts der Tatsache, daß auf der RL-Konferenz und LLL-Demonstration die Grauköpfe wieder das sind, was sie sein müssen, nämlich eine Minderheit, ist diese Frage positiv entschieden. Der rote Faden der revolutionären Gesinnung ist in Deutschland nach 1989 nicht gerissen. Er mag sich in Zukunft verwirren, aber er wird sich wieder entwirren - entscheidend ist, daß er da ist und dafür steht eine inzwischen fünfstellige Zahl Jugendlicher und junger Erwachsener.

Den Faden vertändeln hieße: In diesem langsam wieder wachsenden Pflanzenteppich der Hoffnung den Schwerpunkt auf den Streit zu legen, in welcher Organisation „mensch" am besten revolutionär wirkt - ob in PDS, MLPD, Spartakus, DKP, KPD oder wo auch immer. Die Unverzichtbarkeit der jungen Welt besteht im Moment darin, daß mit ihr eine Plattform existiert, die eine Orientierung für alle MarxistInnen bietet, egal im welchem organisatorischen Zusammenhang sie im Moment wirken.

Auf Dauer wird das nicht reichen. Aber es gilt die Weisheit der Bauernkriege: Laßt nicht die rote Hähne flattern, bevor der Habicht schreit. Entscheidend in der jetzigen Phase ist es, die Truppen zu sammeln, die 2017 oder 2049 die Entscheidungsschlacht schlagen und gewinnen können. Die Gruppierung, in der das geschieht, ist jetzt überhaupt nicht auf der Tagesordnung und darf auch nicht durch Leute auf die Tagesordnung gesetzt werden, die vor allem die Fleischtöpfe parlamentarischer Positionen für die Sanierung ihrer lädierten Parteikasse vor Augen haben. Entscheidend ist, in allen vorhandenen Organisationen die Zahl der auf Marx, Engels, Lenin und die Überwindung des Kapitalismus orientierten Menschen zu erhöhen. Die Sammlungs-, nicht die Organisationsfrage ist im Moment auf der Tagesordnung.

These 5: Unsere geschichtliche Phase ist die der beginnenden inneren Zersetzung des Kapitalismus; eine Art Verstetigung der früher von uns analysierten allgemeinen Krise des Kapitalismus

Für die Bestimmung der richtigen Strategie und Taktik ist die Vergewisserung des eigenen Ortes in der Geschichte wesentlich.

Der Oktober 1917 war auch deshalb ein so helles Fanal, weil die Hoffnung bestand, daß damit eine geschichtliche Regel gebrochen war. Die vorherigen Formationswechsel Sklavenhaltergesellschaft-Feudalismus und Feudalismus-Kapitalismus waren so abgelaufen, daß die jeweils vorhergehende Formation von ihrer Blütezeit einige Jahrhunderte hindurch abstieg bevor die nachfolgende Formation sich durchsetzen konnte. Rom ging genauso wenig von der Höhe seiner kulturellen und produktiven Entwicklung in das feudale Heilige Römische Reich Deutscher Nationen über wie das im Hochmittelalter blühende Frankreich in die Napoleonische Ära. Dazwischen lagen jeweils unterschiedlich lange, aber nach Jahrhunderten bemessene Phasen des Zerfalls: Zerfall im Produktivitätsniveau, im kulturellen und Bildungsniveau, Zerfall und Verrohung vorher zivilisierter und geregelter gesellschaftlicher Strukturen, in weiten Landstrichen auch Rückgang der Bevölkerung.

Dies alles zeichnete sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zwar ab, hatte sich aber noch nicht ausgeprägt. Hätte der Anlauf 1917 also bis heute getragen, hätte - bei historisch gesehen relativ kurzen, heftigen Ruckeleien zwischen 1917 und 1945 - die nachfolgende Formation, der Sozialismus, also aufgesetzt auf einer noch nicht zersetzten Vorformation.

Diese Hoffnung ist dahin.

Also kehren wir gegenwärtig zurück zu einer geschichtlichen Normalität: Das Neue kommt nicht, bis nicht das Alte völlig zersetzt ist.

Für Leser der Weißenseer Blätter braucht das wahrscheinlich nicht weiter belegt zu werden. Jeden Tag stirbt in Deutschland zur Zeit eine Bibliothek. In den Schulen liefern sich Perspektivlosigkeit und Gewaltbereitschaft ein makaberes Wettrennen. In Berlin gehören Bettler wieder zum Straßenbild. Dieser Zerfall wird sich fortsetzen und beschleunigen. Rosa Luxemburg, die 86 Jahre vor dem Gespräch im Marzahner Kreis ermordet wurde, wußte das alles schon: da der von ihr mitorganisierte Anlauf zum Sozialismus in Europa vorerst besiegt ist, floriert wie von ihr geahnt und gesagt die Barbarei.

Angesichts dessen wird aus meiner Sicht die oben verfochtene These 4 um so gewichtiger. Wir befinden uns nicht in oder kurz vor einem revolutionären Schub. In einer revolutionären Situation entscheidet die Wahl der richtigen Taktik alles. In der Sammlungsphase vorher korrigieren sich taktische Fehler im Zeitverlauf. Deshalb ist der gelegentlich mit irrem Zeitaufwand betriebene innerlinke Streit um Wahlbeteiligungen und den vorderen Platz bei Demonstrationszügen so kindisch.

Es gibt Zeiten, in denen es richtig ist, 80 Prozent der politischen Energie der Kader nach innen, in die den Massenkampf organisierenden Maschinen wirken zu lassen - dann, wenn die Sammlung von Massen geschafft ist. Davon sind wir aber weit entfernt und dennoch beschäftigen sich Tausende von Linken vor allem mit sich selbst statt in Straßen, Betrieben, Arbeitslosencafes und Kneipen die Menschen um Marx und Lenin zu scharen - in welcher Interpretation auch immer.

Vor uns liegt eine noch viel elendere Strecke als die einer allgemeinen Krise des Kapitalismus. Krise ist begrifflich etwas vorübergehendes. Vor uns liegt eine Jahrzehnte umfassende Phase des langsamen und sich langsam beschleunigenden Zerfalls dieser Formation, in die wir hineingeboren oder hineinkolonisiert worden sind.

Unsere Aufgabe angesichts dessen ist nicht die Klärung der Fragen von übermorgen, sondern die Sammlung antikapitalistischer Kräfte - soviel wie jeder kann. Wir werden sie in einigen Jahrzehnten bitter brauchen.


 

Terrorismus - Grundlagen und Charakteristisches

von Hans Kölsch

Eine Chrestomathie über die Auseinandersetzungen von Marx, Engels und Lenin mit dem Terrorismus wäre für manche gegenwärtige Diskussion sehr hilfreich. Aber hier sind Zitate mit den erforderlichen Erläuterungen zu ihren konkret historischen Zusammenhängen nicht vorgesehen, zumal die Fragen des Terrorismus so untrennbar mit den weithin bekannten marxistisch-leninistischen Erkenntnissen über Klassen und Klassenkampf verbunden sind.

Grundlage und Ausgangspunkt des Terrorismus ist das Gewaltmonopol von Ausbeuterklassen (kapitalistische und vorkapitalistische) gegenüber ihren Opfern. Obgleich die Opfer die Mehrheit der Bevölkerung bilden und über das mögliche Potential eines Volkswiderstandes verfügen, so sind sie doch ursächlich waffenlos und in ihren Widerstandsmöglichkeiten eingeschränkt. Um diese Schwäche der Opfer, ihre faktische Machtlosigkeit, aufrecht zu erhalten und ständig zu minimieren, nutzen die Ausbeuterklassen die Vorteile ihres Machtmonopols, treiben sie die Gewaltanwendung bis zu terroristischen Praktiken, wird der Terrorismus zu einer Gesetzmäßigkeit, die erst mit der Beseitigung ihrer Grundlagen aus der Geschichte der Menschheit getilgt werden kann. Der Terrorismus ist ein System vielgestaltiger Mittel der Zuspitzung eines verschärften Klassenkampfes, das Bestandteil der politischen Herrschaft von Ausbeuterklassen ist. Einzelne Methoden dieses Systems können unter bestimmten Bedingungen Eingang in den bewaffneten Widerstand gegen die Ausbeuter finden. Wenn es zu Verschärfungen des Klassenkampfes kommt, können eventuell auch revolutionäre Kräfte dem Klassenfeind mit revolutionärem Terror begegnen

Stützen des Terrorismus

Das Gewaltmonopol von Ausbeuterklassen stützt sich in erster Linie auf die von ihnen beherrschten staatlichen Repressivorgane. Um wenigstens ein bescheidenes Maß an demokratischem Image zu wahren, nutzen und fördern sie für die terroristische Drecksarbeit auch nichtstaatliche Terrororganisationen. Solche Banden sind wirksam als reaktionäre Offiziersverbände, als Freikorps, als rassistische Organisationen wie der Ku-Klux-Klan, als Knüppelgarden der faschistischen SA und deren neofaschistische Nachfolger, als Organisationen militanter religiöser Fanatiker, als Todesschwadronen usw.

Wenn sich die reaktionärsten und aggressivsten Ausbeutergruppen als militaristische, faschistische oder theokratische Staatsmacht konstituieren, übernehmen sie in der Regel auch die Gesamtheit der terroristischen Auswüchse der Gewaltanwendung mit einer dem dienstbaren Justiz. Nach dem mittelalterlichen Scheiterhaufen-Terror gegen Ideenträger, die den herrschenden und klerikal getarnten Ausbeutern verdächtig erschienen, hat die Gewaltanwendung gegen Menschen im imperialistischen Terrorismus einen weiteren barbarischen Höhepunkt erreicht.

Dem Gewaltmonopol der Ausbeuter vergleichbar, erzeugen ökonomische und waffentechnische Überlegenheit von Ausbeuterstaaten im Konkurrenzkampf gleichfalls die Tendenz und das Streben, in räuberischer Absicht Schwächere zu unterwerfen. Sie nehmen hierbei in zunehmendem Maße die Zivilbevölkerung der Überfallenen in mörderische Geiselhaft. Trotz der heuchlerischen Haager und Genfer Konvention sind bis in die Gegenwart Kriegsgefangene und andere Waffenlose Opfer von Mißhandlungen und Totschlag. Einem besonders barbarischen Terror sind Aufständische ausgesetzt, die es gewagt haben, sich den Ausbeutern zur Wehr zu setzen und als Unterlegene in Gefangenschaft geraten. So haben Feudalherren im deutschen Bauernkrieg gegen ihre Opfer gewütet und französiche Konterrevolutionäre 1871 gegen Kommunarden und Nationalgardisten. Im Irak betätigen sich die imperialistischen Okkupanten in gleicher Weise.

Trotz der internationalen Ächtung von Giftgas und anderen Massenvernichtungsmitteln kommen ständig neue auch gegen Unbewaffnete zum Einsatz. Die faschistische deutsche Legion Condor hat 1937 mit dem Bombenterror gegen die Bevölkerung von Guernica den Weg zum Bombenterror im zweiten Weltkrieg gegen die Zivilbevölkerung ganzer Städte vorgezeichnet. Das Erschrecken der Weltöffentlichkeit über den Massenmord, den die Faschisten mit Zyklon B in Auschwitz begangen haben, war noch frisch, als die USA in Hiroshima und Nagasaki demonstrierten, wie in Sekundenschnelle weit über Hunderttausend Menschen bei lebendigem Leib eingeäschert werden können.

