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Herausgegeben
im Auftrag des Weißenseer Arbeitskreises _____________________________________________________________________
Aus dem Inhalt 2 / 2006
Ein Brief der Konferenz US-amerikanischer Kirchen an die 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen Zur Karrikaturenprovokation - Da kann einem Hören uns Sehen vergehen / Carl-Jürgen Kaltenborn Gott und Welt. - Karl Barth und die Dialektik der christlichen Philosophie / Hans Heinz Holz Antwort an Rosemarie Müller-Streisand / Peter Franz Zum Disput zwischen Peter Franz und Rosemarie Müller-Streisand / Wolf Dieter Gudopp Ein Leserbrief zu Rosemarie Müller-Streisands Kritik an Peter Franz / Dieter Kraft Theorie und Praxis der nationaldemokratischen Revolution am Beispiel Afghanistans / Matin Baraki Eine Preisfrage. - Wo mag das wohl stehen? Rechtsfragen des Potsdamer Abkommens. Zur Überwindung des Faschismus (Fortsetzung von Heft 1/06, S. 64) / Erich Buchholz _________________________________________________________
Zu diesem HeftZu
diesem Heft An erster Stelle
dokumentieren wir in diesem Heft einen Brief der Konferenz US-amerikanischer
Kirchen an die 9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen und
hoffen, es möchten sich auch in Deutschland endlich wieder bekennende Kirchen
so klar und mutig gegen die unheilige Allianz von religiösen Schwätzern und
faschistoiden Politikern äussern. Dann zeigt Carl-Jürgen Kaltenborn - weit hinausgreifend über den Ärger
mit den Taktlosigkeiten des verkommenden Journalismus - Recht und Grenzen
religionskritischer Satire auf: Zur
Karrikaturenprovokation. Da kann einem Hören und Sehen vergehen. Danach finden sich viele
Beiträge - sowohl zu theologischen wie zu gesellschaftlichen Fragen -, von
denen in besonderer Weise gilt, was wir in der ersten Ausgabe der WBl 1982 „Zu
diesem Heft“ schrieben: „In den Weißenseer
Blättern soll ein Chor von Stimmen laut werden ... aus Kirche und
Welt; die wir kritisch oder zustimmend hören sollten. Nicht mit allem, was
wir veröffentlichen, identifizieren wir uns. Aber wir halten es für gut, es
zur Kenntnis zu nehmen“. Zum Geburtstag Karl
Barths, der sich am 10. Mai zum 120. Male jährt, lassen wir einen
historisch-dialektischen Materialisten zu Wort kommen: Hans
Heinz Holz schreibt über Gott und Welt. Karl Barth und die
Dialektik der christlichen Philosophie. Wer 1946 und 1947 in Bonn studiert
hat, erinnert sich vielleicht noch daran, wie Barth - köstlich humorvoll -
von einem Japaner erzählte, der einst bei ihm ein besonders gutes Referat
gehalten, dazu aber erklärt habe, was er gesagt hätte, glaube er allerdings
nicht. Ob Barth Ähnliches bei dem Aufsatz von Hans Heinz Holz empfunden
hätte? Holz macht Theologie und
Philosophie kommensurabel, indem er die Dogmatik als „christliche
Philosophie“ versteht. Tatsächlich ist im Zuge der „konstantinischen
Wende“ aus christlicher Dogmatik als Durchdenken des geglaubten
Wortes Gottes weitgehend eine dem römischen Weltreich angemessene
religiöse Welt-Anschauung geworden. Allerdings halten Christen sie
nicht für Explikation des Glaubens, sondern für dessen Verleugnung. Diese
Entwicklung aber ermöglicht es Holz, statt über Glauben aufs Wort und
Erkenntnis der Welt über religiöse oder nichtreligiöse
Weltanschauung zu debattieren. Denn daß Christusglauben im Gegensatz zu
jeder Religion im Weltverhältnis Gottes und nicht im Weltverhältnis
von Menschen begründet ist (daß Christen das meinen, sieht Holz
durchaus, hält es aber für religiös-illusionär), ist nur im Glauben
denkbar. Zwar ist das „Durchdenken des Glaubens“ als menschliches
Denken mit allem menschlichen Denken kommensurabel. Aber insofern
es nicht die Wirklichkeit, sondern die Offenbarung des die
Wirklichkeit schaffenden Wortes durchdenkt, ist es mit dem Durchdenken der
Weltwirklichkeit inkommensurabel. Das macht die Schwierigkeit nicht nur
eines sogenannten „christlich-marxistischen“ Dialogs, sondern eines
Dialogs über Glaubens- und Welterkenntnis überhaupt aus. Die Wahrheit Gottes
wird uns gesagt; sie ist ursprünglich monolog, Gott redet, der
Mensch hört. Erst indem er Gottes Wort glaubt, kann es aposteriori
zum „Dialog“ über die geglaubte
Wahrheit kommen. Bezeugt jedoch der eine, er empfange den Glaube als Gottes
Offenbarung, während der andere den Glauben für ein
illusionär-religiöses Weltverständnis hält, wird der Dialog schwierig. Diese Frage müssen wir
im nächsten Heft ausführlich aufnehmen und zugleich das Gespräch mit Peter
Franz weiterführen.
Er möchte, wenn wir seine Antwort an Rosemarie Müller-Streisand recht
verstehen, die Theologie als fides quaerens intellectum, als Durchdenken des
Wortes, dem wir glauben, zu Gunsten reiner Spontaneität sich religiös
begründender Humanität preisgeben. In gewisser Weise knüpft er an
ebionitische (die Gottheit Jesu leugnende) Traditionen an, so wie Holz an
doketische (die Wahrheit der Menschwerdung Gottes leugnende) Traditionen
anknüpft, um ein religiöses und nichtreligiöses Weltverhältnis am
gleichen Maßstab messen zu können. Wo Holz Theologie als „religiöse“
mit nichtreligiöser Weltanschauung er-kenntnistheoretisch vergleichbar
machen möchte, versucht Franz „religiöses“ und nichtreligiöses
Lebensgefühl ethisch kommensurabel zu machen. Auch diese Frage werden
wir ausführlicher aufnehmen und dabei noch einmal unsere Bedenken gegenüber
der „Befreiungstheologie“ genauer erklären müssen. Zunächst lassen wir
schon in diesem Heft Wolf Dieter Gudopp
und Dieter Kraft zu
dieser Kontroverse zu Wort kommen. Für den
gesellschaftswissenschaftlichen Teil des Heftes übernehmen wir diesmal aus
der Festschrift Aus Kirche und Welt den Essay von Matin Baraki
über Theorie und Praxis der nationaldemokratischen Revolution am Beispiel
Afghanistans. Wir vermuten, daß diese sachkundige und differenzierte
Darstellung des revolutionären und konterrevolutionären Prozesses in einem
der am wenigsten entwickelten Länder der Erde für viele unserer Bezieher
ebenso anregend ist wie für uns. Zwar wird sie unter einigen unserer
kommunistischen Leser einen Aufschrei des Entsetzens auslösen: „Mehrparteiensystem“,
„Gewaltenteilung“, „zurück zu Marx und nicht zu Lenin“ ... das wirkt
wahrlich provozierend, und auch wir fragen uns: sollen wir wirklich einen
Schritt zurück gehen? Eher doch wohl vorwärts! Aber Dogmatismus
führt nicht nur in unterentwickelten Ländern nicht weiter und hat in schon
sozialistischen Ländern zu einer Stagnation beigetragen, die es erleichterte,
sie konterrevolutionär zu paralysieren. Von den „Klassikern“ sollten wir
nicht zeitbezogene Lehrsätze, sondern die Methode des Denkens
übernehmen, schon gewonnene Erkenntnisse in weiterer Erkenntnis revidieren
(welch schreckliches Wort, aber es heißt nur: überprüfen!) und so bessere
Erkenntnisse gewinnen. Dazu rücken wir am Ende einen Text mit der Preisfrage:
„Wo mag das wohl stehen?“ ein. Das Heft schließt mit
einer weiteren Fortsetzung der Abhandlung von Erich
Buchholz zu Rechtsfragen des Potsdamer Abkommens. Zur
Überwindung des Faschismus. Zuletzt möchten wir auf
den soeben veröffentlichten Aufruf „Für eine antikapitalistische Linke“
von einer Reihe Europaparlaments-, Bundestags- und Landtagsabgeordneten
hinweisen, die am 28. III. 06 in der jungen Welt gekürzt erschienen
ist und unter www.antikapitalistische-linke.de im Internet eingesehen werden
kann. Nicht zuletzt möchten
wir in diesem Vorwort energisch unserer Empörung darüber Ausdruck geben,
daß das sogenannte „Haager Tribunal“ den Tod von Svobodan Milosewic -
zumindest durch Unterlassung, wenn nicht vorsätzlich durch medikamentöse
Vergiftung - herbeigeführt hat, bevor er, schon in der Befragung der Zeugen
der Anklage zum Ankläger geworden, durch die Vernehmung der von ihm selbst
benannten Zeugen den Prozeß vollends zum Scheitern gebracht hätte. Wir
halten es für einen Skandal und einen Rückfall der Rechtsentwicklung um
Jahrhunderte, daß mitten in Europa Richter und Scharfrichter identisch zu
werden scheinen!
Dokumentation:
Ein Brief der
Konferenz US-amerikanischer Kirchen im
Ökumenischen Rat der Kirchen An die 9.
Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen Porto Alegre, Brasilien Gnade sei mit euch und
Friede vom dreieinigen Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Als Führer der
US-amerikanischen Kirchen, die dem Ökumenischen Rat der Kirchen angehören,
grüßen wir die Delegierten der 9.Vollversammlung mit Freude und Dankbarkeit
für eure Partnerschaft im Evangelium in den Jahren, seit wir zuletzt in
Harare zusammengetroffen sind. In diesen Jahren wart Ihr beständig in eurer
Liebe zu uns. Wir erinnern uns besonders, wie ihr uns voll Mitleid umarmt habt
in den Tagen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und vor wenigen
Monaten bei den Nachwirkungen des Hurrikans Katrina. Eure seelsorgerlichen
Worte, eure Gaben und eure Gebete haben uns unterstützt und uns daran
erinnert, daß wir nicht allein sind, sondern verbunden im Leib Christi zu
einer Gemeinschaft der Ermutigung und des Trostes. Auch jetzt habt ihr uns mit
großer Gastfreundschaft willkommen geheißen. Ihr sollt wissen, daß wir
dafür sehr dankbar sind. Wir gestehen jedoch auch
ein, daß wir Bürger einer Nation sind, die in diesen Jahren viel dafür
getan hat, die menschliche Familie in Gefahr zu bringen und die Schöpfung zu
mißbrauchen. Nach den Terroranschlägen sandtet ihr „lebendige Briefe“,
die uns zu einer tieferen Solidarität mit denen einluden, die täglich
überall in der Welt leiden unter Gewalt. Aber unser Land antwortete darauf,
indem es versuchte, einen privilegierten und sicheren Platz in der Welt in
Anspruch zu nehmen und indem es Terror auf die wirklich Verwundbaren unter
unsern globalen Nachbarn herabschickte. Unsere Führer schenkten den Stimmen
der Kirchenführer kein Gehör, die innerhalb der Nation und in der
Weltöffentlichkeit erklangen; sie ließen sich auf imperialistische Vorhaben
ein, die Dominanz und Kontrolle um unserer nationalen Interessen willen
suchen. Nationen wurden dämonisiert und Gott wurde in den Dienst der
nationalen Agenda gestellt. Das halten wir für Götzendienst. Wir beklagen
mit besonderem Schmerz den Krieg im Irak, der unter Vortäuschung falscher
Tatsachen begonnen wurde und die weltweiten Normen der Gerechtigkeit und der
Menschenrechte verletzt. Wir beklagen alle, die in diesem Krieg getötet oder
verletzt wurden; wir gestehen voller Scham die Mißhandlungen, die in unserem
Namen geschehen sind. Wir bekennen, daß wir unsere prophetische Stimme nicht
laut und ausdauernd genug erhoben haben, um unsere Führer von diesem Weg des
Präventiv-Kriegs abzuhalten. Herr, erbarme dich! Die Flüsse, Ozeane,
Seen, Regenwälder und die Feuchtgebiete, die uns erhalten, selbst die Luft,
die wir atmen, werden unaufhörlich verletzt und die globale Erwärmung bleibt
unbekämpft, während wir es zulassen, daß Gottes Schöpfung auf die
Zerstörung zutreibt. Und doch lehnt es unser eigenes Land ab, seine Mitschuld
anzuerkennen und weist multilaterale Abkommen ab, die diesen zerstörerischen
Trend umkehren wollen. Wir verbrauchen, ohne für ein Nachwachsen zu sorgen.
Wir bemächtigen uns begrenzter Ressourcen, als seien sie Privatbesitz; unser
unkontrollierter Appetit verschlingt mehr und mehr von den Gaben der Erde. Wir
bekennen, daß wir unsere prophetische Stimme nicht laut und ausdauernd genug
erhoben haben, um unsere Nation in die globale Verantwortung für die
Schöpfung zu rufen, und daß wir selber Anteil haben an einer Kultur des
Konsums, die die Erde schädigt. Christus, erbarme dich! Die überwiegende
Mehrheit der Völker der Erde lebt in bitterer Armut. Der Hunger, die
HIV/AIDS-Pandemie, die behandelbaren Krankheiten, die unbehandelt bleiben,
klagen uns an; sie offenbaren uns das schreckliche Gesicht der weltweiten
wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, die wir allzu oft nicht eingestanden haben
und der wir nicht entgegengetreten sind. Unser Land erfreut sich eines enormen
Wohlstands, aber wir klammern uns lieber an unsere Besitztümer statt zu
teilen. Wir haben uns nicht unter den Bund des Lebens gestellt, zu dem uns
unser Gott ruft. Der Hurrikan Katrina zeigte der Welt die Menschen, die unser
Land durch den Bruch des Gesellschaftsvertrags fallen läßt. Wir haben uns
als Nation geweigert, sowohl dem Rassismus entgegenzutreten, der in den
verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft herrscht, als auch dem Rassismus,
der unser politisches Handeln überall in der Welt vergiftet. Wir bekennen,
daß wir unsere prophetische Stimme nicht laut und ausdauernd genug erhoben
haben, um unsere Nation dazu aufzurufen, eine gerechte Wirtschaftsordnung zu
schaffen, so daß keiner Mangel leidet, wenn alle teilen. Im Angesicht der
Armut der Erde spricht unser Wohlstand das Urteil über uns. Herr, erbarme
dich! Schwestern und Brüder
in der ökumenischen Gemeinschaft, wir kommen zu euch in diese Versammlung
voll Dank für die Gastfreundschaft, die wir nicht verdient haben, für eine
Kameradschaft, für die wir nichts eingebracht haben, für eine Umarmung, für
die wir nichts getan haben. Wir kommen zu euch in der Hoffnung, die in
Christus zugesagt ist, und voll Dank für gläubige Menschen in unserem Land,
die unserer Sehnsucht nach Frieden am Leben hielten, und wollen Partner sein
bei der Suche nach Einigkeit und Gerechtigkeit. Von einem Ort
imperialistischer Sirenengesänge kommen wir in Buße zu euch und suchen die
Gnade, die das menschliche Bewußtsein verändern kann, das überdrüssig
geworden ist der Gewalt, der Herabsetzung und der Armut, die unser Land
verursacht hat, die Gnade, die Menschen verändern kann, die schwer mit Schuld
beladen sind, die Gnade, die die Welt verändern kann. Herr, erbarme dich,
Christus, erbarme dich, Herr, erbarme dich. Amen. Übersetzung: Angelika
und Ulrich Krum*
Zur
Karrikaturenprovokation
Da kann einem Hören
uns Sehen vergehen von Carl-Jürgen
Kaltenborn Als Ursache für
Volkszorn in islamischen Ländern gegen dänische Mohammed-Karikaturen,
vermittelt durch Massenmedien, wird genannt: Verletzung religiöser Gefühle
durch Bruch des Bilderverbotes. So tun wir gut daran, die Schlüsselwörter
näher zu betrachten: Volkszorn, Medien, religiöse Gefühle und Bilderverbot. Gottesbilder in
Alt-Israel Beginnen wir mit
letzterem: Welchen Sinn hat das Bilderverbot? Dem Glauben Israels
wohnt in der „Exodusgruppe“ ( jenem Teil des künftigen Volkes, der aus
der Sklaverei Ägyptens ausbricht) von Beginn eine Tendenz zur Bildlosigkeit
inne. Dahinter steckt auch Distan-zierung von der ägyptischen Kultur mit
ihrer ausgeprägten Gottesbild-verehrung. Dennoch kommt es erst ab Ende des 8.
Jahrhunderts v.u.Z., im Kampf des Propheten Hosea gegen Gottesbilder, zur
Formulierung des Bilderverbotes. Bis dahin wurde der Gott Israels auch mit
Bildern und Kultsymbolen verehrt. Das Stierbild von Bethel war allerdings als
Podest gemeint, auf dem Israels Gott unsichtbar stehend vorgestellt wurde.
Doch ist es von diesem Podest bis zur direkten Identifizierung im Volksglauben
nur ein kleiner Schritt. Die an den Sinai projizierte Erzählung vom „Tanz
um das Goldene Kalb“ reflektiert rückschauend die hoseanische
Auseinandersetzung. In der Zeit des Babylonischen Exils wird das Bilderverbot,
verknüpft mit dem Mißbrauchsverbot des göttlichen Namens, auch auf die
häusliche Gottesverehrung und jede bildliche Darstellung im Gottesdienst
angewandt. Christen zwischen
Symbolen und Ikonen Anfänglich halten auch
die Christen am biblischen Bilderverbot fest. Man begnügt sich mit Symbolen
und Allegorien in der Kunst. Doch beim Übergang ins 6. Jahrhundert gewinnt
das Volksbedürfnis nach Greifbarem und Sichtbarem, vor allem im künstlerisch
entwickelten Osten, die Oberhand. Unter hellenistischem Einfluß dringt die
Bilderverehrung vor. Am Ende des ersten Viertels des 8. Jahrhunderts setzt im
byzantinischen Bilderstreit - unter Kaiser Leo III. - eine Gegenbewegung ein,
die 843 mit der Wiederherstellung des Bilderkults und der Einsetzung des „Festes
der Orthodoxie“ abgeschlossen wird. Von der Ablehnung durch
die Theologen am Hofe Karls des Großen, bis zu den Bilderstürmern der
Reformation hält sich jedoch ein ikono-klastisches (bildbekämpfendes)
Element im westlichen Christentum. Bildverbot im Islam Im Koran findet sich
kein direkt ausgesprochenes Bilderverbot. Doch wird – in den Suren 6, 74 ;
21, 52 ff. und 60, 24 – an die
biblische Ablehnung von Gottesbildern angeknüpft. Besonders von letzterer
Stelle aus, wird - unter Bezug auf Allah als dem Schöpfer - in der Tradition
darauf verwiesen, daß es neben dem Schöpfer als Bildner keine andere Instanz
geben darf. Deshalb ist selbstverständlich, daß Allah weder abgebildet
werden kann noch darf. Abbildungen von Menschen sind zwar laut Koran nicht
explizit verboten, doch hat die muslimische Tradition Vorbehalte gegenüber
Bildern von Menschen und anderen Lebewesen. Da aber in nichtarabischen
Kulturen figürliche Darstellungen teilweise auf lange Traditionen
zurückblicken können, finden sich in der spätmittelalterlichen persischen
Malerei auch Darstellungen des Propheten, häufig mit Heiligenschein, immer
jedoch anstelle des Gesichts ein weisser Fleck, oder es ist von einem Schleier
verdeckt. Ähnlich verhält es sich bei den Osmanen und unter den indischen
Moguln. Dies zu erwähnen, heißt zugleich, darauf hinzuweisen, daß an keiner
Stelle von dem Islam geredet werden kann. Den
Islam gibt es so wenig wie es das
Christentum oder das Judentum gibt.
Religionen und Weltanschauungen begegnen uns rund um die Welt in breit
gefächerten, vielfältig historisch gewachsenen Varianten. Wider den
Namensmißbrauch In der Hebräischen
Bibel (dem sog. „Alten Testament“ ), innerhalb des Dekalogs, im Buche
Exodus 20,2-7 steht das Bilderverbot in der Mitte zwischen der Warnung vor
Fremdgöttern und der göttlichen Namensverweigerung. Die Erzählung von
Jakobs Kampf am Jabbok (Ex. 32, 25-30) illustriert das Gewicht des Namens,
vergleichbar unserem Märchen vom Rumpelstilzchen. Wer den Namen einer Person
oder In-stanz kennt, hat Macht über sie, kann sie für eigene Belange
herbeirufen, beschwören. Deshalb verweigert Gott in der Erzählung von der
Berufung des Mose am brennenden Dornstrauch (Ex.3,1-15), seinen Namen zu
nennen. Stattdessen wird in einer Volksetymologie die In-tention des
Gottesnamens erklärt, den auszusprechen verboten ist,: „Ich werde dasein,
als der ich dasein werde.“ (Buber/Rosenzweig-Übersetzung) Worauf zielt das
Bilderverbot? Wann und wo immer Ge-
bzw. Verbote aufgestellt werden, ist dies ein Signal dafür, daß sie nötig
sind. Im Straßenverkehr, um Unfälle zu verhindern. Schildern werden an
Unfallschwerpunkten installiert. So signalisiert das Bilderverbot, daß
bildhaft gedacht und empfunden wird. Das kann jeder an sich selber testen,
etwa beim Anruf einer fremden Person, deren Stimme wir zum ersten Mal hören.
Die meisten assoziieren sofort – von der Stimme abgeleitet - ein Bild dieser
Person. Bei langjähriger Bekanntschaft mit einer Personen entsteht ein festes
Bild von ihr in uns: Mosaik aus vielen Erfahrungen, die wir mit der- oder
demjenigen gemacht haben. Dieses Bild birgt die Gefahr in sich, daß wir mit
Hilfe dieses Bildes die Person selbst verdecken. Wir meinen von ihr alles zu
kennen. So lassen wir ihr keine Entwicklungsmöglichkeit mehr. Daran kranken
viele Beziehungen. Wir wissen ja schon alles über sie. Was kann da noch Neues
hinzutreten? Solche Bilder lähmen jede Kommunikation; denn ein Dialog kann so
kaum noch geführt werden. Wir kennen dessen Ausgang ja bereits, gesättigt
von langjährigen Erfahrungen. Durch das Bild heben wir die Eigenständigkeit
dieser Person auf. Sie ist uns nicht mehr gegenüber. Wir haben sie per Bild
aufgesogen. Dasselbe passiert mit dem Gottesbild. Es muß sich dabei gar nicht
um ein Gemälde, eine Plastik aus Holz Stein oder anderen Stoffe handeln.
Entscheidend ist ohnehin die in uns aufgebaute Beziehung. In dem Moment, in
dem wir Gott in uns eingesogen haben, ist er zum Teil unseres Kreislaufs
geworden. Die Gottheit steht uns nicht mehr gegenüber. Wir führen nun einen
Scheindialog mit einem Gott in uns, der wir selber sind. Dieser Gefahr zu
wehren, wird das Bilderverbot installiert. Es geht nicht um das Bild als
Kunstwerk, sondern um die Fixierung auf Bilder, die die Kommunikation tötet;
denn sie hebt das Gegenüber auf, indem sie es in uns verlagern. Oder - um mit Martin Buber zu reden – Gott und jedes andere
Gegenüber wird zu einem ES. Wir verlieren das göttliche wie das menschliche
DU, indem wir es bildlich fixieren, uns dabei angleichen. Gegen den Tod jeder
wahrhaft personalen Korrespondenz muß angegangen werden. Darüber sollten
sich die Gemüter erhitzen. Nicht aber vordergründig über ein gezeichnetes,
gemalten, geschnitztes, in Stein gehauenes oder aus Metall gegossenes Abbild
der Wirklichkeit. Religiös fühlen oder
Glauben leben? Was verbirgt sich hinter
der Redewendung von „verletzten relgiösen Gefühlen“? Was sind religiöse
Gefühle? Wodurch können sie verletzt werden? Ob wir das Wort vom
lateinischen „religio“: „zurückbinden“/ “befestigen“ oder „relego“:
„wieder (zusammen) lesen“ herleiten, es läuft - bei allem Wissen um die
Unmöglichkeit einer weltweit akzeptablen Religionsdefinition - auf
Schleiermachers Richtungsangabe hinaus: Religion wäre als „Sinn und
Geschmack fürs Unendliche“ das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“.
Religiös ist demnach – allerdings in der Sprache dieses deutschen
evangelischen Theologen des Vormärz - wer sich in der Abhängigkeit der alles
umfassenden, alles durchdringenden göttlichen Gnade weiß. Wie aber können
Gefühle verletzt werden, die von einer derartige Grundstimmung geleitet sind? Menschen, die sich von
göttlicher Güte „schlechthin“, d.h. ohne Einschränkung, geleitet,
beschützt und bestimmt wissen, wie sollten sie in diesem Glauben verletzt
werden können? Und indem wir hier „Religion“ durch „Glaube“ ersetzen,
signalisieren wir bereits eine andere Qualität. Glaube erschöpft sich ja
nicht – jedenfalls am Christus-Evangelium orientierter Glaube (und über
einen anderen als diesen vermag ein christlicher Theologe kein Urteil
abzugeben, kann höchsten Wahlverwandtschaft vermuten) - im für-wahr-Halten
von Dogmen. Glaube ist auch nicht ein vages Hoffen auf überirdisches
Eingreifen. Glaube ist eine durch souveräne Gelassenheit charakterisierte
Grundhaltung, in der unser Leben gemeistert wird. Darin unterscheidet sich
Glaube vom Aberglauben. Glaube ist als unverwüstliche Lebens- und
Sterbenskraft – wie der jüdische Theologe Pinchas Lapide nie müde wurde zu
betonen – immer auch ein Aber-Dennoch-Glaube gegen alle äußeren
Widerstände und Zweifel. Ein solcher Glaube hat sich durch die Jahrtausende,
bis zum Märtyrer-Tod als unzerstörbar erwiesen. Wie sollte ein solcher
Glaube verletzt werden können? Deshalb haben wir um der begrifflichen
Klarheit willen das Ausgangswort „Religion“ durch „Glauben“ ersetzt,
um so den qualitativen Unterschied - in unserem Gedankengang zum Ausdruck
gebracht - auch terminologisch zu verankern. Religion als in weltanschaulichen
Lücken und Grenzbereichen angesiedelte Rückversicherungsbewegung zur
Innerlichkeit und Transzendenz, läßt sich verletzen. Glaube ist
unverletzlich, weil jeder weltanschaulichen Abhängigkeit entzogen. Der Buchstabe tötet Auf einem ganz anderen
Blatt steht der Streit über Auslegungsfragen „Heiliger Schriften“ und
eine angemessene Haltung zur Tradition. In diesen Auseinandersetzungen
scheiden sich orthodoxe, konservative und liberale Strömungen in allen
Religionen sehr schnell von einander. Ganz abgesehen von vielfältigen
mystischen Bewegungen, die häufig Brückenbauer zwischen den Religionen sind. Für die Auslegung der
Bibel hat Paulus im 3. Kapitel seines 2. Briefes an die Christen in Korinth,
im 6. Jahrzehnt u.Z., als Maßstab genannt: „Der Buchstabe tötet. Der Geist
aber macht lebendig.“ Was in unseren Tagen „Fundamentalismus“
genannt wird, ist mit dem ersten dieser beiden Paulus-Sätze gemeint. Es
handelt sich um Leute, die sich um das Fundament ihres Glaubens besorgt
zeigen, dabei jedoch an der Oberfläche bleiben, insofern sie auf Buchstaben
pochen, ohne Bewußtsein dafür, worauf diese Buchstaben in einem bestimmten
historischen Zusammenhang hinzielen. Diese Beschränktheit ist kein
intellektueller, sondern ein gesellschaftlicher Defekt, weshalb sog. „Fundamentalisten“
(eigentlich: Literalisten oder Buchstabilisten; denn sie gehen keineswegs
ihrer Sache „auf den Grund“) gegenüber Argumenten immun sind. Nährboden
dieses „Fundamentalismus“ genannten Literalismus ist in der Regel eine
gesellschaftliche Krise, in der verunsicherte Menschen ihre Verantwortung gern
abgeben. So kommt man zu schnellen, einfachen Schuldzuweisungen an andere, in
Tateinheit mit der Aufgabe eigenständigen Denkens. In der so entstehenden
Masse tritt an die Stelle des selbständigen Denkens die Manipulation durch
Machthaber. Man denkt nicht mehr. Man wird gedacht. In solcher Atmosphäre
muß der Glaube aufpassen, nicht in religiöse Gefühligkeit abzudriften; denn
nun wird ein künstlicher Graben errichtet zwischen Glauben und Denken,
Glauben und Wissen. Wer sich darauf einläßt, wird zu gedankenlosem Glauben
getrieben. Der Glaube gründet jetzt einzig auf unkontrollierten Gefühlen, im
Sog der Masse schwimmend, die ihrerseits machtgesteuert wird. Glaube
pervertiert so zur Religion. Jeder, der dagegen seine
Stimme erhebt, läuft Gefahr, zum Irrlehrer, Volksverhetzer, kurz: zum Feind
erklärt zu werden. Wer diese brisante Situation reflektiert, weiß, worauf er
sich einläßt, wenn er hier öffentlich Stellung bezieht. Dabei geht es auch
um die Art der Auseinander-setzung. Wer meint manche Auswüchse einer
bestimmten Glaubensrichtung kabarettistisch überspritzt, satirisch überhöht
oder – wie jetzt geschehen – durch Karikaturen bloßstellen zu müssen,
sollte zuvor die möglichen Reaktionen der dadurch auf den Plan gerufenen
Geister im Blick haben. Denn Freiheit – auch die der Presse – zeitigt,
wenn sie denn wirklich Freiheit ist, Handlungen, die aus der Einsicht
erwachsen in das, was jetzt und hier notwendig und angemessen ist. Im
Zeitalter der Telekommunikation macht die Ethik selbstverständlich auch nicht
vor den Massenmedien Halt. Sich mit Unkenntnis in Bezug auf die behandelte
Problematik herauszuwinden, ist niemandem gestattet. Heute kann jede des
Lesens und Schreibens kundige Person – zumindest in unseren Breiten - über
das Internet an jedewede Information, z.B. über das Verhältnis von Muslimen
zum Prophetenbild gelangen. So gilt denn auch für Karikaturisten, was schon
vor einem Vierteljahrhundert im Friedenskatechismus des „Ökumenischen
Basisseminars Königswartha“ formuliert wurde: „Wo Wissen erreichbar ist,
ist Nichtwissen unmoralisch.“ Wozu Karikieren? Als Übertreibung des
Typischen begegnet Karikatur – auch wenn ihre heutige Bezeichnung, vom
italienischen: „caricare“= „überladen“ abgeleitet, sehr viel jünger
ist - bereits im Neuen Reich Ägyptens, also vor dreieinhalb Jahrtausenden.
Mißstände oder gegnerische Personen werden durch das Kampfmittel der
Karikatur der Lächerlichkeit preisgegeben. „Was Ihr wollt, daß
euch die Leute tun...“ Bei der Frage nach dem
jeweils Notwendigen und Angemessenen nehmen wir eine Anleihe bei der
Tradition: Sowohl für Rabbi Hillel als auch für Jesus ist die „Goldene
Regel“ biblisches Fazit und Grundlage jeder Ethik, gebündelt in dem Satz
der Bergpredigt: „Was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das sollt auch ihr
ihnen tun.“ Auf ähnliche ethische Maximen treffen wir in verschiedenen
Religionen. In den „Vätersprüchen“
des Babylonischen Talmuds wird von Rabbi Elasar aus Modiim überliefert, daß
„keinen Anteil an der kommenden Welt“ hätte, „wer das Angesicht seines
Gefährten öffentlich erbleichen läßt“. Das Beschämen des Nächsten in
der Öffentlichkeit wird in diesem Zusammenhang als so schwerwiegend
eingeschätzt wie die Entweihung des Heiligen. Wenn uns im 3. Buch der
Tora, dem „Leviticus“ (hierzulande zumeist: „3. Mose“ genannt) im 19.
Kapitel dahingehend die „Leviten gelesen werden“, daß wir nicht nur
unseren „Nächsten“ lieben sollten wie uns selbst, sondern diese „Nächstenliebe“
auch auf den Fremdling ausgedehnt wird, bringt uns diese Zumutung im Blick auf
Karikaturen ins Grübeln. Abschied vom Witz? Sollen wir auf ein so
altes, bewährtes Kampfmittel verzichten? Wäre dies nicht gleichbedeutend mit
dem Abschied von jeglichem Witz? Was ist mit der kabarettistischen
Verarbeitung kritikwürdiger Zustände und Personen, wo doch auch die Bibel
nicht auf Witz verzichtet? Im Buch Genesis 31, 34f.
wird mit diebischer Freude erzählt, wie Rachel die Hausgötter ihres Vaters
stiehlt. Indem sie bei der folgenden Razzia durch ihren Vater und dessen
Knechte die gestohlenen Hausgötter unter den Sattel ihres Kamels schieb und
sich daraufsetzt, unter Hinweis darauf, daß sie „ihre Tage“ hätte,
weshalb man ihr verzeihen möge, wenn sie nicht vor ihrem Vater aufstünde,
wird implizit eine deftige Religionskritik im Blick auf die wehrlosen
Hausgötter präsentiert. Die Jona-Novelle ist eine einzige Satire auf
Glaubensentartungen im nachexilischen jüdischen Volk. Auf diesem Boden erwuchs
der Jüdische Witz als Überdruckventil in oft schwer ertragbarer Situation
der Diaspora. Ein typisches Beispiel
dafür: Ein Rabbi klagt vor Gott, daß sein Sohn Christ geworden sei. Die
Antwort Gottes: „Ich verstehe dich. Mir ist es genauso ergangen.“ Darauf
der Rabbi: „Und was hast du gemacht?“ Gott: „Ein Neues Testament.“ Hier erweist sich Witz
als kräftiges Zeichen des Überlebenswillens. Indem man vorrangig über sich
und seine eigene Religiosität lacht, entwickelt sich Souveränität. Ganz anders die
Sauertöpfigkeit christlich-fundamentalistischer Kreise, die die folgende
Anekdote „aufs Korn nimmt“: Ein Dorfpastor leiht
einem Langzeit Bettlägrigen ein Wilhelm-Busch-Album. Als er sich 14 Tagen
später danach erkundigt, wie dem Kranken das Buch gefallen hätte, kommt die
Antwort: „Ganz nett, Herr Pfarrer. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß es
sich um Gottes Wort handelt, hätte ich an manchen Stellen gelacht.“ Da hört der Spaß auf Am 9. Februar 2006
erschien in der Wolgograder Tageszeitung „Gorodskije Westi“ eine
Karikatur, auf der Buddha, Moses, Jesus und Mohammed angesichts von
Randalierern im Fernsehen ausrufen: „Also das haben wir sie nicht gelehrt.“
Am 15. Februar hat daraufhin die russische Generalstaatsanwaltschaft
Ermittlungen wegen „Aufwiegelung zu religiösem Hass“ angekündigt. Bei solcher Reaktion auf
eine Karikatur, die sich eindeutig nicht gegen einen der genannten
Religionsstifter richtet, sondern deren Nachfolger aufruft „die Kirche im
Dorf zu lassen“, sich auf das Eigentliche ihres Glaubens zu besinnen, kann
man nur noch ungläubig den Kopf schütteln. Wieviel Kritik darf unsere
Nächsten- und Fremdenliebe einschließen? Müssen wir demnächst gegenüber
jedem beleidigten Aufschrei bei einem nicht verstandenen Witz um
Entschuldigung bitten? Wo leben wir denn? Hier muß über die
politische Konstellation gesprochen werden, innerhalb der, mit vielmonatiger
Verspätung. auf unverhältnismäßige Weise, auf die im Herbst 2005 in einer
dänischen Zeitung veröffentlichen Profeten-Karikaturen reagiert wird. Um ohne Umschweife auf
den Kern der Sache zu stoßen, blicken wir auf die von den UN angestoßene
Debatte über die längst überfällige Auflösung des US-Gefangenenlagers
Guantanamo. Dort werden Menschen unter Hinweis auf einen weltweit geführten
„Krieg gegen den Terror“, jahrelang ohne ordentliche Gerichtsverfahren
gefangen gehalten, wodurch man Rechtsstaatsprinzipien verletzt. Dies
geschieht, indem die USA sich zur Führerin der westlichen Demokratie
erklären. Wenn George W. Bush zudem bei vielen Anlässen sein Christentum
demonstriert, müssen wir uns nicht wundern, daß die dabei sichtbar werdende
Doppelmoral in vom Islam dominierten Ländern von Herrschenden zum Anlaß
genommen wird, um daraus einen „Kampf der Kulturen“ zu konstruieren, der
von den eigenen inneren Problemen ablenkt. Blicken wir von hieraus auf andere
Brennpunkte der US-Nahostpolitik, so stoßen wir auf dieselbe Doppelmoral: im
Irak-Krieg, der lügenhaft legalisiert wurde oder in der Auseinandersetzung
über das Atomprogramm des Iran; denn solange solche Staaten der
US-amerikanischen Globalstrategie dienen, wird deren Tun, selbst das
völker-rechtswidrige, gedeckt. Sobald sich jedoch das Blatt wendet, können
temporäre Partner zu „Schurkenstaaten“ erklärt werden. Auf diesem Boden,
vor solchem Hintergrund, läßt sich, unter Hinweis auf Guanta-namo oder den
Irak-Krieg, ein medienwirksam inszenierter Volkszorn gegen die karikaturelle
Verunglimpfung Mohammeds nutzen, um den Spieß umzudrehen und eine
geschlossene Front der islamischen
Welt gegen den „christlichen
Westen“ zu konstruieren. Dabei kann die Sensationsgier der im
Verdrängungswettbewerb um Marktanteile stehenden Medienanstalten genutzt
werden. Denn wie sich der Einsturz einer Brücke medial besser „verkauft“
als deren Einweihung, so bringen Tumulte mit brennenden Fahnen und Lynchjustiz
allemal höhere Einschaltquoten als Informationssendungen über religiöse und
weltanschauliche Gemeinsamkeiten. Hierbei kommt es zu einer unheiligen Allianz
von Skrupellosen auf beiden Seiten. Wird die auf Events getrimmte „Volksseele“
in westlichen Ländern mit spannender Real-satire aus dem islamischen Osten gefüttert, so wissen Demagogen eben dort,
wie die aufgestaute Heißluft gegen „westlich-christliche“ Arroganz und
Unterdrückung zu nutzen ist, ihren politischen Zielen zu dienen. Glaube und
Humanität bleiben in beiden Zusammenhängen auf der Strecke. Was nun? Jetzt sind die Weisen
auf allen Seiten gefordert. Jene, die Bescheid wissen: über die Macht der
Sprache wie über die Kraft des Hörens. Es ist anzuknüpfen an das längst
Gewußte, doch weithin Vergessene: „Die Zunge ... ist ein
nimmermüdes Übel, voll tödlichen Giftes. Mit ihr preisen wir den Herrn und
Vater, und mit ihr verfluchen wir die Menschen, die nach Gottes Ebenbild
geschaffen sind. Aus demselben Mund geht Segen und Fluch hervor.“ (Jakobus
3, 8-10) „Tod und Leben sind in
der Macht der Sprache, und die sie lieben, dürfen ihre Frucht essen.“
(Sprüche 18, 21) Solche realistischen
Einschätzungen erwachsen dem Glauben an Gottes allumfassende Gnade. Aus
diesem Glauben konnte jemand vor zweieinhalb Jahrtausenden dichtend beten: „Herr, du erforschest
mich und kennest mich. / Ich sitze oder stehe, du weißt es; / du verstehst
meine Gedanken von ferne. / Ich gehe oder liege, du ermisst es, / mit all
meinen Wegen bist du vertraut. / Ja, es ist kein Wort auf meiner Zunge, / das
du, o Herr, nicht wüsstest. / Du hältst mich hinten und vorn umschlossen, /
hast deine Hand auf mich gelegt.“ (Psalm 139,1-5) Aus solchem Glauben
erwuchs auch die Wiedergabe der göttlichen Zusage in Koran-Sure 50,15: „Wahrlich, wir
erschufen den Menschen, und wir wissen, was ihm seine Seele einflüstert; denn
wir sind ihm näher als die Halsader.“ In solche Zeugnisse kann ich als christlicher Theologe von ganzem Herzen einstimmen und verstehe zugleich, warum ein Zentralwort der Hebräischen Bibel mit der Aufforderung zum Hören beginnt. Nicht über einander reden, sondern auf einander hören! So beginnt Kommunikation. Hörfähigkeit zu üben, steht auf der Tagesordnung, in Zeiten, da man Staatsterror mit Individualterror vergilt und beides als Kampfmittel legalisiert.
