Kirchen- und
Zeitgeschichte im Spiegel
der
Weißenseer
Blätter
(Nachdrucke
aus den Jahren 1982-1992)
Wider die Resignation der
Linken
Stimmen
gegen Antikommunismus, Konterrevolution und Annexion
Mit
einem Geleitwort von Heinz Kamnitzer
GNN
Verlag
Politische Berichte
Verlag: GNN,
Gesellschaft für Nachrichtenerfassung
und
Nachrichtenverbreitung
Verlagsgesellschaft
Politische Berichte m.b..H.,
1. Auflage
September 1994
Druck:
Druckladen Erich und Franz Fischer, Augsburg
ISBN-926922-25-7
Verfasserverzeichnis
Bethge, Eberhard, Theologie, BRD
Boer, Dick, Theologie, Niederlande
Brosig, Klaus, Theologie, DDR
Domke, Michael, Theologie, DDR
Drachenberg, Thomas, unbekannt, DDR
Frielinghaus, Dieter, Theologie, DDR
-ft. Theologie, DDR
Gossweiler, Kurt, Gesellschaftswissenschaft, DDR
Grißhammer, Heinrich, Theologie, BRD
Heilmann, Ulrich, Theologie, DDR
Kamnitzer, Heinz, Gesellschaftswissenschaft, DDR
Kern, Robert, Theologie, DDR
Kraft, Dieter, Theologie, DDR
Kreck, Walter, Theologie, BRD
Krum, Horsta, Theologie, Berlin(West)
-n., Theologie, DDR
Maechler, Winfried, Theologie, Berlin(West)
Müller, Hanfried, Theologie, DDR
Müller-Streisand, Rosemarie, Theologie, DDR
Puccio, Osvaldo, Gesellschaftswissenschaft, Chile
Rugenstein, Björn, Naturwissenschaft, DDR
Scherffig, Wolfgang, Theologie, BRD
Schöller, Jürgen, Theologie, DDR
Schönfeld, Renate, Theologie, DDR
Stappenbeck, Christian,
Theologie/Gesellschaftswissenschaft, DDR
Veerkamp, Ton, Theologie, Niederlande/Berlin(West)
Verghese, Paul, Metropolit Mar Gregorius, Theologie, Indien
Wagenknecht, Sahra, Gesellschaftswissenschaft, DDR
Inhaltsverzeichnis Seite
(Hinweis: Die
Seitenangaben beziehen sich auf die gedruckte Broschüre. Mit * oder Zahl sind
Fußnoten gekennzeichnet. Sie stehen für alle Beiträge am Ende dieser Broschüre.
Im jeweiligen Text könne sie durch anklicken von * oder Zahl mit der Maustaste
unmittelbar erreicht werden.)
"Blick nach vorn". Ein Geleitwort / Heinz
Kamnitzer 7
Vorwort des
Herausgebers / Hanfried Müller 10
Statt einer Einleitung
Zur Eröffnung des
Lesertreffens der WBl am 7. Mai 1994 / Rosemarie Müller-Streisand 12
"Die Weißenseer
Blätter sollen..." - Aus dem ersten Heft der WBl (1/82, S. 1) 17
Zur Geschichte des
Weißenseer Arbeitskreises / Jürgen Schöller (1978; WBl 4/88, S. 31) 17
Wie links sind
eigentlich die Weißenseer Blätter? (3/84,S. 52) /
Hanfried Müller und
Christian Stappenbeck
21
Alarmzeichen (1982-1983)
Über den real
existierenden Sozialismus an die sich links verstehenden Theologen
unter seinen Verächtern
/ Dick Boer (2/82, S. 15) 27
"Schwerter zu
Pflugscharen"?
Stellungnahme der
Redaktion zur "Aufnäherfrage"(2/82, S. 48) 30
Zur
"differenzierten Zustimmung" des WAK zum DDR-Staat. - Aus einer
Stellungnah-
me des WAK zu einer
Anfrage der Kirchlichen Bruderschaft im Rheinland (3/82, S. 36) 31
Einige Randbemerkungen
zu einigen Randerscheinungen zwischen Kirche und Kultur
in der DDR / Hanfried
Müller (4/82, S. 37; 1/83,S. 20) 33
Ruhe vor dem Sturm? (1984-1987)
Exilland DDR / Osvaldo
Puccio (5/84, S.2)
54
Der Weißenseer
Arbeitskreis zum Tag der Befreiung (2/85, S. 2) 56
Befreiung, nicht
Katastrophe / Walter Kreck (2/85, S. 10) 57
Der 8. Mai, eine
Mahnung zur Wachsamkeit / Rosemarie Müller-Streisand (2/85, S. 11) 58
Dummheit und
Antikommunismus / Horsta Krum (3/85, S. 34) 60
Wider den Antikommunismus
/ Metropolit Mar Gregorius (4/85, S. 41) 62
FDGO als Bekenntnisschrift der EKD? / Dieter
Kraft (5/85, S. 34) 65
Unser Friedensprogramm
/ Hanfried Müller (1/86, S. 39) 70
Stellungnahme des
Weißenseer Arbeitskreises zur Begegnung in Reykjavik
(Beilage zu 1/86)
74
Schalom, Schalom, und
ist doch kein Schalom / Björn Rugenstein (3/86, S. 32) 75
Leben aus Buße?
Vierzig Jahre Darmstädter Wort / 81 Unterzeichner (4/87, S. 2) 83
"Versöhnung" nicht mehr im
Einbahnverkehr / Eberhard Bethge (5/87, S. 30) 86
Oktober-Nachlese / Heinz Kamnitzer (5/87 S.
34) 87
Destabilisierung (1987-1989)
Vorläufige Anmerkungen
zum Fall "Grenzfall" / Hanfried Müller (5/87, S. 37) 90
Offener Brief an
Bischof Forck / 52 Unterzeichner (1/88, S. 2) 94
Zwischenbilanz zum
Fall "Grenzfall" und anderen Fällen / Hanfried Müller (1/88, S.
12) 96
Die Schulden fressen
den Sozialismus / Ton Veerkamp (5/88, S. 53) 107
Warum ich im Ernstfall
für den Kommunismus votiere / Hanfried Müller (7/88, S. 19) 111
Disputation in der
Redaktion (1/89, S. 53):
Fehler und Schuld / Christian Stappenbeck
133
Schuld und Vernarbung / Hanfried Müller
134
Neues von Rainer Eppelmann
/ ft. (1/89, S. 29)
136
Zum Weg unserer Kirche
/ Erklärung des WAK vom 15.8.1989 (Beilage zu 3/89) 137
Konterrevolution (1989-1990)
Erklärung der
Redaktion zum Beschluß des Politbüros der SED vom 11. 10. 1989
(geschrieben am 16.
10. 1989 - 4/89, S. 1)
139
"Keine Reue,
keine Buße, keine Schuldbekenntnisse!"
Offener Brief an meine Freunde in der SED /
Hanfried Müller (5/89, S. 25) 142
Offener Einspruch zu Hanfried Müllers Brief
/ Christian Stappenbeck (5/89, S. 53)
156
Briefwechsel zu einer
Abbestellung mit Thomas Drachenberg (5/89; S. 59) 158
Einspruch / Rosemarie
Müller-Streisand (1/90, S. 11) 163
Erschrockene Fragen im
Dezember 1989 / -n. (1/90, S. 21) 166
Von der anderen Seite
der Mauer - als die Mauer aufhörte,
eine Mauer zu sein /
Horsta Krum (1/90, S. 22)
167
Der Mammonismus
meuchelt den Sozialismus / Winfried Maechler (1/90, S. 23) 168
Deutschland, wie
heißen deine Götter? / Wolfgang Scherffig (1/90, S. 61) 169
"Wo haben Sie
gestanden?" Ein Briefwechsel mit Robert Kern (2/90, S. 60) 170
WBl und
"Stasi". Ein Briefwechsel mit Klaus Brosig (3/90, S. 62) 176
Zum Gubener Wort
linker Christen.
Entwurf / Michael Domke (3/90, S.
10)
181
Ein Diskussionsbeitrag / Hanfried
Müller (3/90, S. 10) 182
Fruchtbare Meinungsunterschiede /
Michael Domke (4/90, S. 2) 187
Wir haben uns nicht geirrt in
unserem Einsatz für den Sozialismus /
Dieter Frielinghaus (4/90, S. 4)
189
Annexion und Widerstand (seit 1990)
Über die Wehrlosigkeit
von Antinazis - wenn sie nicht verbündet sind.
Eine Rede vor Berliner
Antifaschisten (3/90. S. 44 / Ulrich Heilmann 197
Wider die Resignation
der Linken. Offener Brief an die Mitglieder der PDS und die,
die ihr nahestehen
(19. 7. 1990) / Renate Schönfeld (4/90,
S. 62) 202
Rücktritt aus Protest
/ Dieter Kraft (23. 2. 1991 - 2/91, S. 31) 204
Rückblick auf den
Rückschlag
Hatte der Sozialismus
nach 1945 keine Chance? / Kurt Gossweiler (2/91, S. 55) 205
An den
Stasibeauftagten Pfarrer Joachim Gauck / Heinrich Grißhammer (1/92, S. 32) 221
"...und Ihr habt
mich nicht besucht." Eine betrübliche Tatsache
und ein Vorwurf an uns
alle / Christian Stappenbeck (1/92, S. 49) 221
Marxismus und
Opportunismus. Kämpfe in der sozialistischen Arbeiterbewegung
gestern und heute /
Sahra Wagenknecht (4/92, S. 12) 223
"Zusammenbruch"
und/oder "Konterrevolution" / Hanfried Müller (4/92, S. 57) 241
Verfasserverzeichnis
255
Hinweis auf
Möglichkeiten zur Einsichtnahme in die WBl und zu ihrem Bezug 255
Blick nach vorn
Ein Geleitwort
von Heinz Kamnitzer
Ein Zeitalter wurde
beendet, und ich bin leider dabei gewesen. Seitdem zermartert mich die Angst,
ob wir noch einmal davonkommen.
Ohne Widerstand ließen
sich zwischen Elbe und Amur die Staaten von der Landkarte fegen, die ein
Gegengewicht bildeten zu den Großmächten, die vom Geldadel beherrscht sind und
so viele Raubkriege auf ihrem Schuldkonto haben.
Wie meine Gefährten
plage ich mich damit, wodurch sich der Selbstmord erklärt, und frage mich, ob
noch Zeit bleibt, eine Bewegung zu beleben, die stark genug wird, das Finale
aufzuhalten.
Das Sinnbild der
Apokalypse entspricht nicht einer Stimmung, sondern der Sachlage. Allerdings
muß man bereit sein, vom Gipfel der Misanthropie in den Untergrund der
politischen Ökonomie herabzusteigen. Wie nirgendwo sonst lassen sich dort die
Wurzeln finden, die den Baum der Erkenntnis versorgen.
Die moderne Industrie
ist so leistungsfähig geworden, daß in der brutalen Marktwirtschaft die Gesetze
der Konkurrenz dazu führen, die Riesen auf dem Weltmarkt eher früher als später
aufeinanderprallen zu lassen. Gerade die Giganten werden wieder von Rivalen zu
Todfeinden, die zuletzt nicht umhin können, rund um den Erdball noch einmal
ihre großen Gegensätze auch mit militärischen Mitteln auszutragen. In meinen
Alpträumen sehe ich sie vom Handelskrieg auf die letzte Zerreißprobe zusteuern,
um so mehr als ihren Widersachern das stärkste Rückgrat gebrochen worden ist.
Die Staaten, die in der Sowjetunion ihren Mittelpunkt hatten, sind vernichtet.
Seitdem ist nicht nur in Europa das Gleichgewicht zerstört, das den Widerstreit
auf der Weltbühne einigermaßen im Lot hielt und vor Alleingängen abschreckte.
Das Ende dieser Epoche
fällt zusammen mit der industriellen Revolution, durch die diesmal die
Arbeiterschaft, vor allem in den Schlüsselbetrieben, so sehr an Zahl und
Gewicht verliert, daß sie in vielen Ländern bereits zu einem Schatten ihrer
selbst geworden ist. Und in dem Maße, wie ihr Anteil im Wirtschaftsleben
zurückgeht, sinkt auch ihre Stärke und Kraft auf dem politischen Kampffeld und
damit ihre spezifische Bedeutung in der Geschichte. Beides zusammen bestimmt
mich, mehr als die Naturgewalten, zu fürchten, die letzten Tage der Menschheit
könnten kein leerer Wahn sein. Dabei hoffe ich nichts so sehr als mich zu
irren.
*
Die Herausgeber der
Hefte, die hier eine Auslese vorlegen, gehören zu meiner politischen Familie.
Doch sie weigern sich hartnäckig, ihre Waffen zu strecken. Sind sie
widerborstig von Natur aus und wollen von ihrem Fortschrittsglauben nicht
lassen? Haben wir es vielleicht mit Don Quijote und Sancho Pansa aus Weißensee
zu tun? Oder sollte es sich um verbissene Jünger einer Zunft handeln, die in
Jahrhunderten und Jahrtausenden denkt?
Das Zentralthema der
Zeitschrift: Die irdische Dreieinigkeit von Theologie, Kirche und Gesellschaft.
Über Gott und Religion wird nicht gestritten. Dafür um so mehr um die Botschaft
der Bibel, die Haltung der Kirche und die Macht der Gesellschaft. Alles wird
zusammen
betrachtet und überprüft, wie dienlich oder hinderlich es für die Harmonie
unter den Menschen und den Frieden auf Erden ist.
Die Maßstäbe werden
von einem Radikalismus geprägt, der im protestantischen Blätterwald
seinesgleichen sucht und nicht findet. Zwar wird auch anderswo dem
Urchristentum und Urkommunismus nachgesagt, sie hätten viel gemeinsam ebenso
wie die Bergpredigt und das Kommunistische Manifest. Auch chiliastische
Heilslehren und utopische Schwarmgeister, nicht zuletzt der religiöse
Sozialismus und die Theologie der Befreiung werden oft hinzugerechnet.
*
Die Weißenseer Blätter
heben diese Traditionen im Sinne von Hegel auf, will heißen, sie werden
aufgenommen, aufbewahrt und überwunden. Gläubige wie gottlose Schreibtischtäter
liebäugeln hier nicht, sondern identifizieren sich mit dem klassischen
Marxismus. Der rote Faden in den Texten ist zumeist der historische
Materialismus und die dialektische Dynamik sowie revolutionäre Praxis der
modernen Arbeiterbewegung. Dabei gelingt der Spagat, die Eigenart, den
Eigenwert und das Eigengewicht von Christentum wie Sozialismus nicht zu
verwischen oder gar zu beschädigen.
Diese Leistung ist
buchenswert, um so mehr, da sie nicht aufgehört hat, als - seit Gorbi urbi et
orbi - die große Kapitulation dazu führte, daß allzu viele die Tugend der Treue
abtun und ihre Gesinnung zu Markte tragen. Die Herausgeber und ihre Kämpen haben
ihre Köpfe nicht verloren, sondern sich sowohl Selbstbehauptung als auch
Selbstkritik erhalten. Verzagten und abtrünnigen Zeit-Genossen wird in jedem
Heft vorgeführt, daß der Weltgeist mit Namen Karl Marx nichts von seiner
Klarsicht und Leuchtkraft eingebüßt hat, sondern allenthalben immer mehr
gerechtfertigt wird.
*
Allerdings soll damit
keine falsche Zuversicht verbreitet werden. Ich bin mit vielen Niederlagen
aufgewachsen. Schon deswegen verstehe ich, wenn man in Trauer ohne Trost und in
die Ohnmacht des Zorns verfällt. Heute mehr denn je, da wir nicht den Verlust
einer Schlacht abbuchen, sondern uns einer Katastrophe zu stellen haben, die
auf das Ende unserer Gattung zurasen könnte. Wer redlich bleiben will, kann
nichts mehr versprechen, lediglich versuchen, noch eine Funzel in der
Finsternis zu entdecken. Hoffnung aus Prinzip ist höchst ehrenwert, jetzt
jedoch eine Irreführung. Das gilt auch, wo man das Heil vor allem darin sucht,
zu viel und zu lange zu klären, was vorbei und vorüber ist, während der Sand im
Stundenglas wie unaufhaltsam verrinnt.
Es tut mir in der
Seele weh. Aber Lehren aus dem Zusammenbruch für einen Zukunftsstaat auf
deutschem Boden werden für lange Dauer nicht gebraucht und verlorene Liebesmüh
sein. Darüber vorrangig historische Gefechte, politische Richtungskämpfe und
persönliche Fehden auszutragen, führt wider Willen dazu, sich weniger an die
Gegenwart zu halten - auch in der Theorie.
Das gilt genauso für
Theologie, Kirche und Gesellschaft. Wenn man hier auf der Höhe der Zeit bleiben
will, muß man zumindest durchblicken lassen, wieso das Tryptichon mit der Not
und Sorge im Alltag verbunden und für Frau und Herrn Jedermann lebenswichtig
ist. Anders kann man seine Gedankenwelt nicht vermitteln und rechtfertigen,
geschweige denn über sich selbst hinaus wirken.
Jede Weltanschauung
kann, wenn überhaupt, nur zu einer einflußreichen Gewalt werden, wenn sie mit
den Zuständen hier und heute unlösbar verwoben ist und auch so verstanden wird.
Hic globus, hic salta!
Vorwort des Herausgebers
Ein "offizielles
Samisdat" nennt Reinhard Henkys, einst führender Kirchenjournalist des
Evangelischen Pressedienstes epd für die DDR, die Weißenseer Blätter, denn
"sie verbreiteten viel Staatstragendes im Gewand eines
Untergrundblattes", wie es an anderer Stelle im Deutschland-Archiv heißt.
Die WBl erscheinen
seit 1982 (in der DDR als "nichtlizenzpflichtiges Druckerzeugnis") im
Auftrage des Weißenseer Arbeitskreises, der Kirchlichen Bruderschaft in
Berlin-Brandenburg. Sie opponierten und opponieren gegen jeden politischen
Klerikalismus und kirchlichen Antikommunismus. Das war in der DDR ein Unicum.
Dem Staatssekretär für Kirchenfragen waren sie des Sektierertums verdächtig,
und der Repräsentant des DDR-Kirchenbundes empfahl, sie "mit Vorsicht zu
genießen". Vielleicht gerade darum waren sie für viele ein
"Geheimtip". Kirchliches und politisches "Establishment"
schwieg und schweigt sie am liebsten tot; nur in Ausnahmefällen verliert es die
Contenance und reagiert lebhaft, so einst epd auf den Artikel "Die FDGO
als Bekenntnisschrift der EKD" (vgl. S. 64) oder später der PDS-Vorstand
auf Sahra Wagenknechts Untersuchung "Marxismus und Opportunismus..."
(vgl. S. 220) Dieser Gratiswerbung verdankten die WBl viele Neubezieher. Und
sie wollten wissen, welche Positionen die WBl vor, in und nach der
"Wende" vertreten hatten. Das gab den Anstoß zu diesen Nachdrucken.
Die Auswahl
konzentriert sich auf Beiträge, die der Resignation
der Linken entgegenwirken. Aber der beschränkte Raum erlaubte es leider
nicht, auch nur alle zu diesem Thema aussagekräftigen Beiträge aufzunehmen.
Vollends fehlen viele Themenkomplexe, die je für sich ein Reprint gleichen
Umfanges füllen und ebenso Zeitgeschichte im Spiegel von Kirchengeschichte
zeigen könnten: Das gilt insbesondere für die kontinuierliche Berichterstattung über kirchliche Synoden,
bei denen Strategen des Kalten Krieges politische Konzeptionen kirchenpolitisch
wie in Sandkastenspielen erprobten, aber auch für die großen Serien zu dem
vieldeutigen und viel-mißbrauchten Begriff Kirche
im Sozialismus, zum Thema evangelische
und marxistische Religionskritik und zum Rück- und Ausblick auf die Begegnung evangelischer Theologie mit dem
historisch-dialektischen Materialismus unter der Frage: "Irrweg? Holzweg? Wegerkundung?", sowie nicht zuletzt für viele in den WBl geführte theologische
Diskussionen und Essays, in denen Kirchengeschichte transparent für aktuelle
Entscheidungen aufgearbeitet wurde.
In diesem Nachdruck
wird nicht verheimlicht, daß die WBl gegenüber der Westpropaganda zwar
skeptisch, aber nicht immun waren. So wurde auch in ihnen erst zu spät erkannt,
daß der Sozialismus unter Gorbatschows Führung nicht mobilisiert, sondern
liquidiert wurde. Zwar haben die WBl den Opportunismus führender Ökonomen (die
sich selbst Realisten nannten und vom Westen als Pragmatiker bezeichnet wurden)
attackiert, die durch ökonomische und politisch-ideologische Anleihen beim
Gegner die DDR zu retten vorgaben und schließlich meinten, in dessen Arme
flüchten zu können (hielten sie doch den Imperialismus für friedensfähig und
den Sozialismus für "marktwirtschaftlich reformierbar"). Die WBl
haben auch schon früh den konterrevolutionären Charakter vieler Literaten und
systemkritischer Gruppen durchschaut, die vor allem unter dem Dach der Kirche
und lautverstärkt von den bürgerlichen Medien vorgaben, den Sozialismus
verbessern zu wollen, während sie die DDR der Deutschen Bank auslieferten. Aber
in der Zwickmühle, eine Regierung, die sie für unfähig hielten, nicht loswerden
zu können, ohne ein System preiszugeben, das sie für gut hielten, waren die WBl
nicht nur zu schwach, um die Katastrophe abzuwenden, sondern haben es auch
nicht vermocht, einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden und zu zeigen.
*
Diese Sammlung umfaßt
kaum 5 % des Umfangs der bisherigen Jahrgänge. Vieles konnte nur gekürzt oder
im Auszug aufgenommen werden. Solche Auslassungen sind beim Nachdruck mit drei
Punkten in Klammern bezeichnet: (...). Die Texte sind authentisch dokumentiert,
offensichtliche Druckfehler stillschweigend berichtigt,
Originaltext-Anmerkungen jeweils in Ziffern durchgezählt, von den Herausgebern
nachträglich eingefügte Anmerkungen mit einem oder mehreren Sternen - * -
markiert. Von den Autoren oder der Redaktion in Zitate eingefügte
grammatikalisch notwendige oder kommentierende Ergänzungen stehen in eckigen
Klammern.
Um auch die Frage, was
der "Weißenseer Arbeitskreis" und die "Weißenseer Blätter"
seien, aus den WBl selbst dokumentarisch zu beantworten, haben wir drei Stücke
aus späteren Heften an den Anfang gestellt. Im übrigen sind die Beiträge streng
chronologisch geordnet; nur Diskussionen, die sich über mehrere Hefte
erstreckten, haben wir nicht auseinandergerissen. Das Entstehungsjahr ist bei
jedem Artikel in der Überschrift angegeben, Heftnummer und Seitenzahl des
Fundortes sind im Inhaltsverzeichnis genannt. Wo es wesentlich erschien, wurde
das genaue Datum der Entstehung angemerkt.
Die WBl pflegen weder
Titel noch Funktionen ihrer Autoren zu nennen, denn alle Argumente sollten ohne
Ansehen der Person gewogen werden. Da aber zu vermuten ist, daß Leser dieser
Nachdrucke, die die Autoren nicht aus kontinuierlicher Lektüre der WBl kennen,
wissen möchten, auf welchen Gebieten sie gearbeitet und in welchem Lande sie
gelebt haben, als sie ihre Beiträge schrieben, deuten wir am Schluß dieses
Bandes an, ob sie im Bereich der Theologie, der Kirche, der Gesellschafts- oder
der Naturwissenschaften tätig waren, und nennen ihr Herkunfts- und
Aufenthaltsland. Dabei verzichten wir darauf, vom 3. Oktober 1990 an die
Bezeichnungen BRD und DDR auf BRD/alt und BRD/Anschlußgebiet umzustellen.
Ganz wesentlich zum
Erscheinen dieses Bandes haben einige unserer Leserinnen und Leser, die
ungenannt bleiben möchten, beigetragen, indem sie sich der Mühe unterzogen
haben, alle bisherigen Jahrgänge der WBl daraufhin durchzusehen, was in diesen
Band aufgenommen werden müßte, während andere diesen Druck mit Vor- und
Zuschüssen oder auch durch ihre Subskriptionsbestellungen ermöglicht haben.
Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank!
Insbesondere danken
wir Heinz Kamnitzer für sein Geleitwort! Nur in der Erwartung des Spiritus Dei
verzweifeln wir nicht an der ratio mundi, zu der auch der "Weltgeist mit
Namen Karl Marx" gehören mag. Darum bedarf es zur heilsamen Warnung vor
oberflächlichem Optimismus und zur Erinnerung an Not und Sorgen der
"Kleinen" im Alltag eines Kontrapunktes zu dem Titel "Wider die
Resignation der Linken". Ihn setzt Heinz Kamnitzer mit der Härte eines
Propheten des alten Israel: er hält die Niederlage des Sozialismus für einen
womöglich irreversiblen Schaden und meint, daß wir uns ihr als "einer
Katastrophe zu stellen haben, die auf das Ende unserer Gattung zurasen
könnte". Den Ernst dieser Sorge soll unser Titel unterstreichen, nicht
verharmlosen oder leugnen.
Berlin, im August 1994 Hanfried Müller
Statt
einer Einleitung
Zur Eröffnung des Lesertreffens der WBl am 7. Mai 1994
von Rosemarie
Müller-Streisand
(...) Woher kommen
wir, wo standen und stehen wir und wohin wollen wir? Zu diesen drei Fragen -
sie meinen erstens die Zeit von 1982-1989, zweitens die Zeit dessen, was viele
"Wende" nennen, drittens die Zeit danach bis zur Gegenwart - also zu
diesen drei Fragen lassen Sie mich ein paar Anmerkungen machen (...)
Ich beginne mit einer
Kurzcharakteristik der WBl. Sie ist jüngst im Deutschlandarchiv erschienen. Ihr
Verfasser ist Reinhard Henkys, der 1982 Vertreter des westkirchenoffiziellen
Evangelischen Pressedienstes, genannt epd, in der DDR war, später als persona
non grata ausgetauscht wurde (wobei es der DDR mit dem Nachfolger ein bißchen
wie Hans im Glück erging), der dann jahrelang für das westberliner
Dokumentationsblatt "Kirche im Sozialismus" mit dem Geigerzähler
eines sehr subtilen Antikommunismus die DDR-Kirchenlandschaft durchsuchte und
inzwischen - offensichtlich mangels anderer Aufgaben - Staats- und Parteiakten
mit dem Ziel durchforstet, der kirchlichen Linken den Garaus zu machen. Und nun
Originalton Reinhard Henkys:
"Die 'Weißenseer
Blätter' (WB) hatten nie die Funktion, 'publizistischen Einfluß auf die
Oppositionsszene zu nehmen' <wie es ein anderer Autor im Deutschlandarchiv
geschrieben hatte>. Die seit 1982 erscheinenden WB waren älter als die
meisten Oppositionsblätter. Sie verachteten die Opposition und denunzierten sie
unverhüllt. Ihre Zielgruppe waren vielmehr Theologen und Funktionsträger der
offiziellen evangelischen Kirche. Die WB kollaborierten offen mit der 'reinen
Lehre' der SED, interpretierten die kirchliche Zeitgeschichte von dieser
marxistischen Position aus. Sie führten die publizistische Polemik, die sich
die Parteipresse aus kirchenpolitischer Rücksicht versagte und die seitens der
SED auch der kollaborierenden CDU-Presse und auch der kirchenpolitischen
Monatsschrift 'Standpunkt' verboten war, sehr zum Leidwesen etwa von deren
Chefredakteur Günther Wirth. Man beklagte sich dort bitter darüber, daß die WB
sich im 'Samisdat' interessant machen dürften, während die lizensierte Presse
zum Weglassen von Streitthemen und damit zur Langeweile verpflichtet war. - Da
die Polemik der WB mit kirchenpolitischer Faktendarstellung verbunden war, die
es sonst in der DDR-Publizistik nicht gab, war dies Erzeugnis eines offiziellen
Samisdat für kirchliche Insider manchmal spannend zu lesen."