Mit der Drohung der A-Waffe und der Bereitschaft, sie auch unprovoziert einzusetzen, sind die Herrschenden der USA zur Hauptmacht des Terrorismus in der Welt geworden. Sie haben das unter anderem auch mit der Aggression gegen Vietnam und den Einsatz chemischer Massenvernichtungsmittel belegt. Sie , die das größte Arsenal an Massenvernichtungsmitteln besitzen, bezichtigen andere, mit ihren Waffen ein Gefahrenherd für die Menschheit zu sein. Das diente auch als Vorwand für die Aggression gegen den Irak. Obgleich allgemein bekannt war, daß es um die Eroberung von Erdölquellen und ein strategisch wichtiges Gebiet für die Beherrschung der Golf-Region ging, wurde die Weltöffentlichkeit noch einige Zeit mit der Lüge von den Massenvernichtungswaffen beschäftigt. Als die Beutemacher durch unfreiwillige Helfer Gewißheit hatten, daß sie im Irak nicht mit verlustreichen Massenvernichtungsmitteln zu rechnen hatten, haben sie ohne zu zögern zugeschlagen.

Grenzenloser Terrorismus

Die Hauptakteure des Terrorismus behaupten trotz besseren Wissens, daß der Terrorismus durch Islamisten zu einer internationalen Gefahr geworden sei. Ihre Medienmacher wiederholen das, ohne sich überhaupt die Frage zu stellen, warum die von imperialistischer Ausbeutung, imperialistischen Aggressionen und Okkupationen heimgesuchten Völker alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, unter Einschluß auch ihrer Religion für den Schutz vor diesem Terror und den Widerstand nutzen. Wenn Bush jun. seine Religion in fundamentalistischer Weise für seine Aggressionspolitik aufmacht, dann geschieht ähnliches im Widerstand mit der gegenteiligen Zielsetzung. Das gleitet allerdings dann zum Teil in terroristische Methoden ab, wenn statt der Okkupanten und ihrer militanten Helfer Geisel genommen und getötet werden, die mit dem Terror des Feindes nichts zu tun haben. Weil solche terroristischen Methoden in diesen Kämpfen eine Hemmschwelle für solidarische Aktivitäten von Sympathisanten errichten, werden sie oft als Provokation von Parteigängern der Okkupanten gestartet. Im Gegensatz dazu schwächt der auch militärische Widerstand die Okkupanten und verdient Solidarität. Er verdient auch deshalb Solidarität, weil er das Völkerrecht auf Verteidigung dem imperialistischen Recht auf Krieg und Terror entgegenstellt. Die Stärkung des Widerstandes ist gegenwärtig auch davon abhängig, daß Parteien und Volksbewegungen im Irak und international in politischen Aktionen den Abzug der Besatzer fordern.

Die imperialistischen Hauptakteure des Terrorismus haben schon lange ihr Gewaltmonopol weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus ausgedehnt. Im Kampf um die profitable Neuaufteilung der Welt sind auch andere Großmächte dabei, ihr Gewaltmonopol über das eigene Land hinaus über ganze Regionen auszudehnen. Dazu gehören auch Deutschland und die EU. Struck hat dazu jüngst programmatisch gesagt, daß solches Streben nicht durch den Hindukusch begrenzt sei. Zum Teil handeln auch Staaten so, die nicht zu den „Großen 7" gehören.

Die USA haben seit Jahrzehnten in Mittel- und Südamerika ein indirektes Gewaltmonopol in der Form errichtet, daß sie kraft ihrer ökonomischen Möglichkeiten die militärischen Führungskräfte dieser Länder ausgebildet haben und unter Kontrolle halten, die besonders darauf gedrillt sind, Volkswiderstände niederzuhalten und möglichst im Keim zu ersticken. Wenn das mal nicht funktioniert, intervenieren USA-Streitkräfte selbst. Kaum ein Land Mittel- und Südamerikas ist in den vergangenen Jahrzehnten von Militärputschen und Militärdiktaturen verschont geblieben, in denen ähnlicher Mordterror wie in Chile gehaust hat. Kuba ist seit dem Sieg der Revolution vom imperialistischen Terror eingekreist. Konfrontiert mit einer ständigen Interventionsdrohung und einer Blockadepolitik, soll die Bevölkerung des Landes in die Knie gezwungen werden. Ähnliches ist gegen antiimperialistische Veränderungen in Venezuela im Gange. Die Bevölkerung dieser Länder kann sich in ihren Kämpfen auch auf die internationale Solidarität antiimperialistischer Kräfte stützen.

Mit Hilfe auch deutscher Spezialisten versuchen die USA im Irak bewaffnete Formationen aufzubauen, die wie in Lateinamerika funktionieren sollen und die jeder beliebigen Regierung nur formell unterstellt sind, mit Ausnahme einer eventuell von antiimperialistischen Kräften gebildeten, der das Schicksal der Allende-Regierung vorgezeichnet ist. Andere, ausnahmsweise von progressiven Militärs eingeleitete Versuche, ihr Land von der doppelten Ausbeutung einheimischer und ausländischer Kräfte zu befreien, wie 1968 in Peru, scheiterten an der medialen und ökonomischen Übermacht ihrer Widersacher und der folgenden politischen Isolierung. Die fortschrittlichen Militärs, die 1958 im Irak die monarchistischen Handlanger der Engländer entmachtet und den Erdölreichtum des Landes verstaatlicht haben, vernachlässigten in der Folgezeit die Stärkung ihrer massenpolitischen Basis, was 1963 ihre Entmachtung erleichtert hat.

Von doppelter Ausbeutung und dem Gewaltmonopol imperialistischer Kräfte sind auch afrikanische Länder heimgesucht. In den von Kolonialmächten willkürlich gezimmerten Staatsgebilden haben nach der Überwindung der Kolonialherrschaft Afrikaner den Weg zum Fortschritt gesucht. In rohstoffreichen Gebieten haben jedoch ausländische Konzerne nicht nur mächtige Filialen errichtet, sondern gleichzeitig auch mit Söldnertruppen separate Machtgebilde mit eigenen Gewaltmonopol geschaffen. Die dafür genutzten, dort ansässigen ethnisch-religiösen Bevölkerungsgruppen werden zu denen in anderen Bereichen des Staatsgebietes oder in Nachbarstaaten - nach dem Prinzip: „teile und herrsche" - zu Konfrontationen getrieben. Das Ergebnis sind Bürgerkriege mit terroristischen Auswüchsen und politischem Massenmord an Hunderttausenden Menschen.

Die international ausgedehnten terroristischen Bestrebungen imperialistischer Großmächte haben sich verstärkt, als in anderen Teilen der Welt große Erdölvorkommen entdeckt worden sind. Für die Wirtschaft imperialistischer Großmächte ist das Erdöl eine unentbehrliche Grundlage nicht nur der Energieversorgung sondern auch ihrer expansiven Bestrebungen. Aus heutiger Sicht auf die Kreuzritter des Kampfes gegen den Terrorismus erscheinen folgende Tatsachen kurios. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, als sich der Erdölmarkt zu entwickeln begann, war unter anderem das Erdölgebiet von Mosul Gegenstand besonderer Begehrlichkeit von Erdölfirmen der USA. Aber hier war noch die Türkei mit ihrer Turkish Petroleum Co seßhaft. Scheinbar durch Wunderkraft gaben die Türken den Begehrlichkeiten der USA-Firmen konfliktlos nach und räumten das Erdölgebiet. Zeitzeugen jedoch glauben nicht an die Kraft eines Wunders, sondern an die eines üblen Geschäftes, weil die USA-Diplomaten im Völkerbund ihre harsche Kritik am Terror der Türken gegen die Armenier nach der neuen Regelung in der Erdölregion von Mosul schlagartig eingestellt haben.

Die herrschenden Kräfte der erdölreichen Länder im Nahen Osten sind in den folgenden Jahrzehnten politisch weitgehend unabhängig geworden und durch ihr Erdöl zu enormen Reichtum und zu international bedeutsamen wirtschaftlichen Positionen gekommen. In ihrer relativen politischen Selbständigkeit galten sie für die vom Erdöl abhängigen Großmächte, besonders der USA, als Unsicherheitsfaktor, der durch eine militärische Besetzung ausgeschaltet werden sollte. Das ist zum Ausgangspunkt neuer Aggressionen und weiteren Terrorismus geworden, beschleunigt noch durch geplatzte Illusionen. Die von den USA zum Stellvertreterkrieg gegen die Sowjetunion und die antifeudale Revolution in Afghanistan gerüsteten und genutzten Fundamentalisten haben in der Folgezeit nicht nur in Gestalt der Taliban eine solche Hilfsrolle abgelehnt, sie haben kritische und zum Teil militante Positionen gegen ihre früheren Auftraggeber bezogen.

Einen Wutausbruch hatte im Weißen Haus auch König Faisal von Saudi- Arabien ausgelöst. Der hatte, wie auch andere arabische Oberhäupter, zu seiner Zeit kritisch registriert daß die USA-Regierung im Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern arabische Interessen verletzt hatte. Er bekundete die Absicht, daraufhin die Erdöllieferungen nach den USA zu kürzen. Den Politikern der USA kam, wie auch in manchen anderen Fällen, „unerwartet" der Tod zu Hilfe. König Faisal wurde 1975 ermordet. Sein Nachfolger sicherte weiterhin ungekürzte Erdöllieferungen an die USA.

Eine militärisch abgesicherte Versorgung mit Erdöl ergab sich erst nach der Eroberung Kuweits durch die Iraker, wo die USA für den militärischen Gegenschlag arabisches Aufmarschgebiet benötigten. Das stellte Saudi-Arabien für die Zeit der Kuweit-Aktion zur Verfügung. Trotz vertraglicher Regelungen dazu blieben auch danach noch militärische Kontingente der USA vor Ort. Aber erst mit der Eroberung Iraks, die auch Tausenden Zivilisten das Leben gekostet hat und noch kostet, haben die USA den strategisch wichtigen Platz für die militärische Beherrschung der Golf-Region gewonnen, von dem aus terroristische Aktivitäten in weitere Richtungen vorangetrieben werden, allerdings erschwert durch den bewaffneten Widerstand gegen die Okkupanten. Die Golf-Region ist das erdölreichste Gebiet der Erde. Es hat zwei weitere Vorteile: Nach gegenwärtigen Schätzungen kann hier noch einige Jahrzehnte Erdöl gefördert werden, wenn die Vorkommen in anderen Ländern der Welt erschöpft sind. Außerdem bestehen hier so große Förderreserven, daß unerwartete Ausfälle in anderen Ländern kurzfristig und ohne Schwierigkeiten ausgeglichen werden können.

Terrorismus und Machtfrage

Gestützt auf geschichtliche und aktuelle Tatsachen, lassen sich die charakteristischen Merkmale des Terrorismus skizzieren, aber auch die erforderlichen Gegenmittel. Der Terror von Ausbeuterklassen zielt in seiner schärfsten Form darauf, Menschen zu töten. Das soll den Widerstand gegen Ausbeuter, Aggressoren und Okkupanten schwächen und Widerstandsbereite einschüchtern. Weil die Terroristen Widerstand und Widerstandswillen nicht aufheben können, ohne sich selbst zu entmachten, ist politischer Totschlag eine Dauererscheinung in Ausbeutergesellschaften.