Gott und Welt
Karl Barth und die
Dialektik der christlichen Philosophie von Hans Heinz Holz Vorbemerkung: Vor
einem Jahr fragte mich die Redaktion der Marxistischen Blätter, ob ich
für ein Heft über Menschenbilder
einen Aufsatz zum christlichen Menschenbild schreiben könne. Ich sagte
unbedachtsamerweise zunächst zu. Während der Arbeit wurde mir aber klar,
daß es zwar christlich gefärbte Menschenbilder in den verschiedenen
Epochen der europäischen Geschichte seit dem Ausgang der Antike gab, aber
kein christliches Menschenbild; es sind vielmehr die Menschenbilder der
jeweiligen Gesellschaftsformationen und Perioden, die mit christlichen
Weltanschauungsgehalten unterschiedlich aufgefüllt sind. Der Aufsatz für die
Marxistischen Blätter wurde – angesichts des sich türmenden
Materials – nicht fertig. Mein Interesse verschob sich dabei auch mehr und
mehr auf die Problemlage, wie der Ursprung der christlichen Welteinstellung
sich zu einer späteren Dogmatik verhält, die natürlich nicht ohne eine
Anthropologie auskommt. In diesem Zusammenhang bekam die Radikalität der
Barthschen Christologie eine zentrale Bedeutung. Den Extrakt dieser Studien
und Überlegungen möchte ich nun der subtilen Kennerin der Kirchen- und
Dogmengeschichte, Rosemarie Müller-Streisand, zueignen. Die Geschichte der
Theologie läßt sich begreifen als der Weg des menschlichen Logos, mit
seinen Kategorien von Gott zu sprechen; logos tou theou wird dann ein
Genitivus objectivus, Gott das Objekt menschlicher Erkenntnis. Auf diesem Wege
erreicht man als Ziel eine Anthropologie, deren Menschenbild aus einer
Projektion des Gottesbildes hervorginge, das doch selbst erst als eine
Projektion der Kategorien des menschlichen Logos auf Gott entstünde – eine
tautologische Konstruktion, in der der Mensch der Schöpfer Gottes und seiner
selbst wäre. Und dies ist vielleicht das unaufhebbare Dilemma der Theologie,
die nach Art einer Wissenschaft betrieben wird und also einen Gegenstand haben
muß. Eine solche Theologie
wäre die Umkehrung der Verkündigung, die der Inhalt des Neuen Testaments
ist. Philosophisch gibt es einen guten Grund für diese Umkehrung. Das
Absolute kann nur im Spiegel erscheinen. In Abwandlung Feuerbachs
könnte man sagen: Das Geheimnis der Theologie ist die spekulative
Philosophie. Aber das ist nicht christlicher Glaube. Die
Glaubensinhalte des christlichen Glaubens sind nicht unmittelbare Reden von
Gott, sondern Erfahrungen seines Wirkens. Daraus ergibt sich das (nur
spiegeltheoretisch auflösbare) Paradox, daß das Wort, das den Glauben
trägt, nicht anders erkannt wird als im Glauben (Hanfried Müller). Von
außen gesehen heißt das, der christliche Glaube läßt sich nur
religionsphilosophisch begreifen als das, was er ist; von sich selbst
her gesehen besagt es, daß der Glaube sich nicht rechtfertigen kann und an
sich selbst keiner Rechtfertigung bedarf. Das ist die Differenz von
christlichem Glauben und christlicher Dogmatik, welch letztere sich eben des
Arguments bedient. In dieser gegensätzlichen Einheit entsteht (hegelisch
gesagt) die christliche Religion als ein Gebilde des objektiven Geistes und
wandelt sich in und mit diesem. Aber ihre jeweilige Verwirklichungsgestalt ist
von ihrer ursprünglichen und existentiellen Wirklichkeit unterschieden. Ohne
weltliche Vergegenständlichung kann der Glaube sich nicht in menschlichem
Verhalten konkretisieren, er bedarf zu seiner Selbstdarstellung der Religion
als objektiven geistigen Gebildes und ihrer Systematisierung, der Theologie. Theologen, die die Rede
von ihrem Glauben streng nehmen, wehren sich mit Recht gegen die
Anthropologisierung der Theologie. Wenn Gott der ganz Andere (oder das ganz
Andere) ist, nicht zu wissen und nicht zu nennen,
[1]
dann gibt es keinen logos tou theou in Prädikationen, die
doch immer nur nach Analogie des menschlichen Verstehens von Weltlichem
gebildet werden können.
[2]
Von der Theologie muß die Deutung gemäß einem Genitivus
objectivus strikt ferngehalten werden. Der logos tou theou ist immer
nur im Sinne eines Genitivus subjectivus das Wort Gottes, Seine eigene
Verkündigung an die Menschen. Diese Verkündigung wird verlautbart durch den
Mund der Propheten und (nach christlichem Verständnis) in höchster
Authentizität und Autorität durch die Lehrworte Jesu, der als Gottes
eingeborener Sohn den logos des Vaters in sich trägt. Damit wird Theologie zur
Christologie, oder besser gesagt: Theologie kann nur vermittels Christologie
und durch Christologie hindurch zu ihrem Inhalt kommen.
[3]
Daß Gott als der ganz Andere zum Menschen als dem von ihm ganz
Verschiedenen sprechen kann, ist nur möglich, weil er in Jesus Christus
Mensch geworden und zugleich Gott geblieben ist.
[4]
Logisch gesprochen ist dies eine radikale metabasis eis allo
genos. Um die Übertragung von Gottes Wort in menschliches Vernehmen und
Gehorchen logisch begreiflich zu machen, muß es ein Gemeinsames geben, so wie
bei der Übersetzung aus einer Sprache in eine andere die Gegenstände, die
von den Wörtern bezeichnet werden, dieselben sind und die Vernunftstrukturen,
denen gemäß Verknüpfungen von Wörtern vorgenommen werden, sich
entsprechen. Der Mensch ist aufnahmefähig für den logos Gottes, er
ist in potentia zur Teilhabe am logos Gottes, der ja auch, wenn er in
den Menschen eingeht, kein anderer ist als eben der logos Gottes. Hier
entspringt das Problem einer theologischen Anthropologie. Dieses Problem wird im
Schöpfungsmythos artikuliert. „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen
nach unserem Bilde, uns ähnlich“ (Gen I, 26). Luther war sich wohl bewußt,
daß es zu gefährlichen Folgerungen führen könnte, wenn der Mensch als das
Abbild Gottes zu gelten habe; er zog in seiner Übersetzung die zwei Satzteile
zu einem zusammen: „Und Gott sprach: Laßt uns Menschen machen, ein Bild,
das uns gleich sey“.
[5]
Damit verschob er das Gewicht auf die Differenz von Abbild und
Urbild, auf ein Gleichsein im Unterschied. Aber die Fortsetzung von Gen. I,
26-29 widerlegt ihn: Sowohl die Übertragung der Herrschaft über die Erde und
alles, was auf ihr kreucht und fleucht (dominium terrae), als auch die
zweifache Wiederholung der Formel vom Bilde
Gottes bestätigen die problematische Gottebenbildlichkeit des Menschen. In einem koptischen
gnostische Text aus Nag Hammadi, dem Eugnostosbrief,
[6]
wird der Schöpfungsmythos durch eine weitere anschauliche
Ausgestaltung expliziert. Da heißt es von Gott, er sei „unbeschreiblich“
und „namenlos“; er habe „keine Menschengestalt“. Er ist das
universelle Sein. „Er sieht nach allen Seiten, indem er sich allein erblickt
durch sich selbst. [...] Man nennt ihn den ‚Vater des Alls‘“. Doch
genauer müsse es heißen: „Den Herrn des Alls nennt man wahrheitsgemäß
nicht ‚Vater‘, sondern ‚Vorvater‘, denn der Vater ist der Ursprung
dessen, was offenbar ist“. Und nun folgt der entscheidende Satz: „Der
anfangslose Vorvater sieht sich selbst in sich wie ein Spiegel“.
[7]
Dieses Bild von sich, das in ihm wie in einem Spiegel als ein
Spiegelbild erscheint, ist er selbst, „gleichaltrig, aber nicht ebenbürtig
an Kraft“ (denn das Spiegelbild ist ja nur das abhängige Korrelat des
Urbildes). Dieses wesens-, aber nicht seinsgleiche Abbild des Vorvaters,
nichts anderes als er selbst, ist der „Erste Mensch“ oder der „unsterbliche
Mensch“. „Durch den unsterblichen Menschen trat eine Benennung ‚Göttlichkeit
und Herrschaft‘ zuerst in Erscheinung. Der Vater nämlich, den man ‚den
Selbstvater-Mensch‘ zu nennen pflegt, ließ diesen in Erscheinung treten“.8
Der unnennbare Gott, der sich selbst in nennbarer Gestalt erkennt, ist der
Erste Mensch oder der unsterbliche Mensch, der Mensch kat’ exochen (könnte
man sagen). „Den unsterblichen Menschen pflegt man den ‚Sohn des Menschen‘
zu nennen“ 9– das ist der, den „sie Heiland zu rufen pflegen“.
Der in der christlichen Urgemeinde dominierende Titel „Menschensohn“ für
Christus bzw. für den Messias 10
verliert in dieser Tradition seine Befremdlichkeit. Denn der Menschensohn ist
eben der Gottessohn, weil Gott und der Erste Mensch ein und derselbe sind; und
alle Menschen als Abkömmlinge des Ersten Menschen sind dazu geschaffen, den logos
Gottes in sich aufzunehmen und damit aus den Fesseln des Irrtums gelöst
zu werden. Der gnostische Mythos,
der das Verhältnis Gott-Mensch durch die Metapher vom Selbstbildnis im
Spiegel anschaulich macht, wirft nun aber ein anderes Problem auf. Gott, der
sich selbst erkennt, kann doch in seinem Selbstbildnis nichts Böses erkennen;
Gott darf, per definitionem, nicht böse sein und in keinem seiner
freien Entschlüsse das Böse wählen. Der Mensch, der sündigt, fällt aus
der Gottebenbildichkeit heraus. Aber wie? Er ist doch das Bild Gottes im
Spiegel. Schon der antike Kritiker des Christentums, Celsus (den Origines
bekämpfte),11
hat gespottet, was für ein Gott das sei, der im Augenblick des Sündenfalls
gerade einmal weggeschaut habe und dann noch nicht einmal wußte, wo er Adam
finden solle (Gen. III, 8,9). Dualistische Lehren haben aus diesem Dilemma den
Ausweg gewählt, neben Gott ein zweites Prinzip, den Herrn des Bösen, den
Teufel, den Demiurgen, anzunehmen – eine Lösung, die dem strengen
Monotheismus zuwiderläuft. Diesem bleibt dann aber die Frage gestellt, den
Ursprung des Bösen in Übereinstimmung mit dem Begriff des einzigen und guten
Gottes zu erklären. Der Kern einer christologischen Fundierung der Theologie
liegt in der Sündhaftigkeit des Menschen, die des Heilands bedarf; sonst
hätte es keinen Grund gegeben, Gottes Sohn in die Welt zu entsenden und für
die Sündhaftigkeit der Menschen mit seinem eigenen Leiden einzustehen. Eine
christologisch fundierte Theologie entgeht nicht dem Theodizee-Problem. Sie
ist auch genötigt, die Erlösungsfunktion des Messias zu einem Menschenbild
in Beziehung zu setzen, dessen Weltlichkeit durch das primordiale Ereignis des
Sündenfalls definiert ist. Die in der Exegese des
Alten Testaments sich konservierende jüdische Religiosität 12
konnte sowohl die Bindung an eine theologische Anthropologie wie eine
Konfrontation mit dem Theodizee-Problem von sich fernhalten. Das 2. Gebot
gestattet keine noch so entfernte Gleichnisgestalt Gottes, so daß eine an der
imago-Dei-These sich orientierende Lehre vom Menschen ausgeschlossen
blieb. Vielmehr wurde das Gott-Mensch-Verhältnis unter der Form des Vertrags
als „Bund“ mit gegenseitigen Verpflichtungen begriffen, wobei die absolute
Transzendenz Gottes die Möglichkeit irrationaler Verletzungen des Bündnisses
einschließt.13
Statt von der eigenschaftlichen Seite der Bildgestalt her definiert sich der
Mensch – als der „Gerechte“, der Zaddik – von seinem Verhalten
aus. Zentrum des Selbstverständnisses ist ein durch den Bund mit Gott
gesetztes Ethos. Karl Barth hat die
Differenz dieses Ethos von jeder Ethik leidenschaftlich
verfochten. Sein Verständnis vom Menschen kommt da in eine Nähe zur
Existenzphilosophie, die wiederum ein Licht auf die Herkunft
existenzphilosophischer Grundmotive aus christlichen Quellen wirft. Die
Konkretion des Menschen ist sein Handeln im jeweiligen Augenblick, das
Ereignis eines Tuns und Wirkens. „Das wirkliche Handeln des Menschen ist die
in sich zusammenhängende Folge von Ereignissen, in denen je ein, je
dieser konkrete Mensch, je eine konkrete Bedingung und Möglichkeit und in ihr
sich selbst wählt und verwirklicht“.14
Diese Wahl ist singulär, sie richtet sich nicht nach einer allgemeinen Regel,
einem kategorischen Imperativ. Die gesetzestreue Anerkennung einer allgemeinen
Norm, der die einzelne Entscheidung zu subsumieren wäre, „ist die
Verletzung des göttlichen Geheimnisses im ethischen Ereignis“. Denn
„Gott ist der unicus legislator und darf seines Rechts als solcher
nicht beraubt werden“,15
sagt Barth im Anschluß an Calvins Institutiones IV, 10,1. Hier öffnet sich
der Abgrund des Subjektivismus. Es ist einleuchtend, daß Gottes Wille dem
Menschen nicht bekannt sein kann – keinesfalls als eine bindende allgemeine
Regel, die ja auch Gott selbst binden würde und seiner Freiheit des Willens
zuwider liefe; aber auch nicht ahnungsvoll und ohne Garantie der Gewißheit im
Einzelfall, über den die innere Stimme des Gewissens belehrt, die doch stets
dem Selbstzweifel ausgesetzt ist, irrig sein zu können. „Das Gebot des
lebendigen Gottes [...] wird dem Menschen gerade nicht nur allgemein und
formell, sondern in konkreter Fülle, in inhaltlicher Bestimmtheit gegeben. Es
ist immer Einzelgebot für das Handeln dieses Menschen in diesem Augenblick
in dieser Situation, Vorschrift für diesen, für seinen Fall:
Vorschrift zur Wahl einer bestimmten Möglichkeit menschlicher
Gesinnung, Entschließung und Handlung“.16
Das Subjekt ist auf sich zurückgeworfen, es muß in Selbstvertrauen handeln,
daß sein im Glauben verwurzelter Wille auf richtige Weise das Gute will. Sein
Gehorsam gegenüber Gott schlägt um in eine legislative Autonomie, malgré
lui, aber unausweichlich. „Der wahre Mensch ist der handelnde, und zwar
der gut handelnde Mensch“ 17. Was aber gut ist, kann er nicht wissen,
die Verheißung „eritis sicut Deus, scientes bonum et malum“ ist ja
die Verführung der Schlange und gerade nicht das unwiderrufliche
Gnadengeschenk Gottes. Könnte man sich an einen allgemeinen Kodex halten, wie
der gesetzestreue Jude des Alten Bundes es meint und rabbinische
Auslegungskunst es ihm glaubhaft macht, dann ließe sich das Verhalten auf
Gottes Wort abstimmen. Bonum et malum müßten dann aber eben in
formaler Allgemeinheit begriffen werden können, und das heißt auch:
Es müßte ein Bild Gottes, eine Idee von seinem Willen den Menschen gegeben
sein. Genau dies aber versagt das neutestamentliche Gottesverständnis. Gott
ist nur gegenwärtig in seinem jeweils einzelnen Sich-Zeigen, gegenwärtig nur
als Vergegenwärtigung. „Gerade in der heiligen Schrift begegnet uns das
Gebot Gottes nicht in Gestalt von Regeln, Prinzipien, Grundsätzen,
allgemeinen moralischen Wahrheiten, sondern in Form von lauter geschichtlich eigenartigen
und einmaligen konkreten Befehlen, Verboten und Weisungen“.18
Der Mensch ist darauf angewiesen, den singulären Anruf in seinem
unverwechselbaren, einmaligen Inhalt zu vernehmen, und wissend um seine
eigenen äußeren Bedingtheiten kann er nicht wissen, ob er richtig
gehört hat. Von Augustinus über Pascal bis zu Kierkegaard zieht sich dieses
Problem durch die christliche Religiosität. Der handelnde Mensch verwickelt
sich in die Aporie, indem er handelt, ein Bild von sich selbst zu schaffen 19
und damit zugleich ein Bild Gottes zu schaffen: Ist der Mensch ein Spiegel
Gottes – imago Dei, dann erscheint im Tun des Menschen kraft seiner
Wahl und Entscheidung das gespiegelte Bild Gottes als Erzeugnis des Menschen.
Die ontologische Beschreibung des existentiellen Ereignisses enthält das
Paradoxon. Barths Radikalität legt
die dialektische Struktur des religiösen Verhältnisses frei, das unter
Verzicht auf ein materiales (mythologisches) Widerlager in der Transzendenz rein
als Verhältnis erfahren und gedacht werden soll. Im Unterschied zu allen
anderen Religionen gründet das Christentum die religiöse Beziehung des
Menschen ganz auf und in die Subjektivität. In dieser Wendung zur
Innerlichkeit als Raum der religiösen Erfahrung ist es die „absolute
Religion“ 20
Diese müßte an sich selbst unmittelbar und unmitteilbar bleiben. Die großen
theologischen Probleme erwachsen aus dem Übergang der absoluten Religion in
ihre weltliche Erscheinung: Inkarnation, Trinität, Transsubstantiation. Die
Bildlosigkeit des „ganz Anderen“ unangetastet zu lassen und doch das
Verhältnis zum ganz Anderen beschreibbar zu machen, das heißt ihm ein Bild
zu entwerfen, wird zur Aufgabe, die sich untrennbar mit der Predigt verbindet,
die an sich selbst den Anspruch stellt, logos zu sein, das heißt sich
zu begründen. Als ancilla theologiae erringt die Philosophie den Sieg
des Knechts über den Herrn. Anders als durch die
(ihrer Denkstruktur nach philosophische) theologische Dogmatik ist der
Inhalt jenes reinen Verhältnisses, der religio a se, nicht zu
bestimmen. Es gehe in der Heilsbotschaft, sagt Barth, um „das große,
allgemeine, jeden Menschen auf jeder Stufe belastende Geheimnis der ‘Gerechtigkeit
Gottes’“.21
Aber was ist die „Gerechtigkeit“ Gottes? Bei Barth fällt der Begriff
bedenklich mit dem der Willkür zusammen: „Gottes Wille kennt kein ‚Warum?‘.
Er will, weil er Gott ist. [...] Gerechtigkeit Gottes ist justitia forensis,
justitia aliena: Der an nichts als an sein eigenes Recht gebundene Richter
spricht. Und wie er spricht, daß es ist, so ist es“.22
Da ist iustitia Dei ganz das aktive Sein Gottes, der Genitiv ist ein
Genitivus subjectivus. Aber wenn der Mensch im Stande der Gnade gerecht (iustus)
ist, dann ist er nicht aktiv Gerechtigkeit Übender (denn er bleibt ja in der
Gnade des Vergebens ein Sünder), sondern er ist gerecht vor Gott, und iustitia
Dei ist ein Genitivus objectivus. Augustinus und mit ihm Luther fassen
beide Aspekte in eins: „Gerechtigkeit heißt darum Gerechtigkeit Gottes,
weil er damit, daß er sie mitteilt, Menschen
zu Gerechten macht“.23
Und Luther meint dazu: „Die Gerechtigkeit Gottes ist die Ursache des Heils.
Wiederum darf man hier unter der Gerechtigkeit Gottes nicht die verstehen,
durch die er selbst gerecht ist in sich selbst, sondern die, durch die wir von ihm her
gerecht gemacht werden“.24
Was tatsächlich gemeint
ist, ergibt sich nicht aus dem Wort allein. Iustitia deutet auf Gott,
den Richter, der über den Sünder als Angeklagten ein Urteil fällt; so sehen
es die Darstellungen des Jüngsten Gerichts – der Weltenrichter, der die
Erlösten und die Verdammten scheidet. Dikaiosyne läßt eher die Idee
einer Weltordnung anklingen, die darum gerecht ist, weil sie die Sünde, die
doch in der Unvollkommenheit der Menschen ihren Ursprung hat, also privatio
boni ist, aus der Vollkommenheit Gottes zu vergeben und aufzuheben vermag,
indem sie die Strenge des Gesetzes durch Gnade aufwiegt. Gottes Gerechtigkeit
zeigt sich (tritt in Erscheinung) getrennt vom Gesetz
[8]
, die Menschen sind Gerechtfertigte durch Gnade.25
Das ist keine iustitia forensis, sondern das vorbehaltene Recht des
Souveräns, der den sich gehorsam Unterwerfenden annimmt. Der Unterwerfungsakt
ist der Glaube – Glaube ist Gehorsam gegen Gottes Wort; der
Rechtfertigungsakt ist die Gnade – Gnade ist die Barmherzigkeit Gottes gegen
seine Geschöpfe. Unterwerfung und Rechtfertigung, Glaube und Gnade, Gehorsam
und Barmherzigkeit stehen in einem symmetrischen Verhältnis zueinander. Aber
sie haben keinen Bezug auf das im Tun manifeste Sein des Menschen, der Person,
sondern sind formale Relata des reinen Verhältnisses. „Ist Abraham durch
die Werke gerecht, so hat er wohl Ruhm, aber nicht vor Gott“.27
Aus den Koordinaten Glaube und Gehorsam, Rechtfertigung und Gnade läßt sich
keine Bestimmung der Inhalte von Tun und Werk gewinnen, das Evangelium gibt
kein System einer materialen Wertethik 28
und einer ihr zugeordneten Anthropologie her, Ethik löst sich ganz in das
Ethos auf, dessen einziger Maßstab der Glaube ist. Darin und nur darin wird
der „neue Mensch“ erkannt. „Sofern wir es wagen, mit unserm Glauben zu
rechnen, müssen wir es wagen, auch mit dem durch den Glauben
charakterisierten ‚Wir‘, mit dem neuen Menschen, dem Menschen des noch
nicht angebrochenen, aber nahe herbeigekommenen Gottestags zu rechnen. Durch
den Glauben treten wir ein in den Stand der von Gott für gerecht Erklärten.
Wir sind nicht nur, was wir sind, wir sind durch den Glauben, was wir nicht
sind. [...] Das ist der neue Mensch, das Subjekt des Prädikats ‚Glauben‘“.29
Das ist korrekte Auslegung von Röm. 5, 1-2: „Nun wir denn sind gerecht
geworden durch den Glauben, so haben wir Friede mit Gott durch unsern Herrn
Jesum Christ, durch welchen wir auch einen Zugang haben im Glauben zu dieser
Gnade, darinnen wir stehen, und rühmen uns der Hoffnung der zukünftigen
Herrlichkeit, die Gott geben soll“. Der eschatologische Charakter der
Verkündigung tritt hier klar hervor. Es ist nicht mehr diese Welt der Sünde,
in die der neue Mensch eintritt, sondern jenes Reich Gottes, das verheißen
ist und das der Messias bringen soll, also Jesus gebracht hat. Heraustretend
aus dieser Welt, des Heils gewärtig durch den Glauben, bedarf es keiner Lehre
vom Menschen und seinen Eigenschaften mehr, sondern nur noch des Wandels von
dem, was er jetzt ist, zu dem, was er jetzt (noch) nicht ist. Die
Heilsbotschaft des Evangeliums ist die vom Nicht-Sein dieser sündhaften Welt,
von Sterben und Tod dieser Welt als dem Beginn des „ewigen Lebens“. Immer
wieder spricht Luther davon, daß unser Leben im Geiste der Tod des Fleisches
ist, daß uns im Glauben an die Erlösung durch Jesus Christus die Sünden ersterben.
Das irdische Leben ist der Tod und das jenseitige das wahre Leben, die hiesige
Welt ist Finsternis und die jenseitige Licht. Wir seien der Sünde
weggestorben – mortui sumus peccato (Dativ!), heißt es Röm. 6,2 und noch
einmal appellativ bekräftigend Röm. 6, 11: „Haltet euch dafür, daß ihr
der Sünde gestorben seid, und lebet Gott in Christo Jesu unserm Herrn“. Die
Erweckung des Glaubens, ausgedrückt im Taufakt, ist bereits der Anbruch des
neuen Lebens 30
, der Eintritt in die Endzeit: „Das Gericht Gottes ist das Ende
der Geschichte, nicht der Anfang einer neuen zweiten Geschichte. Die
Geschichte ist erledigt, sie wird nicht fortgesetzt“.31
Die eschatologische Erwartung prägt die Denkweise des Neuen Testaments, sie
entschlägt sich der Vernunft, deren Gegenstand und Inhalt nur die
Wirklichkeit dieser Welt sein kann. „So stinkt die Philosophie aus unserem
Munde, als ob die Vernunft immer zum Besten riete, und wir fabulieren vieles
über das Gesetz der Natur. Es ist wohl wahr, daß das Gesetz der Natur allen
bekannt ist und die Vernunft zum Besten rät. Aber zu was für einem Besten?
Zu dem, was nicht im Sinne Gottes, sondern nach unserem Geschmack das Beste
ist, d.h. sie rät uns zu dem, was im schlimmen Sinne gut ist. Denn sie sucht
sich und das Ihre in allem, nicht aber Gott. Das tut allein der Glaube in der
Liebe. [...] Darum sind auch die Kenntnisse und Tugenden und alle Güter, die
man in natürlicher Weise begehrt, sucht und findet, Güter im schlimmen
Sinne, weil sie nicht auf Gott bezogen werden, sondern auf die Kreatur, d.h.
aber auf sich selbst“.32
Die Erwartung des nahe
bevorstehenden Heilsereignisses versetzte den frühen Christen in eine
Unmittelbarkeit des Glaubens, aus dem keine Reflexion mehr entspringt; denn
Reflexion impliziert die Distanz des Reflektierenden zum Reflektierten. Das
Spiegelbild ist stets unterschieden und unterscheidbar vom Urbild. Die
dialektische Form des Urteils, die Subjekt und Prädikat trennt und dann zur
klassifikatorischen Analytik des logischen Aufbaus der Welt fortschreiten
kann, ist das Äquivalent der zerstreuten, „durcheinandergeworfenen“
(diabolischen), heillosen Welt. Gott ist das Gegenteil einer durch
Prädikationen darstellbaren Wirklichkeit. Philosophie ist Asebie,
systematische Rekonstruktion der Schöpfung ist blasphemische Anmaßung. Denn
die Welt als ganze ist, wie sie ist, Gottes Gedanke und also gerade
uneinsehbar, unbegreiflich. Erst das Ausbleiben der Parousie zwingt wieder zur
Reflexion, die aus der Distanz zur geglaubten Verheißung den Glauben
rechtfertigt. Der Enthusiasmus schlägt um in Theologie. Sie spricht von Gott
(logos theou), sie spricht vom Heil, das heißt sie setzt prädikativ
auseinander, was der Glaube als reines Verhältnis erfahren hatte. Sie macht
sich ein Bild von Gott und der Welt. Dazu nimmt sie Anleihen auf bei
alttestamentlicher Mythologie und bei griechischer philosophischer
Spekulation. Rudolf Bultmann hat die
geistesgeschichtlichen Wurzeln des Christentums auseinandergelegt und die aus
verschiedenen Kulturtraditionen sich mischenden Motivreihen der christlichen
Lehre kenntlich gemacht.33
Das Urchristentum erscheint in dieser Darstellung als ein „merkwürdiges
synkretistisches Gebilde“, und Bultmann hat daran die Frage geknüpft: „Ist
nun das Urchristentum wirklich eine synkretistische Religion? Oder liegt allen
verschiedenen Formen eine einheitliche Anschauung zu Grunde?“ 34
Ich denke, der Terminus Synkretismus läßt sich erst da anwenden, wo
eine einheitlich auftretende Lehre verschiedene Konzeptionen mehr oder weniger
additiv miteinander zusammenführt. Dies ist sicher in der Frühphase der
Dogmenbildung der Fall und löst den Kampf um den Ausschluß inkompatibler
Lehrmeinungen aus, der die alte Kirche anfüllt und schließlich in der
Fixierung einer konziliär dekretierten Orthodoxie endet, die allerdings im
Laufe der Kirchengeschichte immer wieder in Frage gestellt und reinterpretiert
wird. Die in der Tat uneinheitlichen und widersprüchlichen Auffassungen in
den vorpaulinischen Urgemeinden, die aus verschiedenen Quellen gespeist wurden
und durchaus sektiererische Züge tragen,35
sind noch nicht Zeugnisse einer Lehre, sondern Zeugnisse spontaner
Glaubensergriffenheit, für die Konsistenz nicht gefordert werden darf und
auch nicht erwartet wurde. Nicht die Lehre oder „das Gesetz“ bestimmte die
Zugehörigkeit zur Christengemeinde, sondern die Überzeugung, zur „Gemeinde
der Endzeit“ zu gehören, als der „Gemeinde der Heiligen und
Auserwählten, als das wahre Gottesvolk“,36
die durch eine im Glauben an den Messias, Retter, Herrn (Chrestos, Sotêr,
Kyrios) begründete „neue und eigenartige Grundauffassung von der
menschlichen Existenz“ konstituiert ist.37 Was diese Urgemeinde
und den Gehalt der neutestamentlichen Verkündigung ausmacht, ist ein ganz
singuläres Ethos der Gottesbeziehung, das im stellvertretenden Opfer des
Kreuzestodes Jesu und nicht in innerweltlichen Verhaltensweisen und -regeln
sein Maß besitzt. Nirgends in der
neutestamentlichen Verkündigung handelt es sich um den Menschen und die Welt
gleichsam „neben“ oder „gegenüber von“ Gott, auf den diese bezogen
werden; sondern immer geht es um Gott, zu dem die Menschen in Beziehung
stehen, weil er sein Wort an sie richtet. „Ihr Thema ist das Wort Gottes und
nichts sonst, aber das Wort Gottes freilich als Beantwortung nicht nur,
sondern als Ursprung der menschlichen Existenzfrage“.38 Aber im
Menschenleben, das nicht schon in der Endzeit steht, sondern noch in der
Geschichtszeit andauert, kann das Gotteswort nicht nur als Anruf zum Glauben
angenommen werden, es muß auch Weisungen zum rechten Leben, d.h. zum rechten
Handeln erteilen, denn „weil es das Wort Gottes an den wirklichen Menschen
und weil der wirkliche Mensch der im Wirken, in der Tat seines Lebens
begriffene Mensch ist, hört man es nicht abseits, sondern im Akt, und zwar
nicht in irgendeinem Akt, sondern im Lebensakt, im Akt seiner Existenz, oder
man hört es gar nicht“. Was der Mensch vernimmt, „stellt die Wirklichkeit
des Wortes Gottes dar nicht direkt, aber in ihrem Reflex in der allseitigen
Bewegung des frommen Menschenworts durch seinen Gegenstand“.
39 Der in sich zeitlose und prädikationslose Glaube 40
entläßt aus sich in der Zeitlichkeit der Existenz die Systematik
prädizierbarer Verhaltensnormen, in denen sich Gottes Anspruch an den
Menschen konkretisiert und im Gehorsam des Menschen sich sein Glaube, sein
Betroffensein von der Gnade erweist. „Die ethische Frage [...] ist im
eminentem Sinn die menschliche Existenzfrage. Es ist nicht so, daß der
Mensch existiert und dann u.a. auch noch handelt, sondern er existiert, indem
er handelt. Sein Handeln, sein existere, sein Hervortreten ist seine Existenz“.41
Die das Handeln bestimmenden Verhaltensnormen können aber in ihrer
zeitlich-weltlichen Konkretion nicht unmittelbar Gottes Wort sein, sondern nur
dessen Widerhall im Menschen. Ihre Systematik ist „die Wirklichkeit des vom
Menschen wirklich gehörten, den Menschen wirklich angehenden, in
Anspruch nehmenden und mit Beschlag belegenden Wortes. Den Menschen,
nämlich den existierenden, d.h. also nicht bloß denkenden, sondern, indem er
denkt, lebenden, handelnden, irgendwie in der Tat seines Denkens begriffenen
Menschen. Nur der Täter des Wortes [...] ist sein wirklicher Hörer“.
Hier bricht die kontingente Welt in die absolute Exklusivität des Glaubens
ein, das reine Verhältnis des glaubenden Menschen zu Gott verwandelt sich in
ein durch menschlich-weltliche Verstrickungen vermitteltes Verhältnis. Mit dem Übergang von
der Endzeit-Gemeinde der Evangelien zur Kirch-Gemeinde der Sanctorum
Communio 42 tut sich der Widerspruch auf zwischen der
Gerechtigkeit sola fide und der Werkgerechtigkeit in der Welt, zwischen dem
Ethos des Glaubens und der Ethik des Handelns, zwischen der unerforschlichen
absoluten Wahrheit Gottes (dem „Geheimnis“) und dem bedingten,
begründungsbedürftigen Meinen der Menschen.43
Die trinitarisch in Christus aufgehobene Gattungsverschiedenheit von Gott und
Welt stellt sich in der Kirche als dem innerweltlichen Ort und Medium der
Glaubensgemeinschaft wieder her und verlangt reflexive Vermittlungen, die
immer nur kontingent sein können, weil sie sich auf kein substantielles Bild
und begriffliches Wissen von Gott beziehen dürfen.44
„Denn die Wirklichkeit des Menschen, den das Wort Gottes anredet, befindet
sich, so gewiß die Theologie sie keinen Augenblick aus dem Auge verlieren
darf und kann, mit der Wirklichkeit des Wortes Gottes selber keineswegs auf
derselben Ebene [...]. Sondern die Wirklichkeit des durch das Wort Gottes
angeredeten Menschen verhält sich zu der Wirklichkeit des Wortes Gottes
selbst wie das Prädikat sich zum Subjekt verhält, d.h. sie ist diese
Wirklichkeit nie und nirgends und in keiner Hinsicht an sich, sondern eben nur
als mitgesetzt in jener. Sie ist nur von jener aus ausfindig zu machen; man
kann von ihr nur reden, indem man von jener redet“.45
Es bleibt der
Widerspruch, die Christologie der authentischen Gemeinde mit der Ekklesiologie
der Institution in eins führen zu wollen. Die Dogmatik des Christentums ist
ganz auf den soteriologischen Gehalt der Verkündigung abgestellt, die Ethik
des Christentums muß eine gottgefällige Ordnung im Reich der Sünden
entwerfen. Paulus und Johannes bieten Lösungen für den Umgang mit diesem
Widerspruch an. Die Rekonstruktion der
urchristlichen Gottesbeziehung mit Bezug auf Karl Barths theologische
Systemgrundlage ist kein geistesgeschichtlicher Anachronismus. Der situative
Charakter der Herrenworte – Jesu Logien als logoi theou – trägt in
sich die Disparität von existentiell singulärem Verhaltensgebot und ethisch allgemeiner Normengeltung; eine
problemgeschichtlich durchgehende, in sich widersprüchliche Struktur
christlicher Verkündigung und Dogmatik ist darin angelegt, die die Theologie
immer wieder aufs neue und immer wieder zu typischen Denkmustern
zurückkehrend auflösen muß. In extremis treten diese Lösungen als
materialistisch äußerliche Religionskritik und als subjektiv-idealistische
Verinnerlichung der Religion auseinander – Feuerbach und Kierkegaard stellen
im 19. Jahrhundert die Antipoden dar.46
Aber diese Antipoden sind durch dieselbe Ursprungsbewegung aneinander
gebunden. Sie begründen das religiöse Verhältnis im Menschen und müssen
ein Bild des Menschen entwerfen, um den Gegenstand der religiösen Beziehung
„erblicken“ zu können.47
Das Desiderat einer theologischen Anthropologie entspringt aus der
Transformation der Herrenworte in eine Lehre, die für eine Gemeinde oder gar
für eine weltumspannende Kirche, für die Oikumene, verbindlich ist. Die
Dichotomie von Ethos und Ethik bei Barth drückt diesen Selbstwiderspruch aus;
Barth schreibt eine „Ethik“, die das System der Ethik im Ereignischarakter
des Ethos verdampfen will und dabei doch wieder die Systematik restituiert.