Eine Insiderin
erzählte mir damals, man risse sich, wenn wir erschienen, im Konsistorium die
Exemplare aus der Hand. Dem Ondit zufolge erzielen wir inzwischen im
Parteivorstand einer bestimmten Partei ähnliche Effekte. Aber weiter im Zitat:
"Einfluß auf die
Kirche hat es <dieses Erzeugnis> nicht ausgeübt - ebensowenig wie auf die
SED, der die WB auch schon vor der Wende ideologische Rechtsabweichung
ankreideten. Hanfried Müller, staatlich bestallter Theologieprofessor und
Redaktionsverantwortlicher der WB, rief nach dem Rücktritt Honeckers in einem
'Offenen Brief an meine Freunde in der SED' vergeblich zum Widerstand auf und
warnte die Genossen ausdrücklich vor Schuldbekennt-
nissen, Reue und Buße. (WB 5/1989, S. 25 ff.). - Daran hat sich nichts
geändert. Die 'Weißenseer Blätter' erscheinen heute noch."
Dieser letzte Satz
stimmt offenkundig. Aber er muß den Verfasser ein bißchen Überwindung gekostet
haben, denn nach unserem ersten Erscheinen hatte er uns eine Lebensdauer von
2-3 Heften prognostiziert, wir seien in eine günstige Konstellation geraten und
füllten eine zeitweilige Lücke. (Ein bei dem Gespräch anwesender
Generalsuperintendent konzedierte uns immerhin ein etwas längeres Leben).
Im übrigen ist es bei
Henkys hier wie meistens: er weiß fast alles und er versteht fast nichts.
Was er vor allem nicht
versteht, ist, wie Christen Sympathien für den Kommunismus haben können.
Damit komme ich zur
ersten Frage: woher kommen wir? Ich meine, wir brauchen uns dessen nicht zu
schämen, was Henkys "Kollaborieren" nennt. "Kollaboration"
heißt ja bekanntlich Zusammenarbeit, dasselbe wie "Kooperation":
Schätzt man solche Zusammenarbeit, nennt man sie Kooperation, ärgert sie einen,
nennt man sie Kollaboration. Wir haben gern mit einer "reinen Lehre"
und noch lieber mit einer "reinen Praxis" der SED - gemeint ist von
Henkys damit der sozialistische Staat DDR - zusammengearbeitet, nicht zuletzt
in den Fragen von Frieden und Abrüstung, die in unseren ersten Jahrgängen die
politische Hauptthematik bildeten. Dies allerdings durchaus in Polemik gegen
eine vorgeblich "kirchliche Friedensbewegung", die ja in Wirklichkeit
von der Mehrzahl ihrer Anführer her - man denke nur an Eppelmann - auf die
Liquidierung des Sozialismus zielte und die wir nicht verachtet, sondern sehr
ernst genommen haben.
Übrigens hat diese
starke und berechtigte Orientierung auf Frieden und Abrüstung dazu geführt, daß
wir jedenfalls bis 1987 voll auf Gorbatschow hereingefallen sind und auch 1988
teilweise noch versuchten, ihn ebenso wie das SPD/SED-Papier gegen den
vermeintlichen Mißbrauch durch Gegner in Schutz zu nehmen - so ein bißchen mit
Luthers Erklärung des 8. Gebots im Hinterkopf, "ihn entschuldigen, Gutes
von ihm reden und alles zum Besten kehren", allerdings, wie ich gestehen
muß, zunehmend mit einem unwohlen Gefühl in der Magengegend.
Dieses
Zusammenarbeiten schloß allerdings allerlei Kritik nicht aus, sondern ein, da
nämlich, wo diese Lehre und diese Praxis leider gar nicht mehr "rein"
war, sondern von der Ökonomie bis zur Kirchenpolitik zunehmend opportunistisch
wurde. Dabei sahen wir uns durchaus in Übereinstimmung mit den Sieben
Weißenseer Sätzen "Von der Freiheit der Kirche zum Dienen", wo es
heißt: "Wir werden der Erhaltung des Lebens durch Mitarbeit und kritischen
Rat dienen." Belege dafür, daß die WBl der "SED... auch schon vor der
Wende (hinterher gab es sie ja leider nicht mehr) ideologische
Rechtsabweichung" angekreidet hätten, lassen sich in der Tat reichlich
finden. Aber wir kritisierten nicht mit Häme und hoffentlich auch nicht mit
Besserwisserei, obgleich ein für Agitation Verantwortlicher der SED, wie wir
später erfuhren, einmal meinte, vor uns als "Feinden" warnen zu
müssen. Vielmehr beobachteten wir die politische Entwicklung mit wachsender
Besorgnis: Entpolitisierung der Massen, die Vorstellung, der Sozialismus siege
im Selbstlauf, Konzessionen an den Gegner, die nicht als solche deklariert
wurden, Blauäugigkeit gegenüber dem Imperialismus sind hier nur als ein paar
Stichworte
zu nennen. Und darum hat uns die Konterrevolution, vor der wir vergeblich zu
warnen versucht hatten, auch nicht überrascht.
Vollen Widerspruch
erfordert allerdings der Satz von Henkys, wir hätten "die kirchliche
Zeitgeschichte von dieser marxistischen Position aus" interpretiert.
Henkys kann sich anscheinend noch weniger, als daß Christen Kommunisten sein
können, wenn auch nicht müssen, vorstellen, daß Sympathisanten der Kommunisten
Christen sein können und daß für Christen das einzige Kriterium der
Kirchengeschichte die Bibel war und ist.
Uns ging es nicht
darum, die Kirche zu einer revolutionären Partei zu machen, sondern darum, zu
verhindern, daß aus ihr eine konterrevolutionäre Partei, ja eine politische
Partei überhaupt würde. Das unterschied uns auch von solchen Christen, mit
denen wir politisch voll und ganz solidarisch waren, die theologisch dem
Religiösen Sozialismus bzw. dessen Modernisierung, der Befreiungstheologie,
verhaftet waren. Wir haben stets - und bis heute - versucht, diese theologisch
unabweisbare Auseinandersetzung so zu führen, daß wir kein politisches
Porzellan zerschlügen, aber wir mußten auch feststellen, und zwar wieder bis
heute, daß nicht nur viele Marxisten das als unnötig spaltend empfinden (jetzt
hätte ich beinah gesagt: wie sollten sie auch anders? Aber das wäre nun
wirklich überheblich, denn manche verstehen uns dabei sehr wohl), sondern wir
mußten auch feststellen, daß wir selbst unter uns Theologen gar nicht so ganz
einig sind, ob denn das ein notwendiger Streit sei. "Reine Lehre" ist
heute auch in der Theologie kaum 'in'.
Und doch meine ich,
daß die Vermischung von Glauben und Wissen, von Evangelium und Welt-Anschauung beides verdirbt, den christlichen
Glauben zur religiösen Weltanschauung depraviert und die Anschauung der Welt
dem Irrationalismus ausliefert. Beides dient im übrigen dem - in den WBl ja
sicher bis zum Geht-nicht-mehr angegriffenen - Klerikalismus, sei es im etwas
altväterischen "Wächteramt" der Kirche über die Welt, sei es in der
These vom "politischen Mandat der Kirche", wie es der
Berlin-Brandenburgische Bischof Forck proklamiert und praktiziert hat. Und die
Invasion evangelischer Pfarrer von Gauck bis Eppelmann, die ihr Pfarramt
aufgaben und beschlossen, Politiker zu werden, ist nur die letzte Konsequenz
dieser längst vorher stattgehabten Vermischung.
Ich sagte: uns hat die
Konterrevolution nicht überrascht, und komme damit zur zweiten Frage: wo
standen wir in ihrem Verlauf?
In der Konterrevolution überrascht hat uns
allerdings das kampflose Aufgeben der Partei,
die eigentlich nicht zur Kapitulation berufen gewesen wäre, sondern zur Führung
auch dann noch, als die Sowjetunion die DDR verkauft - wenn auch noch nicht
sofort geliefert - hatte.
Henkys hat richtig
gesehen, daß wir zum Widerstand aufrufen wollten. Wir haben nicht eine Sekunde
lang geglaubt, was nicht nur alle Welt, sondern leider auch die
"Erneuerer" in der SED/PDS behaupteten, daß es sich um eine
"Revolution" handle (vor allem mit dem unentwegt wiederholten, aus
dem Zusammenhang gerissenen Leninzitat von denen, die nicht mehr wollen, und
denen, die nicht mehr können - wenn das so einfach wäre, wäre auch der
faschistische Putsch in Chile eine Revolution gewesen).
Kein Satz der WBl ist
von kirchlichen Autoren häufiger zitiert worden als der: "Keine Reue,
keine Buße, keine Schuldbekenntnisse". Nun, wir haben gegenüber der Kirche
- und das heißt: gegenüber uns selbst! - niemals aufgehört, Buße, Umkehr als
Angebot und Gebot Christi zu verkündigen. Aber bei diesem vielzitierten Satz
ging es um etwas völlig anderes: wir sahen, wie die Sozialisten in unserem Land
planmäßig und erfolgreich demoralisiert wurden, indem man ihnen und schließlich
sie sich selbst ausgerechnet das als größte Schuld vorwarfen, was nicht Schuld
war, sondern vielmehr die Niederlage des Sozialismus verhindern sollte: Kampf,
Wachsamkeit, Bereitschaft, die Macht zu verteidigen. Und dazu zeigte auch die
raffinierte Beschuldigung der Korruption volle Wirkung, wiederum in den eigenen
Reihen im sogenannten "Finanzskandal der SED" von den vorgeblichen
Erneuerern nicht nur aufgenommen, sondern bewußt eingesetzt. Gewiß, es hat
Dummheiten gegeben, vielleicht sogar mehr als andernorts, es hat
Gesetzesverstöße gegeben, sicher nicht mehr als andernorts, und es hat Fälle
von Korruption gegeben, ganz bestimmt weit weniger als andernorts, wo man
dekretiert hat, daß die DDR ein "Unrechtsstaat" gewesen sei.
Reue und Schuldbekenntnis
forderten die Feinde des Sozialismus und Kapitulanten, die auf deren Gnade
hofften. In ihrem Munde sagte das Wort Buße etwas ganz anderes als im Neuen
Testament, nämlich das Abschwören, den Kniefall vor den Siegern im
Klassenkampf. Daß der unsäglich schmalzig-platte Film "Die Reue" zum
Schiboleth gemacht wurde, war für uns signifikativ. Übrigens fiel uns bald die
historische Parallele zum Frankreich von 1940 und zur Reuepredigt der
Vichyleute auf, wir fanden von Karl Barth bis Jean Paul Sartre Warnungen vor
der Kapitulationsbuße als Mittel psychologischer Kriegführung und druckten sie
ab. Denn wir wollten unser Teil dazu beitragen, daß Kommunisten wieder Mut,
Selbstvertrauen, Kampfeswillen gewönnen, übrigens nicht zuletzt auch durch die
Einsicht, daß es sich um eine echte schwere Niederlage im Klassenkampf handle,
daß aber der, der unterliegt, noch lange nicht Unrecht hat. Vielleicht hat uns
übrigens in diesen Fragen die "Gnade der frühen Geburt" geholfen: wir
wußten ja noch aus der Nazizeit, daß ein ganzes Volk besoffen sein kann, nicht
nur 1933, sondern ebenso schlimm 1940, und daß der, der siegt, noch lange nicht
im Recht ist (wennschon der Satz von Dietrich Bonhoeffer, in der Nazizeit
notiert, nachdenklich macht: "Auch das Fehlen von Macht kann Schuld
sein").
Übrigens gehört es mit
zum Stil der WBl, daß in dieser Diskussion um Schuld und Niederlage auch der
Einspruch gegen den Ruf: "Keine Reue, keine Buße, keine
Schuldbekenntnisse" in ihnen zu Wort kam, obgleich die Situation heiß war
wie nie zuvor und wir uns durchaus bewußt waren, daß es um Sein oder Nichtsein
des Sozialismus ging und daß die Verteidiger des Sozialismus völlig in der
Minorität waren.
Dabei schloß dieses
"Nicht auf den Knien!" keineswegs die Notwendigkeit aus, die Ursachen
der Niederlage umfassend, genau und radikal zu analysieren, ganz im Gegenteil.
Und damit komme ich zur dritten Frage: wo stehen wir heute und wohin wollen
wir?
Zunächst: was den
Leserkreis der WBl angeht: wir haben nach 1989 eine Reihe von kirchlichen
Lesern verloren (übrigens auch Leser aus der Dissidentenszene bis hin zu Lutz
Rathenow, der uns durch eine Strohfrau bestellte und "mit unfreundlichen
Grüßen" abbestellte), und wir haben seitdem eine Reihe von marxistischen
Lesern gewonnen. Aber wir wollen nicht aufhören, "Fragen aus Theologie und
Kirche" weiter an den Anfang zu stellen und ihnen "Fragen aus der
Gesellschaft" erst folgen zu lassen, wie das in unserem Untertitel steht.
Das hat für uns schon
etwas mit der Gewichtung und den Prioritäten unserer eigenen Position zu tun,
zumal wir dem empirisch so einleuchtenden Schema stets widersprochen haben, wonach
ein politisch Linker theologisch liberal sein müsse (liberal hier nicht als
"frei" verstanden, sondern als die Beliebigkeit eines "hier
stehe ich, ich kann auch anders" - wenn sich die Kräfteverhältnisse
ändern). Wir sind gegen die nur scheinbar "lebensnahe" und in
Wirklichkeit oft platte Reduktion der Theologie auf Ethik, Anthropologie oder
Religiosität. Käme es nur auf unsere guten Werke, unser Selbstverständnis und
unsere Selbstfindung oder gar eine Orientierung auf "Höheres" oder
"Jenseitiges" an, dann wäre, um es mit einem Wort des Apostels Paulus
zu sagen, "unser Glaube eitel", und dann könnten wir getrost, wie es
ja viele möchten, die theologische Frage nach der "reinen Lehre" als
"Orthodoxie" der politischen Rechten überlassen. Es ist nicht ganz
einfach, so wenig fachtheologisch wie möglich zu sagen, was eigentlich den Kern
unserer Theologie ausmacht, vielleicht ist es aber verständlich, wenn wir
sagen: Wir sind nicht Christen, weil wir in den Himmel kommen und gute und
gerechte Menschen sein möchten, sondern weil Gott Mensch geworden und auf die
Erde gekommen ist, mitten unter und für uns gottlose Menschen. Sieht man sich,
wenigstens hierzulande (in den USA scheint das ein bißchen anders zu sein),
kirchlich-theologische Publikationen an, dann scheinen wir, so weit wir sehen
können, die einzigen zu sein, die so etwas wie eine "linke
Orthodoxie" vertreten. Und wir meinen, eine solche Stimme sollte
wenigstens weiter laut werden.
Zum zweiten geht
unsere - wenn ich das einmal so sagen darf - politische Hilfs-Funktion weiter,
indem wir versuchen, unsere Solidarität mit den heute politisch Verfolgten zu
bekunden - wenn Sie so wollen: als "Rote Hilfe" im geistlichen und
geistigen Sinn. Sie alle kennen die Geschichte von dem unter die Räuber
Gefallenen, an dem Priester und Levit vorbeigingen und dem der verachtete
Samariter half - er stand damals in Israel in einem ähnlichen Ruf wie ein Ossi
heute in der BRD, auch über Samarien sagte man, was kann von dort Gutes kommen?
Wir hatten einfach den Eindruck, daß die Kommunisten, die, die es bleiben
wollten, unter die Räuber gefallen waren und wir an ihre Seite gehörten.
Richtig barmherzige Samariter waren wir dabei freilich nicht, zum einen konnten
wir ihnen keine Herberge verschaffen und nicht ihre Betreuung bezahlen, wovon
ja im Gleichnis die Rede ist, und zum anderen waren wir nicht nur mit dem Opfer
solidarisch, sondern haben, so gut wir konnten, die Räuber attackiert, wovon in
der Geschichte auch nicht die Rede ist; aber sie erzählt ja auch eigentlich
nicht von einem beliebigen unter die Räuber Gefallenen und einem beliebigen
Retter, sondern von Jesus.
Zum Dritten: weil wir
feststellen müssen, daß wir noch niemals - einschließlich der Nazizeit, wo es
immerhin noch Auslandssender gab - so einseitig und so schlecht informiert
gewesen sind wie heute, bringen wir gelegentlich solche Informationen, sofern wir
sie bekommen können, von denen wir meinen, daß sie auch unsere Leser
interessieren könnten.
Schließlich aber liegt
uns besonders daran, ein für alle Sozialisten und Kommunisten und ihre
Sympathisanten offenes Diskussionsforum zu sein, auf dem die konventionellen
Tabus nicht gelten. Ein Forum für Analysen im Blick auf die Vergangenheit und
die Gründe unserer gemeinsamen Niederlage und im Blick auf die Gegenwart, die
ja zunehmend bestätigt, daß Widerstand und nicht Kapitulation heute auf der
Tagesordnung steht und daß wir dreimal prüfen sollten, ehe wir aus dem Erbe
sozialistischer Politik etwas als widerlegt über Bord gehen lassen. Und im
Blick auf die Zukunft, die die Menschheit ohne revolutionäre Veränderungen,
Veränderungen in den Eigentums- und den Machtverhältnissen, nicht mehr erleben
wird. Selbstverständlich wissen wir, daß wir uns hier und heute nicht in einer
revolutionären Situation befinden - leider! und dies "leider"
unterscheidet uns von denen, die darüber heilfroh sind. Sondern wir befinden
uns in einer Situation, in der erst einmal Klarheit in die Köpfe kommen muß -
und zwar in unsere eigenen zuerst. Darum, meinen wir, muß heute Theorie getrieben
werden, und theoretisches Niveau hat heute hohen Stellenwert, so aber, daß die
theoretische Auseinandersetzung und der theoretische Streit die Linke nicht -
wie das immer wieder geschieht - spaltet, sondern gerade zusammenführt. Denn
der Zusammenhalt aller, die heute antiimperialistische Positionen vertreten,
muß nicht nur gewahrt, sondern verstärkt - weithin auch überhaupt erst einmal erreicht
- werden quer durch Parteien und Gruppen hindurch.
Jeder einzelne
Gedanke, jede Konzeption, die auf diesem Weg weiterhilft, soll bei uns im Für
und Wider Platz haben, eingeschlossen auch die u.U. ganz unterschiedliche
Sicht, die z.B. heute Ostlinke und Westlinke haben oder Parteilose und in
verschiedenen Parteien oder Gruppen Organisierte. Weil keiner von uns die Analyse oder das Programm oder die
Konzeption hat, wollen wir Analysen, Programme und Konzeptionen zur Diskussion
stellen, nicht in einem relativistisch-postmodernen Pluralismus, in dem dann
nichts mehr richtig, weil doch alles ganz egal ist, sondern in kritischer
Freiheit, die sich selbst, aber vor allem auch den anderen nicht zuletzt darin
ernstnimmt, daß sie ihm notfalls energisch widerspricht, so wie sie selbst für
jeden Widerspruch offen ist.(...)
"Die Weißenseer Blätter sollen..."
Aus dem ersten Heft der Weißenseer Blätter (1/82, S. 1):
In den Weißenseer Blättern soll ein Chor von
Stimmen laut werden, nicht nur aus dem WAK, sondern auch solcher Stimmen aus
Kirche und Welt, die wir kritisch oder zustimmend hören sollten. Nicht mit
allem, was wir veröffentlichen, identifizieren wir uns. Aber wir halten es für
gut, es zur Kenntnis zu nehmen (...).
Die Weißenseer Blätter
... sollen ... ein Gespräch mit allen eröffnen, die nach der Aufgabe der
Ökumene in unserer Zeit, nach dem Auftrag der Kirche in unserer Gesellschaft
und nach der politischen Verantwortung der Christen fragen (...).
Zur Geschichte des Weißenseer Arbeitskreises*
von Jürgen Schöller
Wenn man sich einmal
im Stil eines bekannten Kompendiums der Kirchengeschichte ausdrücken wollte,
könnte man kurz feststellen: In der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg
bildete sich im Jahr 1958 der Weißenseer Arbeitskreis, schlicht genannt nach
dem Ort seiner Zusammenkünfte, eine freie innerkirchliche Vereinigung in der
Art der sogenannten Kirchlichen Bruderschaften, mit linken Tendenzen. Der WAK
befaßte sich mit theologischen Gegenwartsthemen, mischte sich gelegentlich in die
Kirchenpolitik und in kirchlich-synodale Entscheidungen ein und verfaßte einige
Verlautbarungen. Seine Mitgliederzahl reduzierte sich im Lauf der Jahre.
Ähnlich anderen
kirchlichen Bruderschaften entstand auch der WAK aus aktuellem Anlaß. Der
Vorgang dabei ist folgender:
Bestimmte wichtige
theologische Themen kommen in der Gesamtkirche zu kurz oder werden unterdrückt.
Einige haben den Eindruck, daß diese Themen jetzt endlich aufgegriffen werden
müssen.
Der Weg, den die
Kirche geht, wird als falsch und unchristlich erkannt. Einige haben den Eindruck,
daß die ganze Richtung eine andere werden müßte.
Diese Gemeindeglieder
finden sich zusammen, um gemeinsam und frei theologisch zu arbeiten und um ihre
theologischen Erkenntnisse dann für den Weg der Kirche fruchtbar werden zu
lassen.
Die Existenz solcher
kirchlicher Bruderschaften ist also immer abhängig von einem bestimmten
erkannten Auftrag. Sie stehen dabei in der Tradition der Bekennenden Kirche und
der Theologischen Erklärung von Barmen (1934) sowie des Schuldbekenntnisses von
Stuttgart und des Darmstädter Wortes.*
Im Rahmen dieser
grundsätzlichen Besinnung auf die Funktion des Weißenseer Arbeitskreises soll
jetzt eine Erscheinung (für die Zeit seiner Entstehung) besonders herausgehoben
werden.
Es gab in den Jahren,
in denen der WAK sich zusammenfand, eine bestimmte Kirchlichkeit, die man
Dibelianismus nannte, nach dem Bischof Otto Dibelius, der in der Nachkriegszeit
hier in unserer Kirche regierte. Das nationalistisch gefärbte, westorientierte
kirchliche Herrschaftsdenken dieses Otto Dibelius beeinflußte die gesamte
Nachkriegsgeschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nachhaltig.
Es sei nur erinnert an die "Obrigkeits-Schrift" des Otto Dibelius und
an den Abschluß des Militärseelsorge-Vertrages mit der Regierung der BRD. Es
bestand mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit der Plan, die Kirchen in der
DDR als Brückenkopf bundesdeutscher Politik, als Anhänger der Bonner
Deutschland-Konzeption zu gebrauchen. Das Stichwort "Bewahrung der
kirchlichen und völkischen Einheit" sollte für eine theoretische, in
Wirklichkeit pseudotheologische Untermauerung dieser Pläne sorgen. Durch diese
Orientierung wurden unsere Gemeindeglieder daran gehindert, sich im Glauben und
im Dienst frei und vorurteilslos auf die Welt zu beziehen, in der sie ihr
Dasein und ihre Aufgabe hatten.
In diesem
geschichtlichen Zusammenhang sah der Weißenseer Arbeitskreis seine Funktion:
auf Grund sorgfältiger theologischer Arbeit den Weg der Kirche in der Gegenwart
zu finden und dabei im Hören auf den Auftrag von herkömmlichen
liberalistischen, nationalistischen, moralistischen und ähnlichen
Determinierungen frei zu werden.
"Dibelianismus"
- die Sache hat zwar in diesem Namen eine besonders markante geschichtliche
Ausprägung gefunden, sie hängt aber nicht daran. "Dibelianismus" ist
doch wohl eine immerwährende Gefahr und Versuchung der christlichen Gemeinde in
der Zeit. Mit der Feststellung: "Die Zeit des Dibelianismus ist
vorbei" hat sich im Lauf der letzten Jahre manch einer vom WAK
zurückgezogen. Ist aber die gefährliche Versuchung, um die es hier geht, auch
so einfach "vorbei"?
Es ist dem Weißenseer
Arbeitskreis nachgesagt worden, er sei so etwas wie eine innerkirchliche
Opposition. Es soll darum hier einmal ein wenig aufgezählt werden, wogegen wir
waren oder, besser gesagt, wogegen wir von unseren theologischen
Voraussetzungen her sein sollten.
Also wir wollten und
sollten dagegen sein,
o daß die Kirche weltlich geartete Macht
und Einfluß haben will,
o daß die Kirche dementsprechend
selbstsüchtig ihre Rechte verteidigt,
o daß sie althergebrachte Vorrechte
nicht preisgeben will,
o daß sie immer erst ihre Freiheit
verteidigt, um dann als zweites allenfalls auch noch von ihrem Dienst zu reden,
o daß sie eine Partei der Christen
gegenüber den Nichtchristen sein will im Schema "gute Kirche - böse
Welt",
o daß sie in ständiger
Selbstrechtfertigung verharrt,
o daß sie dementsprechend die Umwelt zur
Buße ruft und nicht sich selbst,
o daß die Christen, die selber faktisch
nicht nach Gottes aktuellem Gebot leben, ihre Umwelt umso kräftiger nach ihm
richten, das heißt verurteilen,
o daß die Kirche auch beim Staat immer
nur das anspricht, was er ihrer Meinung nach falsch macht, um dann ihrerseits
laut darauf zu reagieren,
o daß die Kirche sich immer nur in der
Dialektik von Abwehr und Anpassung der Gesellschaft gegenüber bewegt, man
könnte hier auch sagen: Antikommunismus und Opportunismus,
o daß die Kirche den Zuspruch des
Evangeliums allein für sich, den Anspruch des Gesetzes Gottes aber allein für
ihre außerkirchliche Umwelt gelten lassen will,
o daß die Christen der nicht-kirchlichen
Welt ängstlich, vorurteilsvoll, mit Ressentiments geladen, gehässig,
pharisäisch, besserwisserisch und argwöhnisch entgegentreten.
Wer dagegen ist, befindet sich natürlich
"in Opposition", wenn auch ganz und gar nicht im üblichen Verständnis
des Wortes.
Aber man kann nur dann
glaubwürdig sagen, wogegen man ist, wenn man weiß und sagt und deutlich macht, wofür man ist.
Der Weißenseer Arbeitskreis
war also dafür,
o daß gründliche theologische Arbeit
geschieht, möglichst frei von der Verklammerung mit nationalen oder politischen
Affekten,
o daß für unsere Gemeinden eine
Kirchenordnung erarbeitet wird, eine Neu-Ordnung, die sich nicht hindern läßt
durch historisch gewordene Einheit, bloße Kontinuität kirchlichen Rechtes und
politischer Wünsche,
o daß die Frage kirchlicher Einheit im
Sinne von geistlicher und dementsprechend ökumenischer Einheit verstanden und
behandelt wird,
o daß wir unsere eigenen Beziehungen -
etwa zu den Kirchlichen Bruderschaften in der BRD - als geistlich und
ökumenisch verstehen und praktizieren,
o daß wir uns um die Glaubwürdigkeit des
christlichen Zeugnisses bemühen durch die Befreiung von der Zwangslage, ein
Werkzeug fremder Konzeption zu sein und sein zu müssen,
o daß wir uns frei und offen unserer
Welt als der Welt des sich entwickelnden Sozialismus zuwenden, frei von dem
Zwang, uns ideologisch oder politisch "westlich" orientieren zu
müssen,
o daß wir also die Freiheit, zu der wir
durch Christus befreit sind, als Freiheit zum Dienst - und in keiner Weise als
etwas anderes - verstehen.
Wir waren also dafür,
die aktuellen Fragen und die Richtung unseres Weges biblisch-theologisch zu
durchdenken, um dann daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen.
Darum war der WAK
nicht, wie ihm andererseits immer wieder nachgesagt worden ist, primär
politisch oder kirchenpolitisch interessiert. "Arbeits-Kreis" heißt
hier: primär theologische Arbeit. Dann aber darf man sich auch nicht scheuen,
das als theologisch richtig Erkannte in Kirche, Politik und Kirchenpolitik zu
vertreten - wenn dies dann auch nach Lage der Dinge oft genug in manchen
kirchlichen Kreisen unpopulär ist.