Die Politik revolutionärer Arbeiterparteien zielt im Gegensatz dazu darauf, die Verhältnisse zu vernichten, unter denen Menschen unwürdigen Bedingungen unterworfen sind. Die hierfür notwendigen Veränderungen sind nur möglich, wenn Ausbeuter, Aggressoren und Okkupanten entmachtet werden. Das Ausmaß des dafür erforderlichen politischen Zwanges ist vom Widerstand dieser Klassenkräfte abhängig und nicht notwendig mit revolutionärem Terror verbunden. Politische Gewalt ist hier nicht das Ziel, sondern Mittel zum Zweck. Sie verliert im Sozialismus zunehmend an Bedeutung und wird gegenstandslos, wenn auch internationale Bedrohungen durch Ausbeuterstaaten nicht mehr gegeben sind.

So lange imperialistische Großmächte in der Nachbarschaft revolutionärer Staaten ihr Unwesen treiben, wollen sie zu gegebener Zeit die Frage „wer-wen?" zu ihren Gunsten entscheiden. Die revolutionäre Antwort darauf ist die Politik der friedlichen Koexistenz. Sie ist eine besondere Form des Klassenkampfes. Diese Politik sichert die Macht und Freiheit, die antiimperialistischen und sozialistischen Errungenschaften und vor allem die massenpolitischen Grundlagen der revolutionären Macht zu stärken und damit auch ihre internationale Anziehungskraft. Diese Politik erhält durch die internationale Solidarität von Friedenskräften Unterstützung, aber auch durch das Streben von Kräften, die an normalen Wirtschaftsbeziehungen und Geschäften interessiert sind.

Opportunistische und ähnliche Leute vom Fach deuten die Politik der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftordnung als eine Art partnerschaftliche Geschäftsbeziehung, die mit Klassenkampf nichts zu tun habe. Wo diese Auffassung in sozialistischen Länder Platz gegriffen hat, kam die Freiheit für die „Geschäftspartner" zum Zug, mit ökonomischen, medialen oder kirchlich getarnten Maßnahmen die antiimperialistischen und sozialistischen Errungenschaften zu unterwandern und die massenpolitische Basis der revolutionären Macht zunehmend zu zerstören.

Als in wichtigen sozialistischen Ländern in der Realität der politische Zersetzungsprozeß so weit fortgeschritten war, stellten auch die Gewehre keinen Machtfaktor mehr dar. Doch die richtige Einschätzung der faktische Machtlosigkeit kann schwerlich als ein Verdienst eingeschätzt werden, wie das nachträglich einige ehemalige Verantwortungsträger tun. Die Konterrevolution gelangte zum Erfolg, auch ohne ihr gesamtes terroristisches Arsenal zu mobilisieren. Das holte sie mit einer neuen Waffe nach, mit der Entfaltung des sozialen Terrors, mit dem die Existenzmittel für Millionen Menschen radikal gekürzt und das physische Existenzminimum anvisiert worden ist Dafür wurden vorausschauend und zielstrebig parteipolitische, gewerkschaftliche, parlamentarische, mediale und andere Möglichkeiten eines organisierte Widerstandes eingeschränkt und abgebaut.

Ein weiteres Merkmal des Terrorismus von Ausbeuterklassen besteht darin, daß er sich in allen seinen Formen in der Regel gegen Unbewaffnete richtet, die den Eigentümern der Produktionsmittel, den Staatsgewaltigen und Medienbesitzen in diesen Bereichen unterlegen sind. Demgegenüber sind alle Volkskräfte mit einem Gegner konfrontiert, der auf Grund seiner Machtfaktoren mit überwiegend anders gearteten Mitteln bekämpft und überwunden werden muß. Manche Widerstandswilligen glauben, daß sie Macht und Gegenmacht vor allem oder auch allein aus Gewehren erlangen können. Doch der Klassengegner kann dem in der Regel mit mehr und mächtigeren Waffen begegnen, so daß ihm höchstens zeitweise Schaden und eine Schwächung bereitet werden kann, ohne sein unmenschliches System zu gefährden. Strategische Bedeutung können bewaffnete Widerstandsaktionen erlangen, wenn sie sich auf volksverbundene Partisanenverbände oder Kampfgruppen stützen, die Bestandteil eines strategisch geleiteten politischen Kampfes sind.

Die anders gearteten politischen Machtfaktoren gründen sich auf die Arbeiterklasse und ihren Kampf. Mit ihren Interessen und revolutionärem Kampf verfolgt sie humanitäre Ziele, die mit den Interessen der Bevölkerungsmehrheit übereinstimmen Doch Zahlen fallen bekanntlich nur ins Gewicht, wenn Kombination sie eint, wenn politische Organisiertheit der revolutionären Kräfte im Bündnis mit anderen Volkskräften zur Einheit des Handelns und zu einer politischen Massenbasis führen. Die zu erkämpfende Massenbasis ist zugleich der Prozeß, der zur politischen Isolierung und damit zur politischen Schwächung des Klassengegners führt. Nur im Zusammenhang mit diesem Prozeß hat bewaffneter Kampf eine Erfolgschance, den Weg zu einer besseren Welt mit menschenwürdigen Verhältnissen zu öffnen.

Politischer Massenmord und individueller Terror

Die Ausbeuterklassen sind mit ihrem Terror auf bereitwillige Helfer und auch auf einen Teil der Öffentlichkeit angewiesen, die akzeptiert oder toleriert, wenn der Terror zum politischen Massenmord in Konzentrationslagern, Hinrichtungsstätten, Gefangenenlagern, Bürgerkriegen usw. ausartet. Für diesen Zweck erfinden die Terroristen konfrontative Verhältnisse und Lügen, mit denen der Anschein einer „Begründung" für die Massenmorde erweckt werden soll.

Erinnert sei hier an die angeblich tödliche Konfrontation zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen oder solcher mit Heiden oder an den Rassismus, der eine tödliche Konfrontation mit Juden und anderen Bevölkerungsgruppen konstruiert, um einer todbringenden Politik den Weg zu ebnen, oder an ein Volk ohne ausreichenden Lebensraum, der mit Krieg und Terror von anderen Völkern zu holen sei, oder an die erfundene, ausbeuterfreundliche Demokratiekonzeption, deren Hauptkriterium die Freiheit der Ausbeutung ist und mit der kommunistische und sozialistische Kritiker als Feinde der Freiheit gebrandmarkt werden, gegen die jegliche Form des Terrorismus gerechtfertigt sei.

Im Gegensatz dazu sind Elemente des Terrors in revolutionären Volkskämpfen ausschließlich in Situationen zu verzeichnen, in denen Konterrevolutionäre im Bund mit imperialistischen Interventen die Existenz revolutionärer Errungenschaften zu vernichten drohten. Dafür brauchten keine Konfrontationen konstruiert und erfunden zu werden. Es genügte, die gegebenen Tatsachen richtig einzuschätzen, wie das zum Beispiel Lenin 1920 getan hat.

Im Arsenal der terroristischen Waffen der Ausbeuter hat der individuelle Terror, die gezielte Tötung einzelner Personen, einen festen Platz. Dieser Terror richtet sich vor allem gegen Führungskräfte der Arbeiterbewegung, gegen Kommunisten und Sozialisten, gegen Führungskräfte auch anderer Volksbewegungen - wie der Bauern oder nationaler Befreiungsbewegungen. Damit reagieren Reaktionäre nicht nur ihren Haß auf revolutionäre Kräfte ab. Das Hauptanliegen besteht darin, den Aufbau und die Stärkung von Organisationen des Kampfes gegen Ausbeutung, Krieg und Unterdrückung zu verhindern, zu erschweren oder zurück zu werfen

Kaum eine Kommunistische Partei ist von diesem Terror verschont geblieben. Im Verlaufe der Geschichte mußten sie auf diese Weise immer wieder Verluste und Rückschläge hinnehmen. In Deutschland stehen die Namen von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg stellvertretend für viele Opfer des Kampfes der Arbeiterklasse. Jedes Jahr findet in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen der ermordeten Revolutionäre eine Demonstration zu ihren Gräbern statt, als organisierter Protest auch gegen die Parteigänger der Mörder, die zum Teil heute noch an Schaltstellen der Macht sitzen. Opportunisten versuchen zwar einen solchen organisierten Protest durch einen Spaziergang zu den Gräbern und stilles Gedenken zu ersetzen, aber sie machen dadurch nur sichtbar, daß sie gern auch die revolutionären Erkenntnisse der Ermordeten zu Grabe tragen würden. Der individuelle Terror im Arsenal der Ausbeuterklassen trifft in kritischen Situationen mitunter auch politische Führungskräfte aus den eigenen Reihen, wenn sie mit ihren Auffassungen reaktionäre Wendungen tatsächlich oder aber auch vermeintlich erschweren oder mit Chauvinisten in Konflikt geraten

Der individuelle Terror ist keine geeignete Waffe im Kampf der Arbeiterklasse. Diese Einschätzung besagt keineswegs, daß damit Personen wie der „Landvogt Gessler" oder schlimmere Gestalten als schutzwürdig eingeschätzt werden Der individuelle Terror in Volkskämpfen nährt folgenschwere Irrtümer. Einer besteht darin, daß mit der Beseitigung eines verhaßten Volksfeindes das Schlimmste überstanden zu sein scheint und wieder Zeit zum Kaffeetrinken angesagt ist, obwohl sich an den volksfeindlichen Verhältnissen nichts geändert hat. Eine noch wichtigere Tatsache besteht darin, daß die organisatorischen Anforderungen an die Vorbereitung eines Attentates völlig ungeeignet sind im Vergleich zu den Anforderungen an die Organisierung von Massenaktionen gegen Ausbeuter, Aggressoren und Okkupanten, von denen letztlich der Erfolg des Kampfes abhängig ist. Ein Hemmnis kann auch daraus entstehen, daß mit Politik noch wenig Vertraute nur Ähnliches wie beim individuellen Terror der Ausbeuter zu sehen glauben, was auch deren Gewinnung erschwert.


 

Damals Vietnam - heute Irak

von Gerhard Feldbauer

Die Parallelen zu Vietnam sind beim Überfall auf Irak unübersehbar. Bei ihrer Einordnung können die Hinweise Sebastian Haffners hilfreich sein, der sagte: „Historische Vergleiche beginnen immer zu hinken, wenn man sie zu sehr ins einzelne verfolgt. Trotzdem, gewisse Parallelen sind nicht zu übersehen." Der demokratischen Senator Ted Kennedy sprach bereits offen von „Bushs Vietnam".

Mit dem Überfall auf Afghanistan und danach auf Irak hat der USA-Imperialismus einen neuen Anlauf genommen, seine alten Weltherrschaftspläne unter veränderten, für ihn zunächst günstigeren internationalen Bedingungen durchzusetzen. Nach der Niederlage des Sozialismus in Europa erarbeiteten die erzkonservativen Falken schon im Februar 1992 eine Defence Planing Guidance, um zu verhindern, daß den USA je wieder ein ernst zu nehmender Rivale erwachsen könnte. „Man kann daher mit Recht von einer Kontinuität der US-amerikanischen Imperialpolitik sprechen", schätzte der Strategie-Experte Rainer Rupp ein.