Diese Problemkonfiguration ist der Grund für die Denkbewegung, die die
Entwicklung der christlichen Theologie und Philosophie seit der Spätantike
bestimmt und in den dichotomischen Konflikten Gestalt gewinnt.48
Die Entgegensetzung von
(„existentiellem“) Ethos und (axiologischer, normativer) Ethik findet ihre
Begründung und Rechtfertigung in den Schriften des Neuen Testaments. Sowohl
die Evangelien wie die paulinischen Briefe stellen die Haltung aus dem Glauben
über die Befolgung des Gesetzes, also das Ethos über die Ethik. Aber sie
sind nicht etwa anarchistisch in dem Sinne, daß sie das Gesetz (in beiderlei
Gestalt als das Gesetz Gottes und das Gesetz der Obrigkeit) verwerfen würden.
Vielmehr steht auch der Anhänger Jesu in den judenchristlichen Gemeinden
unter der Verpflichtung, dem Gesetz des Herrn, wie es in der Tora verkündet
ist, zu gehorchen – und die Kontroverse um die Akzeptanz der Heidenchristen
entspann sich gerade an der Frage, ob auch die rituellen Gebote (wie z.B. die
Beschneidung) des Judentums einzufordern seien – also eigentlich jeder der
christlichen Gemeinde sich Anschließende auch zum jüdischen Proselyten
gemacht werden müsse. Das Sich-Einrichten in der Welt, die noch in Erwartung
der Endzeit fortdauerte, konnte auf allgemeine Regeln nicht verzichten. Die
Spannung zwischen Ethos und Ethik ist eine Aporie, in die sich die christliche
Glaubenseinstellunng von Anfang an verstrickte. Diese Aporie hat in der
Neuzeit zu einem Subjektivismus in der christlichen Glaubenslehre geführt,
gegen die Barth mit Leidenschaft, mit Ironie und mit bissiger Polemik
kämpfte. In Schleiermacher fand Barth den Gegner, dessen Zauberkraft es zu
zerstören galt, um den Glaubensinhalt der Psychologie des Religiösen zu
entreißen. Zu Schleiermachers zentraler These, daß die Beziehung zu Gott „weder
ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls“ sei, stellt
Barth die Frage nach dem Ursprung dieses Gefühls: „Aber dieser Frage
entzieht sich nun Schleiermacher mit zwei eleganten Sprüngen. Denn, so
begründet er nämlich jene Behauptung: da uns das schlechthinnige
Abhängigkeitsgefühl ‚nirgends anders als im Menschen gegeben ist: so
können wir auch nur darum wissen, sofern es in uns selbst ist.‘ Könnte die
Voraussetzung von Sünde und Gnade, nach der in der Tat zu fragen ist, nicht
etwa auch etwas ganz Anderes sein als etwas im Menschen Gegebenes, z.B.
Gericht und Barmherzigkeit des erwählenden Gottes oder des Menschen Abfall
und Versöhnung?“ 49
Gegen die Frömmigkeit aus dem Gefühl hält Barth: „Der Einwand Hegels: die
Ehre und das Heil des Menschen liege darin, daß er Gott erkenne, bei dem
jeder Kundige unwillkürlich an den Anhang des calvinistischen Katechismus
denkt, könnte auch als der christliche Einwand auftreten, daß es ein
Ursprüngliches geben könnte, das nicht Apriori, sondern Offenbarung wäre,
aber darum etwas durchaus Anderes als die Bewußtseinstatsache, die
Schleiermacher in Joh. l, 14 hineingelesen hat“.50
Schleiermacher vollzieht
in der Theologie die cartesische Wende.51
Wenn die einzige unbezweifelbare Gewißheit die unseres Selbstbewußtseins
ist, so muß auch die Gotteserfahrung aus dem Selbstbewußtsein entspringen.
Daß dies auf dem rationalen Weg des Gottesbeweises nicht logisch einwandfrei
gezeigt werden kann, hat Kant dargetan.52
Also sucht Schleiermacher eine andere Gewißheitsquelle – eben das Gemüt,
und damit verschiebt er das Problem von der erkenntnistheoretischen
Begründungsebene auf die anthropologische. „Es findet der Glaube das
Gottesbewußtsein aus der christlichen Erfahrung entstanden. Es findet die Wissenschaft
dasselbe in der allgemeinen Menschennatur begründet“.53
Und Barth hält dem entgegen, „das Gottesbewußtsein auf dem Umweg über die
christliche Erfahrung in das Selbstbewußtsein als solches hineinzubringen“
bedeute, „ein Ich zu setzen, im Verhältnis zu dem das ganze positive
Christentum nur ein einzelnes Daseinsmoment neben anderen ist“.54 Es ist der heillose
Subjektivismus der Moderne, gegen den Barth sich wehrt. Diese Einstellung
kulminiert in Schleiermachers Prinzip, „was Bibel und Kirche objektiv sagen,
auf das Subjektive zurückzuführen [...]. Die Dogmatik ist eigentlich
nur eine Rede des Gefühls über sich selbst“.55 Das Selbst
wird als schlechthinnige Abhängigkeit (psychologisch gesprochen: als
Minderwertigkeit) gefühlt, von ihm aus wird Gott erfahren. Die Verkündigung
ist damit ihres Sinnes beraubt, Verkündigung zu sein, sie wird zum
bloßen Anlaß der Selbstbestätigung.. „Wenn nun das Gefühl redet und
sogar lehrt, so ist doch sein Gegenstand kein anderer als – es selbst“.56
Gott wird dann nichts anderes als die Projektion des Minderwertigkeitsgefühls
(„schlechthinnige Abhängigkeit“) auf einen äußeren Gegenstand, der
(wissenschaftlich-kausal) als dessen Ursache gesetzt wird.57
Und das soll Theologie
sein? Barth hat recht, wenn er Hegels Bosheiten gegen Schleiermacher in Schutz
nimmt. Aber täuschen wir uns nicht: Barth hat auch mit Hegel nichts im Sinn,
denn Hegel stellt die Aufgabe, Gott zu erkennen; das heißt er
transformiert die Theologie in Religionsphilosophie – und die kann, wie sich
von Scotus Eriugena über Spinoza bis zu Hegel selbst zeigt, Gott nur von der
Welt her fassen. Die Denkfigur der analogia entis, die imago Dei ausgeweitet
auf die Welt als Ganze soll diese Erkenntnis Gottes aus dem Spiegel dem
Glauben implantieren. Aber der Glaube – darauf insistiert Barth und kann
sich auf die Verkündigung Mosis und Jesu berufen – ist von der Erkenntnis gattungsverschieden.
Er kann gepredigt und erweckt werden 58
, aber nicht deduziert und bewiesen. Damit bezeugt Barth aber
– entgegen dem subjektivistischen Irrationalismus Schleiermachers – einen
anderen Irrationalismus, der sich objektiv dem Wahrheitsproblem verpflichtet
weiß; und das ist das Problem, dem sich die christliche Philosophie, vorab
also die mittelalterliche, prinzipiell konfrontiert sieht. „Es handelt sich
im christlichen Glauben um eine Erleuchtung der Vernunft [...] Zur
Natur Gottes des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes gehört es nun
allerdings, daß er nicht erkennbar ist auf Grund des Vermögens des
menschlichen Erkennens, sondern vernehmbar ist und vernommen wird allein auf
Grund Gottes eigener Freiheit, Entscheidung und Aktion. [...] Dieses absolute
und höchste Wesen, dieses Letzte und Tiefste, dieses ‚Ding an sich‘ hat
mit Gott nichts zu tun. Es gehört zu den Intuitionen und Grenzmöglichkeiten
menschlichen Denkens, menschlichen Konstruierens. Dieses Wesen denken kann der
Mensch, aber er hat damit nicht Gott gedacht. Gott wird gedacht und Gott wird
erkannt, wenn Gott in seiner eigenen Freiheit sich vernehmbar macht“.59
Das ist etwas ganz anderes als die spekulative Erkenntnis des Absoluten, des
Dings an sich, der Grenzüberschreitung zum Unendlichen.60
Es ist eine Erfahrung, die als Erfahrung mit dem Inhalt der Gewißheit ihrer
„Richtigkeit“, also der „Wahrheit“ versehen ist.61
„Es ist nicht an dem, daß der christliche Glaube ein dunkles Gefühl wäre,
ein alogisches Fühlen, Erleben und Erfahren. Der Glaube ist Erkenntnis, er
bezieht sich auf Gottes Logos und ist darum eine durchaus logische Sache. Die
Wahrheit Jesu Christi ist auch im schlichtesten Sinne Tatsachenwahrheit. Ihr
Ausgangspunkt, die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, ist eine Tatsache,
im Raum und in der Zeit geschehen, wie das Neue Testament sie beschreibt. Die
Apostel haben sich nicht damit begnügt, eine innerliche Tatsache
festzuhalten, sondern sie haben von dem geredet, was sie gesehen und gehört
und was sie mit ihren Händen betastet haben“.62
Natürlich ist das keine „bewiesene“ Wahrheit, weder argumentativ noch in
sinnlicher Gegebenheit. Der Bericht der Evangelisten muß als objektiv
zutreffend ohne weitere Beweisgründe gelten, der Ausspruch Jesu, Gottes Sohn
zu sein und Gottes Wort zu verkünden (was vielleicht dasselbe meint), muß
anerkannt werden. „Der christliche Glaube ist die Begegnung mit Jesus
Christus und in ihm mit dem lebendigen Wort Gottes“.63
Das aber ist ein Dilemma: Wir müssen alle Zweifel, die wir berechtigt haben
können, alle Einwände der Vernunft und die Kriterien der Erkenntniskritik
hinter uns lassen, um dieses Credo aufrichtig zu bekennen. Wir müssen der
Verkündigung der Heiligen Schrift vertrauen und aufgrund dieses
Vertrauens eine Meinung als Erkenntnis der Wahrheit bekennen. Glauben
ist Erkenntnis aufgrund von Vertrauen und als Bekenntnis.64
Das ist aber ein Modus von Erkenntnis, der das genaue Gegenteil rationaler,
wissenschaftlicher, weltlicher Erkenntnis ist, also in diesem Sinne gerade keine
Erkenntnis. Die Glaubenseinstellung credo ut intelligam läßt sich
nicht einfach in das intelligo ut credam überführen. Aber beide
Einstellungen treffen aufeinander, wo Theologie als Systematik der
Glaubensinhalte ausgearbeitet wird. Sie sind sozusagen die Indices der in der
Theologie sich durchsetzenden Dialektik – des Selbstunterschieds der
Theologie, die Theologie nur sein kann, wenn sie Theologie ist; oder anders
gesagt: nur Theologie ist, wenn sie die Form der Philosophie annimmt (ohne
sich deren Maß unterwerfen zu dürfen). Aber es gibt keine Form der
Philosophie, die nicht an ihrem Maß Gestalt gewönne, also gemäß den
Apriorien der Vernunft gebaut zu sein hätte. Diesem Anspruch unterwirft sich
auch theologische Dogmatik in ihrer Architektur, aber nicht in ihren
Fundamenten. Jede Theologie, die
diesem Widerspruch ausweicht, indem sie die Glaubensgewißheit in der
Subjektivität des Selbstbewußtseins begründet verwandelt sich in
Anthropologie. Der logos tou theou wird dann zur Rede des Menschen
über Gott, Gott wird zum Gegenstand menschlichen Bewußtseins und in
allem, was von ihm ausgesagt wird, durch die Form menschlichen Bewußtseins
programmiert. Der Mensch ist dann nicht imago Dei, sondern Gott ein
Bild nach Art der menschlichen Vorstellung. Das ist die Konsequenz der
Theologie Schleiermachers und darin „liegt „die Quelle des unvermeidlichen
Anthropomorphismus in allen Aussagen über Gott“.65
Darum verwendet Barth seinen ganzen Scharfsinn auf die Widerlegung, stärker
noch: auf die Destruktion Schleiermachers. Da bleibt von dem Gebäude, in dem
die „moderne“ Theologie sich eingerichtet hatte, kein Stein auf dem
anderen. Aber zugleich stürzt auch damit das ganze, in labilem Gleichgewicht
sich auspendelnde Stützensystem der natürlichen Theologie und spekulativen
Philosophie, das die Kathedrale des mittelalterlichen Denkens gehalten hatte
und auch in die Systematik des nachlutherischen Protestantismus eingegangen
war.66
Das ist die Aporie, in die christliches Denken als Denken des Glaubens in der
Unterscheidung „zwischen Evangelium und Gesetz, Geist und Buchstaben,
Glauben und Schauen (und mithin zwischen Offenbarung Gottes und Anschauung der
Welt, zwischen Glauben und Wissen, Theologie und Wissenschaft“ immer wieder
gerät und dessen sich die Glaubensinstitution als „ecclesia semper
reformanda“ stets wieder im Rückgriff auf ihren Ursprung
vergewissern muß. Wir erkennen hier die Problemkonfiguration, aus der von der
Patristik bis zur Spätscholastik eine dialektische Denkbewegung hervorgeht. In der Radikalität
seiner Rückwendung zum neutestamentlichen Ursprung des Christentums erneuert
Barth die Ausgangslage der christlichen Theologie und Philosophie – die
Situation der fides quaerens intellectum. Die Leistung des intelligere
ist es, aus rationaler Klärung und Ordnung der Sachverhalte die Welt so
zu verstehen, daß man sich in ihr richtig, das heißt der natürlichen und
wesensgemäßen Ordnung entsprechend, verhalten kann. Der Glaube, der das
Weltwissen erstrebt, weil er seiner bedürftig ist, wenn er praktisch konkret
werden und sich bewähren soll, muß mit dem Widerspruch umgehen, „das
Geheimnis Gottes“ mit der fortschreitenden Offenlegung der Welt, dem
Erkenntnisprogreß, zusammenzusehen und in Einklang zu bringen, das heißt die
Form des Widerspruchs zu denken und seine Realität auszuhalten.
Gott und Welt in dieser Spannung zu erfahren und dieses Verhältnis nicht nur
zu erleben, sondern in ihm zu leben, ist das Thema der christlichen
Philosophie. Barth hilft uns, dieses Thema in seinen geschichtlichen Gestalten
aus der Vergegenwärtigung zu begreifen. 67 Hanfried
Müller, Dogmatik, a.a.O., S. 31.
68 Ebd., S. 29.
69 Barth, Dogmatik im Grundriß, a.a.O., S. 19.
Antwort von Peter Franz
an Rosemarie Müller-Streisand
Sehr geehrte Frau
Professor,
liebe Schwester
Müller-Streisand, daß Sie mich falscher
Theologie zeihen, obgleich wir in unseren politischen Grundeinschätzungen gar
nicht weit auseinander liegen, könnte man auch auf sich beruhen lassen, denn
mein theologischer Einfluß auf Christen dieses Landes tendiert seit meinem
erzwungenen Berufsverbot als Pfarrer gegen Null. Allerdings treten Sie in
Ihrem Beitrag auch mit dem Anspruch auf, den wahren Glauben, der der Ihrige
ist, gegen einen falschen in den von mir vorgetragenen
Äußerungen, den RotFuchs-Lesern kundzutun. Der wichtigste Grund für
Sie, zur Feder zu greifen, ist wohl in Ihren letzten Sätzen zu suchen, in
denen Sie von Fehleinschätzungen der
DDR-Behörden schreiben, die damals in der Einengung der
Bündniszuverlässigkeit auf den Kreis "religiöser Sozialisten" zum
Ausdruck kamen. Hier kann ich freilich überhaupt keine aktuelle Gefahr sehen,
da doch der RotFuchs kaum mit dem Anspruch irgendeiner Machtfülle aufzutreten
in der Lage ist. Wie dem auch sei - Ihre
öffentlich vorgetragene kritische Anfrage erfordert wohl auch eine
öffentliche Entgegnung. Und die soll in der bescheidenen Feststellung
gipfeln, daß mein durch historisch-kritische Betrachtungsweise geschulter
theologischer Verstand (und das nicht erst seit heute) bei der kritischen
Sichtung der Dokumente mich nicht vor dem Endergebnis der neutestamentlichen
Kanonbildung Halt machen läßt. Mit Franz
Hinkelammert sehe ich manche Grundentscheidungen oder Glaubensthesen,
die eine christliche Dogmatik aus diesen Schriften herausdestilliert, als
prinzipiell hinterfragbar oder anzweifelbar. Z.B. die These von der
Einzigartigkeit der Gottessohnschaft Jesu, die die alte Kirche meinte
festschreiben zu sollen. Mir leuchtet sehr ein, was Hinkelammert
[9]
im Nachdenken über den Johannesevangelisten in Joh. 10
schreibt: Sollte er nicht gerade seine Freunde davor bewahrt haben, in
ihm den "einzigen" Gottessohn zu sehen? Könnte er nicht geradezu
Anhänger wie Gegner vor seiner von manchen (je nach Interessenlage) erhofften
oder befürchteten Exklusivität, also vor seiner "Vergottung"
gewarnt haben? Mit dem Verweis Johannes und dessen Rekurrieren auf Psalm 82,6
erklärt H. überzeugend, daß Jesus die Menschen in ihren von Gott
zugedachten Existenz als seine Söhne und Töchter angesprochen hat. Indem
sich jeder und jede von ihnen als authentisches Kind Gottes erkennen darf, hat
er sie in ihr eigentliches Recht als Subjekt eingesetzt. Das ist nichts
anderes als die Fortschreibung oder Aktualisierung der Befreiunggeschichte der
Exodus-Überlieferung in die damalige Situation. Sie haben mich in der
zweiten Fußnote Ihres Artikels mit einem Pauluswort hingewiesen auf den
alleinigen Grund, auf dem unsere Glaube ruht. Ich frage mich allerdings, was
dieser Grund konkret bedeutet, wenn seine Zitierung keine deklamarorische
Leerformel bleiben soll. Für den jüdischen Lehrer Jesus war zweifellos der
gelegte Urgrund seines befreienden Glaubens Vers 1 der Zehn Gebote: Ich bin
der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland,aus der Knechtschaft
geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ (Ex. 20, 2)
Dieser Jesus wollte nichts anderes als befreiende Menschen um sich sehen. In
seinem Handeln hat er sich in diese Befreiungstradition gestellt. Darin war er
ein hervorragender Sohn Gottes, der auch und Töchtern und Söhnen Gottes
heute Mut und Zuversicht dafür gibt, an der Befreiungsgeschichte seiner
Menschheit mitzuwirken - und das heißt heute an der Bekämpfung und endlichen
Überwindung des menschenverachtenden Kapitalsystems. Um die große Distanz
zwischen dem Gottessohn Jesus aus Nazareth und dem Gottessohn Peter Franz aus
Taubach herauszustellen, schreiben Sie: „Jesus nannte die Seinen ‘Brüder’.
Niemals aber nennen seine Jünger ihn ‘Bruder’ ... Den ‘Bruder Jesus’
kennt das Neue Testament jedenfalls nicht.“ Da tröste ich mich als
Lutheraner mit der Strophe des Lutherliedes „Nun freut euch, liebe Christen
G’mein“, in der es heißt: (6.) „Der Sohn dem Vater g’horsam ward, /
Er kam zu mir auf Erden / von einer Jungfrau rein uns zart, / Er sollt’ mein
Bruder werden.“ Und in einem anderen Lutherlied („ermuntre dich, mein
schwacher Geist“) wird ähnlich von unserem Bruder Jesus gesungen: (10) „Lob,
Preis und Dank Herr Jesu Christ, / Sei dir von mir gesungen, / daß du mein
Bruder worden bist / und hast die Welt bezwungen; / Hilf, daß ich deine
Gütigkeit / stets preis in dieser Gnadenzeit / Und mög hernach dort oben /
in Ewigkeit dich loben.“ Da war der gute Luther
nicht so zimperlich, nur Worte und Wendungen zu gebrauchen, die kanonifiziert
sind. Was die „Auferstehung“
anbetrifft, so halte ich mich nicht so gerne an Paulus, sondern lieber an die
Aussage eines Synoptikers, der immerhin kanonisch ist. In seinem Sondergut
überliefert Lukas die schöne Geschichte „Vom verlorenen Sohn“ und läßt
darin den Vater über den Wiedergfundenen jubelnd ausrufen: „Dieser mein
Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist
gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu sein.“ Von Gott gefunden
worden und zum Dienst am Leben berufen zu sein, ist mir persönlich
Auferstehung genug. Ich brauche keine weitere. Wenn Sie den Begriff „Kumpel“
nicht mögen (den ich nicht verwendete, sondern den Sie mit der Überschrift
in diese Diskussion einführen), könnte das an der Mehrdeutigkeit seiner
Semantik liegen. Aber in seiner positiven Bedeutung meint Kumpel den Menschen,
der neben mir die Schätze aus der Erde befördert und darin ein „Kumpel“
ist. In diesem Sinne wünsche ich mir, daß Sie mir als eine Schwester
unter uns Kindern Gottes wohlgesonnen bleiben. Lassen wir uns von unserem „großen
Bruder“ Jesus inspierieren in unserem Kampf für eine gerechte Welt, die zu
bewohnen der alleinige Gott des Exodus uns verheißen hat. ... gez. Peter Franz
Von Peter Franz habe ich
vielleicht drei Aufsätze gelesen; ich kenne ihn also nicht, und die Basis
meiner Wahrnehmung und Überlegung ist äußerst schmal. Dennoch drängt es
mich, eine Frage vorzubringen. Es kommt mir so vor, als würde ich seine
Äußerungen anders als Rosemarie Müller-Streisand lesen. Peter Franz Satz
„Christsein heißt Jesuaner sein“, mit dem er (ungefähr so lautete die
Formel) in einem RotFuchs-Heft des vergangenen Jahres seine confessio
zusammengefaßt hat, hat mich, wenn auch mehrfach gespaltenen Gemüts, bewegt.
Zweifellos kann er schnurstracks in eine liberale Theologie führen,
muß es aber nach meinem Dafürhalten nicht. Kann er nicht auch die
Orientierung eines Christentums, einer christlichen Existenz ohne Theologie
sein? Ist das nicht auch ein möglicher und achtenswerter Weg von der Kirche
zur Welt? Rosemarie Müller-Streisand argumentiert als Theologin gegen eine
(in nuce vorliegende oder doch potenzielle) Theologie.
Wenn es sich im
Wesentlichen aber nicht um unterschiedliche oder gegensätzliche Theologien,
sondern um die Differenz oder den Gegensatz Theologie (als der rationalen, in
sich schlüssigen Reflexion des Glaubens) einerseits und Nicht-Theologie
(nicht unreflektierte, aber „unsystematische“ Nachfolge) andererseits
handelt? Beide Methoden, Gehalte und Haltungen haben ein Entscheidendes
gemeinsam: Die Theologie Müller’scher Prägung in der Konsequenz und
Radikalisierung Bonhoeffer’ scher Einsichten wie auch auf ihre Weise die
Nicht-Theologie von Peter Franz sind ganz und
gar nichtreligiös und, was in zentraler Hinsicht letztlich ein- und
dasselbe ist, uneingeschränkt solidarisch mit der „Welt“, sich vom
menschlichen xunòn
durch keinerlei Unterscheidung einer „Religion“ abhebend. Religion, denke
ich, ist im genauen Sinn a-sozial; sie stört und zerstört, was den Menschen
gemeinsam ist; sie trennt die Menschen - der eine hat’s, der andere nicht.
(Dagegen sagt Heraklit: gemeinsam ist allen die Vernunft, das Denken.) Wenn
die Bemerkung einem Nicht-Christen, einem Griechen, erlaubt ist: Ich sehe in
beiden Möglichkeiten, der Müller’schen Theologie und dem Franz’schen
Jesuanertum, zwei zusammengehörende Momente christlicher Existenz, die nicht
miteinander und schon gar nicht gegeneinander konkurrieren, sondern sich mit
innerer Notwendigkeit ergänzen? Ein
vor nicht langer Zeit zwischen Martin Niemöller und mir geführtes
Kurzgespräch verlief so: Ich: Martin, ich wundere
mich, daß du trotz der wenigen systematischen Theologie, die du
getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst! Er: Karl, ich wundere
mich, daß du trotz der vielen systematischen Theologie, die du
getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst! (Karl
Barth, in: Bekennende Kirche,
Martin Niemöller zum sechzigsten Geburtstag, München 1952, S. 9)
Ein Leserbrief zu
Rosemarie Müller-Streisands Kritik an Peter Franz
von Dieter Kraft
Liebe Frau Müller, ich habe mich schon
lange nicht mehr in den WBl zu Wort gemeldet, doch Ihre Kritik an dem Beitrag
von Peter Franz ist so erfrischend ambivalent, daß ich mich geradezu
verführt fühle, eine Wortmeldung abzugeben. Ambivalent war zunächst auch
mein ganz unmittelbarer Eindruck, den ich von Ihrer Kritik hatte, denn „irgendwie“
haben sie mit ihr ja Recht, aber schließlich wiederum auch nicht. Zuerst
dachte ich, mein zwiespältiger Eindruck beruhe vielleicht nur darauf, daß
Sie in Ihrer Überschrift suggerieren, Peter Franz habe vom „Kumpel Jesus“
gesprochen, von „unserem Genossen“. Das hat er aber nun wirklich gar nicht
getan, auch wenn ich verstehe, daß man vom Stichwort „Wanderprediger“
sehr schnell auch auf die „Walze“ und zu den „fahrenden Gesellen“
kommen kann. Ganz abgesehen davon, daß der Nazarener auch in weit weniger
ehrenwerten Kreisen verkehrte, daß er durchaus als Wanderprediger gewirkt
hat, läßt sich doch nicht bestreiten. Wohl aber, daß allein schon ein
solcher exegetischer Befund einen „liberalen Theologen“ ausmacht. Wenn ich Peter Franz
richtig verstanden habe, dann ging es ihm um die unglaubliche Diskrepanz
zwischen der anspruchslosen Existenz eines Wanderpredigers (und seinen ihm
nachfolgenden Jüngern) und einer Kirche, die schließlich als Welt-Macht
reüssiert. Nun konzedieren Sie ihm zwar, daß er mit seiner Beschreibung des
„Christentums“ im Blick auf die römische Staatskirche „weithin Recht“
habe, doch die Verweltlichung dieser Kirche setzt ja durchaus nicht erst, wie
Sie meinen, mit der konstantinischen Wende ein. Diese „Wende“ war doch nur
möglich, weil sie an Deformationen anknüpfen konnte, die sich über die Zeit
„entwickelt“ hatten. Das haben alle „Wenden“ so an sich. Damit erwächst nun aber
auch ein grundsätzliches Problem, das ja nicht nur Peter Franz hat und das,
soweit ich sehe, in fast jeder evangelischen Dogmatik einfach ausgeblendet
wird. Wenn sich die „Theologie- und Dogmengeschichte“ innerhalb einer
Kirche entfaltet, die schließlich zum römischen Kaiser überläuft und sich
ausgerechnet von diesem (Ungetauften!) ein ökumenisches Glaubensbekenntnis
verordnen läßt, dann wird „Orthodoxie“
ein höchst zwiespältiger Begriff. Gottfried Arnold - ein Pietist,
kein Liberaler - gehört zu den wenigen protestantischen Theologen, die es
gewagt haben, aufgrund dieses Befundes die Theologie- und Dogmengeschichte der
„Alten Kirche“ auch grundsätzlich in Frage zustellen. Man muß Arnolds
„Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie“ ja nicht in allem folgen,
aber seinem kritischen Ansatz kann man sich nur um den Preis einer
Tabuisierung des historischen Kontextes dieser Geschichte entziehen. Nun hat Peter Franz
keine kritische Dogmengeschichte geschrieben, wohl aber wartet er mit einer
die Dogmengeschichte betreffenden These auf, die auf den ersten Blick
tatsächlich sehr irritierend wirkt: Indem die christlichen Gemeinden auf
ihrem Wege zur römischen Staatsreligion „die jesuanische Hoffnung auf eine
Welt der ‚Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude im heiligen Geist’
aufgegeben und daraus den mystifizierenden Glauben an einen ‚auferstandenen,
regierenden und richtenden Christus’ gemacht haben, wurde das Gegenteil
dessen, was jener sich erhofft hatte.“ Darauf könnte man nun
tatsächlich „erschrocken“ und auch „allergisch“ reagieren und
konfessorisch 1. Kor. 15,4 zitieren. Man könnte aber andererseits auch danach
fragen, ob nicht vielleicht doch irgendein Zusammenhang besteht zwischen dem
kaiserlich verordneten Credo und jener römischen Reichskirchlichkeit, die
sich nachgerade im Widerspruch zur neutestamentlichen Botschaft befindet. Es
läßt sich ja nicht leugnen, daß dieses Credo mit einer unheimlichen
Hypothek belastet ist. Schließlich diente es primär einem politischen Zweck,
nämlich der vom Kaiser angestrebten staatsreligiösen Kircheneinheit, die der
römischen Reichseinheit zu entsprechen hatte, um die religionspolitischen
Funktionen des obsolet gewordenen Götterolymps übernehmen zu können. Ein
ungeheuerlicher Vorgang, dessen Abgründigkeit nur zu gut verstehen läßt,
warum manch einem dieses Credo suspekt werden kann. Und eigentlich hat die
protestantische Theologie insgesamt dabei versagt, eine seriöse Hilfestellung
bei der Bewältigung dieser eklatanten Problematik zu geben. Sie hat den
Skandal einfach verdrängt und ihn, wenn überhaupt, der
Kirchengeschichtsschreibung überlassen. Vielleicht ja auch deshalb, weil sie
selbst keine stimmige Antwort auf die Frage hatte, wie viel
Glaubenswürdigkeit einem christlichen Bekenntnis zukommt, das nach Maßgabe
rein imperialpolitischer Interessen zustande gekommen ist. Peter Franz hat durchaus
einen neuralgischen Punkt angesprochen, der
noch immer schmerzt. Deshalb würde ich es nicht für allzu „gravierend“
halten, daß er in diesem Zusammenhang vom „auferstandenen, regierenden und
richtenden Christus“ in Anführungszeichen spricht. Vielleicht sind die in
diesem Zusammenhang sogar angebracht. Das neutestamentliche Bekenntnis zu
Christus als dem Auferstandenen, Regierenden und Richtenden ergeht immer in
statu confessionis und also im radikalen Widerspruch zu einer Welt, die Paulus
den „alten Äon“ nennt und die in der Johannes-Apokalypse mit dem
römischen Reichsimperialismus koinzidiert. Und so ist es ein Bekenntnis auf
Leben und Tod - und gerade darin ein wahrhaftiges Christusbekenntnis. Ein Nero
und ein Diokletian wußten nur zu gut, warum sie den Christen nach dem Leben
trachteten. Und das Neue Testament rechnet ja auch damit, daß die Nachfolge
an das Kreuz führt (Mk. 8,34). Jedenfalls führt sie in die Opposition zu dem
„Reich dieser Welt“, weil Christi Reich nicht von dieser Welt ist (Joh.
18,36). Gemessen an dem
neutestamentlichen Verständnis von Nachfolge, ist es schon etwas anderes,
womöglich sogar etwas Grundverschiedenes, wenn in Nicäa unter dem Vorsitz
des römischen Kaisers vom „auferstandenen, regierenden und richtenden
Christus“ gesprochen wird. Nachfolge im Zeichen des nicänischen Christus
ist in dem „Reich dieser Welt“ wirklich nur schwer als ein Skandalon und
eine Torheit auszumachen (1.Kor. 1,23). Der Kaiser jedenfalls hatte keine Probleme, einen solchen „Herrn“ neben sich zu
wissen. Einem zur Umkehr rufenden Wanderprediger allerdings hätte er wohl
nicht einmal eine Audienz gewährt. So wahrhaftig Christus
unser Herr ist, und hier, liebe Frau Müller, lese ich (und Peter Franz doch
sicher auch) Paulus und die Evangelien wie Sie - aber schon Matthäus weiß
darum, daß nicht jeder, der da „Herr, Herr sagt“ in das Himmelreich
eingehen wird, „sondern wer den Willen meines Vaters tut“ (Matth. 7,21).
Und so dürfte es denn auch gar nicht prinzipiell ausgeschlossen sein oder
werden, daß sich etwa mit einem „Hoheitstitel“ „Bruder“ unter
Umständen mehr neutestamentliche Authentizität verbinden kann als mit einer
Herren-Rede, die dem römischen Herren Konstantin durchaus systemkompatibel
erschien. Ganz sicher war Peter
Franz nicht gut beraten, mit der Überschrift „Ungeist aus uralten Quellen“
den Eindruck zu erwecken, bei diesen Quellen meine er das Neue Testament
selbst. Aber mit Überschriften ist das ja auch immer so eine Sache. Auch bei
der Überschrift zu Ihrer Kritik könnte man, mutatis mutandis, mit Karl Barth
sagen: Dialektischer sollten mir die dialektischen Theologen sein, wenn sie
der Orthodoxie die Ehre geben wollen. Denn „Messias Jahwes oder
Wanderprediger“ ist einfach eine falsche Alternative. Ich lese im Neue
Testament, daß der Messias ein Wanderprediger ist (Matth. 4,23; Mk. 1,39) und
daß eben dieser Wanderprediger als der verheißene Messias verkündet wird (Joh.
1,41). Ich denke, Peter Franz hat das auch so gelesen.
Theorie und Praxis der
nationaldemokratischen Revolution am Beispiel Afghanistans
von
Matin Baraki
Die Wahrheit ist so
wenig bescheiden als das Licht …Bildet die Bescheidenheit den Charakter der
Untersuchung, so ist sie eher ein Kennzeichen der Scheu vor der Wahrheit als
vor der Unwahrheit. Sie ist eine der
Untersuchung vorgeschriebene Angst, das Resultat zu finden, ein
Präservativmittelvor der Wahrheit.“ Karl
Marx
Vorbemerkung Sind wir, wie manche
Apologeten der Bourgeoisie behaupten, angesichts der vorläufigen historischen
Niederlage des „real existierenden Sozialismus“ Ende der achtziger Jahre
in Europa, an das Ende der Geschichte gelangt, oder gibt es Möglichkeiten
eines neuen Anlau Sind wir, wie manche
Apologeten der Bourgeoisie behaupten, angesichts der vorläufigen historischen
Niederlage des „real existierenden Sozialismus“ Ende der achtziger Jahre
in Europa, an das Ende der Geschichte gelangt, oder gibt es Möglichkeiten
eines neuen Anlaufes hin zu einer sozialistischen Orientierung? In diesem
Beitrag wird der Versuch unternommen, die in den Hintergrund geratene
Diskussion über die Umgehung des kapitalistischen Entwicklungsweges zum
Sozialismus für die in „Unterentwicklung gehaltenen Länder“
[10]
wieder aufzunehmen und die praktische Umsetzung dieser Theorie am
Beispiel Afghanistan zu untersuchen. Dabei sollen Schlußfolgerungen für die
Perspektiven der in Unterentwicklung gehaltenen Länder unter den neuen
Rahmenbedingungen, d.h. ohne Existenz des Sozialismus, gezogen werden. I. Die Theorieansätze
bei den marxistischen Klassikern Die marxistischen
Klassiker haben unter anderem im Rahmen ihrer Hauptuntersuchung der
kapitalistischen Produktionsweise Westeuropas auch die Entwicklungsprobleme
der vorkapitalistischen Gesellschaften, bevorzugt Indiens, Rußlands, Chinas,
Persiens, Ägyptens und der Türkei, behandelt. Marx und Engels legten ihre
Auffassungen über die Möglichkeit einer Vermeidung des kapitalistischen
Entwicklungsweges zum ersten Mal ausführlich und explizit bezüglich
Rußlands dar. Marx kam zu dem Resultat: „fährt Rußland fort, den Weg zu
verfolgen, den es seit 1861 eingeschlagen hat,
[11]
so wird es die schönste Chance verlieren, die die Geschichte
jemals einem Volk dargeboten hat, um dafür alle verhängnisvollen
Wechselfälle des kapitalistischen Systems
durchzumachen,“
[12]
wie er 1877 in einem Brief an die Redaktion der „Otetschestwennyje
Sapiski“ hervorhob. In einem Schreiben an Vera Sassulitsch von Februar 1881
erläuterte Marx: „Es [das Gemeineigentum] ist mit dem gesellschaftlichen
Fortschritt überall verschwunden. Warum sollte es demselben Schicksal
allein in Rußland entgehen? Ich antworte: Weil in Rußland, dank eines
einzigartigen Zusammentreffens von Umständen, die noch in nationalem Maßstab
vorhandene Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen
befreien und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion in
nationalem Maßstab entwickeln kann. Gerade auf Grund ihrer Gleichzeitigkeit
mit der kapitalistischen Produktion kann sie sich deren positive
Errungenschaften aneignen, ohne ihre furchtbaren Wechselfälle durchzumachen.
Rußland lebt nicht isoliert von der modernen Welt, noch weniger ist es die
Beute eines fremden Eroberers wie Ostindien.“
[13]
Mit dieser Differenzierung zwischen Rußland und Ostindien weist
Marx auf eine wesentliche Voraussetzung, nämlich die nationale
Unabhängigkeit, für den nichtkapitalistischen Entwicklungsweg (NKEW) hin.