Der Weißenseer
Arbeitskreis hat im Verlauf der letzten 20 Jahre einige, im Grunde sehr wenige
Verlautbarungen schriftlich verfaßt:
o Zur Frage der Taufe (gegen die
Alleinherrschaft der Säuglingstaufe),
o zur Frage von Konfirmation und
Jugendweihe,
o zur Frage einer neuen Kirchenordnung,
o zur Frage der Selbständigkeit der
Kirchen in der DDR.
Dann aber und vor
allem gab es die Abfassung der "Sieben Theologischen Sätze", die eine
grundsätzliche schriftliche Fixierung des von uns als gut und richtig Erkannten
geworden sind (1963). Sie waren veranlaßt durch die vorausgegangenen "10
Artikel" der Kirchenleitungen in der DDR.* Dabei sind die
jeweiligen Überschriften programmatisch für die grundsätzlichen Unterschiede
beider Dokumente:
- "10 Artikel von
Freiheit und Dienst der Kirche"
- "7 Sätze von
der Freiheit der Kirche zum
Dienen".
Es ist in den
vorangegangenen Darlegungen schon viel aus diesen 7 Sätzen zur Sprache gebracht
worden. Es sollen nun aber doch einige wörtliche Zitate hinzugefügt werden:
"Jesus Christus
befreit uns zum Bekenntnis unserer Schuld... (und zugleich) zum Bekenntnis der
Vergebung unserer Schuld und zur Umkehr... Wie sollten, die seine Vergebung
glauben, nicht für die hoffen, die sie nicht glauben?"
"Jesus Christus
(befreit) seine Kirche dazu, ihre Glaubensgerechtigkeit nicht für sich zu
behalten, sondern sich bekennend, liebend und dienend der Welt zuzuwenden,
deren Sünde er trägt."
"Im
Glaubensgehorsam widersteht die Kirche der Versuchung, Gottes Wort schützen zu
wollen. Unbesorgt um sich selbst, kann sie furchtlos nach neuen Wegen
suchen..."
"Sie (die Kirche)
wird ihre Ordnung als Ordnung des Dienstes und nicht der Macht ohne Haß und
Polemik von der Ordnung der politischen Gemeinde unterscheiden."
"Im
Glaubensgehorsam sind wir dessen gewiß, daß uns nichts von Gottes Liebe
scheiden kann. Darum begegnen wir der nichtchristlichen Gesellschaft nicht
ängstlich oder gehässig, sondern
hilfsbereit und besonnen und können so auch in der sozialistischen
Gesellschaftsordnung verantwortlich mitleben."
Wie links sind eigentlich die Weißenseer Blätter?*
von Christian Stappenbeck und Hanfried Müller
Wir lesen nicht nur
mit Genuß, was nette Leser an uns schreiben, sondern wir hören auch mit Humor,
was andere über uns munkeln und deuteln.
Außer Frage steht:
"Links, wo das Herz ist", sind auch die WBl.
Das hindert nicht, daß
manche finden, wir stünden "rechts".
Sind wir
"konservativ", weil wir Arbeit gut und Leistung unentbehrlich finden,
weil wir Staaten, die für Recht und Frieden sorgen, für eine gute Gabe Gottes
halten, weil es uns als Firlefanz erscheint, zum Beispiel die
Gleichberechtigung der Frauen durch eine Entmaskulinisierung der Sprache zu
bewerkstelligen (so nennen wir uns noch immer ungeniert "Bruderschaft",
obgleich viele gleichberechtigte Schwestern zu uns gehören), und weil wir nicht
(...) etwas darum gut nennen, weil es neu ist, und alles verwerfen, was und
weil es unmodern ist? In der Tat: Nicht im Kreislauf der Moden, sondern nach
vorn - schrecklich "linear" - zu mehr Wahrheit, Recht und Frieden möchten
wir uns und andere bewegen.
Oder nennt man uns
"rechts", weil man das Wort noch im klassischen Sinne des
bürgerlichen Parlamentarismus benutzt? "Rechts" ist, wer regiert,
"links" ist, wer opponiert. Im Sozialismus regieren zumeist
Sozialisten, also sind sie "rechts"; und gegen den Sozialismus
"opponiert" die Reaktion - also ist die Reaktion "links"?
Es entstehen politische Weltbilder wie im Spiegelkabinett, und alles wird ein
bißchen unübersichtlich.
"Rechts" und
"links" ist eben nicht dasselbe, wenn man sich gegenübersteht. Es
sind subjektive Begriffe.
*
Andere verstehen uns
besser, als wir uns selbst verstehen: von "ultralinks" ist da die
Rede - oder von "linksradikal" und "links überholen", und
ein ganz Vorwitziger hat uns gar "rote Christen" genannt.
"Ultralinks"?
- Was ist jenseits von "links"? "Rechts" natürlich, aber
nur dann, wenn man an einen Kreis denkt, der sich auf der anderen Seite
schließt.
"Linksradikal"?
- Nun, das meint wohl Radikalinskis auf der Linken, Leute des "Alles oder
nichts" und des "Sofort oder gar nicht", die zumeist nichts von
dem und gar nicht erreichen, was sie wollen. Nur: "Wenigstens ein
bißchen" und "wenigstens später einmal" ist natürlich auch keine
Alternative. So "rechtsgemäßigt" möchten wir wirklich nicht sein.
Hält man uns schon darum für "ultra"-links?
Und "links
überholen"? Bei Linksverkehr kann das allerdings nur gegen den Baum oder
in den Chausseegraben gehen. Aber herrscht in unserer Kirche allgemein
Linksverkehr? Bei Rechtsverkehr wird man allerdings links überholen müssen,
wenn man vorwärts will - und überdies an manchem vorbeifahren, der rechts parkt
- und in Einbahnstraßen sogar rechts vorbei an denen, die links anhalten und
rechts aussteigen, um (jedenfalls alternativ!) kontemplativ zu verschnaufen
oder aktiv allerlei Unfug zu treiben.
"Rechts" und
"links" sind nicht nur subjektive, sie sind auch relative Begriffe,
anschaulich, zuweilen nützlich, oft unumgänglich, aber sofort verwirrend, wenn
man sie verabsolutiert.
Und schließlich:
"rote Christen"? "Rote", "braune",
"grüne" Christen - das sieht bunter aus, als es ist. Zuletzt sind
diese kunterbunt Eingefärbten wenig waschecht, und wenn sie in Sturm und Regen
kommen, erscheinen sie hinterher alle violett: gerade das sind wir nun
allerdings so wenig, daß man es uns nicht einmal nachsagt.
Aber Scherz beiseite:
Daß auch linker Radikalismus gefährlich ist, weiß jeder, der Lenins Schrift
einmal gelesen hat. Allerdings ist im ursprünglichen Sinn Lenins der
"linke Radikalismus" eine Kinderkrankheit des Kommunismus. Es ist die
Frage, ob nicht-kommunistische Kinder wie die Weißenseer Blätter überhaupt
damit infiziert werden können, zumindest zeigten sich dann wohl andere
Symptome. Ein Symptom ist die zu starke Mißachtung parlamentarischer Arbeit.
Will man Analogien an den Haaren herbeiziehen, muß man doch zugeben: die WBl
nehmen die Synodalarbeit sehr ernst. Ein entscheidendes Symptom ist mangelnde
Bündnisbereitschaft - mit Nichtkommunisten! Will man analog denken, kehrt sich
für uns die Frage um: sind wir bereit zur Kooperation mit Kommunisten? Nun,
gerade das verübelt man uns ja und nennt uns "rote Christen".
Aber man muß nicht
erst Lenin lesen, es genügt die tägliche politische Erfahrung, um sich über den
linken Radikalismus zu ärgern. Es ist hinderlich, immer mit der linken Hand
Sektierer oder Miniaturanarchisten abwehren zu müssen, die einem wie Kinder
zwischen die Beine laufen, während man einen Feind hat, den es auf Tod und
Leben, sprich Krieg und Frieden, zu bekämpfen gilt: und dieser Feind steht
rechts! Da kommt man in Versuchung, das Gesicht von diesem Feind abzuwenden, es
den Dogmatikern oder Chaoten, die einem zwischen die Füße stolpern, zuzuwenden,
um erst einmal Schluß zu machen mit diesen Störenfrieden... Und unversehens hat
man den echten, großen, wirklichen Feind im Rücken!
Sollten manche die
Weißenseer Blätter darum für "linksradikal" halten,, weil wir
versuchen, mit der linken Hand nach hinten wegzuschieben, was uns engstirnig
oder wirrköpfig stört und ablenkt, um die Rechte jederzeit frei zu haben zur
Verteidigung und zum Angriff auf die Reaktion? Möglich, daß es solche
Mißverständnisse gibt.
*
Wie dem auch sei: Wo
Rauch ist, ist auch Feuer. Und Feuer haben - hoffentlich! - die Weißenseer
Blätter. Der Kern dessen, worüber da mit "rechts" und "links"
spekuliert wird, liegt wohl woanders, als es die Spekulanten aus der Form der
Rauchschwaden deuten.
Setzen wir einmal ganz
theologisch ein, manche mögen es "dogmatisch" nennen: Wer diese Welt
mit ihrer Lust und ihrem Leid, mit ihrer Schuld und ihrer Güte als Gottes Schöpfung glaubt, der kann nicht
sagen: "Alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrundegeht" - und
flugs erscheint er den Skeptikern, Zynikern, Pessimisten und Anarchisten als
"konservativ" und also "rechts". Wer aber eben diese Welt
als Schöpfung Gottes glaubt, der kann
sie auch nicht und nichts in ihr vergöttern und anhimmeln; der weiß, daß alle
Güte in Gottes Urteil über sie und nicht in ihr selber ruht; der findet sie in
Dankbarkeit schön, aber er färbt sie nicht schön! Der sieht, um seine eigenen
Mängel wissend, alle Mängel, aber er sieht nicht "schwarz" - und
schon erscheint er den Enthusiasten auf der einen Seite zu kritisch, weil er
nicht schön-färbt (und also als zu "links"), und den Enthusiasten auf
der anderen Seite zu unkritisch, weil er nicht schwarz-sieht (und also als zu
"rechts").
Wir sind zwar nicht
"linksradikal", aber "von der Wurzel her" (ex radice)
radikal links, sofern links heißt, was ist, nicht nur zu interpretieren,
sondern zu verändern, es nicht nur zu konservieren, sondern zu entfalten und zu
entwickeln, nicht nur das "Machbare" zu machen, sondern das
Not-Wendige machbar zu machen, nicht nur das Wirkliche vernünftig zu nennen,
sondern das Vernünftige zu verwirklichen. In diesem Sinne sind wir für das
Lebensrecht aller gegen Vorrechte, die auf Geburt, Eigentum und elitärer
Bildung beruhen, für Kultivierung der menschlichen Gesellschaft und Geschichte,
für Massen-Aktivität und Bewußtsein und dagegen, die Geschichte ihrem
Selbstlauf zu überlassen; für gesellschaftliche Neuordnung unter der Bedingung
der friedlichen Koexistenz der Staaten und gegen Krieg, Barbarei, Anarchie und
Nihilismus. Wir sind für ein Fortschreiten in dynamischer Stabilität.
Empfindet man es als
"linksradikal", daß wir Stabilität in der Bewegung nach vorn wollen? Aber ein Radfahrer, der auf der Stelle
steht, sucht schwankend mühsam Balance, nur die Fahrt verleiht ihm Stabilität.
Sollten es ängstlich balancierende Radfahrer sein, die uns "linksradikal"
nennen?
Empfindet man es als
"rechts" und "konservativ", daß wir in der Bewegung nach
vorn Stabilität wollen? Das ärgert
die "Destabilisierer". Sie nennen alles "dogmatisch", was
einen geraden Linkskurs hält, mitten durch die hindurch, die undynamisch
stagnieren oder sich unstabil im Kreise drehen und schwindeln. Sie möchten uns
zwischen "Supermächten" torkeln lassen und nennen Geradlinigkeit
Starrsinn.
Verstehen können wir
schon, daß man uns von rechts "ultralinks" und von ultralinks
"konservativ" und mit verschiedenem Akzent von beiden Seiten
"dogmatisch" schilt. Da gibt es Leute, die lehnen jede Zusammenarbeit
mit uns ab - und uns nennen sie dann
"Sektierer" und ärgern sich, daß diese "Sekte" so viele
Freunde gewinnt.
*
Tatsächlich teilen wir
manche Haltungen nicht, die man offenbar rechts und links von uns einnimmt. Das
gilt anscheinend für unsere theologische und für unsere politische Existenz.
Für uns kann nicht
alles zu einer Frage der Taktik, Kirchendiplomatie, Anpassung und Flexibilität
werden. Dagegen steht schlicht das erste Gebot - und es steht auch dagegen, uns
oder andere einfach für Engel oder Teufel zu halten. "Was heißest du mich
gut? Niemand ist gut denn der einige Gott" (Matth.19,17). Es gehört zum
Wesen kirchlicher Bruderschaft, sich weder gegenseitig zu schmeicheln noch sich
verächtlich zu machen, sondern die Sache über die Person zu stellen. Gott
allein überlassen wir das Urteil über die Person, untereinander haben wir
unsere Worte und Werke zu prüfen. (...)
Wir wären kein
bruderschaftliches Mitteilungsblatt mehr, wenn wir die brüderliche gegenseitige
und brüderlich rücksichtslos-offene Ermahnung vergäßen, wenn wir Kritik an uns
selbst unterdrückten und Schwestern und Brüder in unseren Gemeinden wie in der
ganzen Ökumene, gleichgültig, welche Ämter sie wahrnehmen, nicht mehr kritisch
anzureden wagten: weder wir noch andere sind unfehlbar.
Aber wir setzen die
Kenntnis unserer Fehlbarkeit nicht um in Skepsis gegenüber der Wahrheit.
Wir meinen, daß es nur eine Wahrheit gibt: Jesus Christus, das
eine Wort Gottes, ist die Wahrheit
und das Leben. Gottes Wahrheit wollen
wir nicht skeptisch relativieren. Wir möchten sie weder
"politisieren" und "handhabbar" machen, noch möchten wir
sie entpolitisieren und neutralisieren. Wir meinen überhaupt, daß nicht wir mit
ihr etwas zu machen haben, sondern daß sie mit uns etwas machen will. Da steht
mit Schrift und Reformatoren schroff und exklusiv ein "allein". Das
vereint nicht nur, sondern trennt auch. Das erscheint theologisch
"rechts": "orthodox" und "sektiererisch". Wir
haben ja keinen Sinn für die Gemeinsamkeiten, zu denen man uns einlädt: für die
anthropologische Gemeinsamkeit ("um den Sinn allen Menschseins, um
Selbstfindung und Selbstverwirklichung geht's doch uns allen!") und für religiöse
Gemeinsamkeit ("ein Letztes, ein Höchstes und ein Erstes - das muß es doch
geben, nennen wir es Christus oder Belial!"). Jawohl, wir schneiden sie ab
(von 'secare' gleich "abschneiden" kommt "Sekte"), diese
religiöse Anthropologie und diese anthropologische Religion!
Aber das "allein
Jesus Christus" ist ja gar nicht exklusiv - es ist ja inklusiver als
irgend etwas anderes. Die Götter der Heiden schließen die aus, die ihnen nicht
anhängen. Er aber schließt die in sein Leben ein, die ihm das Leben nehmen. Ausschließlich
er schließt keinen aus. Er verbindet die Menschen, die sich durch ihre
Gottesbilder und Menschenbilder trennen. Zum Ausschließen, zum Abschneiden, zum
Sektieren kommt es gerade dort, wo dies so sektiererisch klingende
"Allein" verleugnet wird: da gibt's dann die Front der Gottgläubigen
gegen die Gottlosen, der Gerechten gegen die Sünder, der Theisten gegen die
Atheisten.
Zu seiner Wahrheit
verhalten wir uns relativ. Wir sind sein, nicht er ist unser Eigentum - und
mithin hat die Wahrheit uns, nicht wir sie. Wir sind keine Wahrheitsbesitzer.
Allenfalls bilden wir uns das ein. Unser Wissen bleibt Stückwerk, und
bestenfalls ergänzt es sich gegenseitig. Insoweit sind wir theologisch
"links" und "liberal".
Aber seine Wahrheit
ist nicht relativ. Es gibt unzählig viele Irrwege und Lügen, aber nur diesen
einen Weg und diese eine Wahrheit. Darum sind wir gegenüber der Wahrheit nicht
relativistisch und skeptisch, sondern skeptisch sind wir gegenüber einem
Pluralismus, der die Wahrheit relativiert. Kritisch sind wir gegenüber einer
Toleranz, die die Unwahrheit nicht leidend erträgt, sondern gleichgültig
duldet. Fragwürdig ist uns eine Liberalität, die aus dem Satz: "Irren ist
menschlich" den Satz macht: "Irren ist erlaubt". Insoweit sind
wir theologisch "rechts" und "orthodox". (...)
*
Darum sind wir auch im
Blick auf die Erkenntnis der Welt nicht relativistisch und skeptisch. Um
richtig oder falsch geht es - im Denken und im Handeln. Was recht und richtig
ist, kann zwar in der Mitte liegen, muß es aber nicht. Der "goldene
Mittelweg" ist zwar meist bequem, aber nur selten richtig. Darum kann es
zwar geboten sein, sich hier oder da neutral zu verhalten, der Neutralismus
jedoch kann keineswegs Maßstab für das Gebotene sein. Zwar gibt es meist viele
Wege, um das Rechte und Richtige zu erkennen, aber in der Regel ist nicht
vieles, sondern nur eines wirklich recht und richtig, unzählig vielfältig sind auch
in der Erkenntnis und Gestaltung der Welt nur die Täuschungen und Abwege. Darum
ist es zwar gut und nötig, daß wenn möglich alle nach den rechten Wegen suchen,
aber gefunden werden muß der eine richtige Weg, den man gemeinsam geht. Darum
darf die Pluralität der Diskussion nicht umschlagen in einen Pluralismus der
Entscheidungen.
*
Das Rechte und
Richtige kann nur überzeugen, wenn Gründe und Gegengründe abgewogen werden,
wenn Widersprüche nicht verdrängt und verborgen, sondern aufgedeckt und gelöst,
zumindest aber entschieden werden. Dazu bedarf es des sachlichen und offenen
Meinungsstreites, aber keiner zuchtlosen Demagogie, keines undisziplinierten
Geschwätzes und keiner "Diskussionsplattformen" zur Stimmenwerbung
für Wirrköpfe und Antikommunisten.
Offen aber möchten wir
in den "Weißenseer Blättern" unsere Meinung bilden: Offen, indem wir
uns gegenseitig widersprechen, warnen und mahnen. Achtung, und nicht Mißachtung
drückt sich darin aus, wenn man den anderen des Widerspruchs würdigt. Man mißversteht die Ebene
unserer Auseinandersetzung in und mit der Kirche, wenn man das für eine
Beeinträchtigung möglicher und wirklicher Gemeinsamkeiten hält. Gewiß ist solch
Verhalten "undiplomatisch". Diplomatie ist hoch zu schätzen, wo sie
hingehört: in die Sphäre des Interessenausgleiches zwischen Staaten und
politischen Mächten. Aber wir möchten sie nicht dort treiben, wo sie fehl am
Platze ist, in der Sphäre des Meinungsaustausches zwischen Schwestern und
Brüdern, Freunden und Gegnern zwecks Meinungsbildung und Wahrheitsfindung.
Und wir möchten unsere
Meinung offen bilden in dem Sinne, daß jedermann dabei zuhören kann. Zwar
wollen wir nicht alle Meinungen teilen oder dulden, wohl aber prüfen. Und jeder
soll prüfen können, welche Gründe wir gehört und erwogen, welche wir etwa
übersehen, welche wir uns zu eigen gemacht und welche wir verworfen haben. Wir
meinen, es tut richtigen und rechten Entscheidungen keinen Abbruch, sondern
fördert ihre Wirkung, wenn die Entscheidungsfindung öffentlich erfolgt und man
erkennen kann, in der Abwägung welcher Gründe, in der Lösung welcher
Widersprüche und in der Wahrung welcher Interessen sie zustande kamen. (...)
Unser Ziel ist es,
Fakten zu erklären, ihre Ursachen zu zeigen, sie wenn nötig zu verändern oder
ihre Unabänderlichkeit zu begründen. Das aber geht nicht, wenn man vor Fakten
die Augen verschließt, wenn man sie hysterisch dramatisiert oder sie um der
Ruhe und des lieben Friedens willen verharmlost. So erscheinen wir manchen als
"Nestbeschmutzer", wenn wir unser Nest von dem Schmutz reinigen
wollen, vor dem sie die Augen verschließen; sie nennen uns dann
"linksradikal". Und anderen erscheinen wir als "Apologeten des
Bestehenden", wenn wir uns an ihren Kritteleien nicht beteiligen und so
manchen Fleck für oberflächlich, belanglos oder unvermeidlich halten,
angesichts dessen sie ihre Welt untergehen sehen; sie nennen uns dann
konservativ.
*
Bei alledem sind wir
uns dessen bewußt: Was wir hier beschreiben, bezeichnet Aufgaben, die wir
weitaus mehr schlecht als recht zu erfüllen versuchen. Nennt man uns
"rechts" oder "ultralinks", sei uns das Anlaß zur
Selbstprüfung. Allerdings dürfen wir vielleicht noch einmal an das Bild von der
dynamischen Stabilität beim Radfahren erinnern: auch wer geradeaus einen linken
Kurs hält, muß mal rechts und mal links in die Pedale treten - das heißt noch
nicht immer gleich "Linksabweichung" und
"Rechtsabweichung", obwohl es leicht so aussieht, vor allem beim
Hinauffahren auf steile Berge.
Es geht um die
verantwortungsbewußte Freiheit, "alles zu prüfen und das Gute zu
behalten". Das Gute ist nicht einfach alles, was als nützlich oder
zweckmäßig erscheint. Daß uns letztlich die Wahrheit zugute kommt, schließt
gerade nicht ein, sondern aus, einfach für wahr zu halten, was uns nützt. Und
Freiheit heißt nicht, Beliebiges tun zu können, sondern es heißt Vermögen und
Macht und Verantwortung dazu und dafür, das Not-Wendende zu tun und die "Notwendigkeiten"
so zu erkennen, anzuerkennen und zu verändern, daß das möglich wird. Wer und
was immer so geprüft wird und sich nicht gerne prüfen läßt, wird sich getroffen
fühlen. Ohne das geht es nicht, wenn wir gemeinsam den besten Weg zum gebotenen
Ziel finden wollen. Selbstgerechtigkeit steht der Gerechtigkeit, Selbstsucht
der Liebe und Selbstmitleid der Barmherzigkeit im Wege, und wir werden uns im
Blick darauf freimütig und offen kritisieren müssen, wenn wir den Weg zu einem
überzeugten Handeln finden wollen, das weder einem chaotischen noch einem
akklamativen Spontanismus erliegt, sondern dazu hilft, daß wir als Kirche in
der sozialistischen Gesellschaft unsere politische Mitverantwortung bewußt,
besonnen und entschieden wahrnehmen. Wir halten das weder für konservativ noch
für linksradikal noch für sektiererisch.
Alarmzeichen (1982-1983)
Über den real existierenden Sozialismus an die sich links
verstehenden Theologen unter seinen Verächtern (1982)
von Dick Boer
"Wir stehen
tiefer im Nein als im Ja." Mit diesem 'Wir' meinte Barth in seinem
Tambacher Vortrag "Der Christ in der Gesellschaft" (1919) die linken
Theologen, die wie er selber für den Sozialismus waren und deshalb gegen die
damals bestehende Ordnung, die Ordnung des real existierenden imperialistischen
Kapitalismus. 'Wir' linken Theologen stehen tiefer im Nein als im Ja, wir, die
von dem Gott reden müssen, der ein Sklavenvolk aus seinem
"Diensthause" herausgeführt hat, bekennen uns zu einem
grundsätzlichen Protest gegen alle Herrschaft, alles 'establishment'.
Aber was sollen wir
nun tun, wenn die Sklaven, die Unterdrückten, selber Herrscher werden, wenn
Arbeiter und Bauern selber die Macht ergreifen, eine bestehende Ordnung werden?
Wie sollen wir uns verhalten der Ordnung gegenüber, die seit 1917 in Rußland
besteht und seit 1949 auch in einem Teil Deutschlands? Liegt es nicht auf der
Hand, auch da tiefer im Nein zu stehen, die Negation der Negation zu betreiben?
Der real existierende
Sozialismus ist ja ohne jeden Zweifel ein Sozialismus mit einem menschlichen,
allzu menschlichen Gesicht, ohne jeden Zweifel eine bestehende Ordnung mit
allem, was dazu gehört: Bürokratie, Polizei, Armee. Was gibt es da nicht alles zu
kritisieren! Wie leicht ist es da, sich eine Gesellschaft auszudenken, die viel
besser und viel schöner ist als die real existierende sozialistische
Gesellschaft. Was können wir eigentlich anderes tun, als im Namen des Reiches
Gottes, des Eschaton, das große Nein auszusprechen, uns inspirieren zu lassen
von dem heiligen Geist als dem Geist, der stets verneint? Und so wenden wir uns
vom real existierenden Sozialismus ab und einem Jenseits dessen zu. Wir linken
wahrhaft kritischen Theologen.
Die Frage ist aber, ob
wir es hier mit einem Gebot des Evangeliums zu tun haben oder mit einer
Ideologie, in der Intellektuelle kleinbürgerlicher Herkunft ihre Reserven
gegenüber den Härten eines revolutionären Prozesses auf ihren Begriff bringen.
In jedem Falle soll man klar sehen, was die Konsequenzen einer solchen
permanenten Opposition sind.
Ist der Sozialismus
als bestehende Ordnung, als Staatsmacht, nur abzulehnen, dann ist er damit auch
(wieder) zur Utopie geworden und unser Protest nur "die phantastische Verwirklichung des
menschlichen Wesens" (Marx in "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie").
Und da hilft es uns auch nichts, wenn wir beteuern, daß es im Evangelium nicht
um einen Himmel jenseits der Geschichte geht, sondern um die Zukunft der
Geschichte; diese sogenannte Zukunft bleibt genauso jenseitig wie dieser
sogenannte Himmel. Kann dies das Gebot des Evangeliums sein: vom Eschaton
ausgehend dem real existierenden Sozialismus gegenüber nur Vorbehalte
anzumelden? Ist das der Kern des Evangeliums: der eschatologische Vorbehalt? Bedeutet das nicht
automatisch, daß die Kirche im Sozialismus zum Sammelbecken von Leuten mit
Vorbehalten wird, ein Freiraum der Opposition aller Art? Wollen wir das? Sollen
wir das wollen?
Ich beabsichtige mit
diesen Fragen nicht, jede Relation
zwischen Eschaton, Reich Gottes und dem real existierenden Sozialismus zu
verwerfen und damit eine schlechte Zwei-Reiche-Lehre zu befürworten. Hören wir
nur einmal Barths "Wir stehen tiefer im Nein als im Ja". Tiefer! Das
heißt doch, daß wir das Bestehende nicht schlechthin verneinen: es ist auf
Grund des Ja Gottes zu seiner Schöpfung primär auch unsererseits ein Ja zu
sagen, zu bekennen, daß in dem Bestehenden selbst die realen Möglichkeiten
liegen, es im Guten zu verändern. Das Eschaton, das Letzte, das auch das Erste
ist, nämlich das nicht als alles Mögliche, sondern als das Reich Gottes des
Schöpfers kommt, produziert Dialektik; das Bestehende ist in seiner
Relativität, als Übergang nicht für nichts da, sondern hat Perspektive. Wer
alles, was besteht, nur betrachten kann im Lichte der Vergangenheit, kann sich
das, was das Reich Gottes darstellt, nur als ein Jenseits vorstellen und zu
allem Bestehenden nur nein sagen (was meistens darauf hinausläuft, das
Bestehende total zu akzeptieren: verändern hat doch keinen Sinn). Wer aber das,
was besteht, betrachtet im Lichte der Schöpfung, kann auch und zuerst ja sagen
und in der und für die bestehende Ordnung hoffen. Dieser Mensch kann sich
freuen, wenn nun tatsächlich Unterdrückte mächtig werden, die Objekte der
Ausbeutung Subjekte der Befreiung. Er weiß auch wie jeder andere, daß das
Projekt einer klassenlosen, herrschaftsfreien Gesellschaft bisher noch nicht
gelungen ist. Aber er bekennt (mit den Worten des Kommunistischen Manifestes):
"Die Geschichte aller bisherigen
Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen". Bisherig, mit anderen
Worten: er weigert sich, aus dem, was bisher geschehen ist, die Schlußfolgerung
zu ziehen, daß die Geschichte überhaupt mißlungen ist.