Die Hauptstoßrichtung der Expansion geht über den erdölreichen Nahen und Mittleren Ost nach Zentralasien, zu den riesigen Öl- und Gasreserven im Kaspischen Becken. Es geht im tatsächlichen Sinne um die Weltherrschaft, um die Unterwerfung der Völker und Staaten unter den Willen der USA. Jedes Land, das sich widersetzt, wird zum „Schurkenstaat" erklärt. Offen erklärtes nächstes Ziel soll der Iran sein. Schon zeichnet sich ab, daß China, das an sozialistischen Grundlagen festhält, zum Hauptfeind wird. Ebenso soll weder von der EU noch Japan eine Konkurrenz zur Weltherrschaft zu gelassen werden.

Eine weitere Parallele zieht sich von der Tongking-Provokation im August 1964 zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Unter realistisch denkenden Politikern und Experten ist inzwischen unbestritten, daß die USA-Geheimdienste am 11. September ihre Hand im Spiel hatten. Sie haben die Anschläge selbst herbeigeführt oder zumindest zugesehen, wie sie vorbereitet und verübt wurden, meint z. B. der Geheimdienstexperte Andreas von Bülow, früherer Bundesminister und Staatssekretär. Die dann unter dem Vorwand, den Terrorismus zu bekämpfen, begonnenen Kriege, wurden schon lange vor dem 11. September 2001 u. a. mit einem gigantischen neuen Rüstungsprogramm vorbereitet. Daniel Ellsberg, der einst die Washingtons Aggressionsplanung gegen Vietnam entlarvenden „Pentagon-Papiere" herausgab, schrieb am 13. Februar 2003 in der „Süddeutschen Zeitung", daß die im Irak-Konflikt verbreiteten Lügen, „denen des Vietnamkrieges in nichts" nachstehen.

Nach der Invasion errichtete Washington seine Besatzungsmacht und ist dabei, eine ihm hörige irakische Regierung und Verwaltung zu installieren. Die Wahlfarce unter amerikanischen Bajonetten soll dem Regime einen demokratischen Anstrich verschaffen. Mit dem Aufbau einer Marionettenarmee und Polizei entfesselt die Besatzungsmacht einen Bürgerkrieg, in dem, ähnlich wie einst in Vietnam, die Kräfte, die den Aggressoren entgegentreten und bewaffneten Widerstand leisten, als die Schuldigen, als die Terroristen abgestempelt werden.

Die verschiedenen Volksschichten setzen sich, wenn auch unterschiedlich motiviert, mehrheitlich von Anfang an erbittert zur Wehr. Darin widerspiegeln sich Jahrhunderte lange antikoloniale, antiimperialistische, nationale Traditionen des Befreiungskampfes der unterdrückten arabischen Völker, aber auch der Welt insgesamt. Er wächst, auch wenn er unter anderen Bedingungen stattfindet. Er geht von Anfang an von den Städten aus, denn die Wüste ist kein bergiges Dschungelgebiet, das in Vietnam geographischen Schutz bot. Eine Integrationsfigur vom Format Ho Chi Minhs ist nicht zu sehen. Eine zentrale und beispielsweise mit Vietnam vergleichbare Führung noch nicht vorhanden. Teile der KP-Führung des Landes kollaborieren im Gegenteil in opportunistischer Weise mit der Besatzungsmacht, sind in die Marionettenregierung eingetreten und haben sich an der Wahlfarce beteiligt. Dennoch haben sich bereits am 2. September 2004 unterschiedliche Kräfte zusammen gefunden und ein Vier-Punkte-Programm beschlossen, das die Rückgewinnung der Souveränität Iraks sowie eine Regierung der nationalen Einheit fordert und sich zur Einheit des Landes als Teil der arabischen Welt bekennt.

Gegen den unerwartet starken Widerstand geht die Besatzungsmacht mit Mord, Terror und Folter vor, richtet sie die entscheidenden militärischen Schläge von Anfang an gegen die Zivilbevölkerung. Mit noch moderneren Waffen als einst in Vietnam wird ein erbarmungsloser Luftterror ausgeübt. Die „New York Times" berichtete am 29. September 2004, daß sich „die Luftangriffe inzwischen auf das gesamte Zweistromland" erstrecken. Im September gab es 2.368 Angriffe, im Durchschnitt 80 pro Tag. Bei dem Angriff auf Faludscha, das sich monatelang in den Händen der Rebellen befand, wurden chemische Waffen eingesetzt, wehrlose Zivilisten niedergemetzelt und Gefangene ermordet. Die britische Medizinzeitschrift „The Lancet" veröffentlichte am 29. September 2004 in ihrer Online-Ausgabe eine auf sorgfältigen Untersuchungen von amerikanischen und irakischen Wissenschaftlern, vornehmlich Ärzten, von den renommierten Hochschulen John Hopkins (Baltimore), Columbia (New York) und der Al-Mustansarija-Universiät von Bagdad basierende Studie, nach der seit Beginn des USA-Überfalls und der andauernden Besatzung etwa 100.000 Iraker, in der Mehrzahl Frauen und Kinder, ums Leben gekommen sind. 84 Prozent der Todesfälle resultierten aus Gewalteinsätzen der Besatzungstruppen und 95 Prozent davon seien wiederum durch Angriffe der amerikanischen Luftwaffe und Artillerie verursacht worden. Nach einem Bericht des Kinderhilfswerks UNICEF wurden bisher auch fast 4.000 Schulen Opfer des Krieges, darunter 700 durch Bomben massiv beschädigte.

Nach Schätzungen des IKRK waren Mitte 2004 in Irak bereits 10.000 bis 15.000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Der älteste Gefangene war 75 Jahre, der jüngste gerade einmal elf. Der amerikanische Journalist Seymour Hersh, der schon die Massaker in My Lai (Son My) enthüllen half, veröffentlichte Ende April 2004 im „New Yorker" einen geheimen Untersuchungsbericht der US-Armee über Abu Ghraib, in dem von „sadistischen, himmelschreienden und mutwilligen Verbrechen" die Rede ist. Hersh nannte: Häftlinge mit „phosphorhaltiger Flüssigkeit" übergießen; mit „Besen und Stuhl schlagen"; an „die Zellwand werfen"; mit „einem Leuchtstab" sexuell mißhandeln; vom „Hund beißen" lassen. Alles durch „detaillierte Zeugenaussagen" und durch den Fund „extrem anschaulicher fotografischer Beweismittel" belegt. Die Bilder zeigten „zu amorphen Bergen aufgeschichtete Körper, die nackten Gliedmaßen ineinander verschlungen. Kapuzen machen die Menschenpakete kopflos und identitätslos. Fleischhaufen, die nichts sein sollen als namenlose Materie." Auf einem Bild war „die junge Gefreite Lynndie England (zu sehen), wie sie grinsend auf die Genitalien eines offenbar zur Masturbation gezwungenen Häftlings zeigt."

Als diese Folterungen bekannt wurden, versuchte Präsident Bush der Öffentlichkeit weis zu machen, es handele sich um das „beschämende Verhalten einiger weniger Soldaten", das nichts mit der „grundlegenden Politik der Regierung" gemein habe. Wie beim Erfinden des Besitzes von Massenvernichtungswaffen als Vorwand für den Krieg ist Bush auch bei den Folterungen als unverschämter Lügner überführt worden. Al Gore, unter Clinton Vizepräsident, nannte Bush „den verlogensten Präsidenten seit Richard Nixon". Das US-Nachrichtenmagazin „Newsweek" enthüllte am 24. Mai 2004, daß die ungeheuerlichen Folterpraktiken von höchsten Stellen, darunter Justizminister John Ashcroft, Pentagon-Minister Donald Rumsfeld und selbst von Präsident Bush angeordnet, autorisiert, legalisiert wurden. Die „Washington Post" vermerkte „entsetzt", dem Präsidenten werde zugestanden, amerikanisches und internationales Recht zu mißachten und die Folterung ausländischer Gefangener zu befehlen. Der Jurist Lennox S. Hinds von der Internationalen Vereinigung Demokratischer Anwälte schlußfolgerte, „daß George W. Bush es war, der den Weg zur Anwendung von Folter geebnet hat".

Zu den Mächtegruppierungen, welche die USA als ernst zu nehmende Rivalen betrachten, gehört die EU, als deren führende imperialistische Kraft sich bereits heute, wenn auch zunächst noch Seite an Seite mit Frankreich, die Bundesrepublik präsentiert. War die BRD in Vietnam Hauptverbündeter der USA, so ist sie heute deren Hauptkonkurrent. Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, wenn sie gleichzeitig die USA auf vielseitige Weise aktiv unterstützt. Mit ihrer Präsenz in Afghanistan und der wachsenden Unterstützung der USA in Irak sucht die BRD ihrem Großkapital ökonomische Einflußsphären zu sichern, den Bundeswehrmilitärs das Sammeln von Kriegserfahrungen und die Beobachtung des Einsatzes der modernsten US-Kriegstechnik. Wirtschaftlichen Interessen dient der Beschluß der Bundesregierung, als Mitglied der Gläubiger-Lobby des „Pariser Clubs" sich vor allem mit Frankreich und Rußland an einem Schuldenerlaß für den Irak in Höhe von 30 Milliarden US-$ zu beteiligen. Als Gegenleistung erhalten deutsche Konzerne nunmehr lukrative Aufträge in Irak. „Deutsche Exporte im Irak steigen auf Vorkriegsniveau", berichtete die Financial Times Deutschland am 11. Februar 2005. DIHK-Nahostexperte Jochen Clausnitzer forderte „eine politische Flankierung" dieser Entwicklung. Dem sollte offensichtlich auch der Besuch Bushs in Begleitung von Kanzler Schröder im Februar dieses Jahres bei in Hessen stationierten US-Truppenteilen, die im Irak eingesetzt waren und wieder werden, dienen.

Auch wenn die Bundeswehr bisher kein Militärpersonal in den Irak schickte, erhielten die USA alle andere für sie entscheidende Unterstützung. Uneingeschränkt konnten von Beginn an 25 US-Stützpunkte logistisch für Truppen- und Kriegswaffentransporte nach Irak und die Versorgung der dort stehenden Truppen genutzt werden. Von Ramstein, dem größten Umschlagplatz der US-Air Force in Europa, starten und landen die C-130 Hercules und die gigantischen C-5 Galaxy-Transporter. Auf der Rhein-Main-Airbase, der zweiten US-Luftdrehscheibe, sind die mächtigen KC-135 Stratotanker stationiert. Von Spangdahlen in der Eifel steigen die berüchtigten Tarnkappenbomber F-117-A auf. Von Großbritannien kommend überfliegen die berüchtigten B-52-Bomber Deutschland, um dann über Irak ihre todbringende Last von 32 Tonnen Bomben auszuklinken. Aus Ansbach, Gießen-Friedberg, Bad Kreuznach, Bamberg, Schweinfurth, Darmstadt, Hanau, Kitzingen und weiteren US-Stützpunkten wurden mit Kriegsbeginn Divisionen, Brigaden und Bataillone in Stärke von circa 40.000 Mann nach Irak verlegt.