Marx hatte in einem Brief an Engels die Priorität der nationalen Revolution
in Irland für den Aufschwung der englischen Arbeiterklasse betont, wobei er
seine alte Auffassung, „daß das irische Regime durch den Aufstieg der
englischen Arbeiterklasse zu stürzen“
[14]
sei, korrigierte. Eine konkrete Konzeption, wie die Entwicklung
vorkapitalistischer Gesellschaften sich gestalten könnte, wurde von Marx und
Engels aber nicht vorgelegt. Engels schrieb im September 1882 an Karl Kautsky:
„Welche sozialen und politischen Phasen aber diese Länder [gemeint sind die
in Unterentwicklung gehaltenen Länder] dann durch zu machen haben, bis sie
ebenfalls zur sozialistischen Ordnung kommen, darüber glaube ich, können wir
heute nur ziemlich müßige Hypothesen aufstellen.
[15]
Im Vorwort zu 1. Auflage des „Kapitals“ konkretisierte Marx
einen wesentlichen Aspekt seiner Vorstellung zum NKEW: „Auch wenn eine
Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist [...],
kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch
wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.
[16]
Am umfassendesten und
genauer definierte Engels in seinem „Nachwort zu ‚Soziales aus Rußland’“
die Voraussetzungen zum NKEW. Hierin erklärte Engels, daß es nach dem „Sieg
des westeuropäischen Proletariats über die Bourgeoisie“
[17]
und nach der „Überführung der Produktionsmittel in
Gemeinbesitz bei den westeuropäischen Völkern“
[18]
, für andere in der Unterentwicklung gehaltene Völker „nicht
nur möglich, sondern gewiß“ ist, „ihren Entwicklungsprozeß zur
sozialistischen Gesellschaft bedeutend abzukürzen und sich den größten Teil
der Leiden und Kämpfe zu ersparen, durch die wir in Westeuropa uns
durcharbeiten müssen.“
[19]
Während in der Arbeit
der Internationalen Arbeiterassoziation, der Ersten Internationale
(1864-1876), die Entwicklungsprobleme der Kolonien noch kaum Beachtung fanden,
rückten sie bald in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen der Zweiten
Internationale (1889 -1914). Auf ihren Kongressen in London (Juli 1896) und
Paris (September 1900) hatte die Zweite Internationale einhellig die
Kolonialpolitik der europäischen Bourgeoisie verurteilt und die
Selbstbestimmung der Nationen propagiert. Mit der Herausbildung von
Revisionismus und Opportunismus in der Zweiten Internationale, vertreten durch
ihre Hauptprotagonisten, den Niederländer Heinrich van Kol, den Deutschen
Eduard Bernstein und den Österreicher Otto Bauer, wurde auf dem Amsterdamer
(August 1904) und Stuttgarter Kongreß (August 1907) der Kolonialismus als
eine logische Folge der Unterentwicklung einiger Länder dargestellt. Es wurde
darauf hingewiesen, daß „der Kapitalismus in Europa eine Notwendigkeit ist,
eine notwendige und unvermeidliche Entwicklungsstufe,“
[20]
die auch von den Kolonien durchgemacht werden müsse. Daher „verwirft
der Kongreß nicht jede Kolonialpolitik prinzipiell, weil diese unter
sozialistischem Regime zivilisatorisch wirken kann“.
[21]
Dies war die Position der Mehrheit auf dem Kongreß, die von van
Kol als deren Vertreter vorgetragen wurde. In zwei Artikeln zum
Stuttgarter Kongreß unterzog Lenin die Position der „sozialimperialistischen”
Fraktion der Sozialdemokratie und der revisionistischen und opportunistischen
Strömungen der Zweiten Internationale einer scharfen Kritik.
[22]
Er setzte die Thesen van Kols, Bernsteins und Bauers „mit einem
offenen Rückzug in Richtung bürgerlicher Politik und bürgerlicher
Weltanschauung, die koloniale Kriege und Greuel rechtfertigen“
[23]
, gleich. Lenin stellte fest, daß expansive europäische
Kolonialpolitik gerade dazu geführt hat, „daß der europäische Proletarier
zum Teil in eine solche Lage geraten ist, daß die Gesellschaft als Ganzes
nicht von seiner Arbeit, sondern von der
Arbeit der fast zu Sklaven herabgedrückten kolonialen Eingeborenen lebt.“
[24]
Schon der von Bernstein und seinen Freunden verbreitete
Begriff „‘sozialistische Kolonialpolitik’ ist heillose Konfusion.“
[25]
Die Position van Kols auf der Ersten Tagung des Internationalen
Sozialistischen Büros in Brüssel im Oktober 1908 verglich Lenin mit der
Haltung eines richtigen gesinnungstreuen Beamten. „Das ganze Referat war
nicht vom Geist des proletarischen Klassenkampfes erfüllt, sondern vom Geist des kleinbürgerlichsten, ja noch schlimmer, eines
Beamten-Reformertums.“
[26]
Lenin hob die Verbundenheit zwischen dem Proletariat Europas und
den unterdrückten Völkern hervor: „Wir waren, wir sind und werden immer
für die engste Annäherung und Verschmelzung der klassenbewußten Arbeiter
der fortgeschrittenen Länder mit den Arbeitern, Bauern und Sklaven aller
unterdrückten Länder sein. Wir haben allen unterdrückten Klassen in allen
unterdrückten Länder, darunter auch in den Kolonien, immer geraten und
werden ihnen immer raten, sich nicht von uns loszutrennen, sondern sich uns
möglichst eng anzuschließen und sich mit uns zu verschmelzen.“
[27]
. Als wichtiges
Diskussionsforum, auf dem die Perspektive der Kolonien thematisiert wurde,
erwies sich die 1919 neu gegründete Kommunistische Internationale („Komintern“,
KI) und ihr Exekutivkomitee. Die ersten vier Kongresse hatten noch unter
unmittelbarer Mitwirkung Lenins stattgefunden. Aufgrund der russischen
Erfahrungen wies Lenin auf die Spezifik der „national-demokratischen
Revolutionen” bei den in Unterentwicklung gehaltenen Ländern hin. Er riet
den Kommunisten der Länder des Ostens, die allgemeine kommunistische Theorie
und Praxis unter den besonderen Bedingungen der jeweiligen Länder anzuwenden.
Diese müßten berücksichtigen, daß „die
Hauptmasse der Bevölkerung Bauern sind und wo es den Kampf nicht gegen
das Kapital, sondern gegen die Überreste des Mittelalters zu führen gilt.“
Lenin hebt hervor, daß hier eine Aufgabe bevorsteht, „wie sie vor den
Kommunisten der ganzen Welt bisher nicht gestanden hat.“
[28]
Tatsächlich wurden damals gerade die ersten Schritte auf dem Wege
zum NKEW für die Völker Transkaukasiens, Mittelasiens und Sibiriens sowie
der Mongolei unternommen, ohne daß man schon auf gesicherte Erfahrungen
hätte zurückgreifen können. Hier wird die Komplexität der bevorstehenden
Aufgaben ganz nachdrücklich vor Augen geführt. Deswegen betonte Lenin die
Notwendigkeit einer Einheitsfront aller antiimperialistischen Kräfte in den
Kolonien, also eines breiten Bündnisses einschließlich der jeweiligen
Nationalbourgeoisie. Die in Unterentwicklung gehaltenen Länder können mit
Unterstützung der fortgeschrittenen Länder über bestimmte
Entwicklungsstufen zum Sozialismus gelangen, „ohne das
kapitalistische Entwicklungsstadium durchmachen zu müssen.“
[29]
Allerdings gab es dazu
Widerspruch auf dem II. Kongreß der KI: Die Vertreter aus Indien, Persien und
Italien, Manabendra Nath Roy, Sultan Sade und Serrati lehnten einige Thesen
Lenins, vor allem jegliches Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und der
Bourgeoisie in der bürgerlich-demokratischen Revolution ab.
[30]
Roy plädierte für die führende Rolle der Kommunisten in der
bürgerlich-demokratischen Revolution.
[31]
Hingegen wurde auf dem III. (22. Juni bis 12. Juli 1921) und IV.
(4. November bis 5. Dezember 1922) Kongreß der KI die Notwendigkeit einer
antiimperialistischen Einheitsfront in den Kolonien und Halbkolonien
unterstrichen. Die kommunistischen Parteien und Gruppen wurden aufgefordert,
„die Taktik der Einheitsfront auf das Strengste durchzuführen.“
[32]
Für die Umsetzung der Einheitsfront wurde darauf hingewiesen,
daß „es jetzt mehr denn je der strengsten internationalen Disziplin“
[33]
bedürfe. Die Hauptpunkte der
Theorie der nationaldemokratischen Revolution wurden trotz gradueller
Meinungsunterschiede beibehalten. Die kommunistischen und
Arbeiterparteien entwickelten und konkretisierten diese Theorie dann ständig
weiter, und sie fand ihren Niederschlag in den Programmen der antikolonialen
Bewegungen in der Phase der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu
wurden umfangreiche Untersuchungen, vor allem aus der Feder der
Wissenschaftler aus den sozialistischen Ländern, vorgelegt.
[34]
Dank der fleißigen Übersetzungsarbeit und durch konspirative
Lieferungen der Tudeh-Partei Irans, konnten wir afghanische Linken in der
Illegalität mit großem Interesse das Programm der Front de Libération
National (FLN) und die Verfassung der Demokratischen Volksrepublik Algerien
studieren. Diese Dokumente wurden zur Pflichtlektüre innerhalb der
Befreiungsbewegungen. Zusammengefaßt
beinhaltet die Theorie der nationaldemokratischen Revolution folgende
Kernpunkte: genaue Analyse der
sozio-ökonomischen Verhältnisse des jeweiligen Landes, Berücksichtigung der
objektiven und subjektiven Faktoren, Durchführung einer
demokratischen Bodenreform, Alphabetisierung der
gesamten Bevölkerung, die Bündnisfrage, die Stellung der Frau in
der Gesellschaft, Demokratisierung der
Gesellschaft und Partizipation der
gesellschaftlichen Gruppen, wie Gewerkschaften und anderer
Interessenvertreter der Bevölkerung, Möglichkeiten des
Überganges von vorfeudalen, halbfeudalen bzw. feudalen Verhältnissen direkt
zum Sozialismus, können
Entwicklungsetappen überhaupt übersprungen werden? Frage der Unterstützung
von außen durch fortgeschrittene Länder. II. Die historische
Mission der DVPA Die Idee der
nationaldemokratischen Revolution wurde auch in das Programm der
Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) vom Januar 1965 aufgenommen.
Darin wurde Afghanistan im 19. Jahrhundert und bis Ende der zweiten Dekade des
20. Jahrhunderts als ein koloniales und halbkoloniales Land charakterisiert.
„Die unterdrückte Nation dieses Landes hat die schwerste, tyrannischste
Form des Despotismus und der Ausbeutung, der Unwissenheit und Armut im
Würgegriff der herrschenden lokalen Feudalherren und britischen kolonialen
Aggressoren erduldet.“
[35]
Die Ursache der Unterentwicklung wurde zum einen in der „langsamen
Entwicklung der Produktivkräfte und miserablen Lage der Völker Afghanistans,
die in Armut, Unwissenheit und Krankheit ihr Leben fristen“, gesehen; zum
anderen in der politischen und ökonomischen „Herrschaft der Feudalklasse,
der Schichten der spekulierenden Großhändler und Kompradoren, der
verdorbenen Bürokraten und Agenturen der
internationalen imperialistischen Monopole, deren Klasseninteressen im
Widerspruch stehen zu denen der Volkmassen Afghanistans“
[36]
. Die Errichtung einer nationaldemokratischen Regierung wurde als
strategisches Ziel formuliert. „Das
politische Fundament der nationaldemokratischen Regierung in
Afghanistan wird in einer nationalen Einheitsfront aller fortschrittlichen,
demokratischen und patriotischen Kräfte bestehen; diese umfaßt Arbeiter,
Bauern, progressive Intelligenz, Handwerker, Kleinbürgertum (kleine und
mittlere Eigentümer) und nationale Bourgeoisie (nationale Kapitalisten), die
den nationalen und demokratischen Kampf führen für die nationale
Unabhängigkeit, die Verbreitung der Demokratie im gesellschaftlichen Leben
und die Vollendung des demokratischen, antiimperialistischen und antifeudalen
Prozesses.“
[37]
Angesichts der ethnischen Vielfalt Afghanistans wurde „der Kampf
für die Einheit und Solidarität aller werktätigen Völker Afghanistans, auf
der Basis der Gewährleistung der Interessen der entrechteten Klassen, des
Prinzips der brüderlichen Gleichberichtigung und des allseitigen Kampfes
gegen jegliche nationale Unterdrückung“
[38]
als Aufgabe einer nationaldemokratischen Regierung proklamiert. Im
ökonomischen Bereich sollte „die feudale und vorfeudale Produktionsweise“
abgeschafft, eine tiefgreifende
demokratische Bodenreform durchgeführt und der staatliche Sektor
ausgedehnt werden. Im Bildungsbereich wurde dem Analphabetismus im ganzen Land
der Kampf angesagt. Der NKEW wurde auf der Grundlage der fortschrittlichen
Ideologie und wissenschaftlichen
Weltanschauung der Arbeiterklasse
[39]
als Ziel angestrebt.
[40]
Afghanistan
am Vorabend der April-Revolution Afghanistan gehörte in
allen Bereichen zu den am wenigsten entwickelten und ärmsten Ländern der
Welt, laut UNO-Statistik schon damals das unterentwickeltste Land Asiens. Das
jährliche Prokopf-Einkommen betrug 1977 rund 150 US-Dollar. Auf einer Fläche
von 652660 qkm lebten ca. 17 Mio. Menschen, unter feudalen bzw. vorfeudalen
Verhältnissen. Circa. 5% Großgrundbesitzer verfügten über ca. 50%, im
Norden des Landes sogar 2% über 70% des Bodens. Nur etwa 5% der
Landesfläche, d.h. drei bis vier Millionen ha, stellte bebaubares Ackerland
dar. Annähernd 85% der Menschen lebten auf dem Land als Bauern, Landarbeiter,
Tagelöhner, Viehzüchter usw., wobei der Anteil der Landwirtschaft am
Bruttosozialprodukt 1975/76 etwa zwei Drittel ausmachte. Etwa zwei Millionen
Menschen lebten nomadisch oder halbnomadisch und bestritten ihren
Lebensunterhalt durch Tierzucht bzw. Saisonarbeit. Es existierte teilweise
Leibeigenschaft, die Großgrundbesitzer verfügten über eigene Gefängnisse. Der Analphabetismus
stellte ein schwerwiegendes und entwicklungshemmendes Problem für Afghanistan
dar. Etwa 97% der Menschen - bei Frauen lag die Quote noch darüber - konnten
weder lesen noch schreiben. Von einer Stellung der Frau im öffentlichen Leben
konnte daher - wie in allen traditionellen islamischen Gesellschaften -
überhaupt keine Rede sein, erst nach dem April-Aufstand 1978 verbesserte sich
die Stellung der Frauen spürbar. Desgleichen konnte in Afghanistan vom
Bestehen einer Arbeiterklasse im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden.
Im Jahre 1967 waren landesweit lediglich 88 Industriebetriebe registriert, in
denen 23.436 Personen beschäftigt waren. Die Gesamtzahl aller arbeitenden
Menschen betrug im Vergleich dazu ca. 3,8 Mio. Nur 0,6% aller Erwerbstätigen
waren in der industriellen Produktion beschäftigt, deren Zahl bis 1978 auf
40.000 angewachsen war.
[41]
Babrak Karmal, Generalsekretär der DVPA und Vorsitzender des
Revolutionsrates, gab 1982 die Zahl der Betriebe mit 300 und die der Arbeiter
mit 150 000 an.
[42]
Präsident Hafisullah Amin sprach erst nach dem April-Aufstand von
5% Werktätigen in der afghanischen Industrie, worauf er seine Herrschaft als
„Diktatur des Proletariats“ begründet haben wollte. Wegen der enormen
Analphabetenrate, der Herkunft der Industriearbeiter
[43]
, fehlender Organisation und mangelnder Kampferfahrung, kann von
keiner klassenbewußten Arbeiterschaft nicht ausgegangen werden. Festzustellen bleibt
noch, daß keine Regierung Afghanistans bis April 1978 auch nur annähernd die
elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen konnte. „Aufeinander
folgende Regierungen waren daran gescheitert, die Völker Afghanistans zu
alphabetisieren, hatten nicht vermocht, Respekt und eine bessere Lage für
Frauen durchzusetzen, oder versäumt, dem Land irgend eine substantielle
Regierungs- oder industrielle Infrastruktur zu geben.“
[44]
Vor allem ist auch eine besonders hohe Kindersterblichkeit - fast
jedes zweite Kind starb, bevor es ein Jahr alt wurde - hervorzuheben,
außerdem waren Krankheiten wie Lepra, Pocken und Cholera an der Tagesordnung;
die katastrophale Gesundheitssituation wird daran deutlich, daß es insgesamt
nur 800 Ärzte im Land gab. Nur in Kabul gab es ein Militär-, ein Zivil- und
ein Frauenkrankenhaus. In den Provinzen wurden Krankenstationen errichtet,
aber als Krankenhäuser deklariert, die zum größten Teil nur von
Pflegepersonal betreut wurden. Ärzte konnten nur per Regierungserlaß aus
Kabul für kurze Zeit dahin verpflichtet werden. Der Außenhandel
Afghanistans bewegte sich auf einem recht niedrigen Niveau. Er war in allen
Jahren defizitär, und sein Defizit kumulierte im Verlauf von 14 Jahren auf
rund 2,7 Mrd. DM. Der Deckungsgrad der afghanischen Importe durch eigene
Exporte lag nur zwischen 50 und 75%. Exporte, Imorte und
Handeslbilanzsalden Afghanistans in Mrd. DM
[45]
Die Kompensierung des
afghanischen Handelsbilanzdefizits erfolgte
überwiegend durch Auslandskredite.
[46]
Ebenso war auch die Finanzierung der Fünf- bzw. Siebenjahrpläne
(Entwicklungspläne) für den Zeitraum von 1956 bis 1978 fast völlig von
ausländischen Finanzmitteln abhängig. Davon ausgehend kann ohne weiteres von
mehr als einer Verdoppelung der Verschuldung ausgegangen werden. So hatte
Afghanistan allein im Jahre 1976 für bis dahin erhaltene Kredite 200
Millionen Dollar an Zinsen zu zahlen, eine Summe die die Jahreseinnahmen um
mehr als zweimal überstieg. Trotz der von den
Staaten des Westens, allen voran die USA und BRD, an Afghanistan über
Jahrzehnte gewährten sektorübergreifenden neokolonialistischen „Entwicklungshilfe“
hat sich die sozio-ökonomische Situation in Afghanistan von Jahr zu Jahr
verschlechtert. Einzig die Verschuldung,
nicht zuletzt für die zahlreichen, teilweise wenig erfolgreichen bzw.
gescheiterten Entwicklungsprojekte
[47]
, nahm weiter kräftig zu, so daß die Lage für die Monarchie
insgesamt immer bedrohlicher wurde. Die Mehrheit der
afghanischen Bevölkerung lebte ohnehin schon am Rande des Existenzminimums.
Als der Hungersnot nach der verheerenden Dürreperiode von 1971/72 geschätzte
anderthalb Millionen Menschen zum Opfer fielen, war damit das Ende der
Herrschaft von König Mohammad Saher besiegelt. „Die Zeit für die
Entscheidung, entweder über die Revolution derer, die im Schatten stehen,
[...] oder aber durch einschneidende Maßnahmen zur modernen Demokratie zu
kommen, war nicht mehr fern. Es mußte über kurz oder lang seitens der
Monarchie etwas geschehen, oder es würde mit der Monarchie etwas passieren.“
[48]
Für eine politische Kanalisierung der Krise waren aber keine
Mechanismen geschaffen worden. Obwohl das Parteiengesetz
von der Nationalversammlung (Schorae Melli) verabschiedet worden war,
wurde es von König Mohammad Saher nie ratifiziert. Dennoch kam es zur Bildung
von Parteien, die sich auf Artikel 32 der Verfassung vom 9. Misan 1343 [9.
Oktober 1964] beriefen. Darin steht u.a.: „Afghanische Staatsbürger haben
das Recht, in Übereinstimmung mit dem Gesetz politische Parteien zu gründen,
unter der Voraussetzung, daß 1. die Ziele und Aktivitäten der Parteien und
die Ideen, auf denen die Organisation der Parteien basieren, nicht zu den in
der Verfassung verankerten Werten in Widerspruch stehen. 2. Die Organisation
und die Finanzierungsquellen der Parteien offengelegt werden. Eine in
Übereinstimmung mit den Vorschriften des Gesetzes gebildete Partei kann nicht
ohne ordentliches Gerichtsverfahren und ohne Anordnung des Obersten
Gerichtshofes aufgelöst werden.“
[49]
Die Krise in Afghanistan
spitzte sich soweit zu, daß das gesamte System erfaßt wurde. König Mohammad
Saher verlängerte per Dekret die 13. Legislaturperiode des Parlaments, um
einen eventuellen Aufstand des Volkes im Verlaufe des bevorstehenden
Wahlkampfes zu vermeiden. Es half nichts. Um die Dynastie zu retten,
mußte die Monarchie geopfert werden. Am 17. Juli 1973
putschten die der Demokratischen
Volkspartei Afghanistans (DVPA) zugehörigen Militäroffiziere gegen die Monarchie
und verhalfen Mohammad Daud (von 1953-1963 Ministerpräsident, außerdem
Schwager und Cousin des Königs) zur Macht. Die Regierung M. Dauds führte
aber keine der nennenswerten Reformen durch, die er in seiner ersten „Rede
an die Nation“ versprochen hatte. Außenpolitisch warf er die traditionelle
Politik der Blockfreiheit Afghanistans über Bord, in dem er die Beziehungen
zum Schah von Iran, Anwar Al Sadat von Ägypten, Saudi-Arabien und Pakistan
intensivierte. Zunächst schloß M. Daud alle linken Kräfte peu à peu von
allen wichtigen Positionen aus, darüber hinaus ging er im Frühjahr 1978 zur
offenen Repression gegen die Parteiführung der DVPA über. Hinzu kam noch der
politische Terror der Islamisten bzw. des Geheimdienstes, dem namhafte
Politiker und Repräsentanten der DVPA zum Opfer fielen. Mir Akbar Chaibar,
Gründungsmitglied der Partei und Mitglied des Politbüros, war am 18. April
auf offener Straße erschossen worden. Außerdem ließ M. Daud die gesamte
Parteiführung bis auf wenige Ausnahmen verhaften; sie sollte liquidiert
werden. Als diese Meldung in den Abendsendungen des afghanischen Fernsehens
verbreitet wurde, kam es am 27. April 1978 zum militärischen Aufstand gegen
das Daud-Regime unter der Führung von Teilen der DVPA und infolgedessen auch
zum Beginn eines revolutionären Prozesses. Die Militärs befreiten die
Parteiführung und übertrugen ihr die Leitung des Staates: Generalsekretär
Taraki wurde Vorsitzender des Revolutionsrates und Ministerpräsident, Karmal
sein Stellvertreter und Hafisullah Amin Außenminister. Objektiv war Afghanistan
längst reif für eine gründliche Umgestaltung, innenpolitisch gesehen
bestand jedoch das Hauptproblem in der Nichtbeachtung der subjektiven
Faktoren, die dann bei der Durchführung der Reformen den Boden für
Konterrevolution und ausländische imperialistische Einmischung bereitete und
letztendlich das Scheitern des revolutionären Prozesses zur Folge hatte. IV. Das historische
Versagen der DVPA Die aus der
volksdemokratischen Bewegung hervorgegangene
DVPA war am 1. Januar 1965 in der Illegalität gegründet worden, mit
Nur Mohammad Taraki als Generalsekretär und Babrak Karmal als zweitem
Sekretär. Vor der April-Revolution 1978 hatte die Partei ca. 18.000
Mitglieder, hauptsächlich städtische, kleinbürgerliche Intellektuelle mit
vagen Vorstellungen von marxistischer Theorie. Man kann sogar von einem
theoretischen Analphabetismus in der DVPA bis in hohe Ränge sprechen. Das war
eine ihrer größten Schwächen, die die gesamte Partei erfaßt, lahm gelegt
und schließlich zum Scheitern verurteilt hat. Das führte schon am 4.5.1967
wegen aufgebrochener Rivalitäten in der Führung um hohe Posten, wegen
Meinungsverschiedenheiten über den Charakter einer künftigen Revolution,
über die Bündnisfrage in der Etappe der nationaldemokratischen Revolution
und über die nationale Frage, d.h. die Paschtunistanfrage - also
lauter „Kinderkrankheiten“ - zu ihrer Spaltung, die erst am 3. 7.
1977 mit einer Wiedervereinigungsvereinbarung formal beendet werden konnte.
Aber weder war die psychologische Schwelle überwunden, noch waren die Wunden
geheilt, die der ein Jahrzehnt dauernde Kampf gegeneinander geschlagen hatte. Nach dem erfolgreichen
Aufstand vom 27. April 1978 begann die Revolutionsregierung unmittelbar mit
der Realisierung von Reformmaßnahmen wie der Regelung von Ehe- und
Scheidungsangelegenheiten (Dekret Nr. 7 vom 17.10.1978), der Bodenreform
(Dekret Nr. 8 vom 28.11.1978) sowie mit einer umfassenden Alphabetisierung, um
die feudalen und halbfeudalen Strukturen aufzubrechen.
[50]
Die Bekämpfung des Analphabetismus war zunächst sogar so
erfolgreich, daß in einem halben Jahr ca. 1,5 Mio. Menschen das Lesen und
Schreiben lernten, wofür Afghanistan einen Preis von der UNESCO erhielt. Im
ganzen Land wurde 27 000 ständige Kurse eingerichtet, an denen gleichzeitig
600 000 Menschen teilnahmen.
[51]
Erst als die Alphabetisierungsmaßnahmen auf die ländlichen
Regionen ausgedehnt wurden, kam es zu gravierenden Fehlern. Sie wurden ohne
Berücksichtigung der sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen im
ländlichen Afghanistan durchgesetzt. U.a. kam es zu zwangsweisen
Alphabetisierungen. Weil es an Lehrkräften mangelte, erklärten sich
Studierende bereit, in den Semesterferien als Lehrkräfte auf das Land zu
ziehen, wobei viele von der Konterrevolution ermordet wurden. Mädchen und
Frauen wurden gezwungen, gemeinsam mit den Männern an den Kursen
teilzunehmen. „Mit Gewalt kann man die Bevölkerung nicht alphabetisieren,“
[52]
stellte Anahita Ratebzad, Mitglied des Politbüros der DVPA fest.
Bei der Umsetzung der Bodenreform wurden
gleichfalls schwerwiegende Fehler gemacht, insbesondere wurden die
Bauern weder politisch noch materiell darauf vorbereitet. Die
Stammesstrukturen blieben unberücksichtigt. Des öfteren sind die
Großgrundbesitzer zugleich auch Stammes- bzw. Religionsführer, von daher ist
es wesentlich problematischer, ihr Land an Stammes- bzw. Gemeindemitglieder zu
verteilen. Von den wichtigsten Reformmaßnahmen waren insbesondere die
Großgrundbesitzer, Feudalherren und Feudaltheokraten betroffen, die dann die
Konterrevolution angeführt haben. Eine weitere
Fehlentscheidung war, daß sämtliche Regierungsfunktionen an Parteimitglieder
vergeben wurden, ohne Rücksicht auf deren Qualifikation. Ein Geologe wurde
z.B. Präsident der Industrie- und Handelskammer, Ingenieure oder Mathematiker
wurden auf gut dotierte Posten als Botschafter gehievt, wie der Schwiegersohn
von Taraki, Ingenieur Nazar Mohammad in Bonn, der Mathematiker Dr. Machan
Schinwari, erster Sekretär der Botschaft
in Bonn
[53]
oder der Halbbruder von Karmal, Ingenieur Zalmai Damun, als UN-Botschafter in Genf, um nur einige zu nennen.
Es gab zahlreiche im Ausland studierte Naturwissenschaftler und Ärzte, die in
der Abteilung für internationale Beziehungen der DVPA arbeiteten, da diese
als Sprungbrett in den diplomatischen Dienst galt. Zahlreiche Lehrer wurden
Leiter von Bezirken und von Kreisverwaltungen, obwohl Afghanistan an
chronischem Lehrermangel litt. Aber in der Verwaltung gab es vielseitigere
Möglichkeiten der Korruption. Für die lukrativen Posten gab es eine Art „Schlüsselgeld“.
Die Korruption hatte ein Ausmaß erreicht, daß der Generalsekretär der DVPA,
Babrak Karmal, dies sogar öffentlich ansprach. Der Premierminister Sultan Ali
Keschtmand
[54]
hatte Babrak Karmal einen Bericht des Präsidialamtes für
Kontrolle und Revision vorgelegt, in dem durch Fakten belegt war, daß auf
höchster Ebene im Staatsapparat Korruption verbreitet sei, was Karmal als
beschämend bezeichnete.
[55]
Der Partei- und Staatsapparat wurde zu einem Postenbeschaffungs-
und Selbstbedienungsladen
[56]
für Freunde und Verwandte von Mitgliedern der
Parteiführung. „Aber mit Bedauern will ich Euch mitteilen, daß manche
Genossen, die der Partei auch Dienste erwiesen haben, zu mir kommen und
kategorisch, klar und unverblümt Privilegien und Posten verlangen.“
[57]
Einer von diesen Genossen war der spätere Außenminister,
Mitglied des ZK der DVPA und langjährige Kampfgefährte außerdem ein Cousin
von Karmal, Abdul Wakil. Die meisten der tausende
Stipendien, die aus den sozialistischen Ländern an afghanische Hochschulen
und Institutionen vergeben wurden, erhielten Söhne, Brüder und weitere
Verwandten der Partei- und Staatsführung, unabhängig von ihrer
Qualifikationen.
[58]
Da faktisch nur für
Mitglieder der DVPA die Möglichkeit einer Karriere bestand, strömten alle
Karrieristen in die Partei. Die Zahl der Parteimitglieder nahm rapide zu.
Während die DVPA vor der Revolution 1978
ca. 18 000 Mitglieder hatte, erreichte sie im Juli / August 1982 mehr als 70
000
[59]
, im November / September 1982 mehr 80 000
[60]
, im Juni / Juli 1983 mehr als 90 000
[61]
und im Februar / März 1985 schon mehr als 130 000.
[62]
Es ist also eine kontinuierliche Steigerung zu verzeichnen.
Viele Parteifunktionäre trachteten danach, sich Posten und Autos zu
verschaffen. Die Genossen stritten sich darüber, warum die Farbe ihres Autos
nicht mit der Farbe ihrer Krawatte übereinstimme, und warum der eine nur
einen sowjetischen Jeep, der andere aber einen Wolga fahren dürfe, berichtete
uns der erste afghanische Botschafter der Demokratischen Republik Afghanistan
in Bonn, Ing. Nazar Mohammad am 27. April 1979 während eines
nichtöffentlichen Beisammenseins der Parteigruppe.
[63]
Viele Fachkräfte, die nicht der Partei angehörten, wurden nicht
befördert oder gar ihrer Funktion enthoben und zum Teil in die Emigration
getrieben. Entgegen den im Parteiprogramm formulierten Grundsätzen wurde ein
breites Bündnis der national-demokratischen Kräfte nicht angestrebt. Zwar
wurde mit der Hilfe von erfahrenen
Politikern aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) Ende
Dezember 1980 eine „Nationale Vaterländische Front“ (NVF) gebildet,
jedoch blieben alle wichtige Funktionen bei der DVPA. Zum Beispiel wurde Saleh
Mohammad Zeray, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der DVPA, ihr
Präsident.
[64]
Auch bei den anderen gesellschaftlichen Organisationen, wie
Gewerkschaften, Frauenverbänden, Genossenschaften und der Jugendorganisation,
sah es nicht anders aus. Daher fühlten sich die Bündnispartner nicht ernst
genommen und ließen sich nicht von der DVPA instrumentalisieren. Ihre
Passivität hat die ohnehin schmale Basis der Revolution weiter minimiert. Als Fehler mit besonders
verhängnisvollen Konsequenzen erwies sich die Spaltung der Partei von
1967-1997, die kurz nach der Revolution zu einem erneuten Machtkampf der
beiden Parteifraktionen innerhalb der DVPA führte. Zunächst wurde die
Partscham-Fraktion unter Babrak Karmal schon im Juli / August 1978 entmachtet.
Die führenden Persönlichkeiten wurden als Botschafter ins Ausland geschickt
und später von ihren Posten entfernt, weil sie angeblich einen Putsch hätten
organisieren wollen. Anschließend wurden sie auch aus der Partei
ausgeschlossen. Der afghanische Botschafter in Bonn, Ing. Nazar Mohammad, der
1978 die DVPA auf dem DKP-Parteitag in Mannheim vertrat, verleumdete die
Fraktion von Karmal mit folgenden Worten: „Sie haben das Haupt in den Reihen
der Feinde der Revolution erhoben, an ihrer Spitze der Lakai des Imperialismus
und des Adels, der afghanische Trotzki, Babrak Karmal, und eine begrenzte
Anzahl anderer pseudorevolutionärer
nationaler Verräter.“
[65]
Es wurden auch tausende „einfache” Parteimitglieder verhaftet,
gefoltert und in großer Zahl ermordet. Amin verfolgte jede Opposition
innerhalb und ausserhalb der Partei, 2 500 DVPA-Mitglieder und weitere 12 000
Menschen wurden ermordet. Am 16. September 1979 ließ er auch ihren
Generalsekretär Taraki ermorden. Amin sprach von der „Diktatur des
Proletariats“ in Afghanistan, und jeder, der diese gefährdete, wurde
eliminiert. In seinen Reden berief er sich unentwegt auf irgendwelche Aussagen
von Lenin, die niemand überprüfen konnte. Damit instrumentalisierte er Lenin
als Kronzeugen und Legitimation für seine persönliche Ambitionen und
sektiererischen politischen Positionen. Amin verkörperte in sich sowohl
Machiavelli als auch Pol Pot. Ihm hätten für den Aufbau des Sozialismus auch
einige wenige Millionen Afghanen ausgereicht. Taraki besaß keine
Führungsqualitäten und war von Anfang an nicht in der Lage gewesen, die
Partei zusammenzuhalten. Seine Neigung zum Personenkult wurde von Amin
gnadenlos instrumentalisiert und gegen die Karmal-Anhänger und gegen Taraki
selbst eingesetzt. „Nach der April-Revolution entfernte sich die
Parteiführung leider vom Volk. Unrealistische Programme und Maßnahmen
schufen eine Kluft zwischen der Führung und dem Volk. Die Volksmassen sahen
keine Führung und die Parteiführung keine
Masse hinter sich. Deshalb konnte der Gegner in dieser Kluft und in
diesem Vakuum leicht sein Unwesen treiben.“
[66]
Es entstand eine Klima der Angst, des Duckmäusertums und des
Opportunismus. Alle Entscheidungen kamen von der sich selbst rekrutierenden
Führung, und die Basis hatte so gut wie keinen Einfluß auf die Gestaltung
der Politik und vor allem auf die Auswahl der Spitzenfunktionäre. Die Folge
davon war dann, daß Personen in die Führung von Partei und Staat aufstiegen,
die der Revolution den Todesstoß versetzen konnten. V. Die Sowjetunion in
der afghanische Falle „Aber es hat uns auch
neun Jahre gekostet, die polnische Solidarnosc-Bewegung zu unterstützen, und
1980 sah es absolut nicht so aus, als ob sie 1989 in Polen an die Macht kommen
würde.“
[67]
(James
Woolsey, Ex-CIA-Chef) Alle genannten Punkte
zusammengenommen und die de facto weiter bestehende Spaltung der Partei
führten zwangsläufig zur Stärkung der Konterrevolution. Ende 1979 war die
Lage der Regierung so hoffnungslos, daß sowjetische Militärhilfe
unumgänglich wurde, um zu verhindern, daß Afghanistan zu einem zweiten Chile
(Militärputsch gegen die Regierung Allende am 11.9.1973) gemacht wurde.
[68]
Aus einer Mini-Revolution wurde eine Mega-Konterrevolution.
Unmittelbar nach der Revolution begannen die konterrevolutionären Banden, die
von den westlichen Politikern und Medien als Modjahedin (Heilige Krieger) bzw.
sogar Freiheitskämpfer gefeiert wurden, mit ihrem erbitterten Kampf gegen die
neue Regierung und versuchten mit allen Mitteln, die Reformen zu verhindern.
Sie terrorisierten Politiker und Parteiaktivisten, die an der Umsetzung der
Reformen unmittelbar beteiligt waren. Bevorzugt wurden Bildungseinrichtungen,
vor allem Mädchenschulen, zerstört, die Lehrkräfte umgebracht und das
Trinkwasser der Schulen vergiftet. Bis Ende 1362 [1983/84] wurden 1814
Schulen, das ist die Hälfte aller Schulen in Afghanistan, und 130
Krankenhäuser zerstört.
[69]
Der Gesamtschaden belief sich auf 35 Milliarden Afghani. Das
entsprach etwa 50% der gesamten Investitionen des Landes in den letzten 20
Jahren.