Selbstverständlich
hofft er nicht für jede bestehende Ordnung oder für die bestehende Ordnung im allgemeinen.
Nicht nur das Nein, auch das Ja Gottes hat eine bestimmte Richtung, die
Richtung des Exodus des Sklavenvolkes. Aber diese Richtung, diese Bewegung
findet nicht statt jenseits des Versuches dieses Volkes, nun auch eine neue
Ordnung zu errichten, nicht ohne Beamte, Armee und Polizei. In dieser und auch
für diese bestehende Ordnung betend und arbeitend hat Israel sich zu bewähren.
Will ich nun damit
sagen, daß es die Aufgabe von Theologie und Kirche ist, den real existierenden
Sozialismus zu legitimieren? Keineswegs. Der Sozialismus braucht eine solche
Legitimation nicht, er ist ja Wissenschaft und eine mit dieser Wissenschaft
verbundene Praxis.(...)
Es geht also gar nicht
darum, daß die Theologie ihre Sache - die Verkündigung des Evangeliums - der
Sache des real existierenden Sozialismus unterordnen muß, daß sie, endlich befreit
aus ihrer Bindung an 'Kaiser und Tribun', sich nun bindet an die Ideologie des
Marxismus-Leninismus. Für den Sozialismus zu sein ist die eigene Freiheit eines
Christenmenschen; seine eventuelle sozialistische Entscheidung ist primär mit
den Mitteln seiner politisch-praktischen Vernunft zu verantworten.
Es geht aber wohl
darum, diese Freiheit zur Sachlichkeit möglich zu machen, zu befreien aus
solchen ideologischen Bindungen, die Sachlichkeit praktisch unmöglich machen,
zum Beispiel aus der Bindung an eine Ideologie, die behauptet, daß ein real
existierender Sozialismus per definitionem verwerflich sei, weil er eine
bestehende Ordnung sei.
Und ich denke, daß die
Versuchung für uns linke Theologen in dem und außerhalb des real existierenden
Sozialismus, uns dieser Ideologie auszuliefern, viel größer ist als die Gefahr,
'marxistische' Theologen zu werden. Eher sollten wir uns vorsehen, daß wir uns
nicht 'ärgern' an dem menschlichen, allzumenschlichen Gesicht des real
existierenden Sozialismus, daß wir ihm gegenüber nicht absolut skeptisch werden
und zwischen diesem zweifellos häßlichen und oft auch langweiligen Unternehmen
und dem Reich Gottes keine totale Trennungslinie ziehen, so daß alles, was
besteht, nur zu Grunde geht. Das ist meiner Meinung nach eine verfeinerte,
raffinierte Form der Legitimierung des in unserer Welt noch immer herrschenden
Anti-Sozialismus/Kommunismus, eine Legitimierung auch der damit verbundenen
Ideologie des historischen Pessimismus: das Reich Gottes als religiöse
Unterbauung des fatalen Gedankens, daß die Geschichte ein Fiasko sei.
Hier gilt es auch
nüchtern zu bedenken, daß der real existierende Sozialismus zwar eine Weltmacht
bildet, aber daß auch der real existierende Kapitalismus in seiner
imperialistischen Gestalt eine solche Weltmacht ist und entscheidend die
Möglichkeiten des Sozialismus eingrenzt: ökonomisch, politisch und nicht
zuletzt ideologisch. Den real existierenden Sozialismus als historische
Möglichkeit bejahen heißt deshalb auch, ihn als begrenzte Möglichkeit akzeptieren. Die bestehende sozialistische
Ordnung ist nicht einfach 'establishment', sie ist noch immer zuerst eine
bedrohte Ordnung, steht selber notgezwungen noch immer tiefer im Nein als im
Ja. Und ebenso nüchtern gilt es zu bedenken, daß die Diktatur des Proletariats
auch in einer vollkommenen Form, wie sie in Wirklichkeit nicht vorkommt, einfach
einen repressiveren Eindruck machen muß als die Diktatur der Bourgeoisie. Die
letztere hat ja eine ganze Menge von Möglichkeiten, ihre Gegner zu
disziplinieren, bevor sie unmittelbar, sichtbar repressiv wird, nämlich alle
die Möglichkeiten, die die kapitalistische Produktionsweise als
Produktionsweise bietet: wenn ein Manuskript im kapitalistischen Teil der Welt
nicht veröffentlicht wird, ist das im allgemeinen nicht explizite Zensur,
sondern wird begründet mit den Gesetzen des Marktmechanismus, und aus demselben
Grunde werden Menschen entlassen oder zum Schweigen verurteilt, zur Anpassung
gezwungen. In diesem Sinne ist die kapitalistische Weit tatsächlich eine
'freie(re)' Welt, während der real existierende Sozialismus, wenn er repressiv
wird, das auch ganz offen und ungeschützt ist.
Was wir, die linken
Theologen, tun könnten, aber viel zu selten tun, ist: statt den real existierenden
Sozialismus pauschal zu verachten, den Leuten Mut machen, bei der Sache zu
bleiben. Womit ich meine, daß wir lernen und dann auch lehren müssen, im
Sozialismus den Mut nicht zu verlieren, für die Sache des Sozialismus sachlich
zu kämpfen, daß wir lernen und lehren müssen, uns nicht zu verlieren in eine
totale Kritik, eine totale Utopie, die objektiv zu nichts führt.
Und erst, wenn wir das
zu erkennen gelernt haben, daß es ein evangelisches Gebot ist, nüchtern und
wachsam zu sein, kann auch richtig verstanden werden, daß das Gebot des
Evangeliums lautet, das Reich Gottes
zu predigen, das Reich, das nicht von
dieser Welt ist, und daß es deshalb geboten ist, nun auch 'enthusiastisch'
'schwärmerisch' zu sein. Dann können und müssen wir auch nüchtern und begeistert zugleich aussprechen, daß der real
existierende Sozialismus Gott sei Dank nicht das Ende aller historischen
Weisheit ist, sondern im wahrsten Sinne des Wortes eine Übergangsgesellschaft. Wir würden dem real existierenden Sozialismus
einen sehr schlechten Dienst erweisen, wenn wir ihn als ein Paradies
darstellten statt als den sozialistischen Staat, der er ist. (...)
Wir dürfen dem, was
Brecht "die Mühsal der Ebenen" genannt hat, nicht utopisch-religiös
aus dem Wege gehen, sie den armen SED-Genossen überlassen und uns selber einer
totalen Kritik widmen, die sich nicht in die konkrete Problematik hineindenkt,
sondern dieser vornehm entflüchtet. Wir dürfen diese Mühsal aber ebensowenig
beschönigen. Das wäre genauso unsachlich und würde gerade Unglauben, Skepsis,
Resignation, Aussteigertum produzieren, gerade den "Geist, der stets
verneint", den Geist, der uns linke Theologen immer wieder in Versuchung
führt.
Wir dürfen den real
existierenden Sozialismus weder verachten noch allzu feierlich betrachten. Ich
wollte auch eine solche Feierlichkeit nicht befürworten, indem ich der
Verachtung in der typischen Gestalt einer linken Theologie widersprach, die ihr
Prinzip Hoffnung gegen die alltäglichen Kämpfe ausspielt und so in den (Un)mut
der Verzweiflung führt. Jenseits von Verachtung und unkritischer Lobhudelei
liegt die Sachlichkeit, von der wir hoffen dürfen, daß sie nicht für nichts
ist.
"Schwerter zu Pflugscharen"?
Stellungnahme der Redaktion zur "Aufnäherfrage"
(1982)*
Mehrere Leser baten
uns, zu "Schwerter zu Pflugscharen" Stellung zu nehmen. Wir wollen
uns diesem Wunsch nicht entziehen. Aber wir halten die Frage für wichtiger, wie
Christen wirksam und vernünftig dem Frieden konkret darin dienen, daß sie
helfen, die Raketenstationierung in Westeuropa zu verhindern und also die
Gefahr eines Atom-Blitz-Krieges in Europa zu verringern, und daß sie weiterhin,
wie in den letzten Jahren begonnen, ihr Verhältnis zur sozialistischen
Gesellschaft in der DDR entkrampfen und nicht, kaum daß aus den USA wieder Töne
des Kalten Krieges laut werden, ihrerseits in einen "kalten Kirchenkrieg"
hineinschlittern. Denn er würde die Zusammenarbeit von Christen und
Nichtchristen für den Frieden erheblich belasten.
Nur in diesem größeren
Zusammenhang läßt sich die "Aufnähergeschichte" verstehen. Und dabei
ist nicht zu vergessen, daß wir, als die SOFD-Kampagne **
nicht das erwünschte Ziel und Ausmaß erreichte, gewisse Leute sagen hörten,
dann müsse man "sich was Neues einfallen lassen".
Das Friedensmahnmal,
das die SU der UNO schenkte, symbolisiert zum ersten den Appell an die
Vereinten Nationen, am Ziel einer vollständigen Abrüstung festzuhalten, zum
anderen das Angebot des kommunistischen Landes, dessen Geschichte mit dem
Dekret über den Frieden begann, auch mit Andersdenkenden für den Frieden zu
kooperieren. Es steht ja unter dem Mahnmal ein Wort, das zuerst Juden, Christen
und Muslims verpflichtet. ***
Als Christen in der
DDR dies Symbol zum Abzeichen machten, wollten viele damit zeigen, daß sie
nunmehr dies Angebot aufnähmen in dem Sinne: "Wir sind gemeinsam mit den
Kommunisten für Abrüstung!" Ein Abzeichen aber muß eindeutig sein. Jetzt
mißbrauchen diejenigen, die Polen destabilisieren wollten, indem sie das Wort
"Solidarität" mißbrauchten, um die Arbeiterklasse zu spalten, dieses
Symbol dazu, die Friedensbewegung zu spalten und die DDR zu destabilisieren.
Seitdem ist das Abzeichen mehrdeutig. Andere zeigen jetzt damit: "Ich bin
für Wehrlosigkeit des Sozialismus". Aus einem Zeichen der Kooperation für
den Frieden ist ein Zeichen der Konfrontation mit dem Sozialismus geworden. An
diesem Zeichen kann man keine Gleichgesinnten mehr erkennen, und damit ist es
sinnlos geworden.
Solch Diebstahl
ereignet sich in der Geschichte der Kirche wie des Sozialismus nicht zum ersten
Male. Was uns Christen betrifft, so brauchen wir uns nur zu fragen, was aus dem
"Gott mit uns" von Jes. 7,14 geworden ist, als es auf
Koppelschlössern stand? Diesmal sind Friedensfreunde kommunistischer wie
christlicher Provenienz die Geschädigten. Sollen sie darüber streiten, ob das
Symbol unwiederbringlich verloren sei oder wer es sich habe stehlen lassen?
Nein!
Auf das doppeldeutig
gewordene Zeichen kann man verzichten, muß man verzichten, gerade weil die mit
ihm bezeichnete Kooperation aller für den Frieden und das mit ihm bezeichnete
Endziel unverzichtbar sind.
Christian Stappenbeck Hanfried Müller
Zur "differenzierten Zustimmung" des WAK zum
DDR-Staat
Aus einer Stellungnahme des WAK zu einer Anfrage
der Kirchlichen Bruderschaft im Rheinland (1982)*
Im "Rundbrief 1/82 der Kirchlichen Bruderschaft im Rheinland hieß es:
"Nach der
Herbsttagung ... hatte ... ein Mitglied unserer Bruderschaft ... angefragt, ob
Vertreter des Weißenseer Kreises wegen ihrer differenzierten Zustimmung zum
DDR-Staat und auch seiner Sicherheits- und Militärpolitik für uns als
Kirchliche Bruderschaft der richtige Gesprächspartner seien. Wenn wir uns
selbst als Teil der Friedensbewegung in der Bundesrepublik verstünden, dann sei
unser Gesprächspartner in der DDR die dortige, von kirchlichen Gruppen
getragene Friedensbewegung:"
Der Weißenseer
Arbeitskreis nahm dazu in folgendem Brief an die Kirchliche Bruderschaft im Rheinland Stellung:
(...)
4.
Sie beschreiben unsere Stellung zu Staat und Politik in der
DDR als 'differenzierte Zustimmung'. Das trifft sicher zu. Der WAK ist kein
monolithischer Block. Was uns eint, ist eine theologische Grundhaltung, die
insbesondere im Darmstädter Bruderratswort und in den Sieben Sätzen über die
Freiheit der Kirche zum Dienen ** bezeichnet ist. Sie schließt gewisse
kirchenpolitische und politische Optionen ein, in denen wir zwar durchaus in
Einzelentscheidungen untereinander differieren, aber darin einig sind, daß wir
die Erhaltung des Friedens für unsere politische Hauptaufgabe halten, unsere
Pflichten und Rechte als Bürger eines sozialistischen Staates um des Gewissens
willen ernst nehmen und jeglichem Antikommunismus und Klerikalismus
widerstehen.
5. Ihren Satz über die
'von kirchlichen Gruppen getragene Friedensbewegung' in der DDR können wir so
allerdings nicht bestätigen:
a) In der DDR haben
seit dem Stockholmer Appell auch Christen die allgemeine, internationale, für
alle offene Friedensbewegung unterstützt. Durch Personalunion vieler seiner Mitglieder
war auch der WAK mit dem Friedensrat der DDR und der Weltfriedensbewegung eng
verbunden und ist es noch.
b) Die durchgängige
Behauptung in der bürgerlichen Presse Ihres Landes, 'die' Friedensbewegung in
der DDR sei spezifisch kirchlich und in ihrer Arbeit behindert, ist antikommunistische
Propaganda. Dieselben Kreise, die bis vor kurzem von 'der' 'kommunistischen
Friedensbewegung' redeten, die als Tarnorganisation BRD-verfassungsfeindlicher
Art verleumdet wurde, sprechen nun von 'der' 'unabhängigen', 'alternativen'
oder 'kirchlichen' 'Friedensbewegung', die in der DDR behindert und schikaniert
werde. Tatsächlich versucht man hier, den Begriff 'Frieden' als Schutzschild
für Gegnerschaft gegen das sozialistische System zu benutzen. Das ist gerade
darum verlockend, weil das sozialistische System bestrebt ist, alle Friedensbewegungen
zu schützen und zu dulden, selbst wenn sie ihm kritisch begegnen.
c) Wir verstehen, daß
hier für engagierte Beobachter in nicht-sozialistischen Ländern Probleme
aufbrechen. Je deutlicher in einem Lande das imperialistische System in
Erscheinung tritt, um so unvermeidlicher wird dort eine Friedensbewegung auch
systemkritische Züge annehmen. Der Gedanke, Systemkritik und Friedensengagement
gehörten notwendig zusammen, liegt dann sehr nahe. Aber er beruht unseres
Erachten auf einer falschen Verallgemeinerung. Wir geben zu bedenken: Sollte
die Friedensbewegung nicht konkret ihre Wertung der Systeme an deren Verhalten
zum Frieden prüfen und nur dort, wo ein System 'friedenskritisch' wird,
ihrerseits 'systemkritisch' werden?
(...)
6. Wenn es um den
Frieden geht, soll man mit jedem sprechen. Und gerade das Gespräch der
Kirchlichen Bruderschaft im Rheinland mit der sogenannten kirchlichen
Friedensbewegung in der DDR könnte denjenigen, die sich hier gewiß zum Teil
ehrlich und gutwillig engagieren, zu größerer Reife und Klarheit helfen, wenn
es von den rheinischen Schwestern und Brüdern mit der Klarheit geführt wird, mit
der sie selbst die gefährliche Wirkung des NATO-Doppelbeschlusses und des
Antikommunismus erkennen. Wir denken, daß die rheinischen Schwestern und Brüder
hier vielleicht Wesentlicheres als wir selbst an Überzeugungsarbeit für unsere
gemeinsame Sache leisten könnten. Sie würden dabei auch die Schwächen dieser
Friedensemotionen kennenlernen, die einer individuellen, von Kontaktangst
gegenüber säkularer Friedensbewegung beseelten und allzu gesinnungsorientierten
Engführung bestehen, und sie mit überwinden helfen können.(...)
Einige Randbemerkungen zu einigen Randerscheinungen
zwischen Kirche und Kultur in der DDR (1982/83)
von Hanfried Müller
"Dissidenten"
- Unser Thema?
Renegaten des
Sozialismus hat es immer gegeben. Sie liefen offen in das bürgerliche Lager
über. Dort wurden sie propagandistisch verheizt - und dann vergessen.
Abweichungen von der
Parteilinie hat es auch immer gegeben. Sie wurden im Laufe der Geschichte
dialektisch aufgehoben und dienten objektiv aufs Ganze gesehen der politischen
und theoretischen Reifung sozialistischer Ideologie im Prozeß innerparteilichen
Meinungsstreites.
Aber Renegaten und
Abweichler kamen selten zur Kirche. Und die verbürgerlichte Kirche sah in ihnen
- nicht ohne Schadenfreude, daß die Revolution ihre Kinder fresse - immer noch
Kommunisten, die ihr suspekt blieben, auch wenn sie enttäuscht, gescheitert und
mit ihrer Partei zerfallen waren, es sei denn, die fortschrittliche
Vergangenheit solcher Überläufer war verständlich als Jugendsünde, die man mit
ihnen gemeinsam vergessen konnte.
Anders steht es
offenbar hier und heute mit denen, die die Westmedien "Dissidenten"
nennen, ein etwas beschönigender Ausdruck, einst benutzt für Konfessionslose im
"christlichen" Staat - aber bleiben wir mit Vorbehalt bei diesem
selbstgewählten Titel. Dabei verstehe ich unter "Dissidenten"
diejenigen, die sich der Unterstützung von Antikommunisten erfreuen und bedienen,
während sie sich Kommunisten nennen und den realen Sozialismus attackieren,
wenn sie als Genossen ihre Partei angreifen. Einige solcher Dissidenten sind
nicht nur ihrer Partei entlaufen, sondern der Kirche zugelaufen - oder auch von
ihr eingefangen worden, und darüber hinaus findet ihr Lebensgefühl Widerhall am
Rande einiger unserer jungen Gemeinden.
Darum stehen hier
nicht nur die Kommunisten und ihre Partei vor der Frage geistiger Disziplin im
Blick auf ihre Kulturpolitik. Darum stehen hier auch nicht nur wir alle als
bewußte Bürger unserer sozialistischen Demokratie - parteigebundene wie
parteilose - vor der Aufgabe, kulturelle Sauberkeit und den Willen zu
klassischer Reife unserer sozialistischen Kultur gegen den Bazillus der Skepsis
zu schützen, der - mit Subjektivismus, Resignation und Kapitulantentum
durchsetzt - aus der Sumpflandschaft eines benachbarten gesellschaftlichen
Biotops in unsere Kulturlandschaft herüberweht. Darum vielmehr stehen auch wir Theologen vor dem Problem, wie unsere
Kirchen denen, die ihnen hier zulaufen oder zu ihnen überlaufen, begegnen
sollen und was sie ihnen zu sagen haben.
Dabei wollen wir nicht
vergessen: Ähnlich wie die "Chaotenszene" in den imperialistischen
Ländern ist die "Dissidentenszene" bei uns auffälliger, als es ihrer
gesellschaftlichen Bedeutung entspricht. Diese "Sozialismuskritik"
schießt auf wie Unkraut im Acker und täuscht eine Größenordnung vor, die sie
nicht hat; so wie die Kornblumen und Mohnblumen mit ihren leuchtenden Farben
mehr ins Auge fallen als die Überzahl der Ähren in ihrem unscheinbaren Grün und
Gelb. Und auch daran sollten wir denken: Es ist ein Zeichen der humanen Stärke
unserer Gesellschaftsordnung, daß viele "Aussteiger", die einst im
verfaulenden Feudalismus zu Raubrittern wurden und die unter den Bedingungen
des Wolfsgesetzes des Kapitalismus zu Terroristen geworden wären, bei uns nur
zur Feder greifen und nicht zu Bomben und ihre Partei und ihren Staat nur unter
Prestigedruck setzen, aber nicht mit Geiselnahmen erpressen. Gewiß, auch unsere
"Anarchisten des Geistes" lechzen nach spektakulären Auftritten und
neigen zum Herostratentum - jedoch eine Sensation in unserer Gesellschaft
möchten sie zwar sein, sind es aber nicht. Das sind sie nur im Zerrspiegel
antikommunistischer Propaganda, es sei denn, daß wir sie ernster nähmen, als
sie es verdienen, oder sie fürchteten und darum den Kopf vor ihnen in den Sand
steckten.
Trotzdem ist dieses
Thema zweifellos ein heißes Eisen, an dem man sich die Finger verbrennen kann -
zumal als Theologe. Von Anfang an wohnt diesem spezifischen
"Dissidententum" eine Tendenz zu ideologischer Koexistenz inne - seinen
ersten Keimen bin ich wohl nicht zufällig 1967 bei der Paulusgesellschaft in
Marianske Lazne begegnet (damals sprach man noch von "Nonkonformisten").
Dieses Dissidententum hat nämlich eine religiöse - gewiß keineswegs eine
christliche - Komponente. Es verwandelt die Wachstumsschmerzen der
sozialistischen Gesellschaft in allgemein menschliche Kategorien, in
Existentialien. Es fühlt sich selbst und die Gesellschaft von fremden,
unveränderlichen und anonymen Mächten beherrscht und widerspiegelt sie ungläubig-gläubig,
skeptisch und utopistisch zugleich, über alle gesellschaftliche Realität höchst
widerspruchsvoll räsonierend und doch hoffnungslos-gläubig ein Jenseits zu
diesem Diesseits im "Prinzip Hoffnung" suchend. Hier fallen ein oberflächlicher
Materialismus und unverdaute Resterinnerungen marxistischer Schulbildung mit
uralten religiösen Sehnsüchten des Menschen nach Frieden mit sich selbst
zusammen. Das Evangelium aber spricht von Frieden mit Gott und nennt auch die
vergeistlichte Selbstsucht des Menschen, die religiöse Selbstsucht, Sünde.
Wer sich mit solchen
Phänomenen ideologischer Koexistenz befassen will, läuft von jeher Gefahr, ihr
selbst zu erliegen. Aber dieses heiße Eisen kann zum Brandherd werden, wenn man
sich scheut, es anzugreifen. Und es ist allemal wichtiger, Brandherde auszuräumen,
als sich selbst vor ein paar Brandblasen zu schützen.
Was treibt sie zu uns,
diese skeptischen Pessimisten?
Kommen sie aus
enttäuschter Liebe zum Sozialismus, als sich verraten Fühlende, oder aus
enttäuschter Eitelkeit und schon bereit zum Verrat? Ähneln sie seelisch
Verwundeten, die ins eigene Feuer geraten sind, oder im Klassenkampf
Erkrankten, die an der notwendigen Disziplin zerbrochen sind, weil ihnen die
Lösung der Dialektik von Initiative und Pflicht, von Verantwortung und Gehorsam
mißlang, weil es ihnen an der Weisheit gebracht, die Kleist's Drama des
"Prinzen von Homburg" durchzieht? Oder erinnern sie mehr an Coriolan,
den römischen Feldherrn, der aus gekränktem Ehrgeiz die Fronten wechselte?
Kommen sie als Flüchtlinge, als Überläufer oder als Diversanten?
Kommen sie, weil sie
in der Kirche einen "Freiraum" wittern, in dem man gesellschaftlich
unkontrolliert, darum aber auch politisch verantwortungslos, quälende Probleme
erörtern kann ohne den Zwang, sie zu lösen? Kommen sie, weil man in einigen
unserer Kirchen so billig Beifall findet, wenn man gegen den Sozialismus
aufgestaute Emotionen entlädt, weil man hier nur selten auf Widerspruch stößt,
wenn man politische Unreife zeigt, weil hier so viel von
"Entscheidung" geredet und so selten verantwortlich entschieden wird,
weil hier ewiges Suchen, das niemals finden möchte, so leicht als Freiheit von
"Ideologie" bewundert wird und weil hier Neutralismus und
Nonkonformismus oft als Freiheit gelten?
Kommen sie auf ihrem
Wege von Ost nach West bei uns vorbei, weil sie mancherorts in unseren Kirchen
ein Stück der westlichen Welt mitten in der sozialistischen Gesellschaft zu
sehen meinen? Benutzen sie uns als Schleusen, um sich, wie sie vielleicht
meinen, heben und in Wirklichkeit senken zu lassen auf das Niveau des
Wasserspiegels einer anderen gesellschaftlichen Ordnung und Mentalität, die
attraktiv auf sie wirkt, weil ihnen deren Anarchie als Freiheit erscheint? Denn
die dort - personal wie sachlich - herrschende Vereinzelung des
Einzelnen erspart ihnen, die die Welt emotional meistern möchten, die Mühe des
Denkens, das alles im Zusammenhang und aus dem Zusammenhang begreifen,
analysieren und konstruieren muß.
Personal ist ja dort das Individuum sich selbst
das erste Problem. Nicht in seinem Einfluß auf die Gesellschaft, sondern in
seiner Unabhängigkeit von ihr sucht es seine "Freiheit". Das
"Ich" fragt auf sich selbst bezogen und eigentlich a-sozial nach
seiner "Identität"; dort geht es in der "Kreativität" mehr
um die Subjektivität des Schaffens als um die Objektivität des Werkes; dort
gilt im Konkurrenzkampf die "Originalität" von Ideen mehr als ihre
Wahrheit, und Mode gilt mehr als Fortschritt; dort kann man im schnellen
Wechsel ideologischer Formen mit neuen "ismen" und Kunstrichtungen in
Marktlücken stoßen wie Aktiengesellschaften und kann mit geistigen
Scheingründungen spekulieren, die nicht nur "Ruhm", sondern auch Geld
bringen.
Sachlich kann man dort das
Konkrete mit dem Isolierten verwechseln; man ist entbunden von der echten
Aufgabe der Kunst, im Mikrokosmos des Konkreten und Individuellen den Makrokosmos
des Allgemeinen und Universalen zu zeigen; dort braucht man die Welt nicht mehr
in ihrem Zusammenhang und in ihrer Entwicklung zu sehen; man kann auf die
geistige Anspannung im Blick auf das Ganze und auf analytische Vernunft
verzichten und sich statt dessen an das reflexiv menschlich-subjektiv
Vereinzelte klammern - vermeintlich wahrhaft konkret und in Wahrheit tödlich
abstrakt, weil vom dialektisch bewegten Zusammenhang und Widerspruch aller
Dinge in ihrer Entwicklung abstrahierend: dort erscheint die Subjektivität als
die Wahrheit.
Ist es dieser Geist
des Relativismus und Indifferentismus - der ja leider aus dem Westen importiert
auch unsere Theologie oft infiziert -, der so attraktiv wirkt, weil er
Scheinlösungen bietet gegenüber der Erkenntnis dialektischer Relationen, die
zwar die Metaphysik überlieferter
Erkenntnis und Moral aufheben, aber doch nicht die Verbindlichkeit des Denkens und Handelns, der Weltanschauung und
Ethik, deren wir dringender denn je bedürfen?