Die Bundesluftwaffe stellt Besatzungsmitglieder für die an der türkisch-irakischen Grenze stationierten fliegenden AWACS-Maschinen, lieferte der Türkei, einer Aufmarschbasis gegen Irak, Patriot-Luftabwehrraketen, unterstützt die Besatzungstruppen mit ihren ABC-Spürpanzern „Fuchs" in Kuweit, gewährt mit der Bundesmarine Geleitschutz für US- Kriegstransporte und läßt die 62 Kasernen und Militäreinrichtungen der rund 70.000 US-Soldaten durch 3.700 Bundeswehrsoldaten bewachen. Die AWACS-Basis befindet sich unter dem Kommando von Bundeswehrgeneral Johann-Georg Dora in Geilenkirchen bei Aachen, wo 17 dieser fliegenden Gefechtsstände stationiert sind. Inzwischen werden Fuchspanzer direkt nach Irak geschickt, die ersten 20 als Geschenk. Ebenfalls kostenlos sagte die Hardthöhe im Sommer 2004 zu, 100 wüstentaugliche Militär-LKW zu liefern. Der jüngste Schritt ist die Beteiligung an der Ausbildung der Streitkräfte und der Polizei des US-hörigen Marionettenregimes. Wenn die CSU sich mit der Forderung ihres Wehrexperten Christian Schmidt durchsetzt, dann ist auch mit dem Einsatz von Bundeswehroffizieren in Irak zu rechnen. Er soll lediglich durch einen NATO-Auftrag abgedeckt werden.

Ein Großteil der bisher weit über 10.000 verwundeten GIs erhält seine erste Betreuung im zentralen US-Militärlazarett in Landstuhl. Etwa 500 waren es allein im November 2004, von denen fast 100 bei den schweren Kämpfen in Faludscha außer Gefecht gesetzt wurden.

In der BRD werden US-Soldaten für ihre verbrecherischen Einsätze in Irak gedrillt. Auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr übte eine US-Einheit aus der Kaserne in Vilseck (Bayern) den Sturmangriff auf Faludscha, bei dem Giftgase eingesetzt und Gefangene ermordet wurden. Zum Training des Häuserkampfes gehörte der Angriff auf islamische Gotteshäuser. Dazu war die Attrappe einer Moschee aufgebaut.

Selbst US-Folterknechte sind in der BRD stationiert, von wo aus sie zum Einsatz nach Irak geflogen werden und wieder zurückkehren. Das ARD-Magazin „Report Mainz" berichtete am 5. Juli 2004, daß die Zellenblöcke, in denen in Abu Ghraib mißhandelt und gefoltert wurde, dem Chef der 205. Brigade des Militärischen Geheimdienstes des V. Army Corps, Oberst Thomas Papas unterstanden. Die rund 850 Mann der Foltertruppe sind auf der US-Luftwaffenbasis im hessischen Wiesbaden-Erbenheim stationiert. In die Bundesrepublik kehrte auch der frühere Oberbefehlshaber der Besatzungstruppen in Irak, Generalleutnant Ricardo Sanchez, zurück. Er ist Oberkommandierender des erwähnten 5. Korps, dessen Stab sich in Heidelberg befindet. Durch „Report Mainz" wurde bekannt, daß auch Hunderte Kinder inhaftiert, gefoltert, Mädchen entkleidet und sexuell mißhandelt wurden, um ihre Väter zu Aussagen zu erpressen. An den Verbrechen in Abu Ghraib ist ebenfalls das in Heidelberg stationierte 203. US-Geheimdienstbataillon beteiligt.

Die BRD ist so an der völkerrechtswidrigen Aggression der USA in Irak beteiligt. Sie bricht damit nicht nur Völkerrecht, sondern auch das Grundgesetz und verstößt selbst gegen das NATO-Truppenstatut.

*

Wie stehen die Erfolgsaussichten des irakischen Widerstandes, der gegenwärtig keine mit Vietnam vergleichbare, damals vom existierenden weltweiten sozialistischen Lager ausgehende materielle, moralische und politische Unterstützung erhält? Hier steht die Volksrepublik China objektiv vor der Aufgabe, den Platz der früheren UdSSR einzunehmen. Auch wenn sie heute noch nicht deren einstiges weltpolitisches Gewicht besitzt, sind ihre Resourcen bereits größer als allgemein bekannt, und sie positioniert sich deutlich gegen die USA.11

Zu sehen sind die gegenüber dem auf die Weltherrschaft gerichteten Aggressionskurs der USA divergierenden Positionen anderer führender imperialistischer Mächte, z. B. in der EU 12, vor allem aber großbürgerliche Kräfte weltweit, darunter in der Dritten Welt (Indien, die arabische Welt, afrikanische und lateinamerikanische Staaten), deren Interessen mit diesem Kriegskurs schon heute in Konflikt geraten. Dann, daß in Venezuela, Brasilien und Uruguay, im so genannten Hinterhof der USA, relativ linke Kräfte an die Regierung bzw. die Präsidentschaft gekommen sind und bisher den erbitterten Angriffen der von Washington unterstützten Reaktion widerstehen. Nicht zuletzt ist das ein Ausdruck dafür, daß nationale Befreiungsbewegungen ein antiimperialistischer Faktor mit zunehmenden Gewicht bleiben bzw. wieder werden. Unter diesen Kräften ist auch die breit gefächerte, sich neu formierende Weltfriedensbewegung einzuordnen.

Der irakische Widerstand ist also nicht chancenlos, und die USA sind nicht, wie gelegentlich behauptet wird, unbesiegbar. Vor allem, wenn man beachtet, daß die USA in Südvietnam nach zwei Jahrzehnten Okkupation geschlagen wurden. In Irak ist der USA-Krieg kaum zwei Jahre alt.

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11 Aufschlußreich dazu ein zweiseitiger „jW"-Beitrag R. Rupps: „Jahrhundertdeal mit Iran" vom 29. Jan. 2005.

12 Hier kann nicht auf die Frage eingegangen werden, daß die Weltmacht USA von anderen Großmächten in der weiteren Entwicklung in die Schranken gefordert werden könnte. Darauf deuten der forcierte Aufbau einer EU-Streitmacht und die verstärkt zu beobachtende verfassungswidrige Militarisierung in Japan, um nur zwei Beispiele anzuführen, hin.


 

Die DKP zur Besetzung des Irak (Auszug)

... Die DKP fordert die sofortige und bedingungslose Beendigung der Besatzung des Irak durch die USA, Großbritannien und ihre Verbündeten. Dafür muß der außerparlamentarische Druck international verstärkt werden. ...

Die DKP fordert von der Bundesregierung die sofortige Einstellung jeglicher politischer, organisatorischer und militärischer Unterstützung der imperialistischen Besatzung. Alle Überflugsrechte für die US-Luftwaffe sind zurückzunehmen und jegliche Mittätigkeit zur Organisierung der völkerrechtswidrigen Besatzung aus US-amerikanischen Basen in Deutschland ist sofort einzustellen.

Widerstand gegen die Besatzung des Iraks ist legitim. Daran ändert auch nichts, daß der UN-Sicherheitsrat dem Krieg nachträglich ei-

ne Scheinlegitimation verschafft hat.

Die DKP unterstützt alle fortschrittlichen Kräfte, die für einen souveränen, demokratischen Irak eintreten. Die Aggressoren müssen für die Beseitung der Schäden durch Blockade, Krieg und Besatzung aufkommen.

Die DKP ist durch besondere Solidarität verbunden mit den irakischen Kommunstinnen und Kommunisten. Wir bringen ihrem Kampf gegen Besatzungswillkür und für soziale und demokratische Rechte große Hochschätzung entgegen. Offene Fragen, so die Beteiligung an der Marionettenregierung Allawi, wollen wir solidarisch diskutieren. Wir verurteilen die von den Besatzungstruppen ausgeübte Folter, Massaker und Verfolgung, deren Opfer in erster Linie die Zivibevölkerung ist.


Nach dem 17. Parteitag der DKP

von Karl Anders

Der Leitartikler der UZ konnte Entwarnung geben. „Wer von diesem 17. Parteitag der DKP einen Eklat, Putsch-Versuche oder destruktiven Streit erhofft oder befürchtet hat, mußte ... zur Kenntnis nehmen: Diese kleine DKP ist nicht nur nah dran an den aktuellen Kämpfen und Problemen unserer Zeit, sondern ... in der Lage souverän mit unübersehbaren Meinungsverschiedenheiten umzugehen". Der Vorsitzende der DKP, Heinz Stehr, zeigte in der UZ Erleichterung darüber, daß der Parteivorstand seine Zielstellungen durchsetzen konnte und Zustimmung zu den getroffenen Einschätzungen und Analysen erhalten habe. Die Vorsitzenden und der Parteivorstand seien weitgehend wie geplant gewählt worden, die umstrittene „Politische Erklärung" mit großer Mehrheit angenommen und schließlich sogar fast einstimmig ein Beschluß zum Reizthema Irak gefaßt worden.

Richtig ist, daß die Delegierten des 17. Parteitages bereit und in der Lage waren, eine inhaltliche und sachliche Debatte zu führen und Meinungsverschiedenheiten, die unübersehbar waren und auch während der Diskussion benannt wurden, nicht nur auszuhalten, sondern als produktives Element der Entwicklung der Partei zu betrachten. Der „souveräne Umgang" der Mehrheit des Parteivorstandes und insbesondere seines Sekretariats sah allerdings in Vorbereitung des Parteitages anders aus. Im Interview der drei Vorsitzenden in der UZ unmittelbar vor dem Parteitag wurde die entsprechende Linie herausgegeben und die Unsicherheit in der Partei nochmals verstärkt. Kritiker des Sekretariates oder ihre Argumente wurden nicht konkret benannt, dennoch müsse man „den Zünder aus einer polarisierenden und lähmenden Programmdebatte" herausdrehen. Ursache für Meinungsverschiedenheiten seien „gezielte Aktionen von außen", angestrebte „Richtungskämpfe", „Säuberungen" und Zuspitzungen würden eine „brandgefährliche Situation" schaffen. Der alte Parteivorstand entfernte in dieser Logik insbesondere Mitglieder aus Berlin und Hamburg von seinem Vorschlag für das neuzuwählende Gremium. Die ansonsten vom Parteivorstand gescholtene Tageszeitung „Junge Welt" assistierte mit der Einschätzung, daß „während wohl der größte Teil der Parteimitglieder dem Vorsitzenden folgt, ... die Kritiker vor allem in Ostdeutschland, Berlin, Hamburg, in Ruhr-Westfalen und bei der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) zu finden" seien. Die Einschätzung, die auch auf die Reihe von Anträgen verschiedener Parteigliederungen verweist, die sich ablehnend mit Vorschlägen des Parteivorstandes befassen, vernachlässigt jedoch, daß in der inhaltlichen Auseinandersetzung und Diskussion in allen Organisationsgliederungen der DKP kritische und ablehnende Haltungen zur Linie des Parteivorstandes zu finden sind. Eine Einschätzung, die sich auch anhand von Äußerungen von Führungsmitgliedern des Parteivorstandes zeigt, die vor der Verfestigung von „Strömungen" in der Partei warnten.

Die traditionell zu Beginn des Parteitages stattfindende, allgemeine Aussprache mit lebendigen und teilweise lebhaften Beiträgen im Anschluß an das Referat des Parteivorsitzenden wurde im wesentlichen von praktischen Erfahrungen und Arbeitsvorhaben beherrscht. Schwerpunkte waren die Themen Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Kommunalarbeit, Bündnis- und Aktionseinheitspolitik. Die Beiträge der Delegierten zeigten die Verankerung der Mitgliedschaft in den Gewerkschaften, der Betriebstätigkeit und der kommunalen Politik. Sehr beachtenswert waren die Beiträge von jugendlichen Delegierten aus SDAJ und AMS–Erfahrungen auch zur Stärkung der Organisation, die im Referat des Vorsitzenden kaum Beachtung finden. Mehrfach wurde über die hier in den letzten zwei Jahren erreichten Erfolge berichtet.