[70]
Solange sie die afghanischen Kinder umbrachten, waren sie „Freiheitskämpfer“,
heute, da sie sich gegen ihre einstigen Förderer wenden, sind sie zu
Terroristen mutiert. Die Konterrevolutionäre verlagerten unmittelbar nach der
Ausrufung der Republik 1973, verstärkt jedoch nach der Revolution 1978, ihre
Zentralen nach Pakistan, wo sie zunächst in der Regierungszeit der
sozialdemokratischen People Party Pakistans (PPP) unter Zulfiqar Ali Bhutto
und seit dem Putsch am 5. Juli 1977 verstärkt unter dem islamistischen
Diktator General Mohammad Zia Ul-Haq, ideologisch, propagandistisch und
militärisch massiv unterstützt wurden. In der pakistanischen
Nordwestfrontprovinz (NWFP) an der Grenze zu Afghanistan wurden 2500 Ausbildungslager
für die afghanischen Konterrevolutionäre errichtet. „Die Existenz
von Trainingslagern ist wohl nicht mehr ernsthaft zu bezweifeln, denn nicht
nur kommunistische Quellen sprechen von ihnen. Die Aufständischen selber
verweisen stolz auf amerikanische, chinesische und islamische Finanz-,
Ausbildungs- und Waffenhilfe. Der große Plan scheint aber zumindest vorerst
wegen der sowjetischen Einmischung undurchführbar geworden zu sein: über
Kabul und anderen Städten, die noch als Stützpunkte der Regierung dienten,
hätten in Laufe des Januars oder Februars mit Fallschirmen eine große Zahl
von Rebellen abspringen sollen und dem verhaßten kommunistischen Regime
endgültig den Garaus machen sollen. Woher die dazu benötigten Flugzeuge
hätten kommen sollen, darüber schweigt man sich allerdings geflissentlich
aus,“
[71]
berichtete Mitte Januar 1980 die großbürgerliche Neue Zürcher
Zeitung aus Peschawar. „Das ist nach Art. 3f) und g) der UN-Resolution 3314
vom 14.12.1974 (Definition der Aggression) eine eindeutige
Aggressionshandlung, gegen die der afghanischen Regierung das Recht auf
kollektive Selbstverteidigung im Verbund mit den sowjetischen Truppen zusteht.
Nach Art. 3f) ist eine solche Aggressionshandlung‚
die Erlaubnis eines Staates, sein Territorium, das er einem anderen
Staat zur Verfügung gestellt hat, durch diesen für Aggressionshandlungen
gegen einen dritten Staat verwenden zu lassen’ und nach Art. 3g)‚ die
Entsendung durch einen Staat oder im Namen eines Staates von bewaffneten
Banden, Gruppen, Irregulären oder Söldnern, die bewaffnete Gewalt gegen
einen anderen Staat von solcher Schwere anwenden, die den oben genannten
Handlungen gleichkommt, oder die maßgebende Verwicklung dieses Staates darin.’
Danach sind alle Unterstützungshandlungen für die Organisierung des
Bürgerkrieges in Afghanistan, wie sie von verschiedenen Staaten vom Boden
Pakistans aus geleitet werden, ein Verstoß gegen das geltende
Interventionsverbot des Völkerrechts. [...] Die von Pakistan aus militärisch
operierenden Gruppen können sich auch nicht auf den Status einer Befreiungsbewegung berufen. [...] Der legitime Kampf der afghanischen
Regierung gegen diese Gruppen umfaßt auch das Recht zur kollektiven
Selbstverteidigung unter Zuhilfenahme
befreundeter Truppen. Im Rahmen dieser Bitte um Entsendung von Truppen
war die Sowjetunion völkerrechtlich legitimiert, der Bitte nachzukommen.
[...] Die völkerrechtlichen Schlußfolgerungen sind eindeutig und klar. Sie
würde es der afghanischen Regierung sogar gestatten, gegenüber Pakistan
militärisch vorzugehen.“
[72]
Bekanntlich hat die afghanische Regierung darauf verzichtet und
eher auf eine politische Lösung des Konfliktes hingearbeitet. Obwohl
das Ersuchen der afghanischen Führung,
zunächst unter Taraki später auch unter seinem Nachfolger H. Amin, um
Militärhilfe der Sowjetunion in den bürgerliche Medien als Propaganda der
afghanischen und vor allem der sowjetischen Regierung abgetan wurde, wissen
wir nun seit Ende des Kalten Krieges, daß insgesamt 21 mal
[73]
von afghanischer Seite - u.a. in einem Telefongespräch am 18.
März 1979 zwischen N. M. Taraki und dem Vorsitzenden des Ministerrates der
Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), Alexej N. Kossygin - die
Sowjetunion um Hilfe gebeten worden ist.
[74]
Übersicht
[75]
Gesuche der afghanischen
Regierung an die UdSSR um Militärhilfe und
Truppenentsendung
Mit dem sowjetischen
Militärengagement seit dem 27.12.1979, basierend auf Art. 4 des
afghanisch-sowjetischen Freundschaftsvertrages vom 5. 12. 1978 und Art. 51 der
UN-Charta, gewann der innerafghanische Konflikt eine neue Qualität. Er wurde
internationalisiert und zunächst verdeckt, später ganz offensichtlich von
den meisten westlichen Ländern, einschließlich der BRD und ihrer regionalen
Verbündeten vor Ort, geschürt. Alle afghanischen Konterrevolutionäre hatten
in den westlichen Metropolen, u.a. auch in Bonn, ihre Verbindungbüros, die
stillschweigend wie eine diplomatische Vertretung behandelt wurden, eröffnet.
Durch diese Einrichtungen wurden Reisebegegnungen zwischen
Modjahedin-Kommandanten und hochrangigen westlichen Politikern,
Medienredakteuren, Geheimdienstlern, Wirtschaftsmanagern und
Waffenlobbyisten sowie Rekruten für den Widerstand organisiert. Die
Konterrevolutionäre wurden demonstrativ von BRD-Politikern, wie dem damaligen
Niedersächsischen Ministerpräsidenten, Ernst Albrecht (CDU), dem Bayerischen
Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (CSU), dem
CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag, Alfred Dregger,
Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und sogar dem Vorsitzendem der
Sozialdemokratischen Partei Willy Brandt empfangen. Bundeswehroffiziere wurden
vom Dienst beurlaubt und dann als Privatpersonen getarnt zum Einsatz nach
Afghanistan bzw. Pakistan geschickt, um die afghanischen Konterrevolutionäre
auszubilden.
[76]
Der damalige Sprecher der CDU/ CSU Bundestagsfraktion, Jürgen
Todenhöfer plädierte vehement für die Aus- und Aufrüstung der
Konterrevolutionäre mit modernsten Waffen und motivierte vor Ort die
Fanatiker zum Kämpfen und zur Zerstörung Afghanistans. Norbert Blüm, Jürgen
W. Möllemann und Todenhöfer marschierten in der ersten Reihe der
Demonstration gegen Afghanistan und Sowjetunion; so wurden aus Hinterbänklern
bekannte Politiker, die es dann zu Ministern bzw. bis zum Vizekanzler
brachten.
[77]
Hier soll noch auf zwei
weitere Aspekte hingewiesen werden, die die sowjetische Intervention
begünstigt haben: 1.) Babrak Karmal hielt sich nach seiner Entlassung von
seinem Posten als Botschafter Afghanistans in Prag und nach dem
Parteiausschluß in der Sowjetunion auf. Er hatte der sowjetischen Führung
versprochen, die begangenen Fehler unter Taraki und Amin zu korrigieren, die
Einheit der Partei wiederherzustellen und die Bevölkerung erneut für die
Ziele der Revolution zu gewinnen, wenn die Sowjetunion ihm dabei helfen
würde. 2.) Schon lange vor dem vom sozialdemokratischen BRD-Bundeskanzler
Helmut Schmidt erfundenen sogenannte „Doppelbeschluß“ wurde in der
NATO-Zentrale die Stationierung von
US-amerikanischen Atomraketen „Cruise Missile“ und „Pershing II“
in Westeuropa debattiert. Die sowjetische Führung wartete die Ergebnisse der
Verhandlungen ab. Als die Stationierung beschlossene Sache, und das
internationale Klima vergiftet war, sollte zumindest ein Blutbad durch die
Konterrevolutionären in Afghanistan, mit unabsehbaren Folgen an der
Südgrenze der Sowjetunion, verhindert werden. Unmittelbar nach der
sowjetischen Intervention reiste KGB-Chef Jurij Andropow nach Kabul. Er wollte
den afghanischen Revolutionären zwar
helfen: „Politisch, ökonomisch, mit Waffenlieferungen unterstützen
- ja, für die Afghanen kämpfen - nein“
[78]
. Andropow hat der afghanischen Führung deutlich
vorgetragen, daß die sowjetischen Einheiten „bis zum Frühjahr fertig zu
werden“
[79]
beabsichtigten, dann müßten die Afghanen selbst in der Lage
sein, sich zu verteidigen. Karmal, der sich
bei Großdemonstrationen in Kabul äußerlich wie Lenin kleidete und
von sich sehr überzeugt war, konnte sein Versprechen nicht halten. Durch
kosmetische Korrekturen konnten weder die zutiefst beleidigte und verletzte
afghanische Bevölkerung und Intelligenz noch die bis aufs Blut verfeindeten,
äußerst sektiererischen Parteifraktionen für die Ziele der Revolution
gewonnen werden. Das Versagen der afghanischen Revolutionäre war
unübersehbar geworden. Nun mußte die Sowjetunion für die unfähige
afghanische Führung die Kohlen aus dem Feuer holen. „Der Eindruck war
deprimierend. Immer tiefer rutschten wir in Afghanistan in einen politischen
Sumpf. Aus ‘Helfern’ wurden wir zu Söldnern gemacht. Für wen und weshalb
wird das Blut unserer Soldaten und das der Afghanen vergossen? Finden sich
denn in ganz Afghanistan keine patriotisch gesinnten Menschen mit moderner
Weltsicht, die imstande sind, mit uns zu sprechen, ohne sich in tiefen
Bücklingen zu ergehen, und die nicht den Ausländern ihre eigenen Sorgen
aufhalsen wollen?“
[80]
, beschreibt der Diplomat Valentin Falin, Leiter der
Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU (1988-1991) seine Eindrücke von
der letzten Begegnung des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der
Sowjetunion (KPdSU), Leonid Breschnew, mit Babrak Karmal. Die imperialistischen
Länder waren hoch erfreut, die Sowjetunion in eine Falle gelockt zu haben,
aus der sie schwer entkommen konnte. In seinen Memoiren gab der ehemalige
CIA-Direktor Robert Gates, zu: „Die amerikanischen Geheimdienste haben den
afghanischen Modjahedin sechs Monate vor der sowjetischen Intervention zu
helfen begonnen.“
[81]
Vom ehemaligen Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter
(1977-1981), Zbigniew Brzezinski, wurde das auf Anfrage eines Journalisten von
„Le Nouvel Observateur“ wie folgt bestätigt: „Ja. Nach der offiziellen
Version der Geschichte hat die Hilfe der CIA an die Modjahedin angefangen im
Laufe des Jahres 1980, d.h. nachdem die sowjetische Armee am 24. [sic!]
Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert war. Aber die Realität, bis jetzt
geheimgehalten, ist eine ganz andere. Es war tatsächlich der 3. Juli 1979, an
dem Präsident Carter die erste Direktive über die geheime Unterstützung
für die Opponenten des prosowjetischen Regimes in Kabul unterzeichnet hat.
[82]
Und an diesem Tag habe ich dem Präsidenten eine Notiz
geschrieben, in der ich ihm erklärte, daß meiner Ansicht nach diese Hilfe
eine militärische Intervention der Sowjets zur Folge haben würde.“ Er
führt weiter aus: „Wir haben die Russen nicht gedrängt zu intervenieren,
aber wir haben die Möglichkeit, daß sie es tun, wissentlich erhöht.“
[83]
Ab 1979 wurde gegen Afghanistan „die größte Geheimoperation in
der Geschichte der CIA durchgeführt.“
[84]
Es wurden unmittelbar unter der Regie des US-Geheimdienstes CIA
und dessen pakistanischer Bruderorganisation Inter Service Intelligence (ISI)
etwa 35 000 radikale Islamisten aus 40 islamischen Ländern
[85]
zu schlagkräftigen, bewaffneten Organisationen umstrukturiert und
auf Afghanistan losgelassen.
[86]
Über 100 000 Islamisten wurden direkt von dem Krieg gegen
Afghanistan beeinflußt.
[87]
Es wurden Propagandisten, wie der blinde ägyptische Prediger,
Abdul Rahman, der 1993 das World Trade Center in die Luft sprengen wollte und
immer noch in US-Haft sitzt, sowie der Al Qaida Chef Osama Ben Laden, mit
Hilfe der CIA nach Afghanistan gebracht. Der Führer der Islamischen Partei,
Gulbudin Hekmatjar, „der Mann, der für alle wichtigen Geheimdienste dieser
Welt arbeitete, der Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen hat,“
[88]
war der Favorit von CIA/ ISI unter allen sieben aus Pakistan
operierenden islamischen Gruppen. Die CIA hat die afghanische Konterrevolution
im Rechnungsjahr 1985 „mit der Rekordsumme von 250 Millionen Dollar“
[89]
unterstützt. Dies machte „über 80 Prozent des CIA-Budgets für
geheime Operationen aus,“
[90]
das der CIA für weltweite Wühltaten zur Verfügung stand. Dem
„Spiegel“ zu Folge sind die Islamisten in den ersten zehn Jahren des
Bürgerkrieges in Afghanistan offiziell mit „mehr als zwei Milliarden
US-Dollar hochgerüstet worden.“
[91]
Der Löwenanteil dieser für das afghanische Volk todbringenden
Hilfe, nämlich „60 Prozent der jährlich bis zu 700 Millionen Dollar
US-Hilfe für den afghanischen Widerstand“,
[92]
ging bis Ende 1991 über ISI an G. Hekmatjar.
[93]
Die einzige Modjahedin-Gruppe, die mehr als 1000 US-amerikanische
Stinger-Raketen und 300 britische Blowpipes erhielt, die zuvor nur an
NATO-Länder geliefert wurden, war die Islamische Partei von Hekmatjar.
[94]
Diese tragbare Raketen können, von der Schulter abgefeuert, ihre
Ziele automatisch verfolgen. Dadurch wurden nicht nur Militär-, sondern auch
zahlreiche Zivilflugzeuge abgeschossen. Dieser umfangreiche und
vielfältige Einsatz der USA und ihrer Verbündeten gegen die afghanische
Revolution hing mit der geostrategischen Lage des Landes, unmittelbar an der
sowjetischen und iranischen Grenze und nur einen Katzensprung entfernt von den
Ölreichtümern des Nahen Ostens, zusammen.
Afghanistan durfte keinesfalls Schule machen. Ansonsten würden die
Herrscher der gesamten Region, angefangen von dem engsten Verbündeten der USA
in Iran bis hin zu den despotischen arabischen Potentaten, von revolutionären
Stürmen hinweggefegt werden. Die iranische Februar-Revolution 1979 war dafür
ein Paradebeispiel, bei welcher der Schah von Iran, einer der mächtigsten
Herrscher der Region und neben dem NATO-Partner Türkei der wichtigste
Verbündete der westlichen Welt, vertrieben wurde. Die USA wurden daraufhin
gezwungen, ihre Spionagestationen von der iranisch-sowjetischen Grenze in die
Türkei zu verlegen, ihre rund 40 000 Militärberater abzuziehen und den Sitz
der regionalen Zentrale der CIA in Teheran zu schließen.
[95]
Wenn schon der afghanische Monarch es abgelehnt hatte, die
Wirtschaftshilfe der USA, die von einem Beitritt Afghanistans zum Militärpakt
CENTO abhängig gemacht wurde, unter diesen Bedingungen anzunehmen, würde
eine revolutionäre Regierung das Land niemals unter ein Diktat der USA
stellen. Afghanistan, Mitbegründer der Blockfreien Bewegung, berief sich auf
die Neutralität seiner Außenpolitik, die jedoch im Rahmen der „Dulles-Doktrin“
[96]
für unmoralisch erklärt wurde. 88 Die Außenpolitik Afghanistans stand, zumindest in diesem
Punkt, in diametralem Gegensatz zur US-Asien-Strategie.
[97]
„Es [Afghanistan] ragte daher wie ein Keil in den Gürtel der mit
dem Westen verbündeten Staaten hinein, die an der sowjetischen Südflanke
liegen,“
[98]
hob der ehemalige Präsident des Bundesamtes für
Verfassungsschutz, Günter Nollau, hervor. Sowohl die afghanischen
Konterrevolutionäre als auch ihre Unterstützer in den westlichen Medien
behaupteten, es handele sich hier um eine nationale Widerstandsbewegung, die
ihre Waffen von der afghanischen Armee erbeute. Diese Lügen wurden entlarvt,
als der damalige ägyptische Präsident Anwar Al Sadat im ägyptischen
Fernsehen Waffenlieferungen an die afghanischen Konterrevolutionäre zugab.
[99]
In einem Interview mit der
US-Fernsehgesellschaft NBC bestätigte Sadat dann ägyptische
Waffenverkäufe an die USA unter der Präsidentschaft Jimmy Carters, die dann
die Ausrüstung an die afghanische Konterrevolution weitergaben. „Ich habe
mein Lager für sie [die USA] geöffnet. Doch sie waren sehr großzügig“
[100]
, betonte Sadat. Die FAZ war sehr verärgert über „das Lüften
eines Geheimnisses“ durch Sadat, das sie als „Prahlerei“ und „Geschwätzigkeit“
abtat und weiter fragte: „Aber muß er darüber reden, sich damit brüsten?
Bestimmte Dinge tut man, aber schweigt
darüber.“
[101]
Diese Enthüllungen Sadats brachten das westliche Lager zu
Beginn einer Afghanistan-Debatte in der UNO in Bedrängnis: „Die Russen
können nun Sadat als Kronzeugen für ihre These anführen, der Bürgerkrieg
in Afghanistan wäre längst zu Ende, wenn er nicht von außen immer wieder
angefacht würde“
[102]
. Die westlichen Medien,
die den Konterrevolutionären propagandistisch zu Hilfe eilten, verbreiteten
gezielt präparierte Meldungen über die Lage in und um Afghanistan. „Jeden
Dienstag erhalten Journalisten in Neu-Delhi und Islamabad ein ‚Briefing’,
wie eine Unterrichtung heutzutage heißt, ‘aus diplomatischen Kreisen’.
Tatsächlich handelt es sich wohl um einen Veranstaltung des amerikanischen
Geheimdienstes, der auf diese Weise ausgewählte Informationen an die
Öffentlichkeit gelangen läßt. Niemand ist in der Lage, solche Nachrichten
auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Ein unbefriedigendes Verfahren, das
nun schon Jahre immer gleich abläuft, ohne daß bisher eine westliche
Nachrichtenagentur gewagt hätte, sich dieser fragwürdigen Prozedur zu
entziehen.“
[103]
Aber genau die Zeitung, der diese entlarvenden Äußerungen
entnommen sind, war selbst seit Jahren in gleicher Art und Weise an der
Verbreitung von Unwahrheiten gegen Afghanistan beteiligt und hat dies trotz
dieser Erkenntnis auch weiterhin fortgesetzt. Afghanistan:
Gorbatschows erstes Geschenk an den Westen „Das Ziel meines
ganzen Lebens war die Vernichtung des Kommunismus.“
[104]
(Michail Gorbatschow). Von der Umorientierung
der sowjetischen Außenpolitik
[105]
unter Präsident Michail Gorbatschow blieb auch der
Afghanistan-Konflikt nicht unberührt. Babrak Karmal, der mit dem Eintreffen
des sowjetischen Militärkontingentes und mit der Beseitigung des
Terrorregimes von H. Amin an die Spitze von Partei und Staat getreten war, der
als Garant der Einheit der Partei und für die Versöhnung mit dem von Amin
verfolgten Teil des Volkes galt, wurde nunmehr als Hemmnis für die Lösung
des Konfliktes in und um Afghanistan angesehen. Am 5. Mai 1986 wurde er als
Generalsekretär der DVPA und am 21. November desselben Jahres von all seinen
anderen Funktionen entbunden. An seiner Stelle wurde der Favorit von Michail
Gorbatschow, Dr. Nadjibullah, zuvor Präsident des Staatlichen
Nachrichtendienstes ChAD, zum Vorsitzenden des Revolutionsrates und zum
Generalsekretär der DVPA gewählt. Auf dem zweiten Parteitag der DVPA im Juli
1990 wurde die DVPA sozialdemokratisiert, entideologisiert und in Hesbe Watan
(Partei der Heimat) umbenannt. Dies war die Konzeption Gorbatschows für die
KPdSU,
[106]
die auch in Afghanistan umgesetzt worden ist. Damit war den
rechten Opportunisten in der Partei der endgültige Durchbruch gelungen. Alle
wesentlichen Ziele der Revolution wurden aufgegeben. Es ging nur noch um den
reinen Machterhalt. In einem zweiten Schritt
wurde der Abzug der sowjetischen Armee aus Afghanistan angeordnet, der am 15.
2. 1989 abgeschlossen wurde. Aufgrund dieser neu entstandenen Situation
glaubten die Konterrevolutionäre und ihre internationalen Auftraggeber, ihre
Stunde wäre gekommen, die nun allein stehende afghanische Armee besiegen und
damit die so ungeliebte Regierung in Kabul hinwegfegen zu können. „Nadjibullah
würde sich ohne sowjetische Armee keine vier Wochen an der Macht halten
können“, so lauteten die Prognosen der internationalen Presseagenturen. „Die
Mudschahedin ‘kontrollieren’ große Teile des Landes, waren aber bisher
nicht in der Lage, auch nur eine einzige bedeutende Stadt in Afghanistan zu
erobern. Die im pakistanischen Exil von Peshawar gebildete ‘Afghanische
Interims-Regierung’ der sieben wichtigsten Mudschahedin-Parteien konnte
daher nicht ihren Sitz in Afghanistan nehmen. Die Autorität dieser ‘Regierung’
schwindet von Monat zu Monat. [...] Von den Machenschaften der Politiker in
der Etappe zunehmend angewidert, haben viele Mudschahedin-Kommandeure in
Afghanistan damit begonnen, in den von ihnen beherrschten Gebieten eigene
Verwaltungen aufzubauen und sich um die Exil-Politiker in Peshawar nicht mehr
zu scheren.“
[107]
Hätten die
Konterrevolutionäre ihren „Regierungssitz“ nach Afghanistan verlegen
können, wären sie zumindest von den westlichen Staaten und ihren regionalen
Verbündeten international anerkannt worden - mit allen völkerrechtlichen
Konsequenzen. Dazu waren sie offensichtlich nicht in der Lage. Im Gegenteil,
bei ihrer groß angelegten Offensive zur Eroberung der ostafghanischen
Provinzhauptstadt Djalal Abad im März 1989, an der mindestens 20.000
Mann teilnahmen, obwohl „mit Panzern, schwerer Artillerie und Raketenwerfern“
ausgerüstet und „unterstützt von arabischen Freiwilligen, angeleitet vom
pakistanischen Geheimdienst“
[108]
, waren sie vernichtend geschlagen worden und auch weitere
Großangriffe gegen Kabul (Anfang Oktober 1990), gegen die Stadt Chost in der
Provinz Paktia (März 1991) und nochmals gegen Djalal Abad (Ende Juli 1991)
scheiterten kläglich.
[109]
Um diese
verhängnisvolle Situation zu beenden und dem UN-Plan zur politischen Lösung
des Konfliktes zum Erfolg zu verhelfen,
[110]
stellte Präsident Nadjibullah sein Amt zur Disposition und
erklärte seine Bereitschaft, das Land zu verlassen. Als Teile der Partei-,
der Staats- und der Armeefunktionäre seine Weisungen nicht mehr befolgten -
hier sei die Parteigruppe um Außenminister Abdul Wakil, Mahmud Barialei
(Bruder von B. Karmal) und der Milizenführer Abdul Raschid Dostum
hervorgehoben - und ihn an der Ausreise hinderten, flüchtete er in die
Kabuler UN-Vertretung, wo er bis zu seiner Ermordung durch die Taleban im
September 1996 lebte. Die inner-afghanische Ursache des Scheiterns der Politik
von Nadjibullah lag darin, daß er es nicht vermocht hatte, die verschiedenen
Fraktionen der Partei zu einen; ganz im Gegenteil, fast jedes
Politbüro-Mitglied der Partei hatte seine eigene Clique bzw. Fraktion
gebildet. Dieser Zustand untergrub die
Autorität des Präsidenten sowohl bei der Armee als auch bei der
Volksmiliz. Der bewaffnete Aufstand des Verteidigungsministers Schah Nawas
Tani in Zusammenarbeit mit Teilen der
Parteiführung
[111]
gegen Nadjibullah am 6. März 1990, der jedoch
niedergeschlagen wurde, macht die Qualität der Krise und die Tragik der
Politik der DVPA-Führung deutlich. Als Nadjibullah seinen besten
Milizenführer General Abdul Raschid Dostum brüskierte, in dem er dessen
Stellvertreter, General Mohmen, durch den aus Paktia (Heimatprovinz von
Nadjibullah) stammenden Paschtunen, General Abdul Satar, ersetzte, verlor er
weiteren, entscheidenden Rückhalt in der Armee. Damit war sein Schicksal
besiegelt. Die
Kapitulation der Führung der Hesbe Watan Die neue Führung um
Außenminister A. Wakil, Nadjmudin Kawiani, Farid Masdak (alle drei
waren Mitglieder des Politbüros) und Nadjibullahs früherem
Stellvertreter und Nachfolger Abdul Rahim Hatef hatte beschlossen, die Macht
an die Konterrevolutionäre zu übertragen.
[112]
So geschah es auch am 27. April 1992, genau am Tag des Sieges der
Aprilrevolution von 1978, nachdem ihnen die Stadt Kabul kampflos und nahezu
unzerstört überlassen worden war. Bei diesem Komplott zwischen der genannten
Personengruppe und der Konterrevolution ging es um die Rettung ihrer eigenen
Person und ihres Besitzes. Daraufhin wurde Sebghatullah Modjadedi, der
Exil-Präsident der Konterrevolutionäre, erster Präsident des Islamischen
Staates Afghanistan. Die afghanische
Führung, insgesamt 95 Personen, verließ in einem Flugzeug von Kabul aus das
Land. Seitdem tun diese ehemals hohen Funktionäre so, als ob sie mit der
ganzen Angelegenheit, dem ganzen politischen Schlamassel, der in Afghanistan
in all den Jahren angerichtet worden ist, nichts zu tun hätten. Aus Angst vor
den vielen Fragen von Tausenden aufrechten Mitgliedern, wurde kein Parteitag
einberufen, wo Rechenschaft abgelegt, die Fehler analysiert und eine neue
Führung hätte gewählt werden können. Die Parteimitglieder wurden
zurückgelassen wie Waisenkinder und zersplitterten sich in alle
Himmelsrichtungen, in Dutzende Räte, Kulturvereine und Gruppen, ohne
nennenswerte politische Bedeutung. Das ist historisches Versagen, ein
verantwortungsloses Verhalten, wenn nicht Verbrechen der Führung der DVPA
(bzw. Hesbe Watan) vor den Parteimitgliedern und vor dem afghanischen Volk,
das nicht wieder gut zu machen ist. Es gibt kaum eine Familie in Afghanistan,
die keine Opfer zu beklagen hat. Aber nicht die Familien der Partei- und
Staatsführung. Während einfache ehrenhafte Mitglieder und Söhne des
einfachen Volkes im Kampf für die Verteidigung der Revolution ihr Leben
gaben, wurden die Söhne, Töchter und Verwandten der hohen Funktionäre mit
Staatsstipendien zum Studium ins Ausland geschickt, die dann später die
entsprechenden Ämter übernahmen. Mir ist nicht bekannt, daß jemand von
ihnen heute gegen die imperialistischen Besatzer Afghanistans, zumindest auch
nur verbal kämpfen würde. In einem Rundschreiben
an ihre Mitglieder wurde durch die Leitung der Parteigruppe für die
Bundesrepublik sogar jegliche Diskussion über die Parteipolitik untersagt.
[113]
Bei meinen vielfältigen persönlichen Gesprächen mit
Führungsmitgliedern der Partei wurde das Scheitern der Revolution den Sowjets
in die Schuhe geschoben. Daß die sowjetischen Berater jedoch zum größten
Teil die Aufgaben für die Afghanen zu erledigen hatten, ist nur ein weiterer
Beweis für die Unfähigkeit und das Versagen der afghanischen Parteiführung. Nach dieser Kapitulation
der Führung der Hezbe Watan und der Machtübertragung an die
Konterrevolutionäre gelang es ihnen wegen der Priorität eigener politischer
und ökonomischer Interessen jedoch nicht, das Land gemeinsam zu regieren. Der
vom Volk so heiß ersehnte Frieden kehrte infolgedessen mit dieser
Machtübertragung nicht zurück. Im Gegenteil, der Krieg wurde im wahrsten
Sinne des Wortes gegen das afghanische Volk und unter den Islamisten selbst
mit einer nie da gewesenen Brutalität fortgesetzt. Die Weltöffentlichkeit
hat dies kaum wahrgenommen, aber „die letzten Nachrichten aus der
afghanischen Hauptstadt Kabul lassen selbst den Bürgerkrieg in
Bosnien-Herzegowina beinahe als harmlosen Konflikt erscheinen: 3000 bis 4000
Tote
[114]
, 200.000 Flüchtlinge, eine Stadt ohne Wasser, Strom und
Lebensmittel.“
[115]
Die großen Städte, darunter Kabul, wurden in Schutt und Asche
gelegt. Beobachter sprachen gar von der Einäscherung Kabuls.
[116]
Was von ihr noch übrig geblieben war, wurde in sechs
Einflußbereiche der verschiedenen Islamisten zerlegt, die Grenzen der
Einflußbereiche vermint und die Stadt bombardiert, bis nur noch Ruinen übrig
waren.
[117]
Die Bevölkerung stand diesen Geschehnissen macht- und fassungslos
gegenüber und konnte nicht verstehen, warum ausgerechnet die glühenden
Verteidiger des angeblich zuvor so gefährdeten Islam nun gegen einander Krieg
führten, mit allen Folgen für die Zivilbevölkerung. Die Islamisten
registrierten dies und befürchteten, ihren Einfluß und ihre Autorität bei
der Bevölkerung ganz zu verlieren und sich somit zu isolieren. Die „Islamische
Karte“ stach nicht mehr, was die Konterrevolutionäre bewog, jetzt auf die
„Nationalitäten-Karte“ zu setzen. Aber sie führte ebenfalls in die
Sackgasse, denn der Krieg ging unvermindert weiter, nun unter der Flagge des
Stammes bzw. der Volksgruppe, jedoch ohne Perspektive und ohne der Erfüllung
des Auftrages näher zu kommen, der den Konterrevolutionären seitens ihrer
internationalen Mentoren übertragen worden war: Die völlige Kontrolle über
das Land zu erreichen, und sei es in Form einer „Friedhofsruhe“, die eine
Öffnung der Handelswege von Pakistan nach Mittelasien ermöglichen würde.
Dieses historische Versagen der Islamisten stand im Widerspruch zu den
politisch-ökonomisch und strategischen Interessen ihrer ausländischen
Auftraggeber. Denn nach deren Auffassung sollte ein mit den USA und Pakistan
eng kooperierendes Regime in Afghanistan, stabile politische Verhältnisse
schaffen, um die Konzeption des US- und des pakistanischen Kapitals in der
Region des Mittleren Ostens - insbesondere in den mittelasiatischen Republiken
- zu realisieren. Damit war die Geburtsstunde für die Taleban gekommen, deren
Geburtshelfer die USA waren. VIII. Schlußfolgerungen Die Geschichte der
afghanischen Revolution und ihres Scheiterns ist nüchtern zu analysieren und
entsprechende Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Ansonsten besteht die
Gefahr, daß bei einem neuen Anlauf zum Sozialismus die begangenen Fehler
wiederholt werden könnten. Damit wären die Millionen an menschlichen Opfern
und die Milliarden an materiellen Verlusten umsonst gewesen. Aus Fehlern
wären dann Verbrechen geworden. „In jeder Revolution geschehen unvermeidlich eine Menge Dummheiten, gerade wie zu jeder
andern Zeit, und wenn man sich endlich wieder Ruhe genug gesammelt hat, um
kritikfähig zu sein, so kommt man notwendig zum Schluß: Wir haben so viel
getan, was wir besser unterlassen hätten, und wir haben so viel unterlassen,
was wir besser getan hätten, und deswegen ging die Sache schief.“
[118]
Die „Dummheiten“, die die afghanische Partei im Verlaufe ihrer
Revolution gemacht hat, übertreffen sicherlich bei weitem solche, an die Friedrich
Engels damals gedacht haben könnte. „Die Revolutionen sind
die Lokomotiven der Geschichte“
[119]
, stellte Karl Marx in seiner Analyse „Die Klassenkämpfe in
Frankreich“ fest. Die Konterrevolutionen sind auch Lokomotiven, nur in
umgekehrter Richtung, das afghanische Beispiel führt es uns deutlich vor
Augen. Afghanistan machte einen Umweg über Berge von Leichen und grenzenlose
Zerstörung vom Feudalismus zum Klerikal-Feudalismus mit mafiosen Strukturen,
verlor dabei seine politische und nationale Souveränität und wurde zum
Protektorat des internationalen Imperialismus, unter der Führung der USA. Die DVPA war keine
revolutionäre Partei, dafür fehlten ihr alle Voraussetzungen, sowohl
fundiertes ideologisches Wissen als auch kampferfahrene
Kader. Sie war eher eine kleinbürgerliche, in Teilen nationalistische
Partei. Die afghanische Revolution hätte eine so erfahrene und gebildete
Partei gebraucht, wie es die Tudeh-Partei Irans war. Die Frauen, zunächst
Gewinner der Revolution, waren schließlich nach ihrem Scheitern die Hauptverliererinnen.
Sowohl aus ideologischen Gründen, aber auch aus Not - da die Männer
für den Kampf gebraucht wurden - erhielten sie eine gute Ausbildung und damit
zum ersten Mal in der afghanischen Geschichte Aufstiegschancen in der
Berufswelt und im öffentlichen Leben. Die Handelsbourgeoisie hat in allen
Phasen der Revolution sowie in den Jahren des Bürgerkrieges bei der
Wareneinfuhr eine wichtige Rolle gespielt und damit für die Versorgung
gesorgt; sie wurde gefördert und militärisch geschützt. Man kann sogar
sagen, daß sie die eigentliche Gewinnerin der Revolution war. XI. Thesen Zum Schluß sollen
einige Thesen formuliert und zur Diskussion gestellt werden: Die
nationaldemokratischen Parteien im Allgemeinen und die DVPA im Besonderen
hatten Angst davor, im Verlaufe des revolutionären Prozesses die Macht zu
verlieren. Daher haben sie nach der Regierungsübernahme, entgegen ihren
Programmen, auf ihrem Machtmonopol bestanden.
Bürgerliche Kräfte, aber auch linksorientierte Bewegungen wie die
Maoisten, die heute in Afghanistan sogar mit der US-Marionette Abdul Hamid
Karsai zusammenarbeiten, wurden von der Mitarbeit ausgeschlossen. Die DVPA
erhob den Anspruch, das Wahrheitsmonopol
gepachtet zu haben. Ein Wettstreit um die besten politischen Ideen und
Initiativen wurde nicht nur verhindert, sondern mögliche Verbündete sogar
als Gegner der Revolution verfolgt. Marxistisch orientierte
Kräfte oder solche, die den Anspruch erheben, marxistisch zu sein, sollten
auf das Führungsmonopol in der Phase der nationaldemokratischen Revolution
verzichten. Eine solche Führungsfähigkeit ist erst durch entsprechenden
Kampf im Laufe der Zeit zu erringen. Ansonsten wird dem Voluntarismus,
Sektierertum und der Ignoranz Tür und Tor geöffnet, was zur Niederlage der
Revolution und darüber hinaus zur unvermeidlichen Katastrophe für das Volk
führen muß, wie am Beispiel Afghanistans in erschreckender Weise deutlich
wurde. Was spricht dagegen,
auch im Kampf auf dem Wege zum Sozialismus, zwei Parteien zu haben, die für
dieselbe Idee kämpfen, z.B. eine sozialistische und eine kommunistische? Die
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften haben nachweislich gute
Erfahrungen damit gemacht. Marx und Lenin irrten,
indem sie die Gewaltenteilung im Sozialismus ablehnten
[120]
, für die Periode der Nationaldemokratischen Revolution wäre ein
solcher Verzicht völlig kontraproduktiv, da die gesellschaftlichen
Verhältnisse noch weiter von feudalen, patriarchalischen und tribalen
Strukturen geprägt sind. Auch und gerade in dieser Situation wäre die
Gewaltenteilung einer von vielen notwendigen Schritten zur Demokratisierung
der Gesellschaft. Die Trennung von Staat
und Partei ist m.E. eine unverzichtbare Notwendigkeit, um Machtmißbrauch und
Fehlentwicklungen vorzubeugen. In Staat und Verwaltung sollten nicht
Parteifunktionäre, sondern ausgebildete Fachkräfte tätig sein, die Partei
in konzeptioneller und beratender Funktion. Als ich diesen Vorschlag
bezüglich Afghanistan schon 1979 in einer Redaktionssitzung des
Antiimperialistischen Informationsbulletins (AIB) unterbreitete, bemerkte ein
gerade von einer politischen Reise aus Kabul
zurückgekehrter Redakteur: „Sei froh, daß Du diese Idee nicht in
Afghanistan vorgetragen hast. Das hätte Dich den Kopf gekostet“. Das Prinzip des
demokratischen Zentralismus als Organisationsprinzip der revolutionären
Arbeiterpartei, das das einheitliche Handeln aller Mitglieder und die
Durchführung der von der Leitung gefaßten Beschlüsse gewährleistet, wurde
sträflich mißachtet bzw. teilweise
mißbraucht. Dem Zentralismus wurde gegenüber der Demokratie Vorrang
geben und damit die Mehrheit der Parteimitglieder zum bloßen
Befehlsempfänger degradiert. Es muß künftig unbedingt beachtet werden, daß
es eine Balance gibt; daher sollte es besser mehr Demokratie als Zentralismus
geben, um möglichen Machtmißbrauch zu vermeiden. Einer grundsätzlich
neuen Theorie der NKEW für die in Unterentwicklung gehaltenen Völker bedarf
es nicht. Weder sollte auf die wichtigsten Elemente dieser Theorie verzichtet,
noch dürfen sie ignoriert oder wesentliche Etappen übersprungen werden. Die
Theorie der NKEW ist bisher noch nicht einmal ansatzweise umgesetzt worden.