Oder kommen sie
zielbewußter, weil sie Masseneinfluß suchen, weil sie meinen, in unseren
Kirchen die Räder zu finden, auf die sie ihre Transmissionsriemen legen können,
um aus einer Kirche, die wegen ihrer antirevolutionären Vergangenheit immer
noch eine potentiell reaktionäre Institution ist, wenn möglich eine aktuell
konterrevolutionäre Organisation zu machen? Kommen sie - für die sozialistische
Öffentlichkeit nur mittels Westsendern existent - zu uns, um nicht länger Made neben dem Apfel zu sein, sondern um nun
dank kirchlicher Öffentlichkeit in der sozialistischen Gesellschaft Made im Apfel zu werden? Kommen sie als Versucher,
um dem apolitisch-latenten altmodischen Antikommunismus, den es bei uns
natürlich auch noch gibt, den modernen Stempel einer scheinsozialistischen
Sozialismuskritik aufzuprägen, die heute und hier politisch effektiver
erscheint?
Oder aber kommen sie
nur, weil sie Trost suchen in ihrer Verzweiflung am Sozialismus, den sie nicht
mehr verstehen, aber doch noch wollen? Der, auch wenn sie mit ihm zerfallen
sind, noch irgendwie ihre Sache ist? Möchten sie, die doch alles wissen müßten,
was Karl Marx gerade über den Trostcharakter der Religion als ihre Opiumsfunktion
gesagt hat, in tiefer Resignation bei uns anfragen, ob denn nicht wir ihre
Tränen trocknen könnten über den realen Sozialismus, der ein anderer ist als
der, den sie gemeint hatten: Ein gewaltiger Fortschritt, aber eine reale
menschliche Gesellschaft, in der es auch "menschelt", und nicht ein
Reich von Engeln in Menschengestalt?
Und wenn's so wäre,
welchen Trost suchen sie? Den Trost, den der weggelaufene Ehemann darin sucht,
daß seine Freundin ihm bestätigt, seine Frau sei ein Scheusal? Den Trost, der
eine Beichte ohne Reue kennt? Oder den Trost, der stark dazu macht, umzukehren
und die hingeworfene Verantwortung wieder aufzunehmen, den Trost, der Kritik in
Selbstkritik wandelt?
*
Ich habe ein wenig
über Gründe spekuliert oder meditiert - wie man will - , die
"Dissidenten" zur Kirche treiben könnten. Sie alle mögen eine gewisse
Rolle spielen, und viele werde ich nicht erkannt haben. Es geht auch nur um
einen Versuch, die zu verstehen, die wir - kommen sie zu uns - barmherzig
anzuhören, mit denen wir zu sprechen und denen wir dann allerdings auch etwas
zu sagen und nicht einfach eine
Selbstbestätigung zu geben haben. Wichtiger aber als diese Frage nach den
Gründen im Sinne der Beweggründe, der Motive dafür, daß sie zu uns und gerade
zu uns kommen, ist die Frage nach den Gründen im Sinne der Ursachen für ihre Abwendung
von ihrer Partei und für ihre Hinwendung zur Kirche, die ja für sie nicht
Kirche, sondern sozial-politische Alternative zu ihrer bisherigen Umgebung ist.
Zu diesen Ursachen gehört sicher auch, daß wir im Sozialismus so Kirche sind,
wie wir es sind. Und wir werden uns angesichts dessen, daß wir den Dissidenten
als Transitstraße auf ihrem Wege vom Sozialismus zur Konterrevolution
erscheinen, fragen müssen: dürfen und sollen wir in dieser Weise Kirche im
Sozialismus sein? Ich denke, auch durch die Anziehungskraft, die unsere Kirche
offenkundig auf sie ausübt, ist uns die Frage gestellt nach der Reformation der
Kirche, die Frage, wie die "Kirche" zur Kirche wird.
Ursachen
Man müßte weit zurückfragen,
wenn man die Ursachen der pseudosozialistischen Sozialismuskritik so erfassen
wollte, daß man den Versuchungen begegnen könnte, die hier auf unsere Kirchen
zukommen; und darum geht es mir ja. Zwar hielte ich es für ein nützliches
Abfallprodukt meiner Kritik, wenn sie auch unsere sozialistische Kultur ein
bißchen vor den Versuchen, sie nihilistisch zu zersetzen, und vor Erscheinungen
von Resignation und Pessimismus schützte. Aber es geht mir zuerst darum, daß
wir uns als Kirche nicht so mit dem Bazillus dieser
"Sozialismuskritik" infizieren, daß wir selbst zum Infektionsherd
werden und dann als die, die berufen sind, Kranke zu heilen, Gesunde krank
machen.
Solchen Schaden haben
wir schon angerichtet, indem wir nämlich die Foren gestellt haben, auf denen
sich ehemalige Kommunisten, die die Orientierung verloren haben, mit Teilen
unserer Jugend, die noch keine klare Orientierung gewonnen haben, trafen. Wir haben
ihn angerichtet, wo wir politisch Ungebildeten über ökumenische Kanäle geistige
Strömungen fremder Gesellschaftssysteme vermittelt haben, die dort, wo sie
herkommen, meist ganz andere Funktionen haben, als sie hier erhalten, wenn sie
bei uns ankommen.
Um solchem Schaden zu
wehren, frage ich hier nur nach den subjektiv-ideellen Faktoren, die in der
Begegnung der Kirche mit "Dissidenten" eine Rolle spielen. Denn dabei
geht es primär - und beschränkte sich die Kirche legitim allein auf ihren Auftrag,
sogar nahezu ausschließlich - um die Ebene des Bewußtseins und der
Bewußtseinsbildung - durch Gespräche, Argumentation, Meinungsstreit, allerdings
auch durch Ausdruck von Emotionen und Schaffung von Stimmungen. Aber wenn ich
mich solchermaßen in der Kritik auf die geistigen Erscheinungen konzentriere,
darf zweierlei nicht übersehen werden, auch wenn ich es hier nicht behandeln
kann: Zum einen die Realität, daß die Kirche als gesellschaftlich anerkannte
religiöse Institution einen "Freiraum" bietet und als
gesellschaftlich relevante Organisation Kontakte vermittelt - und dabei
keineswegs nur geistig und verbal, sondern höchst materiell und real Politik
macht. Und zum anderen ist jede Betrachtung des Problems dieses
"Dissidententums" oberflächlich, die nicht die ihm zugrundeliegenden
ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren wenigstens andeutungsweise
mitbedenkt. Sie spielen eine viel grundlegendere Rolle als die verschiedenen
ideologischen Ausdrucksformen dieser angesichts der historischen Entwicklung
Irritierten.
Zu diesen Faktoren
gehört zum Beispiel - um hier mehr als Beispiele zu bieten, bedürfte es einer
grundsätzlicheren Analyse - , daß Denkschablonen und Verhaltensmuster von
Künstlern und Intelligenz aus der Zeit kleinbürgerlicher Existenz dieser Kreise
im Kapitalismus natürlich auf die Erben dieser Schicht auch noch im Sozialismus
nachwirken. Zwar kooperieren sie im Sozialismus mit der Arbeiterklasse. Aber
damit allein sind sie natürlich noch nicht in der Lage, mit den Problemen des
internationalen Klassenkampfes und ihrer Dialektik intellektuell, moralisch und
emotional selbständig fertigzuwerden. Gerade in internationalen Fragen wie der
Frage des Gegenübers der Weltsysteme und des Frieden neigen sie dazu, neutral
zwischen den Klassen zu schwanken. Dazu gehört auch, daß die Antennen in diesen
Köpfen noch ansprechen auf das Krisenbewußtsein und die Krisenideologien, die
in kapitalistischen Ländern gerade relativ fortschrittliche Teile der
Intelligenz unter der Einwirkung der Krise erfassen. Dazu gehört ferner die
Nachwirkung der Tendenz, solche ideologische Widerspiegelung der imperialistischen
Krise formalistisch und verkehrt auf unsere Gesellschaft zu übertragen und sie
als Ausdruck für die Belastung zu benutzen, der unsere sozialistische
Wirtschaft und Gesellschaft keineswegs nur durch internationale
Krisenauswirkungen ausgesetzt ist, sondern vielmehr durch die Wiederaufnahme
des kalten Krieges mit einem so noch nicht dagewesenen Rüstungsdruck und
gleichzeitiger wirtschaftlicher Aggression. Dazu gehört sicher auch die
Schwierigkeit, geduldig, diszipliniert und organisiert den optimalen Umgang mit
den Instrumenten des demokratischen Zentralismus und der sozialistischen
Demokratie einzuüben, ohne gleich bei jedem Lehr- oder Lernfehler depressiv
über "Diktatur" zu jammern oder manisch nach
"Basisdemokratie" zu rufen.
"Dogmatismus"
- Ein "rotes Tuch"
Der wissenschaftliche
Sozialismus ist keine Ersatzreligion. Von dieser These nehme ich nichts zurück.
Der wissenschaftliche Sozialismus ist seinem Wesen nach auch kein Ersatz der
Religion. Dabei verstehe ich unter Religion die Neigung des natürliche
Menschen, sich zum Trost und zur Erklärung der Welt "Götter zu
machen", sich unbeherrschten Mächten in Natur und Geschichte willig zu
unterwerfen, sie "anzubeten", statt "sich die Erde
untertan" zu machen. Daß der Kommunismus weder Ersatzreligion noch
Religionsersatz ist, schließt aber nicht aus, daß er immer wieder einmal
manchen Individuen subjektiv die Religion ersetzte und daß sie sich zu ihm
"religiös" verhielten. Langwierig und widerspruchsvoll nämlich stirbt
die Religion in der historischen Übergangsepoche. Sie lebt noch, indem sie
stirbt; und sie stirbt schon, indem sie noch lebt.
Denn noch nicht die Erkenntnis der historischen
Gesetzmäßigkeiten allein, sondern erst ihre gesellschaftlich wirkungsvolle Anwendung hebt das religiöse Bewußtsein
auf. "...wenn der Mensch also nicht mehr bloß denkt, sondern auch lenkt,
dann erst verschwindet die letzte fremde Macht, die sich jetzt noch in der
Religion widerspiegelt" (Engels) Solange
"der Mensch", das heißt die Gesellschaft, historisch-gesellschaftliche
Prozesse noch nicht im Weltmaßstab beherrscht, wird sich das religiöse
Bewußtsein reproduzieren.
Dabei ist es
zweierlei, ob mumifizierte, inhaltlich abgestorbene religiöse Elemente, die in
der Vergangenheit in der religiösen Erziehung Verhaltensmuster geprägt haben,
noch bei solchen proletarischen Massen nachwirkten,
die bereits von bewußten, wissenschaftlichen Sozialisten geführt wurden - ein
Erscheinungsbild, das in den kommunistischen Massenparteien in der ersten
Hälfte unseres Jahrhunderts auftrat -, oder ob eine mit der Arbeiterbewegung in
Berührung gekommene Intelligenz in kritischer Distanz zum realen Sozialismus
eine moderne Religiosität im Verhältnis zum Sozialismus reproduziert, wie wir das seit dem Ende der fünfziger Jahre im
Randfeld sozialistischer Kultur beobachten.
Im ersten Falle ging
es eigentlich nur formal um etwas Schein-Religiöses. Die Opfer des bürgerlichen
Bildungsmonopols mußten sehr schnell einen intellektuellen Nachholbedarf
decken, um ihrer historischen Mission zu entsprechen. Dabei rangierte - auf
Grund historischer Notwendigkeit und also nicht ohne historisches Recht! - die
Aneignung schon gewonnener Erkenntnis anderer vor eigenem Erkennen, Lernen vor
Denken, der Wille zur Lösung vor dem Erfragen der Probleme. Die Dialektik
selber wurde metaphysisch angeeignet, ein Prozeß des Erkennens wie ein Lehrsatz
des Erkannten gelernt. So entstand ein Widerspruch, der vorwärtsschreitend
gelöst werden mußte. Der Widerspruch, daß die Quelle
historisch-dialektisch-materialistischen Prozedierens, das Schrifttum der
Klassiker zum "Schriftkanon" im Sinne "heiliger Schriften"
geworden war, daß die Erkanntes fixierenden, aber problemgeladenen und als
Instrumentarien des Fortschritts formulierten Formeln der Partei als
"Dogmen" mißverstanden worden waren und daß die historischen Führer
der Arbeiterbewegung, in denen sich deren Reife und Unreife wie die Strahlen in
der Linse sammelt und bricht, nicht mehr nüchtern als geschichtlich bestimmte
und bestimmende Persönlichkeiten in ihrer Größe, Tragik und Schwäche gewürdigt,
sondern wie "Heilige" in einem Personenkult verehrt worden waren.
"Kanon",
"Dogma" und "Lehramt" schienen gegeben. Die Geschichte von
der Urgemeinde zum "Frühkatholizismus" schien in der Geschichte der
kommunistischen Bewegung eine Analogie zu finden. Das Trugbild einer
"konstantinischen" Wende bei der Realisierung der Idee des
Sozialismus durch materielle Gewalt dämmerte auf. Unbesonnenen, die nicht
dialektisch, materialistisch, historisch denken konnten, bot sich verführerisch
der Stoff zu "Religionskritik" am wissenschaftlichen Sozialismus. Sie
hielten, was in der Kirche illegitim war, in der Partei, die ihnen zur Kirche
wurde, für ebenso illegitim und nahmen es zum Anlaß, die Partei zu
"reformieren".
Muß ich hinzufügen:
der Schein täuschte - und andeuten, inwiefern? Zum einen: Was hier am
Sozialismus hervorgehoben wird, als sei es der Konsolidierung im
Frühkatholizismus vergleichbar, das war ja gerade des letzteren Verweltlichung.
Durch Kanon, Dogma und monarchischen Episkopat hat sich der Katholizismus als diesseitige Macht realisiert und
behauptet. Damit wurde der Auftrag der Kirche verraten - darum, weil die Kirche nicht berufen ist, weltliche
Macht auszuüben. So aber verrät doch eine politische Partei nicht ihr zur
Revolutionierung "weltlicher Macht" gedachtes Programm. Allenfalls
kommt es zu einer Disproportion zwischen den dialektisch-fortgeschrittenen
Inhalten ihres Bewußtseins und metaphysisch-zurückgebliebenen Formen seiner
Zueignung und Aneignung, die überwunden werden muß. Zur Erklärung dieses
Phänomens eines zeitweiligen und teilweisen Stagnierens in Scholastik,
Dogmatismus und Personenkult aber sind gerade nichtreligiöse Vergleiche
inhaltlich treffender:
Zwar wird das Gebäude
des Kommunismus auch darum gebaut, damit jedes Glied der Gesellschaft nach
seinen persönlichen Fähigkeiten die gesellschaftliche Möglichkeit hat, ein Marx
und Engels zu werden; aber unter den Bedingungen des Kapitalismus und der
Übergangsepoche ist das unmöglich. Weder Architekten noch Maurer können schon
in dem Haus wohnen, an dem sie gerade bauen. Ihr Bewußtsein wird vom Bauplan
nach vorn orientiert. Wäre es nur Widerspiegelung des schon Gegebenen, bliebe
es zurück. Erst mit dem Sozialismus entstehen die Bedingungen, unter denen sich
das sozialistische Bewußtsein selbständig und diszipliniert als sachbezogen
programmatisches Denken aller
entfalten kann. Wollten wir den Sozialismus aufbauen unter der Bedingung, daß
nur - im subjektiven Sinne des Wortes - "wissenschaftliche" (soll
heißen: theoretisch selbständig die historische Konzeption des Sozialismus
weiterdenkende) Sozialisten mitarbeiten könnten und dürften, dann müßten wir
den Sozialismus zur Freude der Bourgeoisie aus der Programmierung historischer
Wirklichkeit zurückverwandeln in das Phantom einer Utopie und ihn in der
historischen Realität auf den St.-Nimmerleinstag vertagen. Es ist leicht, sich
Anlaß zur Kritik am realen Sozialismus zu ersparen, indem man sich die
Realisierung des Sozialismus erspart.
Diese Realisierung
kann aber nur so geschehen, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit, die es zu
verändern gilt, zugleich noch einwirkt und nachwirkt auf diejenigen, die sie
verändern. Die Erbauer des Sozialismus sind ja nicht nur von ihrem Ziel
bestimmt, sondern auch von ihrer Vergangenheit und Geschichte. Und überdies
setzt ihnen der Imperialismus in der Konfrontation Grenzen, die sie nicht
utopisch ignorieren oder ahistorisch negieren können, wenn sie sie im
historischen Fortschritt überwinden wollen.
So entstehen
unvermeidlich innere Widersprüche, die selbstkritisch analysiert und objektiv
gelöst werden müssen. Individuelles Räsonieren und intellektuelle Beckmesserei
helfen hier nichts. Und sogar die selbstkritisch-kollektiven Lösungen führen zu
neuen Problemen auf höherer Ebene. Hob zum Beispiel der XX. Parteitag der KPdSU
die "positiv-religiöse" Selbstherrlichkeit in Personenkult und
Dogmatismus auf, weil sie schon zu lange aus einem Instrument zu einem Hemmnis
der Entwicklung geworden war, so schwankten alsbald einige in einen
Subjektivismus hinüber, der zu "negativ-religiöser"
Selbsterniedrigung neigte, indem er die objektive, kollektive, weltverändernde
Selbstkritik religiös verinnerlichte zu einer sozialistischen Bußbewegung bis
hin zur Selbstzerfleischung. Ein vermeintlicher Reinigungsprozeß setzte ein,
bei dem moralistische "Selbstkritiker" des Sozialismus die Zwiebel
des realen Sozialismus so gründlich schälten, bis schließlich für sie kaum noch
etwas von ihr übrig blieb. Und sie verhielten sich dabei in ihrer destruktiven
Skepsis um nichts weniger doktrinär als die typischsten Dogmatiker in ihrer
optimistischen Selbstsicherheit. Sie teilten übrigens mit den "orthodoxen
Dogmatikern" auch die idealistischen Normen. Nur wo jene den Widerspruch
zwischen diesen Normen und der Wirklichkeit durch Schönfärberei übertünchten,
machten sie aus diesen Normen, die doch Wegweiser zum Ziel sind, ein Gesetz,
nach dem sie die Realität verurteilten, statt schrittweise an den Bedingungen
ihrer weiteren Veränderung mitzuarbeiten.
Bei dieser religiös
verinnerlichten Kritik am realen Sozialismus haben wir es aber nun nicht mehr
nur mit dem Schein des Religiösen zu
tun, mit dem Abstrahlen eines schon erloschenen Sternes wie in der nur
scheinbaren "positiven" Religiosität des Dogmatismus und Personenkults,
sondern mit einer Selbstreproduktion einer Religiosität ohne Religion. Sie
prägt, wenn ich recht sehe, viele am Sozialismus kleinbürgerlich resignierende
Intellektuelle, die zu uns kommen.
Subjektive Religiosität
in der "Sozialismuskritik"
Es dürfte dafür eine Ursache geben, die verschiedene
Wirkungen zeitigt.
In der reaktionär
gewordenen spätbürgerlichen Gesellschaft erreicht die Naturbeherrschung der
Menschen durch Wissenschaft und Technik immer größere Erfolge, während die
Abhängigkeit der Menschen von den von ihnen selbst produzierten
Produktionsmitteln als von einer fremden Macht ebenfalls wächst und die
gesellschaftliche Selbstbeherrschung immer mehr verkümmert. Darum werden zwar
die Bezüge zur materiellen Welt der Dinge und Kräfte immer realistischer im
Bewußtsein erfaßt und die gegenständliche Metaphysik religiöser Welt-Anschauung tritt hinter einem
überwiegend naturwissenschaftlich materialistisch geprägten Weltbild zurück;
darum aber auch werden die gesellschaftlichen Abhängigkeiten immer
phantastischer widergespiegelt und ein subjektiver, ja subjektivistischer
Idealismus steigert sich zu einem religiösen Selbst-Verständnis bis ins Absurde. Das Ergebnis: Die objektive
Religion mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch in Dogma und Ethos stirbt aus,
aber um den Preis, daß eine subjektive Religiosität zunächst aufblüht - vom
blühenden Sektenwesen über die Spielarten einer solchen vermeintlich
christlichen Theologie, die sich selbst als Illusion und zuweilen als religiöse
Demagogie versteht, bis dahin, daß ein Philosoph und Physiker wie
C.F.v.Weizsäcker in mystischer Versenkung nach dem Vorbild asiatischer
Religiosität Elevationen erlebt haben soll.
Aber was solchermaßen
begründet ist in der gesellschaftlich bedingten Disproportion zwischen einer
hochentwickelten Naturwissenschaft, die zur Produktivitätssteigerung
unentbehrlich ist, und einer Gesellschaftswissenschaft, die unterentwickelt
bleibt, weil sie sonst nur die Produktionsverhältnisse problematisieren und
erschüttern könnte, das wirkt natürlich unvermeidlich auch über die Grenzen des
Imperialismus, in dem diese Disproportion notwendig auftritt, hinaus. So wird
es aus drei Gründen auch bei uns, wenn auch mittelbar, partiell und gebrochen,
wirksam.
Erstens: Auch wir
leben in und mit unserer sozialistischen Gesellschaft in einer Gesamtwelt und
Epoche, die zwar grundlegend durch die Aufgabe des Übergangs vom Imperialismus
zum Sozialismus im Weltmaßstab bestimmt ist. Zugleich aber prägt der
Grundwiderspruch des Kapitalismus und die Anarchie seiner Produktion noch die
Weltwirtschaftsbeziehungen insgesamt, und das imperialistische
Expansionsstreben wirkt mittelbar und unmittelbar ein auf die internationalen
Beziehungen. Von Krise und Kriegsgefahr, so eindeutig sie vom imperialistisch
beherrschten Teil der Welt ausgehen, wird die ganze Welt betroffen. Das heißt
aber: Im Weltmaßstab kann "der Mensch", die Gesamtmenschheit, noch
nicht denken und lenken. Hier wirkt
noch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, hier tobt noch der Klassenkampf,
hier droht noch der imperialistische Krieg - und so wird hier noch Abhängigkeit
von unbeherrschten gesellschaftlichen Mächten erfahren, die religiöser
Widerspiegelung zugänglich ist. Weil diese Weltprobleme auch die sozialistische
Gesellschaft in Mitleidenschaft ziehen, können sie auch in ihr, wenn sie
emotional-unreflektiert, ohne nachzudenken, spontan widergespiegelt werden,
Religiosität reproduzieren.
Zweitens: Der
Imperialismus führt gerade gegenwärtig einen erbarmungslosen Vernichtungskampf
mit Rüstungsdruck und Wirtschaftskrieg gegen das sozialistische Lager, um
expansiv aus seiner eigenen Krisensituation auszubrechen. Das erschwert die
Effektivität sozialistischer Planwirtschaft und die ungehemmte
Selbstdarstellung der sozialistischen Demokratie in der kollektiven
Verantwortung aller Bürger, in der Offenheit der Propaganda und im freimütigen
Meinungsstreit. Das zwingt zu Umwegen und Ausweichmanövern. Die Ansprüche an
Leitung und Bürger wachsen. Es wird komplizierter, vertrauensvoll die Massen
zur Überwindung der Schwierigkeiten zu mobilisieren, die Selbstkritik in den
Dienst prinzipienfester Parteilichkeit zu stellen und die Reihen fester zu
schließen, wenn Gegner sich den Anschein geben, hilfreiche Kritiker zu sein. Dabei
wird manches unübersichtlich, und auch Fehler bleiben nicht aus. Wer aber hier
den Überblick verliert, Freund und Feind verwechselt, die hier wirkenden Kräfte
überhaupt nicht mehr zu erkennen und auszunutzen vermag, der wird leicht
angesichts dieser von ihm unerkannten und unbeherrschten Mächte einem
"Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" erliegen und es religiös
widerspiegeln.
Drittens: Unsere
eigenen Ideen herrschen bei uns nicht unangefochten. Vielmehr tönen von jenseits
unserer Grenzen die Ideen der dort herrschenden Klasse in bezaubernder Vielfalt
durch unseren Äther, kunstvoll verpackt und virtuos gestaltet, eine Propaganda,
die - nur auf den Zweck und nie auf die Wahrheit bezogen - die Kunst der
Seelenführung wahrhaft beherrscht. Ein gut Stück der bei uns begegnenden
Neoreligiosität ist Exquisit-Importware aus den Produktionsstätten
ideologischer Kriegführung. Der Sozialismus ist zu stark geworden, um ihn nur
in einem flagranten Antikommunismus von außen zu attackieren, man möchte ihn zugleich
mit einem flexiblen Antikommunismus von innen zersetzen. So versucht man, die
Kraft innerer Widersprüche aus einem Motor des Fortschritts in einen Sprengsatz
der Reaktion zu verwandeln. Hier setzt die ideologische Manipulation ein. Sie
ist am gekonntesten, wo sie die Furcht, manipuliert zu werden, zum
Anknüpfungspunkt macht, um zu manipulieren, indem sie zum Beispiel durch
kritisches Lob in der bürgerlichen Presse diejenigen als "Nonkonformisten",
als frei und unabhängig preist, die eben so abhängig vom Lob des Gegners und
gegnerischen Modeströmungen konform werden.
Unter den Einwirkungen
der zuletzt genannten und anderer Faktoren setzen nun manche
"Dissidenten", die zur Kirche kommen, der sozialistischen
Selbstkritik eine religiöse Kritik des Sozialismus entgegen.
Was meine ich damit?
Ich will sie, die sich von der sozialistischen Gesellschaft kritisch
distanzieren, einmal tiefer zu verstehen versuchen denn nur als Abtrünnige des
Sozialismus, als Überläufer in das Lager des Gegners und ideologische Diversanten
- was alles sie ernstlich zu werden drohen, wenn sie es noch nicht sind. Aber
gerade in dem, was sie menschlich tiefer vielleicht auch sind, führen sie
manche unter uns und vor allem unter unserer Jugend in Versuchung.
Sie meinen doch wohl
irgendwo in ihrem Herzen: "Was nützte es dem Sozialismus, wenn er die
ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner sozialistischen
Seele?" Wenn Brecht als wahrer Realist die Tragik erträgt: "Auch der
Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge... Ach wir, die wir den Boden
bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten nicht selbst freundlich sein.
Gedenket unser mit Nachsicht", dann möchten sie dieser Tragik entfliehen
in ein Jenseits der Belastung des Guten mit dem Bösen.
o So verwandelt sich ihnen die
historische Perspektive, durch Kampf und Widerspruch die Gesellschaft
revolutionär zu verändern, in ein absolutes Endziel; sie benutzen es als Ideal,
das sie schon für das Hier und Heute normativ machen wollen, und kritisieren
unsere geschichtliche Entwicklung nach einer metaphysischen Moral.
o So genügt es ihnen nicht, wenn der
Sozialismus schlecht und recht die Produktionsverhältnisse revolutioniert, die
Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufhebt und nun mit vielleicht noch
härterer Arbeit als zuvor darum ringen muß, die Produktivität zu gewinnen, die
historisch notwendig dort unterentwickelt war, wo er - am schwächsten Glied der
Kette - zu siegen vermochte. Sie möchten, daß er auch die individuellen Probleme
des Menschseins und der Mitmenschlichkeit alsogleich löse, daß es in ihm keine
Schurken mehr gäbe, sondern nur noch sozialistische Heilige: eine Verwandlung
sozialistischer Politik in idealistische Anthropologie. (Natürlich ist das kein
Freibrief für Herzlosigkeit, Egoismus oder Nachlässigkeit in unserer
Gesellschaft. Aber solche Erscheinungen konkret zu überwinden - und darauf
kommt es an - ist schwieriger, als abstrakt "das System" anzuklagen
und dafür Lob bei Antikommunisten zu ernten.)
o So erscheint ihnen die Realität des
Sozialismus mit all seinen revolutionären Errungenschaften und all seinen
revolutionären Härten als etwas Äußerliches, durch die Materialisierung in der
Geschichte gleichsam Beflecktes. Was ist schon das reale Recht auf Arbeit, wenn
diese Arbeit ein Schuften enthält, das nicht zum ersten Lebensbedürfnis werden
kann? Was sind schon niedrige Mieten und die Lösung des Wohnungsproblems für
Massen, wenn diese Wohnungen anspruchsvollen Individualisten als kalte
Schlafsilos erscheinen? Was ist schon der Sozialismus als Friedensordnung, wenn
er noch des Schutzes durch Waffen bedarf? Und was hilft der Primat der
Sozialpolitik gegenüber der Militärpolitik, wenn die Verteidigung der
Sozialpolitik deren Wirksamkeit schwer belastet? Wenn wir auch im Sozialismus
als Kommunisten noch kämpfen müssen und den Sozialismus nicht einfach moralisch
unbeschwert als heile Welt genießen können, ist er uns dann nicht als Idee
mitten im Kapitalismus lieber als so in Wirklichkeit?
o So werden alle Merkmale der zweiten
Phase verinnerlicht und der reale Sozialismus als Veräußerlichung seines
Wesens, als sich selbst entfremdet, als der Selbstfindung bedürftig, als Abfall
vom Ursprung: als Sündenfall negiert.