Eine wirkliche Diskussion über die Entwicklung der Partei, ihre Aufgaben anhand einer konkreten Kräfteeinschätzung oder die Grundlinien des inhaltlichen Meinungsstreites konnte auf der Grundlage des nicht zum ersten mal sehr allgemein und aufzählend gehaltenen Referates des Vorsitzenden nur schleppend geführt werden. Es war das Verdienst der Genossen Hans Heinz Holz und Patrick Köbele sowie des Bezirksvorsitzenden aus Hessen, Michael Beltz, daß am Samstag doch noch inhaltliche Streitfragen benannt wurden und diskutiert werden konnten. Durch diese und weitere Beiträge an beiden Tagen des Parteitages wurden die inhaltlichen Streitpunkte benannt und damit auch den nebulösen Darstellungen der Parteiführung über die Kontroversen entgegen gestellt.

Der im Vorfeld in seinen Aussagen durch Führungsmitglieder der Partei scharf angegriffene Hans Heinz Holz kritisierte den Erarbeitungsprozeß für ein neues Parteiprogramm und die Mißachtung des Beschlusses des 16. Parteitages durch den Parteivorstand u.a. mit den Worten: „Gerade im Aushalten und Austragen von Widersprüchen erweist sich die Partei als lebendig, als attraktiv und als richtungsweisend für andere - und erweist sich die materialistische Dialektik als fruchtbar. Was geschieht statt dessen? Argumente werden nicht als Ratschlag und Diskussionsbeitrag aufgenommen, sondern als Opposition bekämpft. Was der Perspektive, die gerade die einiger Sekretariatsmitglieder ist, nicht entspricht, wird verketzert, an den Rand gedrängt, ausgegrenzt". Anträge zur Tagesordnung für die Aufnahme einer Diskussion über das Parteiprogramm, sowie zur Aussprache über den Bericht der Autorengruppe, die einen neuen Entwurf erarbeitet hat, wurden auf Initiative des Parteivorstandes zu Beginn des Parteitages bereits abgelehnt".

Patrick Köbele, Vorsitzender des mitgliederstärksten Bezirks der DKP, begründete in einem Beitrag die grundlegende inhaltliche Kritik an der vorgelegten „Politischen Erklärung" und legte dar, daß diese in dieser Form nicht zustimmungsfähig sei. Das vorgelegte Papier, dessen erster Entwurf im Vorfeld des Parteitages auf erhebliche Widerstände gestoßen war und dessen zweite Entwurfsfassung (in den Grundaussagen unverändert) auf dem Parteitag diskutiert wurde, fixiere voreilig wesentliche programmatische Aussagen, die in der Partei noch weitgehend umstritten seien. Dies beträfe vor allem die Analyse des Imperialismus, Aussagen zu Sozialismusvorstellungen und der Bewertung der bisherigen sozialistischen Staaten, Aussagen zum Verhältnis Partei - Arbeiterklasse – Gewerkschaft - Bewegungen, allgemein der Bündnis- und Aktionseinheitspolitik, sowie der Beschreibung von Charakter und Aufgaben der Partei. Insbesondere der Teil zur Beschreibung der sozialen und politischen Wirklichkeit des Kapitalismus in Deutschland sei ungenügend, auch im Vergleich zur Beschreibung internationaler Prozesse. Nicht nur der Beifall zu den Redebeiträgen, sondern viele Anträge von Parteigliederungen zur Veränderung, Ablehnung oder Nichtbefassung der „Politischen Erklärung" zeigten, daß große Teile der Mitgliedschaft die inhaltliche Kritik teilen. So ist die letztliche Zustimmung des Parteitages mit ca. 70% der Stimmen zu diesem Dokument weniger der Unterstützung der Inhalte der Parteivorstandsmehrheit geschuldet denn der Sorge darum, der Parteitag stünde wie zwei Jahr zuvor ohne zentrales Dokument da und würde sich nach außen hin als blockiert in der Politikentwicklung darstellen.

Das hohe Verantwortungsbewußtsein der Delegierten zeigten auch die Personaldebatte und die Wahlen zum neuen Parteivorstand. Wie von Delegierten zu erfahren war, wurde die Herangehensweise des Sekretariats des Parteivorstands in zwei wesentlichen Punkten zurückgewiesen. In der Diskussion um die Wahl des Vorsitzenden und seiner Stellvertreter kam es zu einer über halbstündigen Debatte um die Person Heinz Stehr, in dem ihm wiederholt die Bereitschaft abgesprochen wurde, die bisherigen und anstehenden Diskussionen über die Ausrichtung der Politik der Partei solidarisch und konstruktiv zu organisieren. Die Wahl von H. Stehr (72%), N. Hager (66%) und R. Priemer (80%) ist ein deutliches Zeichen dieser Unzufriedenheit, zumal die Zahl der Nein-Stimmen jeweils sehr hoch war. Gegen den Willen der Parteiführung wurde dann die Größe des neuzuwählenden Parteivorstandes auf 40 Genossen erhöht. Die anschließende Diskussion wurde geprägt durch Beiträge, die ihr Unverständnis mit dem vorliegenden Personalvorschlag äußerten und weitere Genossen vorschlugen. Im Ergebnis der Wahlen läßt sich festhalten, daß erheblich mehr zur bisherigen Linie des Sekretariates kritische Genossen gewählt wurden. Die Delegierten und damit die Mehrheit in der DKP legen offenbar starken Wert darauf, daß in allen Leitungsgremien der Partei unterschiedliche Positionen diskutiert werden können, damit die Politik von den entsprechenden Genossen mitbestimmt werden kann.

Zum Ende des Parteitages beschlossen die Delegierten einen Antrag der Internationalen Kommission gegen die US-Besatzungspolitik im Irak. Ein Kompromißpapier, das die Solidarität mit dem Widerstand gegen die Besatzung ausdrücklich für legitim erklärt, „Schluß mit der Besatzung" und „Freie Selbstbestimmung des Irak" fordert, sich jedoch nicht von der Haltung der IKP abgrenzt. Diesem Antrag gaben die Delegierten ebenso die Mehrheit, wie sie einen, auf Initiative des Bundeskassierers zustande gekommenen Antrag auf Erhöhung der Beitragsanteile des Parteivorstandes um 25% zu Lasten der Bezirke und Kreise ablehnten.

Den Abschluß des Parteitages bildete ein Bericht der stellv. Parteivorsitzenden zur Arbeit der Autorengruppe für einen Entwurf eines Parteiprogramms. Eine Aussprache hierzu sollte es nicht geben. Es liegt den Mitgliedern des neuen Parteivorstandes dieser Entwurf vor, der auf der ersten Sitzung am 5./ 6. März beraten und zur Diskussion in die Partei gegeben werden soll. Die Organisierung der Diskussion durch den Parteivorstand wird zeigen, ob die Führung der Partei zu einer demokratischen Auseinandersetzung bereit ist und auf ihre bisherige Haltung des inhaltlichen Verwischens einerseits und der Zuspitzung in der Administration andererseits verzichtet. Der Parteitag hat gezeigt, daß die Mehrheit der Delegierten und auch die Mehrheit der Partei eine inhaltlich qualifizierte, transparent organisierte und in sachlicher Weise auch kontrovers geführte Diskussion wünschen, in der die oppositionellen Meinungen und die sie vertretenden Personen gleichberechtigt auftreten können.


Nach dem 17 Parteitg der DKP

von Hans-Günter Szalkiewicz

Entnommen aus Anstoß, März 2005. S. 3

Das, was zu tun war, ist getan worden. Die 167 Delegierten der 4.454 Mitglieder zählenden Partei haben am 12. Und 13. Februar in Duisburg (im äußersten Westen des Landes) den statuarischen Verpflichtungen entsprechend nach den Berichterstattungen die Leitungsorgane gewählt, ein umstrittenes Grundsatzdokument, die „Politische Erklärung" mit großer Mehrheit beschlossen und eine Erklärung „Schluß mit der imperialistischen Besatzung - Für freie Selbstbestimmung des Irak" verabschiedet, deren Endfassung nicht ganz dem entsprach, was Heinz Stehr mit anderen Mitgliedern den Delegierten als Entwurf vorgelegt hatte.

Der vom Parteivorstand gestellte Antrag „Arbeitsvorhaben der DKP für die Jahre 2005/2006 (Handlungsorientierung)" wurde unter anderem aus Zeitgründen nicht behandelt und an den Parteivorstand zurückverwiesen.

Die „Politische Erklärung", deren erster Entwurf im Vorfeld des Parteitages auf einigen Widerstand in der Partei gestoßen war und deren zweite Entwurfsfassung (in den Grundaussagen unverändert) auf dem Parteitag kontrovers diskutiert wurde, fixiert programmatische Positionen der Parteiführung. Das betrifft insbesondere die Imperialismusanalyse und das Verhältnis Partei - Gewerkschaft - Bewegungen. Die Mehrzahl der Delegierten hat damit die Vorgehensweise des Parteivorstands akzeptiert, den Beschluß des vorhergehenden, 16., Parteitags nicht zu realisieren, die Diskussion um ein neues Parteiprogramm zu vertagen und die dadurch entstehende „Lücke" mit der „Politischen Erklärung" auszufüllen.

Nicht wenige Mitglieder des Partei leben dabei mit dem Credo „Laßt uns jetzt handeln und später diskutieren". Die aktuelle gesellschaftliche Situation bestimme die praktische Politik und ein Parteiprogramm sei doch mehr eine „theoretische Sache". Es aufzuschreiben sei schon deshalb schwierig, weil die politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse sich in einem schnellen Tempo verändern.

Diejenigen, die mit der Programmdebatte die Klärung von politisch-ideologischen Positionen der Partei als Grundlage für ihre praktische Tätigkeit seit langem fordern und dazu argumentieren, haben nach dem Parteitag noch größere „Chancen" in der Rolle als „Störenfriede" festgeschrieben zu werden.

Genosse Hans Heinz Holz sah sich veranlaßt, den Delegierten zu sagen: „Gerade im Aushalten und Austragen von Widersprüchen erweist sich die Partei als lebendig, als attraktiv und als richtungsweisend für andere - und erweist sich die materialistische Dialektik als fruchtbar. Was geschieht statt dessen? Argumente werden nicht als Ratschlag und Diskussionsbeitrag aufgenommen, sondern als Opposition bekämpft. Was der Perspektive, die gerade die einiger Sekretariatsmitglieder ist, nicht entspricht, wird verketzert, an den Rand gedrängt, ausgegrenzt."

Nachdem Holz vor dem Parteitag in der Öffentlichkeit von zwei Richtungen in der Partei gesprochen hatte, sahen der Vorsitzende und seine Stellvertreter (auch noch vor dem Parteitag und auch öffentlich) die Notwendigkeit, „den Zünder aus einer polarisierenden und lähmenden Programmdebatte herauszudrehen" und die Gefahr von „Reinigungsprozessen", „Säuberungen" und von Putschversuchen der Kritiker gegen die Parteiführung.

Die zwei Richtungen unterschieden sich somit nicht nur durch jeweilige Positionen zur Politik und zum Selbstverständnis der Partei, sondern auch durch die Methoden, mit denen Differenzen in der Partei bewältigt werden sollen.

Das kennzeichnet die Ausgangsposition zu Beginn der jetzt in Aussicht gestellten Diskussion des Entwurfs für ein neues Parteiprogramm, der von einer Autorengruppe ausgearbeitet worden ist. Wie die stellvertretende Parteivorsitzende auf dem Parteitag erklärte, wird der sich auf der ersten Tagung am 5. und 6. März konstituierende Parteivorstand damit befassen und ihn nach einer kurzen Überarbeitungsphase veröffentlichen.