Daher behalten m.E. die allgemeinen Aussagen dieser Theorie auch weiterhin
ihre Gültigkeit, wenn sie im einzelnen auch der heute gegebenen Situation
angepaßt werden müssen. Denn die wichtigsten natürlichen Verbündeten der
Länder der NKEW waren die sozialistischen Länder, die heute nicht mehr
existieren. Auf die Notwendigkeit einer solchen Unterstützung durch
fortschrittliche Länder hatten schon die Klassiker des Marxismus hingewiesen.
Die VR China heute als sozialistisches Land
und damit als Verbündeten einer nationaldemokratischen Revolution
anzusehen, wäre eine fatale Illusion. Wir müssen zurück zu
Marx und nicht zu Lenin. Denn Lenin ging von einer Möglichkeit des
sozialistischen Aufbaus in einem Land aus, was heute angesichts der totalen
Beherrschung der Welt durch den aggressiven Imperialismus nicht möglich ist.
Es wird jeder Ansatz zum NKEW im Keim erstickt werden. Während Marx von einer
revolutionären Bewegung in Europa ausging, also im Zentrum des Kapitalismus.
Unter derzeitigen Bedingungen muß der Kapitalismus in seinem Herz getroffen
und seine tragenden Säulen erschüttert werden, möglicherweise flankiert aus
den Peripherien. „Der Weltimperialismus muß fallen, wenn der revolutionäre
Ansturm der ausgebeuteten und unterjochten Arbeiter im Innern jedes Landes den
Widerstand der kleinbürgerlichen Elemente und den Einfluß der wenig
zahlreichen Oberschichten der Arbeiteraristokratie besiegt, sich mit dem
revolutionären Druck von Hunderten von Millionen der Menschheit vereinigt,
die bisher außerhalb der Geschichte standen, nur als Objekt betrachtet wurden“
113 stellt Lenin in seinem Bericht auf dem zweiten Kongreß der
Komintern am 19. Juli 1920 in Moskau fest. Trotz des jetzigen
Widerstandes gegen die Besetzungen und die Besatzungsmächte, wie
in Afghanistan und Irak, haben die in Unterentwicklung gehaltenen Länder
alleine keine Chance, die Konzeption der NKEW umzusetzen. Ob über die
Restauration des Kapitalismus, wie in der VR China, Vietnam, Laos, Kampuchea,
oder durch den Umweg über den kapitalistischen Entwicklungsweg, wie in Angola
oder Moçambique, der Übergang zum Sozialismus führen kann, wird die Zukunft
erweisen. Mit der Vorstellung
dieser Thesen erhoffe und wünsche ich mir, eine produktive Diskussion über
das Thema der Möglichkeit einer „Nichtkapitalistischen Entwicklung“
angestoßen zu haben. 113 Der
zweite Kongreß der Kommunist. Internationale, a.a.O., S.38
Eine Preisfrage. - Wo
mag das wohl stehen?
Es könnte scheinen: die
marxistisch-leninistische Theorie gemeistert zu haben bedeute, einzelne
Schlußfolgerungen und Leitsätze aus den Werken von Marx-Engels-Lenin
gewissenhaft auswendig lernen, um sie zur rechten Zeit zu zitieren, und sich
damit zufrieden zugeben in der Hoffnung, daß die auswendig gelernten
Schlußfolgerungen und Leitsätze für jede Situation, für alle Wechselfälle
des Lebens tauglich seien. Aber ein solches Herangehen an die
marxistisch-leninistische Theorie ist völlig unrichtig. Man darf die
marxistisch-leninistische Theorie nicht als eine Urkundensammlung, als einen
Katechismus, als eine Glaubensformel betrachten, noch die Marxisten selbst als
Wortklauber und Schriftgelehrte. Die marxistisch-leninistische Theorie ist die
Wissenschaft von der Entwicklung der Gesellschaft, die Wissenschaft von der
Arbeiterbewegung, die Wissenschaft vom Aufbau der kommunistischen
Gesellschaft. Als Wissenschaft bleibt sie nicht auf einer Stelle stehen und
kann es auch nicht, sie entwickelt sich und vervollkommnet sich. Es ist
verständlich, daß sie sich in ihrer Entwicklung durch neue Erfahrungen,
durch neues Wissen bereichern muß, daß ihre einzelnen Leitsätze und
Schlußfolgerungen sich im Laufe der Zeit ändern müssen, daß diese
notwendig durch neue, den neuen historischen Verhältnissen entsprechende
Schlußfolgerungen und Leitsätze ersetzt werden müssen. Die
marxistisch-leninistische Theorie meistern bedeutet durchaus nicht, alle ihre
Formeln und Schlußfolgerungen auswendig zu lernen und sich an jeden
Buchstaben dieser Formeln und Schlußfolgerungen zu klammern. Um die
marxistisch-leninistische Theorie zu meistern, muß man vor allem lernen,
zwischen ihrem Buchstaben und ihrem Geist zu unterscheiden. ... Die
marxistisch-leninistische Theorie meistern, heißt verstehen, diese Theorie
durch die neuen Erfahrungen der revolutionären Bewegung zu bereichern; sie
durch neue Leitsätze und Schlußfolgerungen zu entwickeln und
weiterzuführen, und nicht davor zurückzuschrecken, ausgehend vom Wesen
der Theorie einzelne ihrer Lehrsätze und Schlußfolgerungen, die bereits
veraltet sind, durch neue, der neuen historischen Situation entsprechende
Leitsätze und Schlußfolgerungen zu ersetzen. ... Opportunismus bedeutet
nicht immer die direkte Verneinung der marxistischen Theorie oder ihrer
einzelnen Leitsätze oder Schlußfolgerungen. Der Opportunismus äußert sich
mitunter auch in Versuchen, sich an einzelne, bereits überholte
Leitsätze des Marxismus zu klammern, sie in Dogmen zu verwandeln, um dadurch
die Weiterentwicklung des Marxismus aufzuhalten .. „Unsere Lehre ist kein
Dogma, sondern eine Anleitung zum Handeln“ - das betonten Marx und Engels
ständig, wobei sie sich mit vollem Recht über das Einochsen und einfache
Wiederholen von ‘Formeln’ lustig machten, die bestenfalls geeignet waren,
die allgemeinen Aufgaben vorzuzeichnen, die durch die konkrete ökonomische
und politische Situation in jedem besonderen Zeitabschnitt des
geschichtlichen Prozesses notwendig modifiziert werden ... Es gilt, sich die
unbestreitbare Wahrheit zu eigen zu machen, daß der Marxist mit dem
lebendigen Leben, mit den exakten Tatsachen der Wirklichkeit rechnen
muß, statt sich an die Theorie von gestern zu klammern.“ Die Geschichte unserer
Partei lehrt weiter, daß die Partei ihre Rolle als Führer der Arbeiterklasse
nicht erfüllen kann, wenn sie, von Erfolgen berauscht, überheblich zu werden
beginnt, wenn sie aufhört, die Mängel ihrer Arbeit zu bemerken, wenn sie
sich fürchtet, ihre Fehler einzugestehen, sich fürchtet, diese rechtzeitig
offen und ehrlich zu korrigieren ... Die Partei geht
zugrunde, wenn sie ihre Fehler verheimlicht, wunde Punkte vertuscht, ihre
Unzulänglichkeiten bemäntelt, indem sie ein falsche Bild wohlgeordneter
Zustände zur Schau stellt, wenn sie keine Kritik und Selbstkritik duldet,
sich von dem Gefühl der Selbstzufriedenheit durchdringen läßt und auf ihren
Lorbeeren auszuruhen beginnt. .. Schließlich lehrt die
Geschichte der Partei, daß die Partei der Arbeiterklasse ... ohne die
Fähigkeit, auf die Stimme der Masse zu lauschen und ihre brennenden Nöte zu
verstehen, ohne die Bereitschaft, nicht nur die Massen zu belehren, sondern
auch von ihnen zu lernen, keine wirkliche Massenpartei sein kann ... Die Partei geht
zugrunde, wenn sie sich in ihrem eng parteilichen Gehäuse abkapselt, wenn sie
sich von den Massen loslöst, wenn sie sich mit einer bürokratischen Kruste
bedeckt.
Rechtsfragen des
Potsdamer Abkommens.
Zur Überwindung des
Faschismus (Forsetzung
von Heft 1/06, S. 64) von Erich Buchholz
II. Im Potsdamer Abkommen
wurden Vereinbarungen über verschiedene Gegenstände getroffen, darunter - in
Durchführung der Krim-Konferenz nach der Besetzung ganz Deutschlands durch
die Alliierten Armeen - über Deutschland (III.), über Kriegsverbrecher (VII)
und über die ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile
(XIII). Zu den substantiellen
Bestimmungen des Potsdamer Abkommens gehört das absolute Verbot der
Nazipartei und ihrer Gliederungen, sowie das Verbot einer Wiederauferstehung
einer solchen. Unter III A 3 (III)
heißt es: „Die nationalsozialistische Partei mit ihren angeschlossenen
Gliederungen und Unterorganisation ist zu vernichten; alle
nationalsozialistischen Ämter sind aufzulösen; es sind Sicherheiten dafür
zu schaffen, daß sie in keiner Form wieder auferstehen können; jeder
nazistischen und militaristischen Betätigungen und Propaganda ist vorzubeugen
“ (Hervorgehoben von mir). Dazugehört auch, wie
unter Ziff. 6 bestimmt: „Alle Mitglieder der nazistischen Partei, welche
mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben, und alle anderen
Personen, die den Alliierten Zielen feindlich gegenüberstehen, sind aus den
öffentlichen oder halböffentlichen
Ämtern und von den verantwortlichen Posten in wichtigen
Privatunternehmen zu entfernen. Diese Personen müssen durch Personen ersetzt
werden, welche nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften fähig
erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in
Deutschland mitzuwirken.“ Weiterhin wird unter
Ziff. 7 festgelegt: „Das Erziehungswesen in Deutschland muß so überwacht
werden, daß die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt
werden und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich
gemacht wird.“ Damit war in Potsdam bestimmt worden, was durch den
2+4-Vertrag nicht berührt wird, daß in Deutschland Faschismus keinen Platz
haben darf. Folgerichtig enthielten die Verfassungen der DDR strafbewehrte
Verbote faschistischer Aktivitäten, auch der Wiederbelebung und des
Wiedererstehens des Faschismus, so - Art. 5
und 6 der Verfassung von 1949 sowie Art. 6 und 8 der Verfassung von 1968. Vergleichbare
Bestimmungen sind im bundesdeutschen Verfassungsfunktion erfüllenden
Grundgesetz nicht zu finden. Im politischen Alltag
der Bundesrepublik spielen die verbindlichen Vorgaben des Potsdamer Abkommens
von 1945 für Deutschland keine Rolle. Sie werden einfach verschwiegen. Die Festlegungen des
Potsdamer Abkommens wurden in Westdeutschland zunehmend immer weniger
eingehalten. Die gebotene konsequente Abrechnung und Auseinandersetzung mit
dem Faschismus unterblieb. Als undefinierte und
unscharfe Reaktion auf die NS-Verbrechen wurden im bundesdeutschen Grundgesetz
im Art. 1 der Schutz der Menschenwürde, im Art. 2 die (persönlichen)
Freiheitsrechte, im Art. 3 die Gleichheit vor dem Gesetz (unter
ausdrücklicher Hervorhebung des Diskriminierungsverbotes im Hinblick auf
Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glaubens,
religiöse oder politische Anschauungen), im Art. 4 die Glaubens- und
Bekenntnisfreiheit und im Art. 5 die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die
Freiheit der Kunst und der Wissenschaft verankert. So sehr dies zu
begrüßen ist, kann nicht übersehen werden, daß diesen Vorschriften die
gebotene klare antifaschistische Stoßrichtung fehlt. Durch ihre bewußt
formal gehaltene Abfassung erwiesen sie sich des Öfteren als Bestimmungen,
die alten und neuen faschistischen Kräften verfassungsrechtlich gesicherten
Entfaltungsraum gewährten, dem Faschismus also gerade keine Grenzen setzen. Die entsprechenden
Strafbestimmungen der §§ 86, 86 a und 130 des bundesdeutschen StGB sind
ähnlich formal abgefaßt. Die Strafbestimmung des
§ 86 dieses Strafgesetzbuches mit der Überschrift „Verbreiten von
Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen“ stellt zunächst die
Propaganda von für verfassungswidrig erklärten Parteien unter Strafe, also
namentlich die der KPD! Unter Ziff. 4 des Abs. 1
dieser Vorschrift werden auch Propagandamittel erfaßt, „die nach ihrem
Inhalt dazu bestimmt sind, Bestrebungen einer ehemaligen
nationalsozialistischen Organisation fortzusetzen“, sofern deren Verbreitung
in der BRD erfolgt oder sie zur Verbreitung in dieser hergestellt, eingeführt
oder vorrätig gehalten werden. Abgesehen davon, daß
der bundesdeutsche Gesetzgeber geflissentlich den umfassenden Begriff „Faschismus“
vermeidet, schränkt er die Reichweite dieser Strafbestimmung durch eine
Legaldefinition der Propagandamittel insofern maßgeblich ein, als darunter
„nur solche Schriften“ fallen, „deren Inhalt gegen die freiheitliche
demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung
gerichtet ist.“ Damit werden
augenscheinlich ganz wesentliche Bereiche faschistischer Propaganda
ausgenommen, die nicht gegen die Völkerverständigung sind, wie insbesondere
deren Rassismus und Antikommunismus beweist. Außerdem werden bereits dem
Wortlaut des Gesetzes nach solche Handlungen der gebotenen strafrechtlichen
Verfolgung entzogen, die sich als Aktivitäten „der staatsbürgerlichen
Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der
Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über
Vorgänge der Zeitgeschichte oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken“
dienend darstellen lassen! Im Übrigen hat die
Rechtsprechung (des BGH) betont, daß von Propaganda nur bei „aktiv
kämpferischen, aggressiven Tendenzen“ die Rede sein könne; „soft
faschism“, also zahmer Faschismus, ist straffrei; im Übrigen
würden „vorkonstitutionelle“ Schriften, also faschistische
Originalschriften aus der Zeit vor 1945 (auch unveränderte Nachdrucke!) nicht
erfaßt; die bloße Verherrlichung des NS-Regimes und seiner Ideologie genüge
zur Strafverfolgung nicht. Ähnlich
formal-kasuistisch abgefaßt ist § 86 a des bundesdeutschen
Strafgesetzbuches, der die Überschrift trägt „Verwenden von Kennzeichen
verfassungswidriger Organisationen“. Diese Vorschrift bezieht sich
ausdrücklich auf den vorgenannten § 86 und stellt lediglich auf betreffende
„Kennzeichen“, wie „Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und
Grußformen“, ab. Immerhin werden das „Hakenkreuz“, auch ein „Führerbild“
sowie das „Horst-Wessel-Lied“ von der Rechtsprechung als solche
Kennzeichen angesehen. Im Übrigen sei der Symbolgehalt solcher „Kennzeichen“
vielfach umstritten. Schließlich könnte
auch die Strafbestimmung des § 130 des bundesdeutschen Strafgesetzbuches als
eine Strafbestimmung gegen Faschismus angesehen werden. Nach dieser macht sich
strafbar, „wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden
zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er 1. zum Hass gegen Teile
der Bevölkerung aufstachelt (etwa gegen Juden), 2. zu Gewalt- oder
Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder sie
beschimpft, böswillig verächtlich macht oder
verleumdet.“ Da in dieser Bestimmung
der maßgebliche Begriff „Faschismus“ nicht vorkommt, ent-behrt sie der
antifaschistischen Stoßrichtung. Zu besorgen ist, daß sie gemäß bekannten
Klischees von „Gewalt- und Willkürmaßnahmen“ sogar gegen die
entschiedensten Gegner des Faschismus, gegen Kommunisten, angewandt wird. Die in den drei
vorgenannten Strafgesetzen praktizierte Kasuistik (und die dazu gehörige
Rechtsprechung) sind geeignet, den alten und neuen Nazis Anleitung dafür zu
geben, wie sie ihre faschistische Propaganda abfassen und gestalten müssen,
um straffrei zu bleiben. So erweisen sich
derartige Gesetze des bundesdeutschen Strafrechts im Unterschied zu den
vorerwähnten Strafbestimmungen des DDR-Strafrechts nicht als Gesetze zu einer
entschiedenen Bekämpfung des Faschismus, sondern
als solche, die ihm hinreichend Raum zu Entfaltung und Aktivität geben. Im ganzen Grundgesetz
gibt es nur eine einzige spezielle Vorschrift zum „Nationalsozialismus“,
nämlich den Art. 139 mit der Überschrift
„Befreiungsgesetze“ bzw. „Fortgelten der Vorschriften über
Entnazifizierung“, nach der die zur „Befreiung des deutschen Volkes vom
Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften
von den Bestimmungen des Grundgesetzes „nicht berührt“ werden. Anderes war ja auch
nicht möglich; denn das Grundgesetz von 1949 bedurfte der Genehmigung der
drei westlichen Alliierten. Der in diesem Artikel
139 enthaltene Vorbehalt (!) gilt ausdrücklich nur für das beim
Inkrafttreten des Grundgesetzes vorhandene Entnazifizierungsrecht,
dessen Grundzüge besatzungsrechtlichen Ursprungs sind. Die von den
Alliierten geschaffenen Entnazifizierungsvorschriften
konnte der bundesdeutsche Grundgesetzgeber im Jahr 1949 wahrlich nicht
außer Acht lassen. Klarheit besteht
indessen unter Juristen der Bundesrepublik, daß der Zweck dieser „Übergangsbestimmung“
(!) sich darin erschöpft, die vorbehaltenen Vorschriften „unabhängig von
ihrer rechtsstaatlichen Problematik und ihrer Übereinstimmung mit den
Grundrechten“ (!) in den neu geschaffenen Verfassungszustand zu überführen
und den planmäßigen Abschluß der Entnazifizierung ohne Gefährdung ihrer
Rechtsgrundlagen zu ermöglichen. Allerdings will das Grundgesetz diese
Entnazifizierungsvorschriften nicht „konservieren, d.h. nicht auf
Dauer in ihrem Bestand schützen“. Mit dem letzten
Entnazifizierungsabschlußgesetz im Jahr 1953 sei dieser Artikel 139
gegenstandslos geworden! Die Vorschrift des
Artikels 139 enthält somit, wie in Kommentaren ausdrücklich betont wird,
keine fortdauernde antinationalsozialistische Grundentscheidung der
Verfassung. Soweit
nationalsozialistische Bestrebungen im Parteien-, Vereins- oder
Versammlungsrecht eine Rolle spielen, argumentiert die Rechtsprechung daher
nicht mit Art. 139 GG! Soweit gegen faschistische Bestrebungen und
Aktivitäten überhaupt juristisch vorgegangen wird, so geschieht dies
ausschließlich mit den formalen Elementen des Parteien-,
Vereins- und Versammlungsrechts. Ansonsten ist dem
Grundgesetz, nicht einmal seiner Präambel, anzusehen, daß es nach der
Befreiung auch des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus in Kraft gesetzt
wurde. Die Väter des
Grundgesetzes gingen von einem Fortbestehen des Deutschen Reiches aus - als
hätte es keinen Hitlerfaschismus mit seinen
verbrecherischen Aggressionskriegen und seinen beispiellosen Verbrechen
gegeben. Aufgrund dessen kam es
nicht zu einer hinreichend scharfen und eindeutigen Abgrenzung vom
Hitlerfaschismus. Die Bundesrepublik sieht sich vielmehr als Rechtsnachfolger
des unter den Schlägen der Alliierten Armeen untergegangenen Deutschen
Reiches, auch des Dritten Reiches, und in dessen Tradition. Jedenfalls gab es für
die Väter des Grundgesetzes mit dem Ende des Hitlerfaschismus weder eine
Zäsur, noch eine Abhebung oder gar einen Bruch mit der Vergangenheit. In diesem Sinne regelt
das GG (im Art. 123) die Fortgeltung alten Rechts und im Art.
129 fortgeltende Ermächtigungen. Mehr noch, den Vätern des GG war es
wichtig, in ihrem GG nicht nur mit der Abschaffung der Todesstrafe in Art. 102
den Naziverbrechern den Kopf zu retten, sondern mit Art. 131 auch den
früheren Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die die Naziverbrechen
zumindest toleriert, wenn nicht aktiv unterstützt hatten, eine hinreichende
Versorgung zu sichern. So ist der
bundesdeutschen Rechtsordnung, wie sie 1949 geschaffen bzw. bestätigt wurde,
nicht zu entnehmen, daß ein Fortleben faschistischen Gedankenguts mit ihr
unvereinbar sei. Diese Rechtsordnung
entbehrt seither des gebotenen juristischen Arsenals zur wirksamen Bekämpfung
faschistischer Aktivitäten und des Wiedererstarkens des Faschismus in Deutschland. Namentlich
fehlt im Grundgesetz eine eindeutige und klare Antifaschismusklausel, wie wir
sie in den DDR-Verfassungen kennen. Demgegenüber wurde in
Ostdeutschland gründlich mit dem Faschismus abgerechnet und wurde er mit
seinen ökonomischen, politischen und ideologischen Wurzeln ausgerottet. Ergänzend wurde jedes
Wiederaufleben des Faschismus nicht nur durch die Verfassung verboten, sondern
mit Art. 6 der Verfassung von 1949 auch absolut und eindeutig unter Strafe
gestellt. Im Art. 6 der Verfassung
von 1968 wurde festgestellt, daß die DDR „getreu den Interessen des Volkes
und den internationalen Verpflichtungen auf ihrem Gebiet den Militarismus und
Nazismus ausgerottet“ hat. Durch § 92 des StGB der
DDR, eine Vorschrift im Kapitel über die Verbrechen gegen die
Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, wurde uneingeschränkt jede „faschistische
Propaganda“, wie auch jegliche „Völker- und Rassenhetze, die geeignet
ist, zur Vorbereitung oder Begehung eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit
aufzuhetzen“, streng bestraft, und zwar auch bereits jede Vorbereitung zu
solchem Verbrechen. Als ein Fall
staatsfeindlicher Hetzte gem. § 106 StGB/DDR wurde streng bestraft, „wer
die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und
Gesellschaftsordnung der DDR angreift oder gegen sie aufwiegelt, indem er ...
den Faschismus oder Militarismus
verherrlicht oder Rassenhetze treibt“, wobei auch bei diesen
Verbrechen bereits die Vorbereitung unter Strafe gestellt war. Schließlich wurde
gemäß § 220 Abs. 3 StGB / DDR wegen „Öffentlicher Herabwürdigung“
auch bestraft, „wer in der Öffentlichkeit Äußerungen faschistischen,
rassistischen, militaristischen oder revanchistischen Charakters kundtut oder
Symbole dieses Charakters verwendet, verbreitet oder anbringt.“ Diese Strafbestimmungen
waren gewollt umfassend - und nicht kasuistisch - gestaltet, um jegliche
relevante faschistische Propaganda oder Hetze erfassen und verfolgen zu
können. Solche Strafbestimmungen trugen dazu bei, daß dem Faschismus in der
DDR kein Entfaltungsraum gelassen wurde. Da demgegenüber die
herrschenden Kräfte der Bundesrepublik zu keiner Zeit eine hinreichend
scharfe Abgrenzung zu Nazis und Faschisten vorgenommen hatten, statt dessen
aber „Linksextremisten“ und „Rechtsextremisten“ formal
gleichbehandeln, erlangen die alten und neuen Nazis einen von dieser
bundesdeutschen Rechtsordnung gewährten Freiraum. In der polizeilichen Praxis
läuft diese Gewährung nicht selten darauf hinaus, gestützt auf den
Rechtsanspruch auf Versammlungsfreiheit, Nazidemonstrationen vor
Antifaschisten zu schützen! Als schon vor Jahren die
Wiederbelebung faschistischen Gedankenguts
unübersehbar wurde, sah sich der Präsident des Zentralrats der Juden
in Deutschland, Paul Spiegel, genötigt zu erklären: „Wehret den Anfängen,
heißt es oft, wenn es um den Kampf gegen
den Rechtsextremismus geht. Doch wir sind längst über dieses Stadium
hinaus. Was wir fast täglich erleben, hat nichts mehr mit ‚Anfängen’ zu
tun“. Angesichts dieser
Situation in Deutschland brachte die Fraktion der PDS Anfang 2001 in den
Bundestag eine Vorlage ein, um eine Antifaschismusklausel in das Grundgesetz
zu bringen, nämlich einen „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes“. Dieser Antrag wurde
nicht nur, wie bekannt, von der Mehrheit des Bundestages abgelehnt und
verworfen, womit er auch in jüngerer Zeit erneut bekräftigte, gegen Neonazis
und Faschisten nicht konsequent sein zu wollen. Vor allem wurde in der Debatte
dieses Antrags am 16. Februar 2001 von Vertretern anderer Fraktionen
verbreitet die Auffassung vertreten, dann bedürfe es auch einer
entsprechenden Bestimmung gegen den „Linksextremismus“. Ein solcher
Vortrag, gleichermaßen gegen „Linksextremisten“
und „Rechtsextremisten“ zu sein und vorgehen zu wollen, erweist
sich im Ergebnis als überdeutliche Hilfestellung für Neonazis und
Faschisten. (Siehe meinen Beitrag „Antifaschismusklausel ins Grundgesetz?“
in den WBl. 1/2001,S. 27 ff.) Der Faschismus lebt,
blüht und gedeiht in Deutschland, weil er aus der Mitte der Gesellschaft
gespeist, unterstützt und toleriert wird. Die „politische Klasse“, die
herrschenden politischen Klassenkräfte, wollen keinen Antifaschismus und
verleumden den Antifaschismus; weil sie mit dem Faschismus liebäugeln. Unter
dem Deckmantel der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die als
hohes Gut der freiheitlich-demokratischen Ordnung der BRD gewürdigt und
gefeiert werden, wurde und wird es den alten und den neuen Nazis erlaubt,
politisch zu agieren, Nazipropaganda und -hetze zu betreiben. Man gab vor,
gerade nach den Zeiten der Hitlerdiktatur jedem diese Freiheiten garantieren
zu müssen, auch den ausgewiesenen Feinden der Demokratie. So blieb man gegenüber
alten und neuen Nazis zurückhaltend, während gegenüber Kommunisten und
anderen Gegnern der Adenauerpolitik die „wehrhafte Demokratie“ mit allen
staatlichen Gewaltmitteln zur Geltung gebracht wurde,. Wie schon in der
Weimarer Republik blieb die bundesdeutsche Justiz - wie Tucholsky wußte - auf
dem rechten Auge blind. Während die Partei der
Kommunisten aufgrund eines Antrags der Bundesregierung vom 22.11.1951 nach
Art. 21 GG am 17. August 1956 regelrecht - durch das Bundesverfassungsgericht
- verboten wurde, können neofaschistische Parteien heutzutage
Abgeordnetensitze in deutschen Landtagen einnehmen, ohne mit der Rechtsordnung
in Konflikt zu geraten. In diesem Zusammenhang
ist daran zu erinnern, daß zu den ersten politischen Aktivitäten der
Bundesregierung, der Regierung Adenauer, auch das Einbringen des offen gegen
die Kommunisten gerichteten 1. Strafrechtsänderungsgesetzes, des „Blitzgesetzes“,
gehörte. In heuchlerischer Weise
stellte diese Regierung beim BVerfG gleichzeitig auch einen Antrag auf Verbot
einer politisch unbedeutenden rechten Partei, der „Sozialistischen Reichspartei“, SRP,
um den Anschein zu erwecken, man wende sich
sowohl gegen „Linksextremismus“ wie auch gegen „Rechtsextremismus“. Nach dem bewußt formal
gehaltenen, nur Verfahrensregeln enthaltenen Parteiengesetz darf jeder, auch
ein Nazi, eine Partei gründen, die unter dem Schutz des Art. 21 des
Grundgesetzes steht. Denn die Gründung einer Parte ist frei. So dürfen auch
Nazis oder Neonazis, wie es im ersten Satz dieses Artikels heißt, „an der
politischen Willensbildung des Volkes“ teilnehmen und faschistisches
Gedankengut propagieren, in die Köpfe der Bürger bringen. Ob eine solche dem
Faschismus huldigende Partei irgendwann später einmal ob nachweisbarer
faschistischer Aktivitäten, weil sie „nach ihren Zielen oder nach dem
Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische
Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der
Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“, vom Bundesverfassungsgericht gem.
Art. 21 Abs. 2 GG in einem entsprechenden Verfahren gem. §§ 43 ff. für
verfassungswidrig erklärt werden wird, ist eine andere Frage. Nach den
Erfahrungen mit dem Verbotsantrag bezüglich der NPD ist ein Verbot keineswegs
sicher. Als ein besonders
markantes Beispiel, wie die Bonner Justiz die Verbreitung faschistischen
Gedankenguts erlaubt, stellt ein Urteil des 3. Strafsenats des
Bundesgerichtshofes vom 25. Juli 1979 - Az. 3 Str 182/79 (S) - dar. Es ging um
den Vertrieb von Hitlers Buch „Mein Kampf“, in dem Völkermord, Krieg,
Terror und freislerische Gerichtsbarkeit ideologisch vorprogrammiert worden
waren. Die Karlsruher Richter befanden: Hitlers Kampfwerk sei schon vor der
Ausarbeitung des Grundgesetzes gedruckt worden und deswegen rechtlich als „vorkonstitutionelle
Schrift“ anzusehen. Folglich könne von ihrer Verbreitung keine
Gefahr für die grundgesetzliche Ordnung ausgehen. Im übrigen habe der
Gesetzgeber zu solcher nazistischer vorkonstitutioneller Literatur keine
eindeutigen Aussagen gemacht! Auf der gleichen Linie
liegt - die geistige Kontinuität dieses 3. Strafsenats des BGH bewahrend -
seine jüngste am 28. Juli 2005 verkündete Entscheidung, nach der die
Verwendung der faschistischen Parole „Ruhm und Ehre der Waffen-SS!“ nicht
strafbar sei, so daß die drei Angeklagten, Angehörige der „Karlsruher
Kameradschaft“, freigesprochen wurden. Bei ihrem Ausspruch bestehe keine
Verwechslungsgefahr (!) mit nazistischen Originalparolen der Hitler-Jugend
oder der Waffen-SS. Geht es denn eigentlich
um eine Verwechslungsgefahr bestimmter Äußerungen oder Parolen? Der
Präsident des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, nannte das Urteil
unglaublich. Daß die Neonazis und
andere Rechtsextremisten durch eine derartige Entscheidung des höchsten
Strafgerichts der BRD zu noch stärkerem Agieren ermutigt und ermuntert
werden, liegt auf der Hand. Jüngst erklärte der Bundesinnenminister Schily,
die neu formierte „Linke“ müsse - wie zuvor die PDS - deshalb weiterhin
vom Verfassungsschutz überwacht werden, weil sie in ihrem Bestand das „Marxistische
Forum“ dulde. Offensichtlich ist dem derzeitigen Bundesinnenminister das GG
nicht geläufig, das im Art. 5 nicht nur die Meinungsfreiheit schlechthin,
sondern ausdrücklich auch die Freiheit der Wissenschaft garantiert. Schily hält es mit dem
GG ähnlich wie einer seiner Vorgänger im Amt, der bei entsprechenden
Nachfragen über polizeiliches Handeln im Bundestag erklärte, seine Beamten
könnten doch nicht ständig mit dem GG unterm Arm herumlaufen! Schily befindet sich in
guter Gesellschaft, denn das BVerfG hatte im KPD-Verbotsprozeß maßgeblich
auf den „Marxismus-Leninismus“ abgestellt und über ihn Beweis erhoben! Das Potsdamer Abkommen
gebot, den Faschismus zu vernichten und nicht, ihn wiederauferstehen zu
lassen! Was daraus in der BRD - nun im größer gewordenen vereinigten
Deutschland - wurde, liegt auf der Hand. Nach Einverleibung der
DDR und nach Wegfall des Antipoden DDR ist ein Wiederaufleben faschistischen
Gedankenguts sowie eine verstärkte Aktivität und Propaganda zu beobachten. III. Zu weiteren
substantiellen und nicht zeitbedingten Bestimmungen des Potsdamer Abkommens
gehört die Ächtung und das strafbewehrte Verbot von Aggressionskriegen,
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Das Potsdamer Abkommen
als das maßgebliche Dokument über die Folgerungen aus den Verbrechen des
Hitler-Faschismus enthält juristische Definitionen, die in der Folgezeit in
den Tatbeständen des Londoner Statuts über den Internationalen
Militärgerichtshof (IMT-Statut) vom 8. August 1945, im Nürnberger Urteil vom
1. Oktober 1946 und im Kontrollratsgesetzes Nr. 10 völkerstrafrechtlich als
Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit und die Kriegsverbrechen
beschrieben wurden. All diese juristischen
Definitionen stellen klar: Faschismus ist nicht eine „andere Meinung“,
sondern ein Verbrechen. Diese Festlegungen im
Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß wurden von der ersten Vollversammlung
der Vereinten Nationen am 11.12.1945 durch die Resolution 95 (I) ausdrücklich
bestätigt. Hierzu gehört auch die Völkermordkonvention von 1948. Diese Festlegungen sind
Marksteine auf dem Weg zu einem universellen Völkerstrafrecht. Zuvor hatte
der Versailler Vertrag vom 7. 05. 1919 in seinen Strafbestimmungen gegen
Kriegsschuldige, in Gestalt der Art. 227 - 230, insbesondere hinsichtlich der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit des deutschen Kaisers, erste Schritte in
diese Richtung gewagt. In der DDR wurden im
Sinne des vorgenannten Londoner IMT-Statuts in den §§ 85- 89 StGB
Strafbestimmungen geschaffen, die die drei Hauptverbrechen des Völkerstrafrechts
- Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit erfassten. Immerhin kennt das GG in
seinem Art. 26 das Verbot des Angriffskrieges, wenngleich der durch Absatz 1
Satz 2 dieses Artikels erteilte
Gesetzgebungsauftrag durch den bundesdeutschen Gesetzgeber in Gestalt
des § 80 StGB nur sehr unzureichend erfüllt wurde. Seit Nürnberg werden
Völkerrechtsverbrechen, namentlich die Verbrechen der Aggression gemäß dem
Briand-Kellogg-Pakt von 27.08.1928 über die Ächtung des Krieges, nicht mehr
nur als Völkerrechtsdelikte von Staaten, insbesondere eines Aggressorstaates
verfolgt. Es können nun auch Individuen, die an der Spitze eines solchen Staates standen,
persönlich strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. So kann sich das
Individuum eines Staatsmannes als individueller Urheber derartiger Verbrechen
nach Völkerrecht nicht mehr hinter der
völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates verstecken, die
allenfalls zu Reparationsleistungen dieses Staates führt, aber nicht auch zu
einer persönlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit und Bestrafung solcher
Staatsmänner. Nürnberg war ein
ad-hoc-Gerichtshof - so wie in der Folgezeit aufgrund entsprechender
Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen mehrere
ad-hoc-Gerichtshöfe eingerichtet wurden, namentlich für Völkermord mit
einer Million Toten im Jahre 1994 in Ruanda und in Bezug auf das frühere
Jugoslawien durch die Resolution Nr. 827 (1993) des Sicherheitsrates vom
25.05.1993 mit einer spezifischen Zuständigkeit für „schwere Verstöße
gegen das humanitäre Völkerrecht, die seit 1991 im Hoheitsgebiet des
ehemaligen Jugoslawien begangen wurden“. Eine Verfolgung der gegen
Jugoslawien durch die USA und andere NATO-Staaten vorgenommenen Aggression und
anderer Verbrechen nach Völkerrecht blieben von vornherein ausgeklammert. Einen ständigen
internationaler Strafgerichtshof für Völkerrechtsverbrechen einzurichten
steht seit Nürnberg auf der Tagesordnung. Noch im Jahre 1946 war
durch die Resolution Nr. 177 der Vollversammlung der Vereinten Nationen
beschlossen worden, durch die internationale Rechtskommission (International
Law Commission, ILC) rechtliche Grundlagen des Völkerstrafrechts und
insbesondere ein Statut eines ständigen Internationalen Strafgerichtshofes zu
erarbeiten. Es hat noch bis zum
Jahre 1998, also mehr als 50 Jahre, gedauert, bis in einem zähen
diplomatischen und juristischen Ringen in Gestalt des „Rome Statute of the
International Criminal Court“ (ICC) die Einrichtung eines
ständigen Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) vereinbart werden
konnte. Durch die Einrichtung
eines solchen ständigen Internationalen Strafgerichtshofes können manche
Probleme und Gefahren eingeschränkt werden, die bei ad-hoc-Gerichtshöfen
dadurch entstehen können, daß ihre Einrichtung und damit ihre Tätigkeit von
der jeweiligen aktuellen internationalen Situation, vom aktuellen
internationalen Kräfteverhältnis bestimmt wird. Das gilt insbesondere
für die beiden vorgenannten, Ruanda und Jugoslawien betreffenden,
Gerichtshöfe. Denn bei diesen war von vorn herein zu besorgen, daß sie -
auch wegen ihrer Zusammensetzung und Finanzierung - nicht das gebotene
objektive und universelle Herangehen an die Be- und Verurteilung von
Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit beweisen würden. Insofern leiden einige
nach Nürnberg und Tokio tätig gewesenen Gerichtshöfe gegen
Völkerrechtsverbrechen daran, daß die Universalität, das universelle
Rechtsprinzip der Gleichheit vor dem Gesetz und vor dem Gericht nicht
eingehalten oder sogar pervertiert wird, wie dies bei dem Jugoslawien-Tribunal
besonders deutlich hervortritt. Deswegen ist es als ein
Sieg des Rechts, des Völkerrechts und auch des Völkerstrafrechts, zu
würdigen, daß schließlich ein internationaler Strafgerichtshof geschaffen werden konnte. Am 17. Juli 1998 haben
120 Länder in Rom (bei 21 Stimmenenthaltungen und sieben Gegenstimmen) auf
einer diplomatischen Bevollmächtigtenkonferenz in Gestalt des „Rome Statute
of the International Criminal Court“ (ICC) den grundlegenden multilateralen
Vertrag für den Gerichtshof verabschiedet. Er trat am 1. Juli 2002 in Kraft.