Die sozialistische Gesellschaft wird nicht kritisch und optimistisch
vorwärtsschreitend verbessert und gestärkt, sondern zur Selbstreflexion, zur
Fehlerdiskussion und zur Umkehr, im Namen des Gesetzes
sozial-utopisch-kommunistischer Ideale zur Buße
gerufen.
Metaphysik -
Individualismus - Verinnerlichung: der Ruf nach dem Gemüt einer gemütlosen
Welt! Das alles dank Rationalismus und Aufklärung nicht mehr unmittelbar in der
Religion gesucht, sondern romantisch in der Kunst als einem Surrogat
gesellschaftlicher Wirklichkeit (das sie nicht ist, aber hier wird) - das nenne
ich die religiöse Komponente der "Sozialismuskritik". Solche Kritiker
sind in einem anderen als dem historischen Sinne des Wortes: religiöse Sozialisten.
Zwar ist ihnen der
naive Kinderglaube an den wissenschaftlichen Sozialismus zerbrochen. Solche
Ent-Täuschung könnte heilsam sein. Sie führt aber nicht zu besserer Erkenntnis,
nicht von einem religiösen zu einem vernünftigen Verhältnis zum
wissenschaftlichen Sozialismus, sondern nur von naiv-religiöser Bejahung zu
skeptisch-religiöser Verneinung, von der Scholastik zur Mystik.
Sie gehen den Weg des
Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft zurück. Jede gegenständliche
Erkenntnis, jede Prinzipienfestigkeit und jede allgemeingültige Formel
attackieren sie als "Dogmatismus". Aber sie stellen dem wirklichen
oder angeblichen Dogmatismus nicht etwa eine vertiefte dialektische Einsicht
entgegen, sondern eine mystisch-verinnerlichte, utopisch-sozialistische
"Gewissensreligion".
Mit dem Pathos
sozialistischer "Reformatoren" setzen sie ihren Subjektivismus gegen
kollektive Parteilichkeit und ihren Objektivismus gegen
historisch-dialektisch-materialistisch gewonnene Objektivität. Diesen
"Protestanten" bedeutet ein unbeschwertes Gewissen alles. In ihm
stimmen sie mit sich selbst überein und sonnen sich im Gefühl der
Selbstidentität. Die sozialistische Gesellschaft aber, die sich mit ihren
Stärken und Schwächen widerspruchsvoll und in Existenzkämpfe verwickelt in
historisch-materieller Gegenständlichkeit realisiert, verfällt ihrer
skeptisch-pessimistischen Kritik. Denn das Gewissen dieser dem Sozialismus entsprungenen
Moralisten bäumt sich auf gegen das, was ihnen als der Sündenfall des Sozialismus
erscheint: gegen seine Befleckung durch eigene gesellschaftliche Macht.
Widerspruch zwischen
Gewissen und Macht?
Das sozialistische
Lager hat sich heute einer imperialistischen Offensive zu erwehren, die in
ihrem Vernichtungswillen nicht zurücksteht hinter dem Angriff vor vierzig
Jahren.*
Ernstlicher denn je geht es heute darum, dem Rückfall der Menschheit in
Barbarei zu wehren. Die Fronten sind ebenso klar wie zu Zeiten des
antifaschistischen Kampfes, und das Gewissen der Menschheit fordert den Kampf
gegen deren Vernichtung. Eines der wichtigsten Instrumente in diesem Kampf aber
ist die sozialistische Staatsmacht. Dies Instrument ist darum ständig zu
verbessern und besser zu handhaben. Dazu hilft sozialistische Selbstkritik. Es
ist aber zugleich energisch gegen jede skeptische Demontage zu schützen. Es ist
eigenartig und mir verdächtig, daß Dissidenten, die Stalin nicht genug
kritisieren können, weil er nicht wachsam genug gegenüber dem Faschismus und
die Sowjetunion beim Überfall nicht stark genug gewesen sei, heute unsere
Wachsamkeit gegenüber dem Imperialismus einschläfern und uns einreden wollen,
die Stärke des Sozialismus läge in der moralischen Größe der Bereitschaft zur
Selbstentwaffnung. In Fragen der sozialistischen Macht darf es keine falsche
Toleranz geben; unsere Geschichte lehrt, wie schrecklich es ist, wenn die Macht
in falsche Hände gerät, und politische Demagogie und vernunftfeindliche
Schwärmerei haben schon einmal dazu geholfen; aber es muß über die Funktion
unserer Macht gesprochen werden, denn ein Selbstzweck ist sie natürlich nicht.
Es gibt genug Argumente gegen die Selbstentmachtung des Sozialismus, wie einige
Dissidenten sie bewußt fordern und andere sie unbewußt fördern.
Manche unter denen,
die heute dem Sozialismus skeptisch begegnen, und viele, auf deren Tradition
sie sich berufen, standen als streitbare Humanisten an der Seite der
Kommunisten im antifaschistischen Kampf. Ihr Gewissen empörte sich mit Recht
gegen die gewissenlose Gewaltanwendung der Barbaren. Auch heute noch ist ihr
Gewissen wach, wo neokolonialistische Unterdrückung herrscht. Und den Aufstand
gegen unterjochende Gewalt mißbilligen die meisten nicht, auch wenn er sich
selbst der Gewalt bedient.
Aber wo sich der
Imperialismus im eigenen Hause den Luxus zivilisierter "Demokratie"
leistet, dort entdecken sie eine wünschenswerte "Kontrolle der
Macht", ohne es ernst genug zu nehmen, daß diese Macht außer Kontrolle
gerät, wenn diese "Demokratien" faschistische Systeme außerhalb ihrer
eigenen Grenzen, aber im eigenen Interesse mit ihrer Wirtschaft, mit ihren
Waffen, mit ihrer gesamten Politik und Propaganda unterstützen oder gar
organisieren. Hingegen wittern sie im sozialistischen Lager überall
"Mißbrauch der Macht". Mit der Forderung, "zuerst vor der
eigenen Tür zu kehren", schaffen sie das idyllische Bild guter Nachbarschaft,
wo Räuber das eigene Haus umstellen. Hätten sie diesen Rat auch den Kommunisten
nach dem Reichstagsbrand, den Juden während der Kristallnacht, der Sowjetunion
bei dem faschistischen Überfall gegeben? Würden sie ihn heute den Schwarzen in
Südafrika geben? Offenkundig nicht! Warum geben sie ihn uns? Warum diese
Neutralität? Warum die Verdächtigung gerade gegenüber dem Sozialismus, daß
organisierte Macht, daß Staatsmacht "böse an sich" sei - egal, welche
Klasse sie wem zugute ausübe? Warum soll das Gewissen allenfalls einwilligen
können in die materielle Gewalt der Empörung gegen das Unrecht, aber nicht in
die Organisation der Macht menschlicher Gerechtigkeit? Warum ein moralisches Ja
zur Rebellion, aber nicht zur Revolution und zur Sicherung ihrer
Errungenschaften?
Fehlt hier der Blick
für das historisch Mögliche und Notwendige, für die unvermeidliche Dialektik
geschichtlichen Handelns, dafür, daß man Ideale nicht so in die Wirklichkeit
überführen kann, daß sie dabei nur Ideale bleiben, sondern daß es das Optimum
ist, die Wirklichkeit zielbewußt in der Richtung eines guten Programms zu
verändern? Möchte man illusionär einen Sozialismus ohne Schwächen, ohne Fehler,
ohne Irrtümer - einen himmlischen Sozialismus? Ihn werden wir nicht auf Erden
bekommen. Haben diese Dissidenten im Grunde dieselben Kriterien wie die
Schönfärber, die sie kritisieren? Klagen sie nach denselben illusionären Normen
dort an, wo jene vertuschen? Verweigern sie die solidarische Mitverantwortung
für Umwege und Irrwege, auch wenn sie unvermeidlich sind? Geht es ihnen in
Wahrheit um Selbstrechtfertigung? Ist für sie das historische Recht der
Menschheit, einer Klasse, einer Partei davon abhängig, daß sie immer alles
richtig macht? Das nenne ich Moralismus.
Aber wer hat denn je
gesagt, der Sozialismus sei die absolut gerechte Gesellschaftsordnung? Wurde
nicht stets nur behauptet, er sei die gerechteste, die heute historisch möglich
ist? Wurde nicht eingeschränkt, daß er in seiner ersten Phase das suum cuique
noch nicht bieten könne? Haben wir bestritten, daß wir ihn mit Menschen
aufbauen müssen, die sich bestenfalls im Prozeß dieses Aufbaus selbst zu
Sozialisten entwickeln - und daß man das merken wird? Wir haben doch gewußt,
daß wir mit der Revolution, deren Ziel der Übergang zur "eigentlichen
Geschichte der Menschheit" ist, eine so gewaltige Aufgabe übernommen
haben, daß vernünftiger Weise weit mehr Fehler, weit mehr Unrecht, weit mehr
Katastrophen zu befürchten waren, als uns unterlaufen sind. Wir waren doch
bereit und fähig, das zu verantworten. Gewiß ist im Blick auf die Zukunft jeder
Fehler, den wir machen, ein Fehler zu viel; aber im Blick auf die Vergangenheit
haben wir trotz aller Fehler keinen Anlaß, vernünftige Selbstkritik in
Selbstkasteiung zu verwandeln. In gewisser Weise ist es doch nur normal, daß
auf dem ungebahnten Wege zur sozialistischen Gesellschaft auch Dissonanzen
auftreten; das ist doch kein Anlaß zu Hysterie und Panik, sondern zu besonnenen
Korrekturen.
Nicht vor dem Problem,
unsere Vergangenheit zu bewältigen, stehen wir, sondern vor der Aufgabe,
unserer Gegenwart gerecht zu werden und damit unsere Zukunft zu gewinnen. Die
Erfahrungen unserer Geschichte können uns dabei nur stärken, wenn wir sie nicht
skeptisch entstellen.
Warum verstehen manche
das nicht? Liegt das daran, daß sie oder Menschen, mit denen sie sich
identifizieren, die Aufgabe der Mitverantwortung für die sozialistische Macht
nicht bewußt und selbstbewußt übernommen haben, sondern mehr spontan einem
Trend folgend hineingeraten sind? Ist das Dissidentenproblem von heute die
Kehrseite eines Mitläuferproblems von gestern? Höchstens partiell und
individuell. Es ist ja historisch normal - und man kann das darum nicht
diskreditieren -, daß Menschen in revolutionären Umbruchphasen spontan zur
revolutionären Bewegung stoßen und daß sie in Aufbauphasen fast unbewußt in
politisch-gesellschaftliche Bindungen hineinwachsen. Aber das politische
Bewußtsein muß dann die politische Existenz einmal einholen. Geschieht das
nicht, wird der Betroffene in eine persönliche Krise seines
politisch-ideologischen Bewußtseins geraten. Die Versuchung ist dann groß, den
Selbstwiderspruch zwischen der eigenen politischen Existenz und dem eigenen
politischen Bewußtsein in die Gesellschaft zu projizieren und das eigene
politische Scheitern als das Scheitern der Gesellschaft zu widerspiegeln.
Jedenfalls die Jüngeren
unter den Skeptikern, von denen ich spreche, trügen dafür nicht ganz allein die
Verantwortung. Wir inzwischen Älteren haben ihnen vielleicht nicht
kontinuierlich genug unsere Erfahrungen weitergegeben. Fixiert auf die
unabweisbar notwendige Auseinandersetzung mit dem je heutigen ideologischen
Angriff des Gegners haben wir eventuell zu wenig die Erkenntnisse vergangener
Schlachten vermittelt. Und wenn wir sie vermittelt haben, haben wir dann
womöglich ein wenig idealisiert und so Illusionen geweckt? Haben wir genügend
mit dem Triumph über unsere Erfolge auch die Härten des Kampfes vermittelt und
die Voraussicht, daß die nach uns Kommenden weiterkämpfen müssen? Haben wir
auch von unseren Mißerfolgen und Niederlagen gesprochen und erzählt, was wir
daraus gelernt haben - und daß wir sie überstanden haben?
Haben wir überdies
vielleicht manchen unter unserer Jugend im Lernen überfordert und im Denken
unterfordert - um den Preis, daß er nicht verstehen konnte, was er gelernt
hatte? Haben wir (im Verhältnis zwischen Materiellem und Ideellem) einigen von
ihnen vielleicht materiell zu viel geboten und ideell zu wenig, so daß sie nun
über "Wohlstand" klagen und zugleich Mangelerscheinungen an
Bewußtsein und Charakter zeigen? Haben wir selbst zuweilen zu früh gemeint,
nach unseren Kämpfen nun einmal Ruhe und Komfort verdient zu haben, uns mit dem
Erreichten zu genügsam begnügt und so ein falsches Beispiel gegeben? Haben wir
unserer Jugend zuweilen zu sehr geschmeichelt, statt sie zu fordern, und so den
Boden bereitet, auf dem andere sie nun verführen, indem sie mit dem Pathos
auftreten, ihnen "die Wahrheit" zu sagen? Fragen, die man sehr leicht
völlig falsch verallgemeinern kann! Fragen aber auch, die man sehr leicht zum
eigenen Schaden verdrängen kann.
Wir wollen alle
mitnehmen und keinen zurücklassen. Aber wir werden alles, was da versucht sein
mag, zu dissentieren, nur mitnehmen können, wenn wir es nicht umwerben oder uns
gar erpressen lassen und dem Falschen nachgeben, sondern nur, indem wir vor klare
Entscheidungen stellen und selbst vorangehen. Die Führungsfunktion gegenüber
dem Zuge der Gesellschaft ist transparenter, wo eine Leitung den Zug zieht, als
wo eine Verwaltung den Zug schiebt - was nicht ausschließt, daß es auch
Situationen gibt, in denen die Lokomotive von hinten drücken muß.
Nicht in verbaler
Apologetik, sondern in der Bewährung sozialistischer Macht werden wir davon
überzeugen, daß diese Macht eine humanistische Macht ist: Vermögen und Freiheit
zur Sicherung des Friedens, zur Beherrschung der Produktion, zur Ordnung der
Gesellschaft. Nur so werden wir den Dissidenten, die noch zwischen den Fronten
pendeln und noch nicht zum Gegner übergelaufen sind, die Orientierung
wiedergeben; nur so werden wir unserer Jugend, die sie ansprechen, deren Idealität
und Elan sie ausnutzen möchten, richtige Kriterien in die Hand geben, indem wir
ihnen nämlich existentiell vor Augen führen, daß es kein abstraktes Verhältnis
zur Macht an sich gibt, daß die Macht kein allgemein-anthropologisches Problem
ist, sondern eine konkrete, historische, gesellschaftliche Erscheinung, der
gegenüber die entscheidende Frage konkret zu stellen ist: Macht für wen? und:
Macht wozu?
Randerscheinung - Aber
Gefahr und Versuchung
Das
"Dissidententum" ist nur eine Randerscheinung in unserer
Gesellschaft.
Die werktätigen
Massen, die nicht primär ihre Innenwelt reflektieren, sondern ihre Umwelt
verändern, können sich nicht mit Menschen identifizieren, denen ihre
"Identität" das Wichtigste in der Welt ist; und die Gesellschaft kann
Typen nicht so schrecklich ernst nehmen, die sich selbst über Gebühr ernst
nehmen. Unsere gesellschaftlichen Probleme und Konflikte bedürfen des
Meinungsstreites auf der Grundlage sozialistischer Parteilichkeit, aber keiner
Obstruktion gegen sie. Die große Verweigerung wird hier zum Theater. Und die
Dissidenten mögen vom Sozialismus abfallen wie Schuppen, um die sich keiner
mehr kümmert, wenn sie nicht soziales Prestige und ideelle Nahrung (manche
nicht nur ideelle) von außen bekämen.
Durch diese Förderung
von außen allerdings wird aus der gesellschaftlichen Randerscheinung eine politische Gefahr.
Die Strategen
psychologischer Kriegführung exportieren kleinbürgerliche Protestideologien
über die Grenze, die sie zwar von jeher nicht anerkennen, aber "für Ideen
durchlässig" machen wollen. Bei ihnen zulande wachsen unvermeidlich solche
Protestideologien in bunter Folge nach. Sie sind ja nur Ausdruck der realen
Interessenwidersprüche zwischen der privatwirtschaftlich realisierten
Oligarchie und der politisch deklarierten Demokratie, zwischen bürgerlicher
Staatsmacht und Volkssouveränität, zwischen Monopolisierung und Freiheit,
zwischen Profit und Gewissen und zwischen Kapital und Geist. Diese
kleinbürgerlichen Rebellions- und Resignations-Ideologien sind gewiß ein
Indikator der Fäulnis des Systems, in dem sie entstehen, aber sie haben keinen
revolutionären Charakter. Sie blieben der Arbeiterbewegung fremd und stehen dem
wissenschaftlichen Sozialismus, zwischen Sympathie und Aversion schwankend,
kritisch-distanziert gegenüber. Nach den Wünschen des Managements ideologischer
Subversion sollten diese Protestideologien nun lieber im Lager des
Klassenfeindes als dort, wo sie zu Hause sind, destruktiv funktionieren. Darum
möchten sie die Suppe der "Basisdemokratie", des
"Generationskonfliktes", des "Pazifismus", des
"Ökologismus" und "Feminismus", die sie sich eingebrockt
haben, gerne an uns verfüttern. Und so werden die am Rande unserer Gesellschaft
auftauchenden Dissidenten als Kellner engagiert, um uns zu servieren, was den
Köchen nicht schmeckt - als Delikatesse à la Marcuse, in der gediegenen
Atmosphäre des Duftes der großen weiten Welt, von den wenigen
"echten" Künstlern geboten, die vor dem strengen Blick des Feuilleton
der FAZ bestehen.
Man verstehe diese
Ironie bitte nicht falsch. Nur wer die sozialistische Demokratie aufbaut und
ernstlich will, daß alle mitdenken, mitarbeiten und mitregieren, darf über
"Basisdemokratie" spotten, nur wer die Jugend vertrauensvoll in
historische Verantwortung führt, darf über Generationskonflikte lächeln, nur
wer Friedenspolitik treibt, darf Gesinnungspazifismus für zu wenig halten, nur
wer keine Produktivkräfte vernichtet und wer Energie spart, darf über die
lachen, die nicht merken, wenn sie im Interesse der Ölkonzerne gegen
Atomenergie kämpfen, und nur wer die Frauen in ihrer Gleichberechtigung achtet,
darf sich über Worte wie Sexismus und Feminismus lustig machen.
Irgendwo bei Makarenko
meine ich einmal gelesen zu haben, der Erzieher müsse seinem Zögling zuweilen
eine Ohrfeige geben. Wenn das aber geschehen sei, solle er sich sogleich fragen,
was er selbst falsch gemacht habe... . Ich denke, der gesellschaftlichen
Gefahren wegen, die sie heraufbeschwören, bedürfen die Dissidenten und die, die
sich von ihnen verführen lassen, einer Ohrfeige; die dazu gehörige Frage aber
sollten wir alle uns nicht ersparen, zumal "auch der Erzieher der
Erziehung bedarf" (Karl Marx). Allerdings
glaube ich nicht, wir hätten gerade das falsch gemacht, was man uns gerne
vorwirft, eher im Gegenteil: Prinzipienfestigkeit und Humor, aber nicht
Liberalität, Disziplin gestützt auf Selbstdisziplin, aber kein "Antiautoritarismus",
Vertrauen, das bindet und verpflichtet, aber keine Leichtgläubigkeit und
Nachgiebigkeit sind Tugenden guter Erzieher. Dabei steht für mich außer
Zweifel: Verbales Insistieren auf formaler Autorität statt realer Begründung der Autorität durch besonnene, entschlossene und
sichere Führung, Gängelei statt Leitung und Machtgefühle statt Machtausübung
provozieren anarchische Emotionen, statt sie zu überwinden.
Warum suchen
dissidenten Asyl in der Kirche?*
Die Randerscheinungen
unserer Gesellschaft werden - und zwar aus sozialen, religiösen, klerikalen und
kulturellen Gründen - zu einer Versuchung
für unsere Kirchen.
Unsere Kirchen
verdanken den Einfluß, den sie auch in unserem Jahrhundert noch auf die Gesellschaft
ausüben, überwiegend der Tatsache, daß sie dem Großbürgertum aus den Mittelschichten
Reserven im Klassenkampf zuführen - und daß sie in diesen Mittelschichten zugleich
die Berührungsängste gegenüber dem Kommunismus bestärken. Sie hatten wesentlich
daran mitgewirkt, gerade den kleinbürgerlichen Neutralismus in den Dienst des
deutschen Imperialismus zu stellen, einst mit der antidemokratischen
"Systemzeit"-Polemik (gegen "Plutokratie und Bolschewismus" bis hin zum "Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen") und dann
durch die antikommunistische "Totalitarismus"-Polemik (gegen
"Nationalsozialismus und Kommunismus").
Schwankend zwischen kleinbürgerlichem Ohnmachtsbewußtsein und Willen zur Macht
waren sie sowohl der "national-sozialistischen" als auch der
"christlich-sozialen" Demagogie erlegen und hatten sich politisch
erheblich die Finger verbrannt.
Es gibt in der Kirche
einen echten Ansatz zur Umkehr von diesem Irrweg, manifestiert im Darmstädter
Bruderratswort.** Daneben aber gibt es
in der Kirche auch einen rückwärts gewandten Schuldkomplex. In ihm hält sich
gerade der verhängnisvolle Neutralismus durch. Da wird nicht die
antisozialistische Option als Quelle für Nationalismus, Rassismus und Militarismus
erkannt, sondern es kommt - wiederum klassenneutral - zu einer kosmopolitischen
Selbstkritik am kirchlichen Nationalismus, einer philosemitischen Selbstkritik
am kirchlichen Antisemitismus und einer pazifistischen Selbstkritik am
kirchlichen Militarismus und damit zur Errichtung neuer Barrieren gegen
patriotischen Internationalismus, wirkliche Judenemanzipation und wirksamen
Friedenskampf im Sozialismus. Die Neigung zu romantischem Antikapitalismus und
Sozialutopismus, die die Katastrophe der deutschen Supermachtpolitik begleitet
hatte, ließ keine grundsätzliche Abwendung vom Imperialismus zu, sondern führte
allenfalls zur allgemeinen Skepsis gegenüber weltlicher Macht überhaupt und
legitimierte erneut das nie aufgegebene Mißtrauen gegenüber der Macht der
Arbeiterklasse. Die Skepsis gegenüber "weltlicher Macht"
funktionierte in einer im Kleinbürgertum verwurzelten und vom Großbürgertum als
Massenmanipulator geschätzten und geschützten Kirche bei aller scheinbaren Ausgewogenheit
höchst parteilich. Sie wirkte der Macht der Bourgeoisie gegenüber als
selbstkritische Warnung vor Machtmißbrauch,
aber der Macht der Arbeiterklasse gegenüber als politische Verurteilung von
Machtgebrauch.
*
Wie ihre soziale
Basis, so erlebt auch die Kirche das Absterben religiöser Weltanschauung: das Ende der Religion als metaphysisches
Erkenntnissystem. Jahrhundertelang war die Kirche in Versuchung gewesen,
religiöse Weltanschauung mit dem Evangelium zu verwechseln und ein
metaphysisches "Höchstes Sein", das die Welt im Innersten
zusammenhält, als ihren Gott anzubeten. Reformatorische Theologie führt hier zu
einem viele Traditionen umwälzenden theologischen Umdenken. Daneben aber
vollzieht sich eine Modernisierung natürlicher Theologie durch ihre
Subjektivierung: das Aufblühen individualistischer Religiosität wird in der
Kirche begrüßt. Die in einem bunten Pluralismus entstehenden religiösen Selbstverständnisse werden mit dem
Christusglauben verwechselt, als ob Glauben nicht hieße, zu Christus zu kommen,
sondern zu sich selbst.
Hier schlägt der neuen
Klerikalismus Wurzeln. War im mittelalterlichen Klerikalismus die Kirche dank
ihres riesigen Feudalbesitzes geistige Führungsmacht (die Ideen der
herrschenden Klasse sind die herrschenden Ideen in der Gesellschaft), so
bildete sich seit der hinkenden Trennung der Kirche vom Staat im Jahre 1918/19
im Protestantismus ein moderner Klerikalismus heraus. Er erstrebte eine
kulturelle Hegemonie der Kirche als Integrationsfaktor gegenüber der Tendenz bürgerlicher
Ideologie zur Selbstatomisierung. Dieser Wille fand seinen peinlichsten
Ausdruck in der Idee vom "Christentum" als dem "Kitt der
NATO". Jedoch auch diese klerikale Konzeption ist kaum noch durchzuhalten,
und so möchte der Klerikalismus nun die Kirche wenigstens umfunktionieren zur
Avantgarde kulturkritischer Paralyse sozialistischer Konsolidierung.
Aber die wirkliche
Kultur unseres Jahrhunderts läßt sich nicht mehr reklerikalisieren. Die unter
dem Druck faschistischer Barbarei entstandene Zwischenvision Bonhoeffers, Kunst
und Wissenschaft würden in den Schutz der Kirche zurückkehren, blieb Episode,
und Bonhoeffer selbst revidierte diesen Wunschtraum am entschiedensten. Die
antifaschistische Kultur entwickelte sich - auch da, wo Christen sie trugen -
antiklerikal. Die "christliche Welt" ging ebenso unter wie das
"corpus christianum". Die reformatorischen Theologen des zwanzigsten
Jahrhunderts von Barth bis zu Iwand erkannten die Säkularisation der Welt
ebenso grundsätzlich an, wie Luther in der Reformation des sechzehnten
Jahrhunderts zugleich mit der Entsäkularisierung der Kirche die Säkularisierung
des Säkularen gefordert und gefördert hatte.
Damit aber veraltete
nun auch der im Namen althergebrachter Autorität und Ordnung christlich-konservativ-antirevolutionär
auftretende Antikommunismus. Innerhalb der sozialistischen Gesellschaft wurde
er vollends anachronistisch. Und während bisheriger Klerikalismus weltliche
Macht der kirchlichen Macht unterzuordnen versuchte, sympathisiert der moderne
Klerikalismus mit anarchischer Negation nicht nur legitimer gesellschaftlicher
Macht überhaupt, sondern auch der Legitimität der Herrschaft der Menschen über
die Natur.
Nun aber kommen die
Dissidenten in die Kirche und bringen verinnerlichte Religiosität, romantische
Sozialutopien, Skepsis gegen alle Macht, kulturkritischen Subjektivismus und
bittere Enttäuschung über den Sozialismus mit. Für eine so tief in kleinbürgerlichen
Schichten verwurzelte und der bürgerlichen Gesellschaftsordnung verhaftete Kirche
ist das eine gefährliche Versuchung. Die als geistlicher Vormund gescheiterte
Kirche entdeckt sich als geistlichen Zwillingsbruder der gesellschaftlich
"Frustrierten" und bietet den "Aussteigern" aus der
Gesellschaft an, bei ihr "einzusteigen". Dieselbe Kirche, die nicht
grundlos doktrinärer Dogmatik und rigoroser Ethik verdächtig war, bietet sich
an als "Freiraum" und Asyl für Liberalismus, Indifferentismus und
Libertinismus. Ein Klerikalismus mit unklerikalen Methoden öffnet sich für
einen Antikommunismus mit nicht-konservativen Motiven. Wo seine kulturelle Hegemonie
in der Gesellschaft nicht mehr zu realisieren ist, versucht der in das Gewand
moderner Säkularität gehüllte Klerikalismus, sich nun als Inaugurator einer
Subkultur zu regenerieren.