Und so stellt sich erneut die Frage, ob es gelingt, in qualifizierter Weise, das heißt mit Argumenten, die für alle Mitglieder in ihrer Substanz erfassbar sind, über die Standpunkte zu diskutieren, die zu den wesentlichen Merkmalen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation, zum Charakter der Partei und zu den Grundzügen ihrer Politik bestehen.


 

Wider die Islamophobie

Ein Brief des Jüdischen Kulturvereins Berlin e.V.

Zunehmend scheinen Antisemitismus und Islamophobie zwei Seiten jener Medaille zu sein, in die stereotypes Handeln und neues Unverständnis mit großen Lettern eingraviert sind. Es gibt keine rational nachvollziehbare Erklärung für die aktuelle Hysterie, die gezielt und ohne Rücksicht auf Verluste gegen Muslima und Muslime aller Länder, Sprachen, kultureller und sozialer Identität geschürt wird.

Wer so zündelt, riskiert eine Feuersbrunst. Wir wollen das nicht!

Was treibt Mächtige in der Politik, was veranlaßt manche Medien zu einer Kampagne, an deren Ende es nur Verlierer geben wird? Was nährt das Zerrbild vom Nachbarn?

Unübersehbar, und das ist unseres Erachtens das Grundübel, benachteiligen soziale Verhältnisse die geduldeten wie hier beheimateten Mitglieder der muslimischen Gemeinschaften und jene, die von Außenstehenden dafür gehalten werden. Dumpf und zerstörerisch wird eine Islam-Feindschaft hoffähig geredet und der Irrweg in einen Anti-Islamismus geebnet.

Wir erinnern daran, wann und wie aus religiöser oder ökonomischer Judenfeindschaft mörderischer Antisemitismus geworden ist. Das macht uns mißtrauisch gegen jede selbstgefällige Polemik, die den Islam und mit ihm die gesamte muslimische Gemeinschaft zur verdeckt sprudelnden Quelle jenes brutalen extremistischen Terrors erklärt, der gerade auch gegen unser Volk gerichtet ist. Gegen diesen haben wir uns auch mit Muslimen verbündet.

Jahrzehnte sind ohne ein erkennbares gesellschaftliches Interesse an anderen Lebenswelten verstrichen. Der Dialog im Neben- und Miteinander setzt wissenden und gespürten Respekt voraus. Wir bedauern zutiefst, daß die EU auch mit Deutschlands Stimme nicht dem Vorschlag Spaniens gefolgt ist, den Erwerb von Kenntnissen über die Kulturen der Welt bei der Integration ihrer Vertreter in den jeweiligen europäischen Provinzen für unentbehrlich anzusehen.

Es geht nicht (?) um den Islam in Deutschland. Es muß an die Aufklärung angeknüpft werden. Lessing hat durch seinen weisen Nathan ein deutsches Leitbild der Toleranz geschaffen, auf das wir stolz sein können.

Berlin, 19.November 2004

Für den Jüdischen Kulturverein Berlin e.V.: Dr. Irene Runge, 1. Vorsitzende, Ralf Bachmann, Vorstandsmitglied; Igor Chalmiev, Intergrationsbeauftragter.

Entnommen aus: Politische Berichte Nr. 25 / 04, S. 20


 

Erschreckende Parallelen

von Hanfried Müller

Erinnert sich noch jemand an den Nazi-Propagandafilm „Ich klage an"?

Die Fabel dieses Filmes ist schnell erzählt: Eine an multipler Sklerose erkrankte Frau - immer mehr in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt, im übrigen aber bei klarem Bewußtsein und schmerzfrei - verliert die Freude am Leben. Sie bittet ihren Mann, mit dem sie in herzlicher Liebe verbunden ist, sie von ihrem Leiden zu erlösen, das heißt: sie auf ihren ausdrücklichen Wunsch zu töten! Der Mann tut es im Bewußtsein, sich nach geltendem Recht strafbar zu machen.

Als darum Angeklagter wird er zum Ankläger, nämlich einer Justiz, die ihm verbietet, zu tun, wozu ihn seine Liebe getrieben hat! Sentimental gedreht - und verführerisch.

Der Film verfolgte eine Absicht: Durch nur allzu menschliches Mitleid, erweckt durch die Konzentration auf den Einzelfall, sollten die Zuschauer bewegt werden, etwas Unmenschliches gut zu heißen, nämlich das, was die Nazis „Euthanasie" nannten. Darum wurde der Film vielen Schülern meines Jahrgangs gezeigt und im Unterricht diskutiert, um Akzeptanz für die „Vernichtung lebensunwerten Lebens" zu schaffen.

*

Ist es absurd, daß ich mich daran erinnere, wenn sich heute mit dem (völlig legitimen) Prozeß gegen den Polizei-Vizepräsidenten Daschner, der in einem Gewissenskonflikt, um ein entführtes Kind zu retten, mit Folter gedroht hatte, eine Pro-Folter-Agitation verbindet?

Damals gehörte ich im Einflußbereich der Bekennenden Kirche zu der Minorität, die auf den Film „Ich klage an" (gelinde gesagt) in der Haltung reagierten: „Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt!"

Und eben so reagiere ich heute auf die Presseresonanz zum Fall Gäfgen/Daschner.

Wie die Beihilfe zur Selbstötung im Nazifilm ergibt sich die Folterdrohung im Fall Daschner aus einer Konfliktsituation, die nur durch Übertretung eines wohl begründeten gesetzlichen Verbotes lösbar scheint. Solch konkretes Dilemma zwischen Moral und Recht im Einzelfall ist in der Allgemeingültigkeit eines Gesetzes gerade nicht generell zu fassen; darum wird solch Gewissenskonflikt in vernünftigen strafrechtlichen Regelungen so behandelt, daß einerseits Verbot und Strafbarkeit der Tat gerichtlich festgestellt, andererseits aber aus gutem Grund die gesetzlich vorgesehene Strafe gemildert, eventuell sogar von einer Bestrafung des Täters abgesehen werden kann.

Insoweit erscheint mir das Urteil im Falle Daschner gerecht. Noch sauberer wäre der Fall gewesen, hätte Daschner, wegen der auf seine Weisung angedrohten Folterdrohung Anzeige gegen sich selbst erstattet und sein Amt von sich aus ruhen lassen. Jedenfalls aber führt der Gewissenskonflikt, ein Kind nur retten zu können, wenn man sich selbst strafbar macht, zu einer Art übergesetzlichen Notstandes, der als exzeptioneller Ausnahmefall niemals gesetzlich zu verallgemeinern ist, ebenso wenig wie die Tötung auf Verlangen in jenem Nazifilm.

Genau um diese Verallgemeinerung ging es aber den Nazis, die mit ihrem Film „Ich klage an!" die Volksstimmung für die „Vernichtung unwerten Lebens" reif machen wollten. Und genau um diese Verallgemeinerung geht es in der imperialistischen Presse, die mit dem „Fall Daschner" die Volksstimmung für die Erlaubnis der Folter reif machen möchte.

So wie man die wahre Absicht des Films „Ich klage an" damals dem „Stürmer" und dem „Schwarzen Corps" im Klartext entnehmen konnte, so - wie üblich in vergleichbarem Stil - der Bild-Zeitung, was man mit der Popularisierung des Falles Daschner beabsichtigt:

„Das Frankfurter Landgericht hat den frühen Polizeivizepräsidenten Wolfgang Daschner ... verurteilt. Die verhängten Strafen wurden ausgesetzt. / Im Namen des Volkes wurde das Urteil nicht gesprochen. Die Deutschen wollen, daß die Polizei das Leben der Opfer rettet. Opferschutz geht vor Täterschutz. / Das Frankfurter Fehlurteil verhindert das richtige Vorgehen der Polizei. Die Konsequenz ist: Wenn wieder ein Kind entführt wird, darf die Polizei dem Täter keine Gewalt androhen, um den Aufenthaltsort des Kindes zu erfahren. .../ Scheinbare juristische Korrektheit hilft in diesem Fall nicht weiter. Das Urteil verlangt nach einer Revision. Es darf keinen Bestand haben ...". (Hervorhebung - H.M.)

Das Schlimmste aber an diesen Sätze ist, daß sie nicht einmal von einem der mangelhaft „entnazifizierten" Bild-Journalisten stammen, sondern von Oskar Lafontaine, einem Politiker, den man bislang, wenn nicht gar für links, so doch zumindest allgemein für zivilisiert hielt. Wie weit sind wir gekommen, wenn sogar solch ein Mann so schreibt, als solle das Folterverbot nur solange gelten, wie es keinen Anlaß zur Folter gäbe.

Aber nicht einmal damit genug. Fast gleichzeitig erschien im „Tagesspiegel" der Leserbrief eines Richters am Berliner Amtsgericht, eines Mannes also, der von Berufs wegen Sensibilität für Recht und Gesetz zeigen sollte. Er liefert die unsägliche Argumentation, der zur Offenbarung des Verstecks seines Opfers durch Folterdrohung gezwungene Täter sei ein „Unmensch, ein Nichtmensch, und damit eine ‘Niemand’" und folgert hemmungslos demagogisch: „und ‘Niemand’ darf bekanntlich der Folter unterzogen werden".

Die Verwirrung wird dadurch komplett, daß diejenigen, die mit Recht darüber erschrecken, daß hier unter Ausnutzung eines Gewissenskonflikts das Folterverbot gelockert werden soll, meinen, ihre wohl begründete Haltung nur vertreten zu können, indem sie sich auf die unmögliche Alternative einlassen: entweder das Kind zu retten oder das Folterverbot aufrecht zu erhalten. Damit setzten sie sich dem Schein aus, ihnen gelte ein totes Gesetz mehr als das Leben eines Kindes.

In diesem Sinne mißverständlich schreiben die „Politischen Berichten" (Nr. 1, 2005 S. 19): „Zum Glück gibt es auch andere Stimmungen. Mehrere große und wichtige Menschenrechtsorganisationen ... haben ... das Urteil gegen Daschner aus umgekehrter Sicht kritisiert. Sie kritisieren die geringe Strafe und fürchten, daß damit das im Grundgesetz formulierte absolute Folterverbot weiter geschwächt und gefährdet wird."

Diese Gefahr ist tatsächlich höchst akut. Sie geht aber, meine ich, nicht von den gerechten und besonnenen Urteil im Fall Daschner aus, sondern von der skandalösen Art, wie der Fall Daschner in der Bundesrepublik publizistisch behandelt wird. Da gibt es Zeugnisse über Zeugnisse der „Volksstimme", die alle in die Richtung gehen, „zum guten Zweck" sei die Folter doch eigentlich zu erlauben.

Angesichts dessen, daß in erschreckendem Maße gegenüber verdächtigten Ausländern und erst recht gegenüber vermuteten „Terroristen" breite Massen von Bildzeitungskonsumenten an die Möglichkeit und dann die Wirklichkeit von Folter gewöhnt werden bis dahin, daß auch an anderen Stellen auf einmal in aller Form erhebliche Straftaten wie z.B. der Abschuß von Zivilflugzeugen beim Verdacht, sie würden als Terrorinstrumente mißbraucht, durch Gesetz legalisiert werden, habe ich den Eindruck, daß die publizistische Behandlung des Falles Daschner ein gefährliches politisches Ziel verfolgt. Denn so viel Publizität hat von den erschreckend zahlreichen bekannt gewordenen Fällen von Polizei-Folter-Delikten kein anderes gefunden.