Mitte August 1998 hatten diesen Vertrag bereits 29 Staaten, vornehmlich aus
der „Dritten Welt“ unterschrieben; inzwischen haben ihn 89 Staaten
ratifiziert, darunter alle Staaten der Europäischen Union. Es fehlt vor allem
die Unterschrift der USA als einem ständigen Mitglied des Sicherheitsrates,
aber auch die Israels. Ohne den Sieg über
Hitlerdeutschland und ohne das Potsdamer Abkommen wäre es zu diesem einen
Meilenstein in der Entwicklung des
Völkerstrafrechts darstellenden Kodex nicht gekommen. Nach diesem
Statut ist der ICC zuständig für die internationale Verfolgung von
Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen sowie für
das Verbrechen der Aggression, des Angriffskrieges. Der Gerichtshof, der
seinen Sitz in Den Haag in den Niederlanden hat, wird als unabhängig
charakterisiert; insbesondere ist er - im Unterschied zu den beiden
vorgenannten ad-hoc-Tribunalen - auch vom Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen unabhängig; er ist somit kein Organ der UNO. Inzwischen wurden am 11.
März 2003 in Den Haag die 18 Richter dieses Gerichtshofs, des „International
Criminal Court“ (ICC) im Beisein des UN-Generalsekretärs Kofi Annan und der
niederländischen Königin Beatrix vereidigt. Die in Rom zustande
gebrachten vertraglichen Grundlagen bieten gute Möglichkeiten zur
Durchsetzung des Völkerstrafrechts; ob dies auch Wirklichkeit wird oder ob es
mehr nur Symbolik bleibt, muß sich erst erweisen. Letztendlich hängt auch
dies wiederum davon ab, wie stark die Kräfte des Friedens sind und werden,
inwieweit sie den Aggressoren und all denen wirksam entgegentreten, die das
vornehmlich auf der UN-Charta basierende Völkerrecht mit Füssen treten, wie
jüngst in Afghanistan und im Irak. Die im Statut verankerte
Konzeption der Tätigkeit des Gerichts stellt, wie meist im Völkerrecht,
einen Kompromiß dar. Auf maßgeblichen Einfluß der USA hin ist sie so
angelegt, daß in erster Linie die Staaten die Verfahren gegen entsprechende
Kriegsverbrecher nach dem räumlichen Geltungsbereich ihres Strafrechts
durchführen, insbesondere wenn sich die Täter auf ihrem Staatsgebiet
befinden oder die Verbrechen - zumindest teilweise - auch auf dem Staatsgebiet
der betreffenden Staaten ausgeführt worden waren. Der Internationale
Strafgerichtshof ist deshalb als so genanntes Komplementärgericht gestaltet;
es darf nur tätig werden, wenn der zuständige Staat ein bestimmtes
Verbrechen nicht verfolgen will oder nicht verfolgen kann. Der ICC soll das
Wirken der nationalen Strafgerichte der Staaten ergänzen, aber nicht
ersetzen. Der Hauptmangel der
Vereinbarung über den Internationalen Strafgerichtshof und über seine
Befugnis und Tätigkeit besteht darin, daß die USA als die derzeitige
Weltmacht sich nach Kräften dem Zustandekommen des Abkommens von Rom
entgegenstellte, es auch nicht ratifizierte, sondern sich davon ausdrücklich
deutlich distanzierten und nach wie vor distanzieren. Die USA waren nach dem
Zweiten Weltkrieg in Nürnberg und in Tokio bei der Verfolgung der
Kriegsverbrecher treibende Kraft. In der Folgezeit haben sie alle
diplomatischen Hebel in Bewegung gesetzt, um ihre Militärs und Politiker vor
der Anklagebank eines Internationalen
Strafgerichtshofs zu bewahren. Hatte Präsident Clinton
noch die römischen Statuten wenigstens
unterzeichnet, so schloß sein Nachfolger Bush eine Ratifizierung
kategorisch aus. Die USA tun alles in ihren Kräften Stehende, daß niemals
US-Bürger vor dieses Gericht gebracht werden können. Um auszuschließen,
daß US-Bürger, namentlich US-Militärs, vor dieses Gericht gebracht werden
können, sind die USA bestrebt, bilaterale Abkommen mit anderen Ländern
abzuschließen, um Staatsangehörige der USA von der Gerichtsbarkeit dieses
Internationalen Strafgerichtshofes auszunehmen; mehr als 20 Staaten haben
solche bilateralen Verträge mit den USA abgeschlossenen, die insbesondere die
Auslieferung von US-Bürgern an den Gerichtshof in Den Haag untersagen. Mehr noch: sollte doch
einmal ein US-Militär vor den Schranken des Internationalen
Strafgerichtshofes gebracht werden, dann hat für diesen Fall der Senat in
Washington ein Gesetz verabschiedet, das es erlaubt, selbst eine „militärische
Befreiung“ solcher Person(en) aus dem Gewahrsam des Gerichtshofes in Den
Haag in den Niederlanden, einem NATO-Staat, auszuführen. Die Motive der Haltung
der USA zu dem Internationalen Strafgerichtshof liegen auf der Hand. Als die
Weltmacht wollen sich die USA in keiner Weise Schranken auferlegen oder
Schranken auferlegen lassen, die ihren Weltherrschaftsplänen entgegenstehen. Die USA setzen auf eine
Strategie der Weltherrschaft, die auch auf völkerrechtlich verbotene
Präventivkriege und atomare Erstschläge nicht verzichten will. Die Haltung der
Bush-Regierung ist derzeit das größte Hindernis für eine allumfassende Wirksamkeit
des Internationalen Strafgerichtshofes. Die USA wollen für ihre
Staatsangehörigen eine Ausnahmesituation, ein Sonderrecht; sie widersetzen
sich damit den allgemein anerkannten Rechtsprinzipien der Gleichheit vor
Gesetz und vor Gericht, auch der gleichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit
eines jeden. Waren in den frühen
50er Jahren die USA darauf aus, daß nicht ihre Soldaten die „Kastanien aus
dem Feuer“ holen, weshalb es damals hieß: „Not our boys!“, so gilt
heute für die USA, daß nicht ihre Soldaten vor diesen Weltgerichtshof
gebracht werden, also wiederum „Not our boys!“. IV. Nach dem Potsdamer
Abkommen ist Faschismus nicht lediglich eine andere Meinung, sondern ein
außerordentlich schweres Verbrechen, das strafrechtlicher Verfolgung bedarf,
wie nach 1945 auch tatsächlich strafrechtliche Verfolgungen stattfanden. Die militärische
Niederlage Hitlerdeutschlands, die in der bedingungslosen Kapitulation vom 8.
Mai 1945 manifestiert wurde, gebot - wie es im Potsdamer Abkommen in
Übereinstimmung mit den Forderungen der aus der Emigration, den
Konzentrationslagern und Zuchthäusern oder der Illegalität zurück- oder
hervorgekommenen deutschen Antifaschisten festgelegt wurde -, auf dem Gebiete
des Strafrechts und in der Strafjustiz vordringlich drei außerordentlich
umfängliche und komplizierte Aufgaben zu lösen: Aufhebung der
Nazigesetze und ungerechter, vielfach verbrecherischer Urteile von
Nazigerichten; Entfernung der Nazis aus
der deutschen Justiz und ihre Neugestaltung, Strafverfolgung von Nazi
- und Kriegsverbrechern. Den ersten Teil der
erstgenannten Aufgabe haben die Alliierten kraft ihrer obersten Gewalt in
Deutschland größtenteils selbst geleistet. Deutsche Justizbehörden haben in
Einzelfällen ergänzend geklärt, welches
überkommene Recht jeweils der Strafrechtsprechung zugrunde zu legen
ist. Für die Aufhebung ungerechter, vielfach verbrecherischer Urteile von
Nazigerichten schufen die Alliierten die entsprechende Rechtsgrundlage. Die als zweite genannte
Aufgabe haben die Besatzungsmächte bereits in den ersten Monaten gemeinsam
mit deutschen Demokraten und Antifaschisten - in unterschiedlichem Maße -
erfüllt; dabei ist ein unterschiedliches Herangehen an die Entfernung
nazistischen Justizpersonals und ihre Ersetzung nicht zu übersehen. Die dritte Aufgabe wurde
durch die Alliierten ebenfalls eingeleitet, in erster Linie durch den
Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß, aber auch durch weitere
Verurteilungen; einige deutsche Behörden nahmen diese Strafverfolgung
ebenfalls sofort in Angriff, im übrigen setzten sie sie - in
unterschiedlicher Weise - später fort. Die Alliierten, die
gemäß III A 1 des Potsdamer Abkommens die oberste Gewalt in Deutschland
übernommen hatten, vereinbarten in diesem Abkommen unter III A 4, daß „alle
nazistischen Gesetze, welche die Grundlagen für das Hitlerregime
geliefert haben oder eine Diskriminierung auf Grund der Rasse, Religion oder
politischen Überzeugung errichteten, abgeschafft werden.“ Es dürfe „keine
solche Diskriminierung ... geduldet werden“. Durch die
Kontrollratsgesetze Nr. 1, Nr. 11 und Nr. 55 wurden bestimmte Vorschriften des
Strafrechts, des Strafprozeßrechts und der Gerichtsverfassung aus der
Nazizeit namentlich aufgehoben. Sie können hier nicht im Einzelnen
dargestellt werden. Ich beschränke mich auf die Vermittlung eines
illustrativen Einblicks in das durch Nazi-Gesetze geschaffene terroristische
Unterdrückungssystem. Mit dem Gesetz Nr. 1
(Aufhebung von - faschistischen - Nazigesetzen) vom 20. September 1945 wurden
einige „Gesetze politischer Natur oder Ausnahmegesetze, auf welchen das
Naziregime beruhte“, ausdrücklich aufgehoben, so diejenigen, die
unmittelbar nach der „Machtergreifung“ zur Sicherung der Macht der Nazis
erlassen wurden, wie das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom
24. März 1933, Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des
Strafverfahrens vom 24. April 1934, das die Bestimmungen über Hoch- und
Landesverrat verschärfte, Gesetz zum Schutze der nationalen Symbole vom 19.
Mai 1933, Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum
Schutze der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934, sog. Heimtückegesetz, und
Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.
September 1935, das sog. Blutschutzgesetz, das schwerste Strafen für nichtig
erklärte Eheschließungen und außerehelichen Verkehr zwischen Juden und
Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes vorsah. Am 30. Januar 1946
erließ der Kontrollrat das Gesetz Nr. 11 (Aufhebung einzelner Bestimmungen
des deutschen Strafrechts), mit dem bestimmte aufgelistete Vorschriften des
Strafgesetzbuches in der Fassung, die am 8. Mai 1945 vorgefunden wurde,
aufgehoben wurden. Dazu gehörte vor allem die Änderung des § 2, mit dem die
Nazis das Prinzip der Strafgesetzlichkeit und das Analogieverbot abgeschafft
und durch die Analogie zu Ungunsten eines Täters ersetzt hatten; nunmehr
konnte bestraft werden, „wer eine Tat begeht, die nach dem Grundgedanken
eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient“. Demgemäß war in der
RStPO ein § 268 a eingefügt worden, der folgenden Wortlaut hatte: „Ergibt
die Hauptverhandlung, daß der Angeklagte eine Tat begangen hat, die nach
gesunden Volksempfinden eine Bestrafung verdient, die aber im Gesetz nicht
für strafbar erklärt ist, so hat das Gericht zu prüfen, ob auf die Tat der
Grundgedanke eines Strafgesetzes zutrifft und auch durch entsprechende
Anwendung diese Strafgesetzes der Gerechtigkeit (!) zum Siege verholfen werden
kann.“ Übrigens wurde dieser
Vorschrift des Prozeßrechts durch die Alliierten nicht ausdrücklich
aufgehoben, aber in Ost und West wurde dieser § 268 a als gegenstandslos und
damit als unanwendbar angesehen. Aufgehoben wurden durch
Kontrollratsgesetz Nr. 11 die Strafgesetze, die der Vorbereitung des
verbrecherischen Hitlerkrieges gedient hatten, so die Verordnung über das
Sonderstrafrecht im Krieg und bei besonderem Einsatz
(Kriegssonderstrafrechtsverordnung) vom 17. August 1938; sie enthielt
Sondertatbestände für Spionage (das Beschaffen von Nachrichten im
Kriegsgebiet der Wehrmacht, insbesondere durch Zivilpersonen, wurde mit dem
Tode bestraft), Freischärlerei (womit den Partisanen und anderen
Widerstandskämpfern gegen eine deutsche Besatzung der Tod angedroht wurde)
und Zersetzung der Wehrkraft (durch Auffordern, die Dienstpflicht in der
deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu verweigern, oder „Zersetzen“
des Willens des deutschen oder verbündeten Volkes zur wehrhaften
Selbstbehauptung, wofür ebenfalls die Todesstrafe drohte). Ebenso wurde durch KG
11. die besonders bösartige Verordnung über die Strafrechtspflege gegen
Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten vom 4. Dezember 1941, die
„Polen-VO, aufgehoben. Diese sah gegenüber Polen und Juden per Gesetz die
Verhängung der Todesstrafe auch bei Bagatelldelikten vor. Durch diese
Verordnung habe „der Ministerrat für die Reichsverteidigung in nur 18
Bestimmungen für Polen und Juden der eingegliederten Ostgebiete ein
Sonderstraf- und Verfahrensrecht geschaffen“, rühmten sich die Nazis. Ausdrücklich wurde
erklärt: „Dieses Strafrecht steht im Gegensatz zu dem allgemeinen
Strafrecht - das einen Appell an die Treuepflicht des Volksgenossen enthält -
unter dem Leitgedanken der unbedingten Gehorsamspflicht
der der deutschen Reichsgewalt unterworfenen Polen und Juden.“ Bei Deutschen galt eine
Treuepflicht, bei Polen und Juden nur Gehorsamspflicht. „Auch da, wo das
Gesetz sonst Todesstrafe nicht vorsieht, wird sie gegen Polen und Juden
verhängt, wenn die Tat von besonders niedriger Gesinnung zeugt oder aus
anderen Gründen besonders schwer ist; in diesen Fällen ist Todesstrafe auch
gegen jugendliche Schwerverbrecher zulässig.“ Das Strafverfahren stand
ebenfalls unter dem Leitgedanken der unbedingten Gewaltunterworfenheit der
Polen und Juden unter die deutsche Gerichtshoheit. Der Staatsanwalt hatte in
der Verfolgung von Straftaten freie Hand und erhob Anklage, ,,wenn dies im
öffentlichen Interesse liegt.“ Todesstrafe nach Belieben! Die Aburteilung erfolgte
vor dem Sondergericht oder dem Amtsrichter. Ausdrücklich bestimmt wurde: „Der
Pole und Jude hat gegen Urteile deutscher
Gerichte kein Rechtsmittel. Der Staatsanwalt kann gegen Urteile des
Amtsrichters binnen zwei Wochen Berufung an das Oberlandesgericht einreichen.
Deutsche Richter können von Polen und Juden nicht wegen Befangenheit
abgelehnt werden. Verhaftung und
vorläufige Festnahme sind bei dringenden Tatverdacht immer zulässig.“
„Polen und Juden werden in Strafverfahren als Zeugen nicht vereidigt.“ Privatklage oder
Nebenklage kann von Polen und Juden nicht erhoben werden. Das Strafverfahren
wird vom Gericht und Staatsanwalt nach Maßgabe des deutschen
Strafverfahrensrechts nach pflichtgemäßem Ermessen gestaltet. Wenn es zur
schnellen und nachdrücklichen Durchführung des Verfahrens zweckmäßig ist,
kann von den Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes und des Reichs-Strafverfahrensrechts
abgewichen werden. Bemerkenswert ist
weiterhin: „Das Strafrecht der Verordnung gilt nicht nur für alle Polen und
Juden in den eingegliederten Ostgebieten, sondern auch für solche Polen und
Juden, die eine Straftat in einem anderen Gebiet des Deutschen Reiches
begangen haben und am 1. September 1939 ihren Wohnsitz oder ständigen
Aufenthalt in dem Gebiet des ehemaligen polnischen Staates gehabt haben.“ Schließlich wurde in
diesem Zusammenhang vermittelt, daß der Reichs-Statthalter in den
eingegliederten Ostgebieten jeder Zeit anordnen kann, daß Polen und Juden
wegen schwerer Ausschreitungen gegen Deutsche von Standgerichten abgeurteilt
werden, die die Todesstrafe verhängen, soweit die Betreffenden nicht an die
geheime Staatspolizei überwiesen werden. Der Tod war ihnen in jedem Fall
sicher. Als drittes ist das
Gesetz Nr. 55 vom 20. Juni 1947 (Aufhebung von Vorschriften auf dem Gebiete
des Strafrechts) zu nennen, durch das - zwei Jahre nach Ende des Nazi-Reiches
- noch weitere Nazi-Gesetze aufgehoben wurden, die gleichfalls unmittelbar
nach der „Machtergreifung“ erlassen worden waren, so verschiedene
Notstandsverordnungen des Reichspräsidenten gemäß Art. 48 der Weimarer
Reichsverfassung, nämlich Abschnitt IV der Verordnung des Reichspräsidenten
zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933, die Verordnung des
Reichsministers des Innern über das Verbot kommunistischer Demonstrationen im
Freistaat Sachsen vom 21. Februar 1933, § 5 der Verordnung des
Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933, die
Verordnung des Reichspräsidenten gegen Verrat am deutschen Volk und
hochverräterische Umtriebe vom 28. Februar 1933, die Verordnung des
Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückische Angriffe gegen die Regierung der
nationalen Erhebung vom 21. März 1933 - ein Vorläufer des o. g. „Heimtückegesetzes“
- und das Gesetz zur Abwehr politischer Gewalttaten vom 4. April 1933. Unter dem 4. September
1941 hatten die Nazis das Strafgesetzbuch so geändert, daß Todesstrafe für
gefährliche Gewohnheitsverbrechen und
Sittlichkeitsverbrechen möglich wurde, „wenn der Schutz der
Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern“ Schließlich befreite
die Verordnung vom 5. Mai 1944 die Richter von allen Beschränkungen
bezüglich des Strafmaßes: „Bei allen Tätern, die durch eine vorsätzliche
strafbare Handlung einen schweren Nachteil oder eine ernste Gefahr für die
Kriegführung oder die Sicherheit des Reiches verschuldet haben, kann unter
Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens die Strafe bis zur
Höchstgrenze der angedrohten Strafart erhöht oder auf zeitliches oder
lebenslanges Zuchthaus oder auf Todesstrafe erkannt werden, wenn der
regelmäßige Strafrahmen nach gesundem Volksempfinden zur Sühne nicht
ausreicht. Das gleiche gilt für alle fahrlässigen strafbaren Handlungen,
durch die ein besonders schwerer Nachteil oder eine besonders ernste Gefahr
für die Kriegführung oder die Sicherheit des Reiches verschuldet wurde.“ Das Nürnberger
Juristen-Urteil, das der (us-amerikanische) Militärgerichthof Nr. 3 am 3. und
4. Dezember 1947 verkündete, enthält wichtige Feststellungen über den
verbrecherischer Charakter der Nazijustiz, der Nazigesetze und zur
gerichtlichen Praxis in Hitler-Deutschland. Zur Rechtsstellung
Hitlers im Justizsystem hatte Göring, wie in diesem Urteil wiedergegeben, in
einer Rede vor der Akademie für deutsches Recht am 13. November 1934 seine
Meinung zum Ausdruck gebracht: „In dieser Stunde höchster Gefahr“ - nach
dem Röhm-Putsch - sei allein Hitler „oberster und alleiniger Gerichtsherr
der deutschen Nation.“ Nach Rothenberger müsse
ein Richter „wie der Führer urteilen“, während in gleichem Sinne
Reichsjustizminister Dr. Thierack am 5. Januar 1943 erklärt hatte, daß „der
Führer der oberste Gerichtsherr, der oberste Richter des deutschen Volkes
ist.“ In einem Brief an Freisler erklärte Thierack: „Im allgemeinen muß
sich der Richter des Volksgerichtshofes daran gewöhnen, die Ideen und
Absichten der Staatsführung als das Primäre zu sehen, das Menschenschicksal,
das davon abhängt, als das Sekundäre...“ und am 5. Januar 1943 äußerte
er: „Das innere Gesetz des Rechtswahrers sei der Nationalsozialismus. Das
geschriebene Gesetz sei nur die Hilfe zur Auslegung der
nationalsozialistischen Idee.“ Im Ergebnis all dessen
stellte das Militärgericht in diesem Juristenprozeß fest: „Der Dolch des
Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen“ V. Ich möchte an dieser
Stelle als Strafrechtswissenschaftler einiges zur NS-Rechtsideologie
erläutern. Im „Rechtswahrer“,
einem „Soldatenbriefe zur Berufsförderung“, für „Frontsoldaten“, der
„unter ständiger Beteiligung der Reichs-Rechtsanwaltskammer, der
Reichs-Notarkammer, der Rechtsfakultäten der deutschen Universitäten und der
Reichs-Studenten-Führung herausgebracht wurde, ist einleitend der Erlaß des
Reichs-Justizministers Thierak vom 24. August 1942 abgedruckt, der mit den
Worten endet: „Ich möchte im Urteil des Richters den deutschen Menschen
erkennen, der mit seinem Volk lebt.“ Rothenberger vermittelt
u. a. „Der Richter leitet im Gegensatz zu anderen Staatsdienern seine
Befugnis unmittelbar von der Staatsführung ab.“ „Der Führer ist nach
Überwindung der Gewaltenteilung nicht nur Gesetzgeber und Inhaber der
vollziehenden Gewalt, sondern auch oberster Gerichtsherr.“ „Denn ein
Richter, der in einem unmittelbaren Lebensverhältnis zum Führer steht, muß
richten ‚wie der Führer’“. Das Gesetz zur Änderung
von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens
und des Strafgesetzbuches vom 16. September 1939 trage „wegen seiner
verfassungsrechtlichen Bedeutung ... die Unterschrift des Führers. “ „Aus
der Stellung des Führers als oberster Gerichtsherr im Sinne von oberster
Richter, die aus dem tiefsten Sinn des Führerstaates folgt, ergibt sich, daß
jedes Urteil seiner Bestätigung bedarf. Diese ist an sich als im voraus für
jedes Urteil erteilt anzusehen. Nur wenn schwerwiegende Bedenken gegen die
Richtigkeit des Urteils bestehen, kommt im Einzelfall die allgemein in
Aussicht gestellte Urteilsbestätigung nicht zum Zuge.“ Dann wird der
außerordentliche Einspruch gegen Urteile und Gerichtsbeschlüsse erhoben, und
zwar durch den Oberreichsanwalt beim Reichsgericht in allen Strafsachen der
allgemeinen Gerichte und der Sondergerichte bzw. den Oberreichsanwalt beim
Volksgerichtshof.“ Zur
Volksschädlings-Verordnung wird strafrechtstheoretisch
besonders hervorgehoben: „Ein reines Tatstrafrecht in dem Sinne, daß nur
das äußere Tatgeschehen Grund und Maßstab der Strafe bestimmen, hat
es seit Einführung der Schuldhaftung und Ablehnung des Prinzips der
Erfolgshaftung nicht mehr gegeben. Jede Straftat ist seitdem in ihrem
Wertgehalt nach der Schuld des Täters bemessen und bestraft worden. Dennoch
bedeutet dies noch kein Täterstrafrecht in dem neuzeitlichen Sinne ... Beim
Täterstrafrecht geht es um die Kennzeichnung des Täters als Typ des
Volksschädlings.“ Es geht nach
nazistischen Täterstrafrecht also darum, ob der Täter ein Volksschädling
ist, nicht darum, ob er in diesem Gesetz beschriebene Handlungen beging! Weiterhin
heißt es: „Das Täterstrafrecht bietet
deshalb einen besseren Beurteilungsmaßstab, weil es nicht nur eine Tat auf
die Waage der Justitia legt, sondern alle Taten dieses Menschen, die guten und
die schlechten, zusammenträgt und nun von neuem wägt, ob gut oder böse
überwiegt. (S. 70) „Echte Reformgedanken“
- heißt es weiter - „enthält die Neuerung der Strafvorschriften über Mord
und Totschlag mit der Neufassung der §§ 211,212 SGB“. „Die Unterscheidung
des Mörders vom Totschlag soll fortan nach Merkmalen erfolgen, die eine
sittliche Bewertung der Täterpersönlichkeit in den Vordergrund stellen.“
„Motiv, Tatausführung und Zweck der Handlung bestimmen den Unwertcharakter
der Tötungshandlung“. In einer gesonderten „Einführung
in das Strafrecht“ wird die Strafe als Mißbilligung und Verdammung des
Verbrechens bezeichnet, die ihrem Wesen nach „Vergeltung“ sei und „das
in uns allen lebendige Sühnebedürfnis“
befriedigt. „Verbrecher sollen abgeschreckt, gebessert oder unschädlich
gemacht werden.“ „Die Arbeit des
Richters“ - heißt es dann im Geiste der nazistischen Tätertypenlehre - „ist
also das Gegenteil von Schema und Abstraktion, wenn er sie richtig auffaßt.
Nicht nur das Typische an der Tat, sondern auch den Typ des Menschen, den er
vor sich hat, muß er erkennen, um die richtige Strafe zu finden.“ Auch der
„Schaeffer“, ein knappes, aber zuverlässiges, didaktisch vorzüglich
aufgearbeitetes den Jurastudenten geläufiges Studienbuch „Der Staat im
nationalsozialistischen Weltbild“ von Dr. Helmut Nicolai,
Ministerialdirektor im Reichsministerium des Innern, verrät die
Nazi-Rechtsideologie. Dort heißt es u. a.: „Die rassengesetzliche
Rechtslehre des Nationalsozialismus hat folgende Grundgedanken: „1. das Recht ist mit dem
Begriff und dem Vorhandensein einer Gemeinschaft von Menschen
(Volksgemeinschaft) unmittelbar gegeben.“ „Das Recht ist angeboren. Es
entspricht den natürlich gegebenen sozialen Instinkten der Menschen. Das
Recht ist seinem Geiste nach bestimmt durch die Rasse der Menschen.“ „Zweck
des Rechts ist die Erhaltung des Lebens der Volksgemeinschaft.“ Daraus folgt: Nur das
ist Recht, was dem Leben der Volksgemeinschaft dient. Das Recht darf nicht
international sein!! Dem Deutschen gebührt deutsches Recht. Für den Begriff des
Volkes ist die Abstammung maßgebend; Volk ist eine durch Blutsverwandtschaft
zusammengehörige Menschengruppe. Deutscher ist, wer deutscher
Abstammung ist, wobei das Blut (die Rasse) entscheidet. Genau in diesem Sinne
und auch in dieser Terminologie finden wir
Aussagen der deutschen Strafrechtslehrer im Dritten Reich, die in ihrem
Schrifttum die nazistische Ideologie offen vertraten und propagierten. Friedrich Schaffstein,
neben Dahm Vertreter der faschistischen „Kieler Schule“, erklärte: Beim
„Übergang vom sozialliberalen zum nationalsozialistischen Strafrecht“ ist
dieses Recht „auf die völkische Sittenordnung zurückzuführen, die das
Verbrechen wesentlich als Verstoß gegen die Sittenordnung und erst sekundär
als äußeren Schaden erscheinen läßt“. Dies sei „bedeutungsvoll, als es
den Täter und seine Gesinnung... in den Vordergrund rückt.“ Noch deutlicher
formuliert Wilhelm Gallas: „Die Ordnung der Gemeinschaftswerte, die den
Sinngehalt des Verbrechens bestimmt, ist als völkische Sittenordnung mit der
Einmaligkeit des Volkes als biologisch-geistiger Einheit immanent gegeben.
Damit sind Wert und Wirklichkeit im Ursprungs vereinigt.“ Sehr engagiert hatte
sich Hans Welzel für die Nazis
ausgesprochen. Er stellte - schreibt er selbst - den Plan, die Beziehungen des Rechts und der
Rechtswissenschaft zu den tragenden Ideen des 19. Jahrhunderts zu bearbeiten,
zurück, „bis das ungeheure politische
Geschehen der nationalsozialistischen Revolution uns allen die Frage
nach unserem geschichtlichen Standort und die Auseinandersetzungen mit dem
Vergangenen mit unmittelbarer Kraft aufzwang. Die Gewalt dieses Umsturzes gab
dann den Mut, irgendwo in den Ring der Probleme hinein zu springen“ „Alles
drängt auf eine neue Metaphysik hin, die ihren Mittelpunkt in einer
metaphysischen Anthropologie hat ...“. Er begrüßte die Idee „einer alle
Klassen umfassenden Volksgemeinschaft ..., die erst das gewaltige Programm des
Nationalsozialismus wurde“ Dann geht es ihm um „die Volksgemeinschaft mit
den Notwendigkeiten der konkreten historischen Situation, die auf rechtlichem
Wege vor allem in dem geäußerten Führerwillen, d. h. im Gesetz, ihren
sichtbaren Niederschlag finden“. Auch Welzel begrüßte
ausdrücklich die Einführung der Analogie und des „gesunden Volksempfindens“
durch den geänderten § 2 RStGB, obzwar diese Neufassung direkt und ganz
offen gegen Art. 116 der Weimarer Reichsverfassung verstieß, also verfassungswidrig
war! Die „ideellen Grundgedanken des neuen § 2“ wachsen „mit dem
Rechtsbewußtsein des Volkes und (es) wird gestaltet durch die Tat des
Gesetzgebers. Beide Kräfte gestalten das Recht.“ Edmund Mezger spricht im
Hinblick auf diesen § 2 RStGB vom „Standpunkt des lebendigen Rechts“, das
zwei Erscheinungsformen habe, das Gesetz und das „gesunde Volksempfinden“.
Wenn Metzger schreibt (S. 303) „Tätertypik liege ... überall dort vor, wo
die Gesinnung des Täters bei der Beurteilung der Tat eine entscheidende Rolle
spielt“, dann erkennen wir schon an der Terminologie die Rolle der
Gesinnung, die im Nazi-Staat ein großes Gewicht hatte. Die Tätertypik bzw. die
Lehre vom Tätertyp kam in der Gesetzgebung der Nazis nicht nur in der
täterstrafrechtlichen Neufassung des § 211 (Mord), sondern auch im Vokabular
solcher Strafbestimmungen zum Ausdruck, wie
der Verordnung gegen „Volksschädlinge“ vom 5. Sept. 1939, in der
Verordnung gegen „Gewaltverbrecher“ vom 5. Dez. 1939 und in der Verordnung
zum Schutze gegen „jugendliche Schwerverbrecher“
vom 4. Oktober 1939. Strafe war damit keine Tatstrafe mehr, sondern
Täter„strafe“. So haben diese
Strafrechtswissenschaftler und viele andere auch mit den von ihnen vertretenen
Lehren dazu beigetragen, die Herrschaft der Nazis zu fördern, deren
Ideologie zu propagieren und die Jugend mit dem nazistischen Ungeist zu
vergiften. Auch wenn sie nicht
direkt zum Kreis der Hauptschuldigen oder der Schuldigen zweiter Stufe im
Sinne der Kontrollratsdirektive 38 gehören, und sich somit nicht der
Verantwortlichkeit nach dieser Vorschrift der Alliierten ausgesetzt haben,
darf ihr Beitrag zur Stärkung der nazistische Ideologien nicht unterschätzt
werden. Diese alten
Nazi-Professoren lehrten nach 1945 im Westen Deutschlands wieder, als wäre
nichts geschehen, auch wurden sie „ganz normal“ durch Festschriften
geehrt. Die oben vorgenommene
Auflistung der von den Alliierten aufgehobenen Nazigesetze läßt erkennen,
daß eine Reihe von Vorschriften des Dritten Reiches weiterhin galten, die als
höchst bedenklich anzusehen sind, weil ihnen nazistischer Geist innewohnt. Dazu gehört die
Verordnung gegen Gewaltverbrecher (Gewaltverbrecher-VO) vom 5. 12. 1939 mit
uneingeschränkter Rückwirkung, die die Todesstrafe obligatorisch vorsah und
so nazistische Züge aufweist. Auch das Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) vom
6. 11. 1943 blieb in Geltung, obwohl es mehrere unzweifelhaft nazistische
Bestimmungen enthielt. So konnte gegen einen Jugendlichen, der bei Begehung
einer Straftat über 16 Jahre alt ist, Erwachsenstrafrecht angewandt werden,
wenn der Täter nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung einer über
18 Jahre alten Person gleichzusetzen sei und wenn die bei der Tat gezeigte,
besonders verwerfliche verbrecherische Gesinnung (!) oder der Schutz des
Volkes eine solche Bestrafung erforderlich mache; auch diese Verordnung hatte
rückwirkende Kraft. Verweisen muß ich
demgegenüber auf eine weitreichende Entscheidung des Obersten Gerichtes der
DDR vom 23. Dezember 1952, wonach die in der Nazizeit am 24. 11. 1933
erlassenen Vorschriften des § 20 a RStGB gegen „gefährliche
Gewohnheitsverbrecher“ und der §§ 42 a Ziff. 4 und 42 e RStGB über die
Sicherungsverwahrung, in der DDR nicht anwendbar waren. In der Folgezeit blieb
das Strafrecht der DDR frei von einer Bestimmung über die
Sicherungsverwahrung; das hatte zur Folge, daß auch nach dem 3. Oktober 1990
bei so genannten Alttaten (noch zur Zeit des Bestehens der DDR auf ihrem Boden
begangene Straftaten) auf Sicherungsverwahrung nicht erkannt werden konnte. VI. In Erfüllung des
Potsdamer Abkommens wurden auch die besonderen Nazigerichte abgeschafft,
nämlich der Volksgerichtshof, die Gerichte
der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und die
Sondergerichte. Zur Aufhebung
ungerechter, vielfach verbrecherischer Urteile heißt es in der Präambel der
Proklamation Nr. 3 des Alliierten Kontrollrates vom 20.10.1945, betr.
Grundsätze für die Umgestaltung der Rechtspflege: „Mit der Ausschaltung
der Gewaltherrschaft Hitlers durch die Alliierten Mächte ist das
terroristische System der Nazigerichte abgeschafft worden.“ Obzwar auch die
nazistischen Militärgerichte und die „ordentlichen Gerichte“ des Dritten
Reiches mit ihrer „Rechtsprechung“ an dem terroristischen System der
Nazigerichte ihren Anteil hatten, sahen die
Alliierten keine Möglichkeit, auch diese Gerichtsbarkeit schlechthin
abzuschaffen. Sie mußte, wie in der Präambel und in Artikel 1 des KG Nr. 4
vom 30.10.1945 festgelegt, umgestaltet werden. In der Proklamation Nr.
3 wurde - unter II 5 - weiterhin bestimmt: „Verurteilungen, die unter dem
Hitler-Regime ungerechterweise aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen
erfolgten, müssen aufgehoben werden.“ Die wohl komplizierteste
praktische Aufgabe, die sich aus dem Potsdamer Abkommen ergab, war die der
Entfernung von Nazis aus der Justiz und die Neu- und Umgestaltung des
deutschen Gerichtswesens. Um eine neue
demokratische Strafrechtspflege in Deutschland zu gestalten war es nicht nur
unerläßlich, die Nazigesetze aufzuheben und die besonderen Nazi-Gerichte
abzuschaffen. Es bedurfte auch einer grundlegenden Veränderung des
Gerichtssystems und vor allem des Personals der Richter und Staatsanwälte. In III A 6 des Potsdamer
Abkommens war - wie bereits oben
ausgeführt - als Konsequenz der Niederwerfung des verbrecherischen
Hitlerregimes die Entfernung aller Mitglieder der nazistischen Partei, welche
mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben, und aller anderen
Personen, die den alliierten Zielen feindlich gegenüberstehen, aus den
öffentlichen und halböffentlichen Ämtern vorgesehen. Sie waren durch
Personen zu ersetzen, die nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften
fähig erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in
Deutschland mitzuwirken. Das Potsdamer Abkommen
gab somit eine doppelte Aufgabe vor: Entfernen von
Nazijuristen aus der deutschen Justiz und ihre Ersetzung durch vom Nazismus
unbelasteten Personen! Für die Alliierten war
die Entfernung dieser Nazis aus dem deutschen Gerichtswesen eine
unerläßliche Bedingung. Nachdem
mit der Proklamation Nr. 3 (Grundsätze
für die Umgestaltung der Rechtspflege) vom 20. Oktober 1945 das
terroristische System der Nazi-Gerichte abgeschafft worden war und an seine
Stelle eine Rechtspflege treten sollte, „die sich auf die Errungenschaften
der Demokratie, Zivilisation und Gerechtigkeit gründet“, wozu das Gesetz
Nr. 4 (Umgestaltung des deutschen Gerichtswesens) vom 30. Oktober 1945
erlassen wurde, das im wesentlichen der Gerichtsverfassung von vor 1933
entsprach, kam es nun auf die personelle Seite dieser Umgestaltung an. Nach der aufgrund des
Potsdamer Abkommen erlassenen Kontrollratsdirektive Nr. 24 vom 12. Januar 1946
war die Entfernung von Nazis aus allen öffentlichen und halböffentlichen
Ämtern, also auch aus der Justiz verbindlich festgelegt. So war in Ziff. 10
dieser Direktive die „zwangsweise Entfernung“ bestimmter Kategorien von
Personen vorgesehen, nämlich: „Kriegsverbrecher, d. h. Personen, die auf der
Kriegsverbrecherliste der Alliierten Kommission für Kriegsverbrechen
oder auf irgend einer Sonderlisten des Gegenspionagedienstes stehen oder eines
Kriegsverbrechens verdächtig sind“ und NSDAP-Mitglieder verschiedener
Ränge sowie Mitglieder in mit der NSDAP verbundene Organisationen, die im
Einzelnen aufgezählt werden. In der Unterziffer 87
ist der zu entfernende Personenkreis von Juristen im Einzelnen festgelegt, so
alle diejenigen, die zu irgendeinem Zeitpunkt Präsident, Vizepräsident,
Direktoren oder Schatzmeister der „Akademie für deutsches Recht“ waren,
weiter alle Richter am Volksgerichtshof sowie der Oberreichsanwalt und alle
anderen Staatsanwälte dort; alle Vorsitzenden und sonstigen ständigen
Richter an Sondergerichten und alle Staatsanwälte; alle Richter,
Staatsanwälte und Amtsträger an Partei-, SS- und SA-Gerichten; alle
vorsitzführenden Richter und alle Staatsanwälte der Standgerichte. Gemäß Unterziffer 88
werden weitere aus den „ordentlichen Gerichten“ als zu entfernende
Juristen aufgelistet: Der Präsident des Reichsgerichts, die Richter des
Sondersenats und alle Staatsanwälte; Präsident, Vizepräsident und andere
leitende Beamte im Reichsjustizprüfungsamt; alle Präsidenten und
Vizepräsidenten der Oberlandesgerichte und alle Generalstaatsanwälte; alle Präsidenten
und Oberstaatsanwälte der Landgerichte, sowie leitende Juristen
weiterer Gerichte, wie Erbhofgerichte, Dienststrafkammern,
Reichsverwaltungsgericht, Reichsfinanzhof, Reichsarbeitsgericht,
Reichspatentamt, Reichsversicherungsamt, Reichsversorgungsgericht, Reichsehrengerichtshof
u.a. Schließlich gab es unter Ziff. 11, 12 und 13 noch Richtlinien für
Entfernung und Ausschluß „nach Ermessen“.