Er schöpft neue
Hoffnung auf gesellschaftlichen Einfluß nach dem alten klerikalen Rezept: die
Kirche biete dem weltlichen Partner religiöse Weihe und empfange von ihm eine
soziale Basis. Und dabei hat die klerikale Kirche, dank der Restkonten ihrer
staatskirchlichen Vergangenheit, sogar noch mehr zu bieten als nur religiöse
Sanktionierung. Über die Deklaration hinaus, daß nur und gerade die Dissidenten
die moralisch lauteren, Gott und der Kirche wohlgefälligen Sozialisten seien,
kann sie als verfassungsmäßig gesicherte religiöse Institution einen
abgesicherten Freiraum und weltweite Organisationsmöglichkeiten stellen,
während die Dissidenten ihr eine erwünschte Attraktivität gegenüber noch nicht
fest im Sozialismus verankerten Kreisen gewähren - bis in Zonen der Asozialität
hinein.
Vor allem aber
scheinen einige Literaten mit ihrem pubertären Stil junge Leute in die Kirche
zu locken. Sie füttern sie mit Ansprüchen an die Gesellschaft und entwöhnen sie
von Ansprüchen an sich selbst. Sie enthalten ihnen die Forderung der Reife vor
und schleichen sich bei ihnen mit einer selbstsüchtigen Liebe ein, die nicht
mehr mahnen und strafen kann, weil es ihr mehr darum geht, liebgehabt zu werden
als zu lieben. Wenn das geschieht, sollten wir nicht jubeln, wir hätten die
Jugend gewonnen. Es geht doch nur um Randexistenzen in der Jugend, und gerade
ihnen, die unsere Hilfe brauchen, können wir so nicht helfen. Und selbst wenn
wir so die Jugend gewönnen, wofür? Unsere Väter hatten schon einmal gejubelt,
sie hätten die Jugend gewonnen, als das Kriegserlebnis von 1914 die Kirchen
füllte. Der Krieg hatte die Kirche gewonnen, aber nicht die Kirche die Jugend.
Von uns könnte es einmal heißen, die Reaktion habe uns gewonnen, aber wiederum
nicht wir die kommende Generation. Bei der Begegnung von Dissidenten mit jungen
Menschen in kirchlichen Räumen, bei der der jugendlich gärende Most nicht reif,
sondern sauer wird, vollzieht sich ein Knospenfrevel, und wehe uns, wenn wir
ihn selbstsüchtig segnen!
*
Die Versuchung, in die
die Kirche gerät, wenn sie Dissidenten begegnet, ist darum besonders
verführerisch, weil es wie Umkehr, Buße und Reformation erscheint, wenn die
Kirche dieser Versuchung erliegt.
Es sieht ja so aus,
als vollzöge sich echte Buße, wenn die Kirche, die solange die Gewalt als
Mittel der Unterdrückung legitimiert hat, nun Gewaltlosigkeit proklamiert; wenn
sie, die Aggressoren gesegnet hat, nun zum Pazifismus rät; wenn sie, die
solange auf Seiten des "Establishment" stand, sich nun mit
Randexistenzen verbrüdert, und wenn sie, die solange Inquisitor und Zensor
spielte, nun "Freiräume" bietet für Asylanten aus einer säkularen
Welt.
Aber statt Buße könnte
das auch Kurswechsel sein. Die Wahl eines neuen Weges zum alten Ziel ist noch
keine Buße. Buße heißt Umkehr vom falschen Ziel. Wir könnten uns hier als Kirche
unter dem Schein der Buße der Buße entziehen. Darum ist diese Versuchung so
ernst. Wir haben ja zum Teil schon einmal unter dem Schein der Buße die Buße
umgangen. 1945 meinten viele, weil sie den Demokraten in den
Nazi-Konzentrationslagern ihre Solidarität verweigert hätten, müßten sie sie
nun den Nazis in den alliierten Umerziehungslagern gewähren: so taten sie
formal das Gegenteil und inhaltlich dasselbe wie vorher. Sollen wir jetzt
wieder die Form wechseln und den Inhalt erhalten, den Weg ändern und dem Ziel
treu bleiben?
Dann würden wir
weiterhin den falschen Göttern dienen, an denen unser Herz hängt, und das
Evangelium verleugnen. Dann würden wir erneut in ein politisches
Sympathisantentum geraten und uns der gebotenen Liebe entziehen. So können wir
die Kirche modernisieren und ihr - vielleicht - einen gewissen Einfluß retten,
aber die Reformation würden wir wieder versäumen. Wir würden - vielleicht -
wieder die Kirche groß und stark, aber das Evangelium klein und den Glauben
schwach machen.
Gewiß neigen wir zu
alledem in der besten Absicht: Wir wollen eine Welt retten, von der wir meinen,
daß sie im Argen liegt. Aber: "Nicht die Rettung der Welt ist die Aufgabe
der Christenheit, sondern die Reformation der Christenheit ist die Rettung der
Welt." (Iwand *)
Was schuldet eine
evangelische Kirche den Dissidenten?
Säkulare Enthusiasten
begegnen uns. Was schulden wir ihnen? Ich denke, zuerst ganz schlicht das
Zeugnis von der Unterscheidung der Gerechtigkeit Gottes und der Gerechtigkeit
der Menschen. Den "religiösen" Sozialisten werden wir sagen müssen:
Der Sozialismus ist ein weltlich Ding. Denen, die von Gewaltlosigkeit
schwärmen, werden wir sagen müssen: Es gibt nicht nur illegitime, sondern auch
legitime weltliche Macht.
Wir schulden ihnen
konkret und ganz unreligiös artikuliert das Zeugnis: Ein vollkommenes
Menschsein, vollkommen in der Vollkommenheit, die die Menschheit noch stets in
den Himmel der Zukunft oder in die Urzeit des Paradieses projiziert hat, können
Menschen nicht durch eigene Werke schaffen. Das vollkommene Menschsein, nach
dem ihr fragt, dürft ihr weder von den Werken der "anderen", der
"Funktionäre", der "Apparatschiks", der "Bürokraten"
und was ihr da alles mit Recht oder Unrecht kritisiert, noch von euren eigenen
Werken erwarten. Aber ihr habt wie wir Grund, dankbar zu sein für vieles, was
durch den Klassenkampf der Arbeiterklasse im Sozialismus an sozialer
Gerechtigkeit schon erreicht ist; und ihr habt wie wir Grund, optimistisch zu
sein - nicht in einem illusionären Optimismus der Bequemlichkeit, die alles
entschuldigt, sondern in einem ernsten Optimismus der Bereitschaft zu Arbeit
und Verbesserungen - im Blick auf weiteren Fortschritt. Gewiß geht es in dem
allen um eine "äußerliche" Gerechtigkeit, um ein Stück "iustitia
civilis" und nicht um die Gerechtigkeit der Person, die nur Gott schenken
kann. Diese aber selbst bewirken zu wollen, führt in eine Selbstgerechtigkeit,
die die gute gesellschaftliche Gerechtigkeit unter den Menschen nicht fördert,
sondern schädigt.
Wir haben ihnen zu
sagen: Es ist legitim, auf dem Wege der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, die
im Sozialismus wächst, weiter zu wollen. Es ist gewiß nötig, eine Tendenz zum
"sanftlebenden Fleisch" nicht nur in der Kirche, sondern auch in der
Welt zu dämpfen, aber es ist unmöglich und gefährlich, statt für den irdischen
Sozialismus zu arbeiten und zu kämpfen, einen himmlischen Sozialismus zu
fordern: Phantasie ist gut, aber Illusionen sind von Übel. Hoffnung und
Perspektiven sind nötig, aber Utopien verwirren. Kritik wird gebraucht wie das
tägliche Brot, aber keine Skepsis!
Wir haben ihnen zu
sagen, daß die Welt Welt bleibt. Und auch eine sozialistische Welt ist kein
Reich hinter den Wolken, sondern - Gott sei Dank! - irdisch, diesseitig,
gegenwärtig und darum von Menschen in der Dialektik von Irrtum und Einsicht und
neuem Irrtum und höherer Einsicht in Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit
errichtet, noch lange nicht zu purem Vergnügen, sondern aus Not-wendigkeit.
Ich denke, die
Gemeinde Jesu Christi hätte Menschen, die bei ihr Trost suchen, solange sie
sich noch nicht zu Jesus Christus bekennen, Mut zu machen zu ihrem irdischen
Beruf. Denn er ist ja objektiv, ob sie es wissen oder nicht, der Ort des
Gottesdienstes durch Menschenliebe. Wir Christen sollten, wo man unseren Rat zu
eigener politischer Verantwortung begehrt, Vorbild sein für unendliche
Nüchternheit: schmunzelnd bei allem gerechten Zorn über Schönfärberei (sie ist
ja mehr ein Zeichen von Schwäche als von Überlegenheit) und viel zu realistisch
hoffnungsvoll für die Welt, um für politische Hysterie und Schlechtmacherei
Raum zu lassen. Wir sollten den Dunstkreis der subjektiven Probleme, die so
selbstgemacht wirken, die Phrasen von der "Suche nach sich selbst"
und der "Selbstverwirklichung" oder die Neigung, den geistlichen
Pulsschlag sozialistischer Heiligung vor allem bei anderen und am gründlichsten
bei solchen Parteisekretären zu messen, die erst eine bestimmte Literatur zum
Massenprodukt macht, einfach durchbrechen mit der kalten Frage: Wie sieht die
Wirklichkeit aus? Welche Kräfte haben wir? Wo ist das Ziel? Was ist der erste
Schritt? Und dann: Vorwärts!
Ich meine, wir hätten
auch etwas zu sagen zur Legitimität weltlicher Macht. Wer sich zum Vater Jesu
Christi als dem allmächtigen und zu Jesus Christus als dem bekennt, dem alle
Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden, der kann doch nicht bestätigen, die
Macht sei böse an sich. Gewiß ist die "Macht an sich", die Willkür,
böse. Aber es gibt legitime Macht Gottes und auch der Menschen. Wir haben als
Kirche viel Unheil angerichtet mit dem "Obrigkeitsgehorsam" von Römer
13, weil wir vergessen haben, daß hier der Gemeinde
gesagt ist, sie solle sich im Gehorsam gegenüber der Macht Gottes der weltlichen Macht unterordnen
- und also nicht an ihr partizipieren oder zu ihr in Konkurrenz treten. Aber
der Mißbrauch hebt den rechten Gebrauch nicht auf. Eine evangelische Gemeinde
legitimiert nicht die Anarchie und erst recht nicht, wenn diese enthusiastisch
unter Berufung auf religiöse oder moralische Vollkommenheitsideale propagiert
wird. Alle Unvollkommenheit menschlicher Gerechtigkeit, Ordnung und Macht ist
zwar Grund zu ihrer Verbesserung bis hin zur Revolution, aber kein Grund, sie
als solche zu negieren, und am allerwenigsten, sich gegen sie zu empören im Namen
Gottes.
Von daher werden wir
wiederum in aller Nüchternheit, gerade als eine Kirche, die umkehrt von dem
Wege, auf dem sie die Macht des deutschen Imperialismus gesegnet und gestützt
hat, den Skeptikern gegenüber der Macht sowohl etwas sagen müssen von der
Gefährlichkeit und Aggressivität bürgerlicher Mächte gegenüber dem Sozialismus
- unsere Kirchen haben doch, Gott sei es geklagt, in der Nähe der Schalthebel
dieser Mächte 1914, 1933 und 1939 ihre historischen Erfahrungen gesammelt - als
auch von der Notwendigkeit, Frieden und soziale Gerechtigkeit nicht ohnmächtig
preiszugeben, sondern mächtig zu schützen. Gefragt nach unserem Rat in Fragen
politischer Ethik werden wir gut tun, das Bekenntnis nicht zu verleugnen, das
uns in der Anfechtung unserer Kirche durch eine barbarische weltliche Gewalt
geschenkt worden ist, so daß wir gelernt haben, weltliche Macht daran zu
messen, ob sie nach menschlicher Einsicht und menschlichem Vermögen für Recht
und Frieden sorgt (Barmen V). Von daher werden wir niemals der Entwaffnung von
Friedenskräften das Wort reden können, ebenso wenig wie der Bewaffnung von
Aggressoren.
*
Die Gemeinde Jesu
Christi ist offen und muß offen bleiben für alle, weil und wie ihr Herr für
alle offen und frei ist. Keine Macht der Welt kann uns von unserem Auftrag
entbinden, an Christi Stelle da zu sein für alle Mühseligen und Beladenen, die
er erquicken will.
Wir haben unsere
Kirchentüren nicht zu verschließen - nicht vor "Dissidenten", aber
auch nicht vor "Linientreuen". In der Kirche ist keiner
"illegal". Wir haben ihnen allen das eine Wort Gottes zu sagen, aber dieses Wort ist zweischneidig. Es
wird den Selbstgerechten zum Gericht und den Sündern zur frohen Botschaft.
Dabei wissen wir nicht, wer die Gerechten und wer die Gottlosen sind. Unser Amt
ist es nicht, zu erwählen und zu verwerfen. Aber Gott weiß es und wird durch
sein Wort, wenn wir es wahrhaftig bezeugen, die Gerechten richten, die
Ungerechten gerecht machen und die Beladenen trösten.
Die Kirche ist ja
nicht unsere Kirche in dem Sinne, daß
wir sie uns ausgesucht hätten und in ihr tun könnten, was wir wollen. Sie ist
ja Jesu Christi Kirche, in der der
Heilige Geist regiert und also weder ein Korpsgeist der Kirche (oder Bischöfe
als dessen Repräsentanten) noch "was man so den Geist der Zeiten
heißt" (und Jugendpfarrer als dessen Repräsentanten).
Wir sind nicht dazu
da, Menschen die Rechtfertigung aus ihren Werken zu bestätigen und also auch
nicht dazu, Sozialismuskritiker damit zu trösten, daß wir ihnen das Recht ihrer
Kritik bestätigen. Die Kirche ist nicht die "Gegenseite", auf die
Sozialismuskritiker überlaufen könnten, um an sie zu verraten, was sie eben
noch anbeteten - und sie hat sich so zu verhalten, daß jedermann das erkennt.
Gewiß darf in der
Kirche geklagt werden. Hier kann man Gott, die Welt und sich selbst anklagen.
Und Hiobs Freunde können sich selbst, die Welt und Gott verteidigen - als
"Theologen" haben sie das geübt. Aber die Klagemauer ist nicht die
Grundmauer des neuen Israel. In der Gemeinde haben weder Christen ihr
"christliches Selbstverständnis" oder ihre "christliche
Weltanschauung" zu verkündigen noch frustrierte Künstler ihr
Sozialismusbild und ihre Suche nach Identität zu predigen. Und wenn Dissidenten
zu uns kommen, haben wir in der Kirche nicht aus unserem Predigtamt abzudanken
und es ihnen abzutreten. Dissidenten sind nicht die berufenen Hilfsprediger in
unseren Jugendgottesdiensten.
Vielmehr haben wir
ausschließlich das Evangelium zu verkündigen von dem Jesus Christus, der, von
den Seinen verlassen, draußen vor den Toren der Stadt gekreuzigt wurde - aber
nicht darum, weil er ein "Aussteiger" und "Nonkonformist" war,
sondern weil er in unsere Welt hineingekommen und uns zugute uns Sündern
konform geworden ist.
Ruhe vor dem Sturm? (1984-1987)
Exilland DDR (1984)
von Osvaldo Puccio
Mein erster direkter
Kontakt mit der DDR datiert zurück in das Jahr 1973. Wir waren damals Gefangene
auf der KZ-Insel Dawson ganz im Süden Chiles vor der Küste von Feuerland. Um
der Isolation irgendwie Herr zu werden, hatten einige von uns ein Transistorradio
zurechtgebastelt, das uns der Außenwelt ein Stück näher brachte. Durch Zufall
erfuhren wir eines Tages von einem Hirten - einer der wenigen Bewohner dieses
fast menschenleeren, unwirtlichen Stückchen Landes und ganz sicher Analphabet
-, daß man hier Radio Berlin International empfangen könne. Die Nachricht
versetzte uns in ungeheure Aufregung, und wir hatten nicht eher Ruhe, bis wir
den Sender tatsächlich fanden. Um den Empfang zu verbessern, schlossen wir das
Gerät an den Stacheldraht unseres Lagerzaunes an. Über diese Antenne hörten wir
dann, ganz von fern, dennoch deutlich über Tausende von Kilometern Entfernung
hinweg in spanischer Sprache die Sendung "Chilene, du bist nicht
allein".
Ich war damals zwanzig
Jahre alt, ein fast beendetes Jurastudium lag hinter mir, eine der Abschlußprüfungen
hatte ich eben an jenem 11. September ablegen wollen, an dem ich früh mit Anzug
und Krawatte aus dem Hause ging, ohne zu ahnen, daß ich erst zehn Jahre später
dahin zurückkehren würde. Ich landete nicht in der Universität, sondern gemeinsam
mit meinem Vater im Regierungspalast Moneda, der von einem dichten Kordon von
Panzern umgeben war. Wenige Stunden später wendeten sie ihre Rohre gegen uns.
Ich entsinne mich, daß mir, als wir schon unter Beschuß waren, beim Niederlegen
auf den von Staub und Glassplittern übersäten Boden der absurde Gedanke kam,
daß mein Examensanzug nun schmutzig werden würde. Es folgten der Luftangriff,
die Bombardierung der Armenviertel - ein, wie sich herausstellen sollte,
bitteres Vorzeichen des Kommenden -, die Einnahme der Moneda und die Ermordung
Allendes, wir wurden festgenommen, verhört, waren in Gefängnissen und im
Stadion und wurden dann in Isolationshaft nach Dawson geschickt. Nach etwa
einem Jahr gelangte ich auf Umwegen in die DDR.
Man muß sich die
unglaubliche Brutalität vor Augen halten, mit der alle unsere Kämpfe, Träume
und Hoffnungen zunichtegemacht worden waren, um zu begreifen, was dieser
Wechsel für mich bedeutete. Ich kam aus einer tiefen, grausamen Niederlage in
ein Land, wo Früchte des Sieges reiften: wo die Milch für die Kinder und das
Brot so billig sind, daß viele ihren Wert schon nicht mehr kennen. Von der
Universität in Santiago inzwischen wegen "unentschuldigten
Fernbleibens" relegiert, habe ich hier nochmals studiert, eine Familie
gegründet, später promoviert. Sehr viele Menschen der unterschiedlichsten
Prägungen habe ich kennengelernt, Freunde gefunden, unzählige Gespräche
geführt. Es war eine Zeit des Lernens und Reflektierens, in der ich Abstand und
zugleich Hoffnung gewann. Mir ist, gerade auch bei Diskussionen mit Christen,
öfter der Einwand begegnet, daß man doch den Begriff der Solidarität für eine
zu abstrakte und fernliegende Sache halte. Ich habe viele Male darauf geantwortet,
daß für mich persönlich der Begriff und die Sache der Solidarität eine der
allerkonkretesten und elementarsten Realitäten meines Lebens darstellt, ohne
die wir weder damals auf Dawson noch später hätten überleben können. Ich
glaube, daß diese sozusagen systemimmanente, im innersten Wesen ihrer
gesellschaftlichen Struktur verwurzelte Solidarität der DDR zu den scheinbaren
Selbstverständlichkeiten in diesem Land gehört, deren historische und globale
Tragweite vielen nicht bewußt ist. Ich weiß nicht, wie wir unseren Kampf weiterführen
sollten ohne diese Voraussetzung, daß wir - nicht nur wir Chilenen -
tatsächlich "nicht allein" sind.
Inzwischen bin ich
nach Chile zurückgekehrt, man könnte sagen, aus der Zukunft in die Vergangenheit.
Ich habe meine Heimat wiedergefunden, nach der ich mich zehn Jahre lang gesehnt
habe und die ich nie mehr verlassen möchte - trotzdem bleibt Heimweh. Heimweh
nach diesem anderen Land, mit dem mich so viele unzerreißbare Fäden verbinden.
So viel an Erinnerungen und so viel an Wissen, aus dem in der Konfrontation mit
der lateinamerikanischen Realität ein tagtägliches, schmerzhaftes Bewußtwerden
dessen erwächst, welch unermeßlich weiter Weg noch vor uns liegt. Wenn ich
sage, daß jetzt, aus der Entfernung, die eigentlichen Konturen dieser mir zur
zweiten Heimat gewordenen Gesellschaft viel klarer zutage treten, ihre Bilanz
an historischem Erfolg, ihre Menschlichkeit sich wesentlich objektiver
beurteilen lassen, als es für manch einen aus der "Binnenperspektive"
möglich zu sein scheint, dann hat das nichts mit einem nostalgischen
Zurückschwärmen zu tun. Zwar ist letzteres in einem bestimmten Sinne für die
unwiderruflich in zwei Welten ansässig gewordenen Heimkehrer gar nicht so
untypisch und gehört zu den schmerzhaften Paradoxien der Exilserfahrung: In
Berlin sehnte man sich nach Santiago, in Santiago dagegen lebt man sehr oft in
der Erinnerung an Berlin...
Dennoch geht es,
glaube ich, um mehr als das alltägliche, fast unbemerkte Vertrautgewordensein
von Lebensgewohnheiten, Orten, alltäglichen Dingen, die einem anfangs völlig
fremd erschienen. Es geht um die großen, wirklich wesentlichen Dinge, die ich
heute radikaler und unduldsamer von den weniger wesentlichen unterscheide, als
ich selbst es noch vor einem Jahr getan hätte. Ich will versuchen, das an einem
Beispiel zu erklären.
Nachdem wir etwa sechs
Monate in Chile waren und sich die Eingewöhnung, alles in allem, problemloser
als befürchtet vollzogen hatte, bekam eines Tages unser fünfjähriger Sohn plötzlich
einen Fieberkrampf und lag mit entstelltem Gesicht und ohne ein Lebenszeichen
von sich zu geben vor uns. Das große Krankenhaus in der Nähe unserer Wohnung
wies uns einfach ab. Nicht einmal ein Arzt fand sich, der uns auch nur gesagt
hätte, ob das Kind überhaupt noch lebte. Wir hätten die Kosten für ein Bett
ohnehin nicht bezahlen können... Mit dem Doktor, den wir schließlich
auftrieben, mußten wir erst telefonisch den Preis aushandeln, ehe er zu einer
Konsultation bereit war. Ein Feilschen, als ginge es um Tomaten auf dem
Gemüsemarkt.
Es war die bitterste
Lektion in Sachen Kapitalismus und Sozialismus, die ich jemals zu lernen hatte.
Ehrlich gesagt, haben wir uns an diesem Tag mit allen Fasern unseres Herzens
zurückgesehnt in jene altvertraute Lichtenberger Poliklinik-Geborgenheit, die
man schon bei ein bißchen Husten oder Bauchweh in Anspruch nahm. Wo niemand auf
die Idee gekommen wäre, sich den Preis der Medikamente im Gegenwert zum
Schuldgeld oder zum Lebensmittelbudget auszurechnen: So viele Tabletten, so
viele Flaschen Milch weniger für diesen Monat. Milch, beiläufig gesagt, ist
gegenwärtig in Chile dreimal so teuer wie Wein...
Mein Sohn ist
inzwischen wieder gesund. Aber ich selbst habe, das mag hart klingen, seitdem
jegliche Toleranz gegenüber aller Art von "DDR-Nörgelei" verloren.
Natürlich gibt es immer etwas, das besser sein könnte, und natürlich ist auch
in der DDR nach fünfunddreißig Jahren noch nicht alles vollkommen. Insofern muß
man nicht darüber diskutieren, ob in der DDR bereits die "Gesellschaft der
Zukunft" existiert. Aber wer nicht sieht, daß es sich um die einzig
zukunftsträchtige Gesellschaft handelt, der ist einfach blind. Was die Welt
heute braucht, ist nicht jene "Freiheit und Demokratie", als deren
Anbruch das offizielle Chile gegenwärtig den 11. September 1973 feiert, sondern
jene andere, grundlegende Freiheit des Essens, Wohnens, Sichkleidens - jene
elementare Demokratie, daß jeder jederzeit zum Arzt gehen kann.
Soll niemand darauf
entgegnen, daß es das alles außer in der DDR auch anderswo gäbe: daß in der BRD
der Lebensstandard noch höher, in Schweden das Sozialsystem noch perfekter sei.
Das mag wohl stimmen, aber ebensowenig läßt sich bestreiten, daß dieser enorme
Wohlstand der westlichen Länder sich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus
dem Elend der Dritten Welt finanziert. Vielleicht ist es verständlich, wenn ich
auf diesem Tatbestand hartnäckiger insistiere als früher und meine, daß jeder
DDR-Bürger sich seiner Tragweite bewußt sein sollte. In einem Land, wo man
praktisch auf Schritt und Tritt mit dieser ganzen unbeschreiblichen Armut, mit
Bettlern an der Tür, Kinderprostitution, Analphabetismus konfrontiert ist,
erscheint es als eine keineswegs nebensächliche Frage, wer eigentlich in der
Milch badet, die unseren Kindern vorenthalten wird, ob der Wohlstand einer
Gesellschaft selbst erarbeitet ist oder ob er seine direkte (wenn auch
sorgfältig verschleierte) Kehrseite in der Not anderer hat.
Vieles andere wäre
noch zu sagen. Aber ich glaube, daß dieses die alles entscheidenden
Wesensmerkmale der DDR-Wirklichkeit sind: daß das Brot für alle da ist, daß es
solidarisch mit anderen Ländern geteilt wird, daß es sich ausschließlich der
eigenen Arbeit verdankt. Und ich glaube, daß diese drei Gründe - das
unumschränkte Recht zu leben, die Solidarität und die ökonomische Unschuld -
Grund genug sein sollten, sich über die fünfunddreißig Jahre des Bestehens
dieser neuen und anderen Gesellschaft von ganzem Herzen zu freuen.
Der Weißenseer Arbeitskreis zum Tag der Befreiung (1985)
Wir feiern am 8. Mai
den Sieg über den Faschismus.
Wir sind als
Zeitgenossen und Erben Glieder einer Kirche, die sich anklagen muß, in die Irre
gegangen zu sein und in die Irre geführt zu haben. Unsere Kirche mußte
bekennen: Wir haben unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. Wir haben das
Alte und Herkömmliche konserviert. Wir haben das freie Angebot der Gnade Gottes
an alle durch eine politische, soziale und weltanschauliche Frontenbildung
verfälscht. Wir haben in antikommunistischer Verblendung die Verheißung der
Gemeinde für das Leben und Zusammenleben im Diesseits verleugnet.
Wir sind dankbar, daß
uns antifaschistische Kämpfer von außen den Weg zu innerer Befreiung öffneten.
Uns bewegt die Verpflichtung, diese Freiheit zu bewähren. Das tun wir, indem
wir uns mit allen verbinden, die im Dienst für Gerechtigkeit und Frieden dem
Schwur treu bleiben: "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!" Das
tun wir, indem wir uns allen entgegenstellen, die den Faschismus verharmlosen.
Dies geschieht, wo unter Berufung auf Leid und Härte des Kampfes die Frage nach
Recht und Unrecht der Kämpfenden verdrängt wird. Das tun wir, indem wir uns
allen entgegenstellen, die den Imperialismus verharmlosen. Dies geschieht, wo
unter Berufung auf die Bedrohung des Friedens für alle Staaten der Anschein erweckt wird, als werde der Friede von allen Staaten bedroht.
Der Sieg am 8. Mai
1945 stärkt die Hoffnung überall dort, wo heute Friede und Gerechtigkeit nicht
von den Feinden erbeten, sondern nur gegen sie erkämpft werden können: gegen
Neofaschismus und Revanchismus in Europa, gegen den Rassismus in Südafrika,
gegen die Contras in Nikaragua und Afghanistan, gegen den militär-industriellen
Komplex vor allem der USA und insbesondere gegen die NATO-Staaten, die heute
sogar den Weltraum militarisieren wollen.
Wir gedenken dabei in
Dankbarkeit der Kämpfer und in Scham der Opfer: der deutschen Kommunisten und
Demokraten, der Juden und aller anderen Opfer faschistischer Genozide, der in
ganz Europa von den Aggressoren Ermordeten, der für den Sieg über den
Faschismus gefallenen Soldaten, Freiheitskämpfer und Partisanen. Wir gedenken
auch derer, die mißbraucht, gezwungen und betrogen ums Leben gebracht wurden;
auch sie sind Mahnung zum Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden heute.