Warum? Weil kein anderes so geeignet erschien, die Hemmschwelle des naiv gerecht denkenden Bürgers gegen jede Art von Folter zu durchbrechen wie die Lebensrettung eines entführten Kindes?

Steht hinter der publizistischen Behandlung des Falles Daschner in der Bundesrepublik Deutschland das gleiche propagandistische Kalkül wie hinter dem Goebbels-Film „Ich klage an"? Nämlich das Kalkül, menschliche Gefühle an einem Einzelfall so zu mobilisieren, daß sie benutzbar werden für eine allgemeingültige Gesetzgebung verbrecherischer Art - damals der Legalisierung des Mordes als „Euthanasie", heute der Legalisierung der Folter als Mittel zur Lebensrettung bedrohter Kinder?


 

Literaturhinweise

Klaus Eichner, Ernst Langrock,

Der Drahtzieher. Vernon Walters - Ein Geheimdienstgeneral des Kalten Krieges *

Das Buch ist eine Gemeinschaftsarbeit. Ernst Langrock, von Hause aus Naturwissenschaftler, wurde auf die Rolle nicht nur des US-amerikanischen Geheimdienstes, sondern speziell Vernon Walters durch das Buch "Das RAF-Symptom" von Wisnewski, Landgraeber und Sieker aufmerksam, die die Rolle der RAF bei der Ermordung von Herrhausen und Rohwedder in Frage stellten. Als Mitglied der Redaktionskommission der Reihe "Spurensicherung" lernte Langrock Klaus Eichner kennen, der seit 1974 In der HVA des MfS tätig gewesen und seit 1987 bis zu dessen Auflösung Leiter des Bereichs Auswertung/Analyse der Abt. IX (Gegenspionage) war. Langrock gelang es, Eichner der ja aus der Zeit vor 1990 genügend Material kannte, für das Thema Vernon Walters zu interessieren. So entstand dieses Buch.

Ziel war es herauszustellen, "was für ein US-amerikanischer Experte der Destruktion und Infiltration die Fäden an einem der schicksalssträchtigsten Vorgänge von Bonn aus zog" (S. 14 f.) Denn Vernon Walters war vom Präsidenten der USA mit den Worten "Dort wird es um das Ganze gehen", gebeten worden, ab April 1989 als Botschafter der USA in Bonn zur Verfügung zu stehen. Dieser Präsident aber war George W. Bush, der frühere CIA-Direktor. Und Vernon Walters war von 1972-76 stellvertretender Direktor eben dieses us-amerikanischen Geheimdienstes, inzwischen eigentlich bereits im Ruhestand. Aber Anfang 1989 definierte er die ihm zugedachte Rolle selbst zutreffend: "Ich werde nicht geschickt, wenn ein Erfolg wahrscheinlich ist. Eine meiner Hauptaufgaben ist es, die Letzte Ölung zu geben, kurz bevor der Patient stirbt." (S.19)

Das Buch stellt ausführlich die Rolle dar, die Walters, stets persönlich anwesend, bei der Vorbereitung jeder, aber auch wirklich jeder Konterrevolution auf der ganzen Welt spielte: sei es der Sturz Mossadeghs im Iran 1953, die Beseitigung Goularts in Brasilien 1964, der Sturz und die Ermordung Allendes in Chile1973, die Liquidierung der "Nelkenrevolution" in Portugal 1974, der Aufbau konterrevolutionärer Kräfte in Angola 1975, die Hilfe für die Reaktion in Guatemala 1981/85, die Unterstützung der Contras in Nikaragua ab 1981 oder die höchstpersönliche Beratung von Papst Woytila zugunsten der Solidarnosc ab 1980, bis er 1985-1988 UNO-Botschafter der USA wurde.

Und nun fragen die Autoren mit vollem Recht: "Allein der Einsatz des Geheimdienst-Generals mit über dreißig Jahren Fronterfahrung bei der weltweiten Durchsetzung der amerikanischen Interventionspolitik, Vernon Walters, als Botschafter in Bonn, hätte in der Führung der KPdSU und des KGB die Alarmglocken schrillen lassen müssen." (S. 165)

Aber, fragt sich der Leser, warum nur in der Führung der KPdSU und des KGB, warum nicht in der Führung der SED und des MfS? Kein Ton darüber. Stattdessen eine wenig befriedigende Analyse der DDR-Niederlage: "Die USA haben seit 1945 immer wieder versucht, die 'Satelliten' der Sowjetunion herauszubrechen, innere Unruhen zu erzeugen oder zu nutzen, nationale und religiöse Gefühle zu verstärken, wirtschaftlichen Druck auszuüben, also das ganze Programm der psychologischen Kriegführung und subversiver Aktivitäten abzuspulen: Das ist ihnen über Jahrzehnte hin nicht oder nur in Ansätzen gelungen - aber auf einmal funktioniert diese Strategie und führt zum Kollaps des realsozialistiuaschen Systems in Europa: Die Strategie war nicht neu und auch nicht besonders originell, die Akteure waren auf westlicher Seite oftmals noch die gleichen bzw. mit der gleichen Denkart ausgestattet. Das gehört zu den Fragen über die Ursachen des Zusammenbruchs des Realsozialismus in Europa. Unsere Recherchen zeigen im historischen Abriß die gewaltigen Anstrengungen der imperialistischen Seite, ihre Ziele durchzusetzen. Wir sind aber nicht so lebensfremd, daß wir diese Aktionen als die alleinigen, nicht einmal als die bedeutenderen Ursachen des Scheiterns des Sozialismus in Europa ansehen. Die Zuspitzung der Widersprüche im Inneren der Sowjetunion und der anderen RGW-Staaaten öffneten die Einfallstore für die westliche ‘Grand Strategy’ Die Verschärfung der inneren Widersprüche wurde sowohl durch das halsstarrige Festhalten der alten Parteibürokraten an alten und falschen Methoden begünstigt, aber ebenso durch die inkonsequenten Vorstellungen der 'Reformer', die meist nur mit pragmatischen Ansätzen ohne eine durchdachte Strategie und Bewertung der Folgen in der Innen- und Außenpolitik agierten. Das öffnete zudem auch jenen Kräften in der Führung dieser Länder den Weg, die sehr schnell ihre Chance in der bedingungslosen Durchsetzung der westlichen Interessen sahen." (S181 f.)

War da nicht Condolezza Rice, inzwischen Außenministerin der USA, doch besser informiert? Sie schrieb 1997: "Westliche Beobachter hatten seit langem vermutet oder gespürt, daß viele Ostdeutsche das Regime verachteten oder haßten. Aber diese Verbitterung schien in passive, zynische Resignation umgeschlagen zu sein. Offen kritisch trat nur eine winzige Minderheit auf: Vertreter einer Gegenkultur aus Friedens-, Frauen- und Ökologiegruppen, ein paar Figuren des literarischen Establishments und eine handvoll kritischer marxistischer Intellektueller. Einen gewissen Schutz für ihre Aktivitäten fanden sie in der evangelischen Kirche, die sich eine stets gefährdete Unabhängigkeit von direkter staatlicher Kontrolle bewahrt hatte. Die Dissidenten blieben jedoch eine Randerscheinung der ostdeutschen Gesellschaft. ....Wenn es eine Bedrohung des Regimes in Ost-Berlin gab, dann kam sie von reformerischen Kräften innerhalb der SED." *

Die Verfasser wollen jedoch anscheinend die Frage "Scheitern der DDR" oder "Konterrevolution" offenlassen. Schade! Denn die politische Biographie Vernon Walters beantwortet sie ja doch wohl höchst eindeutig. Hervorzuheben ist übrigens, daß das Buch durch die klare Unterscheidung von Zitat und Begleittext ungewöhnlich gut lesbar ist. R. M.-ST.


 

2. Heft 23 von Topos

Alle zwölf Beiträge in dem jüngsten Topos-Heft sind der Erinnerung an Peter Hacks gewidmet. Die Autoren: Heidi Urbahn de Jauregui, Alfredo Bauer, Jens Mehrle, Johannes Oehme, Georg Fülberth, Volker Riedel, Arnold Schölzel, Gisela Steineckert, Eberhard Esche, Hans Heinz Holz und Kurt Gossweiler und „Aus den Archiven" je ein Brief von Peter Hacks an Wolfgang Harich und Johannes Oehme und ein Essay von Peter Schütze „Über die Bedeutung von Hack’s Stücken.

Im Editorial zu dem lesenswerten, alles andere als eintönigen Bändchen heißt es, darin gewiß die Einmütigkeit aller Autoren zum Ausdruck bringend: „Die Bewegung unserer Zeit, auf den Begriff gebracht, ist der Fortgang auf dem Weg zum Sozialismus - trotz aller Hemmnisse und Niederlagen. Daran hat Hacks auch in den Jahren nach 1990 nicht gezweifelt! Von Goethe sagte er: ‘Hatte er seinerzeit lernen müssen, in einer Welt von wenig Hoffnung zu leben, lebte er jetzt mit einer Hoffnung ohne Welt’. Das galt für die Wende von 1800. Der hoffnungslose Zustand der deutschen Misere war in die Utopie der französischen Revolution umgeschlagen; deren Hoffnungsgehalt, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hatte in der kapitalistischen Welt keinen Platz gefunden, war aber nicht vergangen. Denn ‘Nie erscheint eine Krise so ausweglos wie am Vorabend des Aufschwungs’. In dieser Lage ist Peter Hack’s ‘letztes Wort’, schon mehr als zwanzig Jahre vor seinem Tode ausgesprochen: ‘wenn der Dichter überhaupt nichts mehr zu wirken hat, wirkt er Wunder’. Das Wirken seiner Dichtung wirkt über ihn hinaus".


Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch. (Bertolt Brecht)

Einladung

zu einer festlichen Veranstaltung anläßlich des 60. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus

Samstag, dem 7. Mai 2005, 14 Uhr, Audimax der Humboldt-Universität

Berlin Mitte, Unter den Linden 6

Begrüßung durch Prof. Wolfgang Richter (GBM)

Eröffnung der Veranstaltung durch Dr. Hans Modrow (PDS)

Musikalische Eröffnung durch das Ensemble Skripchenko

Es sprechen Prof. Dr. Moritz Mebel,

Kriegsveteranen der Sowjetunion u. a.

Die Veranstaltung wird von einem Kulturprogramm eröffnet.

Zum Abschluß zeigen wir den Film „Das Jahr 1945" von Karl Gass.

Kartenbestellungen zum Preis von 8 (erm. 5 ) Euro können in der Geschäftsstelle Weitlingstr. 89 in Berlin-Lichtenberg

persönlich, schriftlich oder telefonisch aufgegeben werden (Tel.-Nr. 557 83 97) -E-Mail: gbmev@ t-online de

Veranstalter: GBM (Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e.V.) PDS

Mitveranstalter: u.a. DKP Deutsche Kommunistische Partei, OKV (Ostdeutsches Kuratorium von

Verbänden), GRH Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung,

epf Europäisches Friedensforum, Förderverein Rot-Fuchs, Zentralkomitee der KPD

Unterstützer: Die Tageszeitung junge Welt Cuba sí


 

Weißenseer Blätter

Verlag und v.i.S.d.P. Hanfried Müller, Ehrlichstraße 75- D - 10318 Berlin

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