Auch dazu gibt es entsprechende Listen. Wenngleich die Zahl der
vorstehend aufgeführten obligatorisch zu entfernenden Juristen nicht gering
ist, erschöpft ist der Kreis der nazistisch belasteten Richter und
Staatsanwälte damit nicht. Es bedurfte daher weiterer Prüfungen. So ergaben
sich sofort zwei nicht einfach zu lösende Probleme: Wer war Nazi im Sinne
dieser Bestimmungen? Wo sind die Personen zu gewinnen, die die Stellen der
entfernten nazistischen Richter und Staatsanwälte einnehmen sollen und
können? Dabei sollte nicht
übersehen werden, daß um die 80 % der Richter und Staatsanwälte Mitglieder
der Nazipartei gewesen waren. Und es darf auch nicht vergessen werden, daß -
wie das Oberste Gericht der DDR in seiner Entscheidung vom 13. Juni 1950 - 3
Zst 25/50 - zutreffend erkannte: „Das Vorhandensein der gleichen Tendenzen
in der Justiz der Weimarer Republik wie der im Nazistaat gibt nur eine
Erklärung dafür, daß die deutschen Richter in ihrer übergroßen Mehrzahl
sich dem Nationalsozialismus als willige Werkzeuge zur Verfügung stellten.“ (Fortsetzung folgt im
nächsten Heft.)
Weißenseer Blätter
Verlag und v.i.S.d.P. Hanfried Müller,
Ehrlichstraße 75 - D - 10318 Berlin Internet-Adresse der WBl.:
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auf unser Konto bei der Berliner Volksbank, BLZ 100 900 00, Kto.-Nr.
3711708013 (Müller) Antwort auf die „Preisfrage“
Entnommen aus der
deutschen Übersetzung von 1945 der 1937 unter Stalins Anleitung entstandenen
Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschwewiki) - Das Zitat
aus: Lenin/Stalin, Das Jahr 1917, S. 31 und 35 Zurück zum Anfang
* Anm. d. Red. d. WBl.: Der Raum reichte nicht, das englisches Original und die deutsche Übersetzung nebeneinander zu stellen. Übersetzt wurde so wörtlich wie möglich. So ist „leader“ stets mit „Führer“ wiedergegeben, obwohl man in Deutschland wegen der Terminologie der Deutschen Christen im Blick auf Kirchen lieber von „Leiter“ spricht. „Imperial“ ist mit „imperialistisch“ übersetzt, weil dies Wort im Deutschen am genauesten das Gemeinte trifft. [1] Exodus 20,4 (2. Gebot). [2] Die von innerweltlichem Wissen ausgehende Konstruktion eines Gottesbegriffs folgt dem Schema der analogia entis. [3] Hanfried Müller, Evangelische Dogmatik im Überblick, § 8, Berlin 1989. [4] Hier entspringt die Trinitätslehre. [5] Gen. I, 26 in der Übersetzung von Martin Luther. Biblia, das ist die gantze Heilige Schrifft, Faksimile-Druck Leipzig 1983. [6] Eugnostos-Brief, in: Werner Foerster (Hg.), Die Gnosis, Band II, Düsseldorf und Zürich 1997, S. 37 ff. [7] Ebd., S. 39. 8 Ebd., S. 40. 9 Ebd., S. 41.
10
Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1977 (7.Aufl.),
S. 52
11 Origines Contra Celsum, deutsch von Paul Koetschau, 2 Bd. München o.J. 12 Vgl. Gershom Scholem, „Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum“, in: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt am Main 1970, S. 90 ff. 13 Das gilt nicht nur für die Menschen, die sündigen, sondern auch für Gott, dessen unverständliche, weil ungerechte Ungnade das Aufbegehren Hiobs auslöst. 14 Dieser Ereignis-Begriff berührt sich eng mit dem Jean Paul Sartres, wie dieser ihn zum Beispiel in der Schilderung seiner Freundschaft mit Maurice Merleau-Ponty gebraucht: „Das Ereignis hatte uns geschaffen und einander nahegebracht, es hat uns getrennt“. J. P. Sartre, Freundschaft und Ereignis. Begegnung mit Merleau-Ponty, deutsch von H. H. Holz, Frankfurt am Main 1962, S. 5. Wer sich einläßt auf eine Situation, trifft in ihr Entscheidungen, deren Wirkungen das Ereignis ausmachen; in diesem Engagement wählt und verwirklicht der Mensch sich selbst in seinem So-und-nicht-anders-sein. Vgl. Hans Heinz Holz, Jean Paul Sartre, Meisenheim/Glan 1951, S. 57 ff. 15 Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, 3. Band, 4. Teil, Zollikon/Zürich 1951, S. 11 und 9. 16 Ebd., S. 11. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 „Tatsächlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie den Menschen schafft, nicht gleichzeitig ein Bild des Menschen schafft, der wir sein wollen“. Jean Paul Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, Paris 1946. „Der Mensch ist zuerst ein Entwurf, der subjektiv lebt“. Ebd. Vgl. H. H. Holz, Jean Paul Sartre, a.a.O., S. 87 ff. 20 Ulrich Mann, Das Christentum als absolute Religion, Darmstadt 1970. „Solange eine Religion nur eine partikulare Erlösung lehrt, solange sie also etwa behauptet: nur diejenigen, welche wie wir glauben, kommen in den Himmel, alles andere hat die Hölle zu erwarten, solange bleibt diese Religion Sekte, mag sie nun groß oder klein sein. [...] Absolutheit bedeutet dennoch immer eine Exklusivität. Wo Absolutheit gelebt und behauptet wird, kann man jedenfalls nicht einfach lehren, es spiele keine Rolle, ob einer ein Buddhist, ein Christ oder ein Muslim sei; das alles spiele keine Rolle, wenn man nur ein frommer Mensch sei. Wer so redet, ist lediglich ein Indifferentist, er kann in keiner Weise religiöse Absolutheit behaupten“. Ebd., S. 59. 21 Karl Barth, Der Römerbrief, 2. Auflage 1921, Nachdruck Zollikon-Zürich 1947, S. 15. 22 Ebd., S. 68. So auch Luther nach Röm. 4,5: „Gerechtsein bei Gott ist dasselbe wie Gerechtfertigtwerden bei Gott. Nicht weil er gerecht ist, wird er von Gott für gerecht angesehen, sondern weil er von Gott für gerecht angesehen wird, darum ist er gerecht“. Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief, lat.-deutsche Ausgabe, Darmstadt 1960, Band I, S. 109. 23 Augustinus, Von Geist und Buchstaben 11,8 (Migne 44, 211 ). Zur Interpretation der dikaiosyne vgl. Heinrich Schlier, Kommentar zum Römerbrief in Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Freiburg/Br. 1977, Neuausgabe 2002, S. 44 f. und 103 ff. 24 Luther, Römerbrief, a.a.O., I. Band, S. 43. 25 Paulus, Römerbrief 3, 21. Griechisch heißt es: dikaiosyne theou pephaner ôtai. lateinisch: iustitia Dei manifestata est. Im ersten Fall ist das in-Erscheinung-treten, im zweiten das Sich-kundtun artikuliert. 26 Paulus, Röm. 3,24: dikaioumenoi té autou chariti (Dativ) – also gerecht für seine Gnade – nämlich dia tês apolytrôseôs tês en Christô Hêsou – durch die Erlösung (= Einlösung – redemptio – der Schuld), die in Christus Jesus ist (stattgefunden hat). 27 Paulus, Röm. 4,2. Vgl. auch 4,16: „Derhalben muß die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen, auf daß sie sei aus Gnaden“. 28 Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Halle 1913/1916. 29 Barth, Römerbrief, a.a.O., S. 125. 30 Vgl. Ernst Bloch, „Die Formel Incipit vita nova“, in: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Gesamtausgabe, Band 13, Frankfurt am Main 1970, S. 357 ff. 31 Barth, Römerbrief, a.a.O., S. 51. 32 Luther, Römerbrief, a.a.O., Band II, S. 61 f. Siehe auch S. 65: „Vergeblich wird von einigen das Licht der Vernunft hoch erhoben und dem Lichte der Gnade gleichgestellt, während es doch vielmehr Finsternis ist und das Widerspiel der Gnade (contrarium gratie). [...] Die Gnade nämlich stellt außer Gott keinen Gegenstand vor sich hin, zu dem sie getrieben würde und hinstrebte. [...] Die Natur aber stellt außer sich selber keinen Gegenstand vor sich hin, zu dem sie getrieben würde und hinstrebte. Sich allein sieht sie und sucht sie in allen Dingen“. Das ist strikt entgegengesetzt einer aufklärerischen Parallelität von Natur und Gnade, wie sie im Titel der Leibniz-Schrift „Principes de la nature et de la grâce“ angesprochen wird. Gottfried Wilhelm Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik, franz./lat. und deutsch von Hans Heinz Holz, Darmstadt 1965, S. 414 ff. Auch Malebranche konstruiert eine Parallelität von Natur und Gnade. Nicolas de Malebranche, Traité de la nature et de la grace, ed. Ginette Dreyfus, Paris 1958. 33 Rudolf Bultmann, Das Urchristentum, Zürich 1949. 34 Ebd., S. 194, 195. 35 So auch Bultmann, ebd., S. 191: „Diese eschatologische Gemeinde scheidet nicht etwa aus dem Judentum aus in dem Bewußtsein, eine neue Religionsgemeinschaft zu sein. Für das Auge der Zeitgenossen mußte sie als eine jüdische Sekte erscheinen, und auch dem Historiker stellt sie sich zunächst als solche dar“. 36 Ebd., S. 191. 37 Ebd., S. 195. 38 Karl Barth, Ethik I, Zürich 1973, S. 26. 39 Ebd., S. 23. 40 Clemens Alexandrinus, Stromateis, V, 71, 3 ff., hat dies „auf den Punkt“ gebracht: „Wir nehmen dem Körper die natürlichen Eigenschaften weg, berauben ihn auch der Ausdehnung der Tiefe, dann der Breite und schließlich auch der Länge. Denn der Punkt, der dann noch übrig bleibt, ist eine Einheit, die sozusagen nur noch eine Position hat; wenn wir aber von ihr auch noch die Position wegnehmen, so bleibt nur die gedachte Einheit übrig. Wenn wir also alles weggenommen haben, was den Körpern und den sogenannten körperlosen Dingen anhaftet, und uns dann in die Größe Chrsti versenken und von dort mit Heiligkeit ins Unendliche fortschreiten, dann werden wir uns irgendwie der Wahrnehmung des Allmächtigen nähern und erkennen, nicht, was er ist, sondern was er nicht ist“. 41 Barth, Ethik I, a.a.O., S. 25. 17 Ebd., S. 23. 43 Die parmenideisch-platonische Dialektik von aletheia und doxa reproduziert sich hier unvermittelbar und irreduzibel aus der Andersheit (alteritas) der Welt gegenüber der Transzendenz Gottes. 44 Hanfried Müller, Von der Kirche zur Welt, a.a.O., entwickelt diese Dialektik in der Auseinandersetzung mit Bonhoeffer. 45 Barth, Ethik I, a.a.O., S. 20. 46 Die ursprungsverbundene Antithese Feuerbach-Kierkegaard hat Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1950 (Erstauflage Zürich 1941) thematisiert. Der subjektivistische Ansatz beider Denker kommt dabei in der Konfrontation mit dem Hegelschen Objektivismus deutlich zur Darstellung. Indem Löwith allerdings Marx ganz in diese junghegelianische Wende einbettet, verfehlt er den neuartigen Charakter, den die materialistische Wende bei Marx annimmt. 47 Siehe Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 7. Auflage Tübingen 1977: „Jeder Satz über Gott ist zugleich ein Satz über den Menschen und umgekehrt. Deshalb und in diesem Sinne ist die paulinische Theologie zugleich Anthropologie. Da das Verhältnis Gottes zu Welt und Mensch von Paul aber [...] gesehen wird [...] als hergestellt durch das Handeln Gottes in der Geschichte und durch die Reaktion des Menschen auf Gottes Tun, so redet jeder Satz über Gott von dem, was er am Menschen tut und vom Menschen fordert, und entsprechend umgekehrt jeder Satz über den Menschen von Gottes Tat und Forderung, bzw. von dem Menschen, wie er durch die göttliche Tat und Forderung und sein Verhalten zu ihnen qualifiziert ist“. In der problemlos behaupteten Umkehrung der Lesart des Verhältnisses Gott-Mensch liegt der methodologische Grund für die Substitution einer genuinen Theologie durch Anthropologie. Dies ist, wie mir scheint, ein Mißverständnis, wenn auch ein in der Struktur der christlichen Überlieferung angelegtes Mißverständnis – das in einer separaten systematischen Reflexion dessen, was die Formel sola fide bedeutet, untersucht werden müßte. 48 Als Beispiele seien genannt: Die Antagonismen der frühen Gemeinden im 3. Jahrhundert, also der „Streit der beiden Dionyse“, die Kontroverse um die Vergebung für die vom Glauben Abgefallenen, der Dissens zwischen Cyprian von Karthago und Stephan von Rom über die Ketzertaufe; im 4. Jahrhundert die Streitfragen der Konzile von Nicäa und Konstantinopel; im 5. Jahrhundert der Konflikt des Konzils von Chalcedon, und langanhaltend der sich unterschwellig durch die ganze Kirchengeschichte hinziehende Gegensatz zwischen dem Augustinismus und dem Pelagianismus. Vgl. dazu die kurze Darstellung von Karl Suso Frank, Grundzüge der Geschichte der Alten Kirche, 3. Auflage, Darmstadt 1993. Und ausführlich dazu die dreibändige Geschichte des Christentums im Altertum, hg. von Luce Pietri, franz. Paris 2000, deutsch Freiburg/Wien/Basel 2003/2005. 49 Karl Barth, „Die Theologie Schleiermachers“, in: Gesamtausgabe II, 11, Zürich 1978, S. 353 f. 50 Ebd., S. 335. 51 Vgl. Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch, Problemgeschichte der Dialektik in der Neuzeit, Band I, Stuttgart/Weimar 1997, S. 131 ff. 52 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage Riga 1787 (B), S. 620 ff. Dazu bemerkt Schleiermacher in § 33: „Die Anerkennung, daß dieses schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl [...] nicht etwas Zufälliges ist noch auch etwas persönlich Verschiedenes, sondern ein allgemeines, Lebenselement, ersetzt für die Glaubenslehre vollständig alle sogenannten Beweise für das Dasein Gottes“. (Zitiert bei Barth, a.a.O., S. 357). 53 Barth, „Schleiermacher“, a.a.O., S. 364. Ebd., S. 357 EBD., S. 347 Ebd. S. 373 f. 57 Barth referiert Schleiermachers Position zusammenfassend: „In Gott wie im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl, an und für sich keine Mannigfaltigkeit der Funktionen, kein Gegensatz, keine Differenz. Die Aufstellung der göttlichen Eigenschaften kann und soll also nur das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl erklären durch Rückgang auf die göttliche Ursächlichkeit, aber ohne mit den dabei auszusagenden Verschiedenheiten etwas Reelles in Gott auszusagen, wie ja auch im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl an und für sich (abgesehen von seinen Bestimmtheiten) keine reellen Verschiedenheiten sind. Die anzustrebende Vollständigkeit der göttlichen Eigenschaften ist nichts Anderes als die Vollständigkeit des Selbstbewußtseins in seinen verschiedenen Modifikationen.“ Ebd., S. 371. 58 Josef König, Sein und Denken, Halle 1937, S. 41 ff (§ 9), hat der Struktur des „Weckens“ eine phänomenologische Analyse gewidmet. Deren Konsequenzen für den Modus hermeneutischen Sprechens untersucht Volker Schürmann, Zur Struktur hermeneutischen Sprechens, Freiburg/München 1999, S. 223 ff. 59 Karl Barth, Dogmatik im Grundriß, 8. Aufl. Zürich 1998, S. 26. 60 Vgl. dazu Hans Heinz Holz, Weltentwurf und Reflexion, Stuttgart und Weimar 2005, S. 73 ff. und 223 ff. 61 Über Evidenzerfahrung und deren Adäquatheit und Inadäquatheit vgl. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Band I, den Haag 1950 (Husserliana III), S. 336 ff. 62 Barth, Dogmatik im Grundriß, a.a.O., S. 28. Barth, Dogmatik im Grundriß, a.a.O., S. 28. 63 Ebd., S. 18. 58 Ebd., § 2-4 65 Barth, „Die Theologie Schleiermachers“, a.a.O., S. 395. 66 Inwieweit bei Luther selbst schon der Übergang zu einer Zurücknahme des reformatorischen Glaubensverständnisses auf eine systematische philosophieförmige Dogmatik angelegt ist, kann hier außer Betracht bleiben. Vgl. dazu Rosemarie Müller-Streisand, Luthers Weg von der Reformation zur Restauration, Halle 1964.
[9]
Franz J. Hinkelammert, Der Schrei des Subjekts. Vom Wlttheater
des Johannesevangeliums zu den Hundejahren der Globalisierung, Luzern 201,
S. 123
[10] Diesen Begriff habe ich zum ersten Mal im August 1974 in einer Runde von afghanischen Studiereden in Bonn zur Diskussion gestellt. [11] Hier handelte es sich um die eingeleitete Bauernreform. [12] MEW, Bd. 19, S. 108. 5 MEW, Bd. 19, S. 385. Marx analysiert gründlich die Situation der „Ackerbaugemeinde“ in Rußland und weist auf die Möglichkeit des NKEW hin „ohne durch das Kaudinische Joch gehen zu müssen.“ Ebenda, S. 389. [14] MEW, Bd. 32, 414f [15] MEW, Bd. 35, S. 358 [16] MEW, Bd. 23, S.15 f [17] MEW , Bd 22, S. 427 [18] MEW, Bd 22, S. 428 [19] MEW, Bd. 22, S. 428. [20] Internationaler Sozialisten-Kongreß zu Stuttgart, 18. bis 24. August 1907, Berlin, 1907, S. 26. [21] Ebenda, S. 34. [22] Vgl. Lenin, Wladimir Iljitsch: Der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart, in: Lenin Werke (LW), Bd. 13, Berlin/DDR, S. 66-85. [23] LW, Bd. 13, S. 78. “Das ist ein Rückzug auf die Position Roosevelts“, stellte ein US-amerikanischer Delegierter auf dem Kongreß fest. LW, Bd. 13, S. 78. [24] LW, Bd. 13, S. 68. [25] LW, Bd. 13, S. 79. [26] LW, Bd. 15, S. 241. [27] LW, Bd. 23, S. 61. [28] LW, Bd. 30, S. 146. [29] LW, Bd. 31, S. 232. [30] Vgl. Der zweite Kongreß der Kommunist. Internationale, Protokoll der Verhandlungen vom 19. Juli in Petrograd und vom 23. Juli bis 7. August 1920 in Moskau, Hamburg 1921, S. 170 und 216f. [31] Vgl. Roy, Manabendra Nath: Die revolutionäre Bewegung in Indien, in: Die Kommunistische Internationale, Organ des Exekutivkommitees der Kommunistischen Internationale, Jg. 2, 1920, Nr. 12, Hamburg, S. 248; und seine Rede, in: Protokoll (Matin des V. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Bd. II, Erlangen 1973 (Reprint), S. 638ff. [32] Thesen und Resolutionen des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Moskau, vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 14. [33] Thesen und Resolutionen des IV. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, Moskau, vom 5. November bis 5. Dezember 1922, Hamburg 1923, S. 18. [34] Klassen und Klassenkampf in den Entwicklungsländern, in 3 Bden, Berlin/DDR 1969; Tjulpanow, S. I.: Politische Ökonomie und ihre Anwendung in den Entwicklungsländern, Frankfurt/M. 1972; Uljanowski, R. A.: Der Sozialismus und die befreiten Länder, Berlin/DDR, 1973; Nichtkapitalistischer Entwicklungsweg, Berlin/DDR 1973; Ibrahim, Salim/Metze-Mangold, Verena: Nichtkapitalistischer Entwicklungsweg, Köln 1976; Brehme, Gerhard: Der nationaldemokratische Staat in Asien und Afrika, Berlin/DDR 1976; Baumann, Herbert: Staatsmacht, Demokratie und Revolution in der DVR Algerien, Berlin/DDR 1980; Uljanowski, R. A.: Komintern wa Chawar [Komintern und der Osten], Teheran 1360 [1981/82] (persisch); Enqelabe Demokratike Melli, Hegemonie Proletaria wa Samtgiri Sozialisti, Nationaldemokratische Revolution, proletarische Hegemonie und sozialistische Orientierung, o. O., 1358 [1979/80]. [35] Grundsatzprogramm der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, 1. Januar 1965, in: Chalq, Kabul, Nr. 1/2, 11.4.1966 (22.1.1345), Präambel (in Dari und Paschto, Archiv des Verf., eigene Übers.). Grundsatzprogramm der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, 1. Januar 1965, in: Chalq, Kabul, Nr. 1/2, 11.4.1966 (22.1.1345), Präambel (in Dari und Paschto, Archiv des Verf., eigene Übers.) [36] Ebenda, S. 2. [37] Ebenda [38] Ebenda, S. 3. [39] Hier wurde angesichts der herrschenden monarchistischen Regierung aus taktischen Gründen nicht von Marxismus-Leninismus gesprochen. [40] Vgl. Grundsatzprogramm der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, a.a.O., S. 8. [41] Vgl. Baraki, Matin: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1978, dargestellt anhand der wichtigsten entwicklungspolitischen Projekte der Bundesrepublik in Afghanistan, Frankfurt/M. 1996, S. 444. [42] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem neunten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Asad 1361 [Juli/August 1982], S. 18, in Dari (Archiv des Verf.). [43] Sie entstammten der Schicht der von Landflucht betroffenen Handwerker und Bauern, die eng mit dörflichen Traditionen und der Religion verbunden waren. [44] Hippler, Jochen: Der Krieg geht weiter, in: Blätter des iz3w, Freiburg 1988, Nr. 152, S. 18. [45] Quelle: Weltwirtschaft am Jahreswechsel: Afghanistan, in: Mitteilungen der Bundesstelle für Außenhandelsinformation, Köln, laufende Jahrgänge (eigene Berechnungen). [46] Vgl. Schumacher, Hans: Außenhandel und Terms of Trade Afghanistans 1961-1975, in: Asiel, Murad (Hrsg.), Außenhandel und Terms of Trade Afghanistans 1961-1975, Bochum 1979, S. 32, Tabelle 6. [47] Vgl. Baraki, M.: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1978, a.a.O., S. 201-548. [48] Ackermann, Klaus: Stille Revolution in Afghanistan, in: Außenpolitik, Stuttgart, Jg. 16, 1965, H. 1, S. 34. [49] Baraki, M.: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1978, a.a.O., S. 110. [50] Vgl. Taraki, Nur Mohammad: Grundlinie der revolutionären Aufgaben der Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan, 9. Mai 1978, in: Brönner, Wolfram: Afghanistan, Revolution und Konterrevolution, Frankfurt/M. 1980, S. 203. Vgl. Taraki, Nur Mohammad: Grundlinie der revolutionären Aufgaben der Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan, 9. Mai 1978, in: Brönner, Wolfram: Afghanistan, Revolution und Konterrevolution, Frankfurt/M. 1980, S. 203. Vgl. Taraki, Nur Mohammad: Grundlinie der revolutionären Aufgaben der Regierung der Demokratischen Republik Afghanistan, 9. Mai 1978, in: Brönner, Wolfram: Afghanistan, Revolution und Konterrevolution, Frankfurt/M. 1980, S. 203. [51] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem neunten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, a.a.O. [52] Islam, Revolution und Frauenbewegung - afghanische Erfahrungen: Anahita Ratebzad im Gespräch mit Mostafa Danesch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Jg. 26, 1981, H. 12, S. 1497. [53] Es wurde unter DVPA-Mitgliedern in der BRD gemunkelt, daß Schinwari an den Außenminister Abdul Wakil für den Posten in Bonn Geld gezahlt hätte. [54] Mir berichtete ein Mitglied der Revisionskommission beim ZK der DVPA, daß die Frau des Ministerpräsidenten Keschtmand, deren Gepäck als diplomatische Fracht galt und am Flughafen nicht kontrolliert wurde, westliche Waren in die Sowjetunion geschmuggelt habe. [55] Vgl. Karmal, Babrak: Zusammenfassung der Rede in der Sitzung der führenden Mitarbeiter der Partei und des Staates, Kabul, 8. Qaus 1362 [29.11.1983], S. 41f., in Dari (Archiv des Verf.). [56] Das afghanische Außenministerium hat 1366 [1987/88] 2000 qm Land, das unter König Amanullah Anfang der 20er Jahre des 20. Jh. In Berlin (West) gekauft worden war, ohne Ausschreibung für 950 000 DM verkauft, obwohl Anfang der 70er Jahre dafür vier Mio. DM angeboten worden waren. Die Einnahmen wurden nicht an den Staat überwiesen, sondern 350 000 DM wurden auf die Konto von Mohammad Daud Schahbas (Botschaftssekretär für Geheimdienstfragen in Bonn) und 80 000 DM auf das Konto des Geschäftsträgers überwiesen. Die Summe wurde dem Außenminister als Ausgaben mitgeteilt, jedoch ohne Belege. „Im Monat Qaus [November/Dezember] 1367 [1988] habe ich von der Angelegenheit erfahren [...], die Sachlage habe ich dem Präsidenten [Dr. Nadjibullah] mitgeteilt. Er befahl, die Akten sollen ihm vorgelegt werden, damit er persönlich mit solchen Personen abrechnen könne. Darüber, ob er das Geld zurückbekommen hat oder nicht, bin ich nicht informiert,“ schreibt der Ministerpräsident der Republik Afghanistan. Scharq, Mohammad Hassan: Karbas puschhaie Brahnapa [Barfüßige Leinwandträger], Peschawar 1991, S. 275f. [57] Karmal, Babrak: Zusammenfassung der Rede in der Sitzung der führenden Mitarbeiter der Partei und des Staates, a.a.O., S. 40. [58] Ich kenne Ärzte, die nicht einmal bereit waren, nach dem Zusammenbruch der CSSR, wo sie auf Kosten dieses Volkes studiert hatten, wenn schon nicht in Afghanistan, zumindest dort zu arbeiten. Sie gingen in die kapitalistischen Länder, z.B. die Niederlande, wo mehr zu verdienen war. [59] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem neunten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, a.a.O., S. 12. [60] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem zehnten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Aqrab 1361 [Oktober/November 1982], S. 5, in Dari (Archiv des Verf.). [61] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem zwölften Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Saratan 1362 [Juni/Juli 1983], S. 5, in Dari (Archiv des Verf.). [62] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem fünfzehnten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Hut 1363 [Februar/März 1985], S. 8, in Dari (Archiv des Verf.). [63] Der Mitglieder der DVPA in der Bundesrepublik. [64] Siehe dazu: Hundt, Walter: Nationale Vaterländische Front in Afghanistan, in: Deutsche Außenpolitik, Berlin/DDR, Jg. 26, 1981, H. 10, S. 47-57. [65] Protokoll des Mannheimer Parteitags der Deutschen Kommunistischen Partei, Düsseldorf 1978, S. 553. Als Karmal 1980 die Partei- und Staatsführung übernahm, wurde Ing. Nazar Mohammad Mitglied des ZK der DVPA und Minister für Öffentliche Arbeit. [66] Islam, Revolution und Frauenbewegung - afghanische Erfahrungen: Anahita Ratebzad im Gespräch mit Mostafa Danesch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Jg. 26, 1981, H. 12, S. 1499. [67] Woolsey, James: „Schwache Politik, in: Die Woche, 6.3.1998, S. 25. [68] „Ich sehe nicht ein, warum wir ein Land marxistisch werden lassen sollen, nur weil sein Volk verantwortungslos ist“, verkündete US-Außenminister Henry Kissinger am 27. Juni 1970 in vertrauter Washingtoner Runde im Hinblick auf seinen Beitrag beim Sturz der Regierung Salvador Allendes am 11.9.1973 in Chile, in: Dederichs, Mario R.: Reagan legt die Lunte an, in: Stern, Nr. 32, 4.8.1983, S. 102; Schmid, Thomas: Der andere 11. September, in: Die Zeit, Nr. 38, 11.9.2003, S. 90. [69] Vgl. Karmal, Babrak: Rede auf dem dreizehnten Plenum des Zentralkomitees der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, Kabul, Hut 1362 [Februar/März 1984], S. 9, in Dari (Archiv des Verf.). [70] Vgl. ebenda. [71] Ratloses Pakistan in der afghanischen Krise, in: Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 14.1.1980. [72] Paech, Norman: Völkerrechtliches Gutachten zur Anwesenheit der sowjetischen Truppen in Afghanistan, Hamburg, 13.12.1982. (Hrsg.: Informationskreis Afghanistan, Bonn), S. 3f. (Archiv des Verf.). [73] Vgl. Sapper, Manfred: Die Auswirkungen des Afghanistan-Krieges auf die Sowjetgesellschaft, Münster 1994, S. 68. [74] Vgl. Protokoll der Sitzung des Politbüros des Zk der KPdSU, 18. März 1979, nach Sapper, M. Die Auswirkungen des Afghanistan-Krieges auf die Sowjetgesellschaft, Münster 1994, S. 385 ff. [75] Quelle: Manfred Sapper, Die Auswirkungen des Afghanistan-Kriegses auf die Sowjetgesellschaft, Münster 1994, S. 68 [76] z.B. Kothny, Erik, Dayani, Khalid: Bundeswehr-Major am Hindukusch, Böblingen 1986. [77] Ich habe seit 1978 auf mehr als hundert Vorträgen auf diese verhängnisvolle Kooperation der „freien Welt“ mit den afghanischen konterrevolutionären Banden und ihre Folgen für Afghanistan und die internationale Gemeinschaft aufmerksam gemacht. [78] Falin; Valentin: Politische Erinnerungen, München 1993, S. 399. [79] Ebenda, S. 401. Ebenda, S. 401. [80] Ebenda, S. 410f. [81] Les Révélations d’un Ancien Conseiller de Carter, „Oui, la CIA est entrée en Afghanistan avant les Russes...“, in: Le Nouvel Observateur, Paris 15-21 janvier 1998, S. 76 (eigene Übers. und Hervorhebungen durch den Verf.). [82] Jimmy Carter erhielt am 10. Dezember den Friedensnobelpreis für das Jahr 2002, es wäre eher angebracht, Carter und Brzezinski als Kriegsverbrecher vor dem internationalen Tribunal in Den Haag zur Rechenschaft zu ziehen. [83] Les Révélations d’un Ancien Conseiller de Carter, „Oui, la CIA est entrée en Afghanistan avant les Russes...“, a.a.O. [84] Chossudovsky, Michael: Global brutal, Frankfurt/M., 02, S. 359. [85] Ein Freund von mir, dessen Namen ich aus Sicherheitsgründen hier nicht nennen kann, ist Prof. an der Universität von Riad, Saudi-Arabien. Er berichtete, daß 5% von den Gehältern der saudischen staatlichen Angestellten und Beamten, ohne deren Einverständnis für den Djehad in Afghanistan abgezogen worden sind. Auch in anderen arabischen Scheichtümer war das nicht anders. [86] Vgl. Baraki, A. M.: Nacht über Afghanistan, in: Marxistische Blätter. Essen, Jg. 31, 1993, Nr. 4, S. 17f. [87] Chossudovsky, Michael: Global brutal, a.aO., S. 359. [88] Othmerding, Heinz-Rudolf: Friedenshoffnung in Afghanistan: Taliban rücken nach Kabul vor, in: Deutsche Presse Agentur (DPA), 15.2.1995. [89] CIA-Hilfe für afghanischen Widerstand höher den je, in: Frankfurter Rundschau, 14.1.1985, S: 2. [90] Ebenda. [91] Absolut blind, in: Der Spiegel, Nr. 38, 1989, S. 194. [92] Eiserne Faust, in: Der Spiegel, Nr. 38, 1992, S. 204. Eiserne Faust, in: Der Spiegel, Nr. 38, 1992, S. 204. [93] Vgl. ebenda. [94] BND als Waffenkäufer, in: Der Spiegel, Nr. 45, 30.10.2004, S. 116. [95] Vgl. Brönner, W.: Afghanistan, Revolution und Konterrevolution, a.a.O., S. 18. [96] Dulles-Doktrin, die eine Eindämmung des Sozialismus mit allen Mitteln vorsah. [97] Vgl. Andel, Horst: Die Neuzeit kommt auch nach Afghanistan, in: Deutsche Woche, München, 11, 1961, 13, S. 5. [98] Nollau, Günther/Wiehe, Hans-Jürgen: Rote Spuren im Orient, Köln 1963, S. 166. [99] Sadat: Mehr Waffen für die afghanischen Freiheitskämpfer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 27.12.1980. [100] Sadats „peinliche Geschwätzigkeit“, in: Unsere Zeit (UZ), Neuss, 26.9.1981. [101] Sadats Erzählungen, in: FAZ, 24.9.1981, S. 12. [102] Ebenda. [103] Immer nur Dienstag, in: FAZ, 8.8.1985, S. 10. [104] Gorbatschow, Michail Sergejewitsch: “Das Ziel meines Lebens war die Vernichtung des Kommunismus”, in: Prawda Rossii, 26.7.-1.8.2000, zitiert nach UZ, 8.9.2000, S. 7. [105] Sie hatte letztlich die Beseitigung des Sozialismus zum Ziel. [106] Vgl. Gorbatschow, Michail S.: Lenin in meinem Leben, in: Der Spiegel, Nr. 29/1999, 19.7.1999, S. 151. [107] Natorp, Klaus: „Umgestaltung“ auch in Afghanistan, in: FAZ, 25.1.1990. [108] Denecke, Hermann: Ein Faß voll Leben, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt (DAS), Hamburg, 19.5.1989. [109] Vgl. Mudjaheddin nehmen Kabul ins Visier, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), München, 6./7.10.1990, S. 12; Koydl, Wolfgang: Blutiges Patt am Hindukusch, in: SZ, 27.3.1991, S. 4; Neue Offensive gegen Jalalabad, in: Neues Deutschland (ND), Berlin, 1.8.1991, S. 4. [110] Es wurden namhafte afghanische Persönlichkeiten in der ganzen Welt, u.a. der ehemalige bürgerliche Ministerpräsident, Dr. Mohammad Jossof, sein erster Stellvertreter, Dr. Abdul Samad Hamed, Finanzminister, Prof. Dr. Gholam Haidar Dawar, Minister für Stämme, Saien Masud Pohanyar, Staatssekretär im Planungsministerium, Mir Mohammad Sediq Farhang, General Abdul Karim Mostaghni und 53 weitere Personen, die sich in der BRD aufhielten, aufgefordert worden, sich an einer nationalen und politischen Lösung des Afghanistan-Konfliktes zu beteiligen, jedoch ohne Erfolg. [111] Beteiligt waren neben Schah Nawas Tani, der auch Kandidat des Politbüros war, weitere Mitglieder des Politbüros, wie Mir Saheb Karwal, Nias Mohammad Mohmand, Gholam Dastagir Pandjscheri, Dr. Saleh Mohammad Zeray und Mitglieder des Zentralkomitees, wie Abdul Raschid Arian, Innenminister General Saied Mohammad Golabseu und General Qader Aka, Kommandant der Luftwaffe und der Luftverteidigung. [112] Auf Basis neuer Informationen korrigiere ich mich hier insofern, als ich 1993 von der „Machtergreifung“ gesprochen hatte, vgl. Baraki, A.M.: Nacht über Afghanistan, a.a.O. S. 14. [113] Weisung an alle Genossen der DVPA (Hesbe Watan) in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 11.8.1993, (vertraulich, Archiv des Verfassers), in Dari. [114] Nach der völligen Zerstörung Kabuls waren über 50.000 Tote zu beklagen. [115] Sichrovsky, Peter: Ein Land zerfleischt sich selbst, in: SZ, 31.8.1992, S. 4. [116] Vgl. Gatter, Peer: Hoffnung in Trümmern, in: Mahfel, Berlin 1995, Nr. 5, S. 7. Zuvor war Kabul durch drei Sicherheitsringe der afghanischen bzw. sowjetischen Armee abgesichert. [117] Das Inventar der Ministerien, der Universitäten, der Schulen und alles Wertvolle, das sich im Kabuler Museum befand, wurde geplündert und nach Pakistan verfrachtet; viele Bücher der großen Bibliotheken fielen „Bücherverbrennungen“ zum Opfer . [118] MEW, Bd. 18, S. 534. [119] MEW, Bd. 7, S. 85. [120] Vgl. Gerns, Willi: Schlußfolgerungen für die Sozialismusprogrammatik, in: ZU, 9.10.1992, S. 15.
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