Die Bewältigung der
Zukunft wird die Bewährungsprobe sein, ob wir aus der Vergangenheit gelernt
haben.
Befreiung, nicht Katastrophe (1985)
von Walter Kreck
Die gegenwärtige
Diskussion über die Feier des 8. Mai ist entlarvend.
Gewiß haben wir, die
wir diesen Tag miterlebten, zwiespältige Erinnerungen: Die einen empfanden ihn
als Katastrophe - die anderen als Befreiung. Aber wenn man heute - vierzig
Jahre danach - noch immer diesen Tag vorwiegend als Katastrophe versteht, so
ist das alarmierend. Wer die historischen Zusammenhänge überschaut, wer
zwischen Ursachen und Folgen zu unterscheiden vermag, für den ist nicht der 8.
Mai 1945, sondern der 30. Januar 1933 der Dies ater - mitsamt der vorangehenden
Entwicklung, die längst schon von nationalistischen, revanchistischen,
imperialistischen und antisozialistischen Kräften gesteuert war. Daß an
deutschem Wesen die Welt genesen werde, daß das deutsche Reich in Herrlichkeit
auferstehen und das "Volk ohne Raum" sich nach Osten hin ausdehnen
müsse, daß die Krisen des kapitalistischen Wirtschaftssystems von Juden,
Sozialisten und Kommunisten verursacht seien und im Bündnis mit der
faschistischen Bewegung überwunden werden könnten - all diese Wahnideen brachen
am 8. Mai 1945 zusammen. "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg", -
das war die Lehre, die die Überlebenden der KZ.s damals zogen.
Haben wir aus der
Geschichte gelernt und alles getan, damit nie wieder von deutschem Boden ein
Krieg ausgehe?
Daß wir einen
demokratischen Staat aufbauten und wirtschaftlich erfolgreich waren, daß wir
uns mit den westlichen Nachbarn aussöhnten und uns fest im nordatlantischen
Bündnis verankerten, auch mit den östlichen Nachbarn Verträge schlossen, das
alles kann nicht darüber hinwegtäuschen: Europa und speziell unser Land ist ein
Pulverfaß wie noch nie! Und es kann jederzeit ein Funke aus den Konfliktzonen
der Dritten Welt zu uns überspringen und ein Inferno auslösen.
Darum können wir am 8.
Mai 1985 nicht nur der Befreiung vom Hitlerfaschismus und des Endes des zweiten
Weltkrieges gedenken, sondern wir müssen vor einem erneuten Spiel mit dem Feuer
warnen: Vor der Fortsetzung der Raketenstationierung und der Einbeziehung sogar
des Weltraumes in die strategische Planung, vor einer Wirtschaftspolitik, die
sich mit den wachsenden Heeren von Arbeitslosen und den Millionen Hungernder in
der Welt abfindet, ja, die sozialen Gegensätze ständig verschärft, vor einem
unverantwortlichen Insistieren auf der "Offenheit der deutschen Frage",
mit dem wir unsere Nachbarn in Ost und West in Unruhe versetzen, vor der
hartnäckigen Weigerung, die Staatsbürgerschaft der DDR anzuerkennen, vor einer
an die Weimarer Zeit erinnernden Panikmache gegenüber einer Bedrohung von
"links" und einer Verharmlosung neonazistischer Umtriebe. Auch
vierzig Jahre nach Kriegsende ist Brechts Wort nicht überholt:
"Der Schoß ist
fruchtbar noch, aus dem das kroch."
Der 8. Mai - Eine Mahnung zur Wachsamkeit (1985)
von Rosemarie Müller
Streisand
Lassen Sie mich offen
gestehen: im allgemeinen bin ich etwas skeptisch gegen allerlei Jubiläen
zwischen 50 und 500 Jahren. Denn da fühlt sich jeder, ganz gleich woher er
kommt oder wo er steht, zum Mitfeiern verpflichtet, und das ungenießbare
Ergebnis ist nur allzu häufig ein farb- und geschmackloser allgemeiner Brei aus
Zutaten allzu vieler Köche.
Anders aber der 40.
Jahrestag der Befreiung: Man muß schon von Berufs wegen "ausgewogen"
denken wie Kirchenbehörden, um die Alternative "Befreiung oder Niederlage" komplementär zu
versöhnen und auch noch durch den Begriff "Kriegsende" zu
neutralisieren. Und man muß schon ein BRD-Kirchenorgan wie die
"Evangelischen Kommentare" sein, um das ein "peinliche<s>
semantische<s> Gezänk" zu nennen (1985/2, S. 62). Jedenfalls: Ich
bin froh, in einem Staat zu leben, in dem dieser 8.Mai offizieller Feiertag ist
- wie er es in der Vergangenheit jahrzehntelang war und dann - wenn auch aus
verständlichen Gründen - bedauerlicherweise zu sein aufhörte.*
40 Jahre - das ist in
der Bibel die Dauer einer Generation. Und wir, die wir die Befreiung vom
Faschismus noch - mit einem kaum beschreibbaren Gefühl des Triumphes, des
Glücks, der Inangriffnahme politischer Aktivität - erleben durften, sind nun
die letzte Generation, die die ganze Zeit des deutschen Faschismus - von seinem
Beginn bis zu seiner schmählichen Niederlage - bewußt erfahren hat: seinen
Terror gegen Linke und Demokraten, den antisemitischen Sadismus und den
scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug durch Europa, das - gebannt wie das
Kaninchen auf die Schlange fixiert - lange genug gemeint hatte, durch eine Politik
der Beschwichtigung und des Verrats die deutsche Expansion von sich ab- und auf
andere hinlenken zu können. Bis dann schließlich die Sowjetunion - deren
Abschluß eines Nichtangriffspaktes von uns Bürgerlichen wohl keiner verstanden
hat, so daß wir sie 1939-1941 mit den Nazis in einen Topf warfen, und im Blick
auf deren Rückzug wir uns allenfalls mit Napoleons Rußlandfeldzug trösteten -
bis dann schließlich diese Sowjetunion die Nazi-Truppen erst zum Stehen und
dann zum Fliehen brachte.
Damals stand schon die
Alternative: "Befreiung" oder "Katastrophe". Ich erinnere
mich, mit welcher Begeisterung ich zu Freunden - der Vater Mitglied des
Bruderrates der Bekennenden Kirche und alles andere als Nazi - mit der
Nachricht kam, "die Russen" hätten den ersten deutschen Ort erobert,
und wie mir an den betretenen Gesichtern deutlich wurde, daß meine Freude
darüber etwas Unschickliches, etwas ganz und gar Ungehöriges sei. Damals erst
wurde mir deutlich, daß mein Wunsch, das Deutsche Reich möge den Krieg
verlieren, in meinen Kreisen - also in seit je bürgerlichen und seit 1935 auch
kirchlichen Kreisen - nicht als normal, sondern als ganz unnormal angesehen
wurde und daß ich voraussichtlich nach der Besiegung Nazideutschlands mit
meiner Meinung nicht weniger allein stehen würde als vorher zumal auf dem
Höhepunkt der Nazierfolge 1940/41. Das also war das erste, was ich noch in der
Nazizeit lernte: es ist keine Schande, in der Minorität zu sein; nicht an der
Majorität, sondern am Richtigen hat man sich zu orientieren und dann allerdings
alles daran zu setzen, auch eine Majorität für das als richtig Erkannte zu
gewinnen.
Das andere, was meine
Generation bürgerlicher Antinazis - zu Antifaschisten wurden wir erst nach 1945
- noch in der Nazizeit gelernt hat - nicht aus Büchern, sondern aus der
Realität - war: Es gibt Feinde, die sich nicht beschwichtigen lassen, die einem
selbst und anderen nach dem Leben trachten. Was soll die heuchlerische Polemik
gegen Feindbilder, wenn es reale Feinde gibt - damals zuerst erlebt als
Feindschaft der Nazis gegen alle anständigen Deutschen mitsamt den
verängstigten, gedemütigten sogenannten "Nichtariern", dann gegen
fast alle europäischen Völker - dann nach der Befreiung als Feindschaft der
Konterrevolutionäre am 17. Juni 1953, der Konterrevolutionäre in Ungarn, der
CSSR und Polen, heute der Contras in Nikaragua und Afghanistan, als Feinde des
Völkerrechts in Israel, als rassistische Mörder in Südafrika und - verbündet
mit diesen allen und nun die ganze Menschheit bedrohend - als Planer eines
"Krieges der Sterne".
Und so, wie wir als
Bürgerliche vor 1945 zwar nicht gelernt hatten, daß der Grundwiderspruch
unserer Epoche der zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist, wir aber sehr wohl
den Kampf gegen den Nazifaschismus als Hauptaufgabe der Zeit elementar
erfaßten, so verbünden wir uns heute mit allen, die - auch wenn sie den
Grundwiderspruch unserer Epoche noch nicht erfaßt haben - doch in der heutigen
Hauptaufgabe mit uns zusammengehen: im Kampf um die friedliche Koexistenz
zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Und so wie wir damals
erst nach 1941 die historische Rolle der Sowjetunion im Kampf um die Hauptaufgabe
erkennen lernten, so werden wir heute, uns eigener Unwissenheit erinnernd,
ebenso geduldig wie unnachgiebig um die ringen müssen, die so zur Sowjetunion
stehen wie wir 1939-41 und darum von "Supermächten" reden.
Aber wenn wir dieses
breite Bündnis eingehen - so breit, wie die Antihitlerkoalition im Zweiten
Weltkrieg war, zu der schließlich auch ein Churchill gehörte, dessen
Fulton-Rede 1946 das Fanal des Kalten Krieges war -, dann werden wir an zwei
Punkten wachsam sein müssen.
Erstens: Bündnis heißt
nicht "Wandel durch Annäherung", sondern vollzieht sich gerade bei
bewußt bleibender Verschiedenheit auf Grund gleicher vitaler Interessen. Das
heißt aber: je klarer, je prinzipienfester unser eigener Standpunkt ist, um so
breiter kann die Front unseres Bündnisses sein. Sehr konkret: nicht vorgebliche
gesamtdeutsche Gemeinsamkeiten, nicht ökonomische Erpreßbarkeit, nicht
opportunistisches Nachgeben wird es erzwingen, daß auch von westdeutschem Boden
kein Krieg mehr ausgeht, sondern unsere ehrliche, uneingeschränkte Teilnahme am
sozialistischen Bruderbund, die Einheitlichkeit sozialistischer Außenpolitik,
die ökonomische Integration im RGW - also alle die Dinge, die Michail
Gorbatschow in seinen ersten Äußerungen mit Recht so betont hat.
Und zweitens: Wir
werden es begrüßen, daß die konsequente Politik der Sowjetunion die USA
gezwungen hat, in Genf die Weltraumrüstung zum Verhandlungsgegenstand zu
machen. Und wir setzen bei diesen Verhandlungen auf dieselbe unbeirrbare,
unerschütterliche Zähigkeit, mit der die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg
gewonnen hat. Nicht um weniger, sondern um mehr geht es diesmal. Aber wir
werden wachsam sein und nicht jeden gleich als Freund und Bruder willkommen
heißen, der hier einen "Dialog" begrüßt. Denn wir haben den Begriff
"Dialog" noch gut im Ohr: 1968 in der CSSR als Forderung
ideologischer Koexistenz, 1980 als Forderung der Konterrevolution in Polen und
heute als Erpressungsversuch der Contras in Nikaragua. Und auch die
BRD-Regierung - der die doch gewiß unverdächtigen "Evangelischen
Kommentare" (a.a.O.) "schleichenden Revanchismus" bescheinigen -
redet vom "Dialog".
Das Paket
"Erkennen, daß wir Feinde haben" und "Koalition der
Vernunft" gegen eben diese Feinde darf nicht auseinandergeschnürt werden.
Manchmal scheint mir in dieser Beziehung unsere Informationspolitik nicht
vorsichtig genug zu sein. Schadete es denn unserem Optimismus oder stärkte es
nicht vielmehr unsere Kampfkraft für den Frieden, wenn wir nicht nur die
konkreten Arbeitslosen- und Sozialabbau-Zahlen der BRD bekanntgäben, sondern
ebenso deutlich und öffentlich Zahlen ihres Rüstungshaushalts und dessen
Steigerung aufschlüsselten, wie es jüngst die "Neue Stimme" getan
hat? Gerade weil es stimmt, daß wir kein unmittelbarer Verhandlungspartner für
die USA in der Frage globaler Abrüstung sein können, wohl aber einer für die
BRD in der Frage der Förderung oder Hemmung imperialistischer Hochrüstung, kann
in diesen Verhandlungen mit diesem getreuesten Bundesgenossen, den die USA in
Europa haben, doch sozusagen paradigmatisch deutlich werden, wie wir zu der
schreckenerregenden Politik der USA stehen. Und dem sollte auch unsere
öffentliche Informationspolitik entsprechen. Immunisieren wir unsere Bürger
genügend gegenüber Illusionen und Vertrauensseligkeiten gegenüber einem Wolf,
der Kreide gefressen und seine Pfoten mit Mehl gepudert hat?
Dummheit und Antikommunismus (1985)
von Horsta Krum
Dietrich Bonhoeffer:
Von der Dummheit, geschrieben im Jahre 1943:"Dummheit ist ein gefährlicherer
Feind des Guten als Bosheit ... Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit
Protesten noch mit Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen
nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach
nicht geglaubt zu werden, ... und wenn sie unausweichlich sind, können sie
einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden ...
Um zu wissen, wie wir
der Dummheit beikommen können, müssen wir ihr Wesen zu verstehen suchen. Soviel
ist sicher, daß sie nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein
menschlicher Defekt ist. Es gibt intellektuell außerordentlich bewegliche
Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr schwerfällige, die alles andere
als dumm sind... Dabei gewinnt man weniger den Eindruck, daß die Dummheit ein
angeborener Defekt ist, als daß unter bestimmten Umständen die Menschen dumm gemacht werden bzw. sich dumm machen
lassen... So scheint die Dummheit vielleicht weniger ein psychologisches als
ein soziologisches Phänomen zu sein. Sie ist eine besondere Form der Einwirkung
geschichtlicher Umstände auf den Menschen, eine psychologische Begleiterscheinung
bestimmter äußerer Verhältnisse."*
Wir, die nächste
Generation, die in oder nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, haben uns oft
gefragt: Wie war es möglich, daß so viele Menschen im damaligen Deutschland
sich vom Faschismus hinreißen ließen, auf Hitlers Befehl hin in den Weltkrieg
zogen usw. Es gibt eine Reihe von Antworten: Bonhoeffers Sätze über die
Dummheit sind der Versuch einer
Antwort - einer Antwort, die mir einleuchtet und die in den Erfahrungen der
Gegenwart eine Bestätigung findet, eine erschreckend aktuelle Bestätigung...
Am
Anfang dieses Referates hat ein Zitat des deutschen Theologen Bonhoeffer
gestanden. Im letzten Teil nun möchte ich daran anknüpfen und kurz über die Erscheinung sprechen, die der
deutsche Dichter Thomas Mann die "Grundtorheit unseres Jahrhunderts"
genannt hat, nämlich den Antikommunismus.
Der
Antikommunismus ist sehr vielfältig; er kann plump oder subtil sein, er kann
sich fortschrittlich, liberal oder fromm geben; in meinem Land taucht er
manchmal noch in faschistischen Denkkategorien auf. Selbst Zeitungen, Sendungen
von Rundfunk und Fernsehen, die den Anspruch haben, "objektiv" zu
sein, verraten sich oft durch Kleinigkeiten, die um so wirksamer sind, als sie
dem Leser, Hörer usw. nicht bewußt werden, aber doch in ihm ein Gefühl der
Abwehr, der Angst und Unsicherheit gegenüber dem Sozialismus hervorrufen -
besonders dann, wenn die Menschen jahrzehntelang auf diese Weise beeinflußt,
dumm gemacht werden.
Lassen Sie mich zum
Schluß von einem Dokument des Antikommunismus sprechen, das nur einige Wochen
alt ist: von den Reden des Präsidenten der USA anläßlich seines Besuches in der
BRD im Mai 1985. In dem ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen gedachte
er der jüdischen, der katholischen und protestantischen Opfer, erwähnte aber
mit keinem Wort die mehr als 50 000 sowjetischen Opfer, die ebenfalls in
Bergen-Belsen ermordet wurden. Auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg wurde dann
über die Kriegs- und Nachkriegszeit gesprochen, aber das Volk, das am meisten
gelitten hat in diesem Krieg, das die höchsten Verluste an Menschen und Werten
aller Art hatte, wurde auch an dieser Stelle nicht genannt.
Das Verschweigen der
sowjetischen Opfer verfälscht die Geschichte in antikommunistischem Sinn, und
der Besuch in Bitburg, wo außer deutschen Soldaten auch Angehörige der SS
begraben liegen, bedeutete eine Verharmlosung der Verbrechen, die in deutschem
Namen begangen wurde. Die SS hat nicht nur Sowjetbürger, Polen, Deutsche usw.
zu Tode gequält, sondern auch Amerikaner.
Die Rede, die der
Präsident in Bitburg hielt, macht diese Tendenz vollends deutlich: Ein deutscher
ehemaliger Soldat und ein amerikanischer ehemaliger Soldat - beide werden in
gleicher Weise "Kriegsheld" genannt, sie sind "zwei ehemalige
Kriegshelden" (two former war hereos), beide werden "die
Tapfersten" genannt, als gäbe es eine Tapferkeit an sich, unabhängig
davon, auf welcher Seite man in diesem Krieg gekämpft hat. Hier wird ein
Merkmal deutlich, das man zunächst einmal als Verharmlosung des Faschismus
bezeichnen kann, und zwar des Faschismus nationalsozialistischer Prägung, wie
auch die Verharmlosung von faschistoiden Regimen (Südafrika, Chile usw.) und
von menschenverachtender Praxis (Rassismus usw.).
Die Bitburg-Rede läßt
den Faschismus in mystischem Dunkel. Begriffe wie "das Böse",
"Unheil", "Dunkelheit" sollen die klar analysierbare
geschichtliche Erscheinung des Faschismus beschreiben. "Die
Geschichte" und eine "bösartige Ideologie" (vicious ideology)
werden als Ursprung des Faschismus benannt - und immer wieder taucht der
Begriff "Totalitarismus" auf.
Als Gegenbegriffe zum
Faschismus dienen: das Gute, Hoffnung, Vertrauen, das Adjektiv "hell"
und vor allem das Wort "Freiheit". Unversehens gelten diese Begriffe
nun nicht mehr der Befreiung vom Faschismus, sondern dem US-amerikanischen und
bundesdeutschen Gesellschaftssystem. Und eben die Begriffe, die vorher den
Faschismus beschrieben, werden nun angewandt auf den Sozialismus. "Das
Gute" und "das Böse" werden eindeutig zugeordnet, wobei die USA
und die BRD auf seiten des Guten stehen mit moralischem Maßstab (moral
measure). Der Satz "Der Kampf für die Freiheit ist noch nicht zu
Ende" (the struggle for freedom is not complete) u.a. muß im Kontext der
Gleichstellung von Faschismus und Sozialismus angesehen werden als
Aufforderung, den Kampf von damals fortzusetzen als Kampf gegen den
Sozialismus.
Wenig weiß der
Präsident vom Inhalt des neu errungenen Guten zu sagen: es verengt sich auf die
"neuen wirtschaftlichen Freiheiten" (new economic freedoms) und den
Wohlstand (prosperity) in Asien. In dieser Spezifizierung taucht das allzu viel
benutzte Wort Freiheit zum letzten Mal in der Bitburg-Rede auf.
Der Auftritt von
Reagan und Kohl gibt denen in meinem Lande Recht, die den Faschismus als
Entgleisung eines Zuges empfinden, der ansonsten in die richtige Richtung
fährt.
Der Auftritt von
Reagan und Kohl gibt denen Recht, die den Faschismus neu zur Geltung bringen
wollen, die wieder Synagogen und jüdische Friedhöfe beschädigen, die im
Sozialismus das größte Übel erblicken, das - mit welchen Mitteln auch immer -
bekämpft werden muß.
Der Auftritt von
Reagan und Kohl bestätigt die amerikanische Rüstungspolitik, die dem "sowjetischen
Huhn den Kopf abschlagen" will und wichtigere Ziele hat als den Frieden.
Der Auftritt von Reagan und Kohl bestätigt den schon erwähnten Dichter Thomas
Mann; neun Jahre nach der Befreiung stellt er fest: "In meinen Augen ist
der wütend um sich schlagende Antikommunismus eine Form des Faschismus, der das
Wort Freiheit im Munde führt."...
Wider den Antikommunismus (1985)
von Metropolit Mar
Gregorius /Indien
Die ideologische Krise
hat mit dem Wirklichkeitsverständnis des Volkes zu tun und damit, wie es jene
Wirklichkeit umformt, damit sie seinen besten Interessen dient. Die Krise ist
in den Köpfen der Leute. Sie wissen nicht, wem sie glauben beziehungsweise wie
sie verstehen sollen. Andererseits gibt es da den in der Welt weit verbreiteten
simplen Antikommunismus; selbst Menschen in den sozialistischen Ländern sind
nicht immun dagegen. Gewöhnlich hat er einen religiösen und einen weltlichen
Aspekt: Das religiöse Element konzentriert sich auf den kommunistischen
"Atheismus". Die Tatsache, daß Kommunisten nicht an Gott und nicht -
wie Reagan es jetzt sieht - an ein Leben nach dem Tode glauben, ist ein
hinreichender Grund, nicht nur den Kommunismus abzulehnen, sondern auch einen
"heiligen Krieg", einen Kreuzzug gegen ihn zu führen. Der weltliche
Aspekt konzentriert sich auf die Furcht vor dem Kommunismus als dem großen
"Gleichmacher", der die Privilegien und Freiheiten der Reichen
beseitigen werde. Religiöse und weltliche Elemente verstärken einander,
begleitet von einem systematisch (und subtil) den Leuten eingeprägten Haß gegen
die "Russen". Einer solchen antikommunistischen, antisowjetischen
Ideologie nehmen sich Politiker und religiöse Führer überall in der Welt an und
verbreiten sie - besonders unter Christen und Moslems. Jede In-Frage-Stellung
eines solchen naiven Antikommunismus wird emotional abgelehnt, und es kommt zu
einer traurigen Trübung des klaren Verstandes und zur Weigerung, die
Wirklichkeit anzuerkennen.
In der
Zwei-Drittel-Welt ist dieser Antikommunismus alles durchdringend gegenwärtig,
besonders in der Mittelschicht, die der westlichen Propaganda gegenüber offener
als andere ist. Sie beklagt sich freilich in erster Linie nicht über die
Gottlosigkeit des Kommunismus, sondern über das angebliche Fehlen einer
Freiheit von staatlicher Kontrolle. Es gibt auch vorgefaßte Meinungen über die
"blutigen und gewaltsamen Methoden" des Kommunismus, zum Teil
gegründet auf Impressionen aus der Stalin-Ära, vor allem aber als Ergebnis der
im Westen gezeichneten Karikatur des Kommunismus.
Dieses
antikommunistische Vorurteil, selten systematisch artikuliert, wird ein
wichtiges Werkzeug des Imperialismus und der reaktionären Kräfte in der Welt.
Die Zeitungen, die meist reicheren Gruppen gehören, halten systematisch alle
positiven Informationen über die sozialistischen Länder zurück. Dagegen spielen
sie die Dissidenten beziehungsweise einzelne politische Prozesse hoch und
erwecken mit allen nur möglichen Mitteln den Eindruck, daß den Menschen in den
sozialistischen Ländern die Menschenrechte verweigert würden. Darüber hinaus
erschwert die Infiltration einer subtilen Form westlichen Liberalismus die
offene Ideologie-Diskussion - und zwar in den industriell entwickelten Ländern
ebenso wie in der Zwei-Drittel-Welt. Dieser Liberalismus vertritt mit einer
gewissen hochmütigen Herablassung die Ansicht, daß Kapitalismus und Sozialismus
beide schlecht seien und daß wir nach einem "dritten Weg" Ausschau zu
halten hätten. Jeder "dritte Weg" aber erweist sich schließlich nur
als eine weitere Variante der Politik der Marktwirtschaft!
Gleichzeitig gibt es
eine Krise innerhalb des Marxismus selbst, die die Diskussion zusätzlich
kompliziert. Diese Krise hat zwei unterschiedliche Quellen:
Die erste ist das
Aufkommen einer verwirrenden Anzahl neuer (bzw. wiederbelebter alter) Versionen
des Marxismus. Der Euro-Kommunismus, der Kommunismus der Wohlstandsgesellschaft
mit seinem unverhohlenen Antisowjetismus ist eine Form. Unter jungen Intellektuellen kommt der Trotzkismus
wieder in Mode. Am bösartigsten aber sind die vielfältigen Formen der
"neuen Linken" mit ihren simplizistischen Heilmitteln für die
komplexesten Probleme und mit ihrem Eintreten für die "permanente
Revolution" oder einen "kritischen Marxismus" - ohne daß sie
jedoch die praktischen Implikationen dieser neuen Doktrin wirklich erkennen. Da
gibt es die chinesische Spielart eines pragmatischen Marxismus, der
Großmachtambitionen mit sozialistischen Zielen zu verbinden sucht.
Die Folge dieser
vielfältigen Formen von "Marxismus" ist eine ideologische Verwirrung
unter Marxisten selbst. Die Führungen marxistischer Parteien haben Angst vor
tiefgehender ideologischer Reflexion und Diskussion aus Sorge um die Einheit
der Parteien. Das Ergebnis ist, daß junge Marxisten (und viele von den alten
ebenso) in der marxistischen Theorie nur ungenügende Kenntnisse besitzen und
sich bei der Ausarbeitung von Aktionsprogrammen durch fremde und unwesentliche
Überlegungen leiten lassen.
Die andere Quelle der
Krise ist die Tatsache, daß der an der Macht befindliche Kommunismus andere
Qualitäten bezeugt als der für die Emanzipation des Volkes noch kämpfende Kommunismus.
Der Geist der Opferbereitschaft und der Wille zum Ertragen der Härten
schwinden, während die üblichen Wertvorstellungen der Machtelite innerhalb der
Parteikader nach oben kommen. Das wiederum stößt jene Marxisten ab, die nach
wie vor an den Werten des revolutionären Kampfes festhalten. Da aber die Macht,
Entscheidungen zu fällen, nicht in ihrer Hand liegt, ziehen sie sich still und
leise von der politischen Bühne zurück und versuchen in der akademischen Welt
oder in ähnlich ruhigen Atmosphären zu arbeiten. Die ältere Führung konsolidiert
ihre Macht in der Partei und dem Staatsapparat; die Ideologie wird so
kompromittiert.
Das Endergebnis ist
ein Nachlassen ernsthafter, sich auf die Praxis gründender theoretischer Reflexion.
Es ist verständlich, daß die Marktwirtschaft die intellektuelle Welt von der
ideologischen Reflexion abhalten soll und sich mit einer Art Ad-hoc-Denken und
dem kritischen Pragmatismus begnügt - hat sie doch die Gefahr erkannt, daß
tieferes Nachdenken nur die gegen das Volk gerichteten Aspekte des
marktwirtschaftlichen Programms entlarven würde. Das ist nicht zu befürchten,
solange sich die Diskussion auf pragmatische Aspekte des Programms beschränkt.
Das Tragische aber ist, daß es auch in sozialistischen Parteien eine
Verhinderung ernsthaften (das heißt auf die Wirklichkeit gründenden)
theoretischen Nachdenkens gibt.
Die jungen Leute sind
verwirrt. In einem Alter, wo nur mit der Praxis eng verbundene theoretische
Erkenntnisse zu tieferen Überzeugungen führen können, sehen sie wenig Licht,
dem sie folgen könnten. Die Universitäten in der Welt der Marktwirtschaft befinden
sich selten in der dazu notwendigen Verfassung. Selbst in sozialistischen
Ländern - so scheint es zumindest dem Außenstehenden - bleibt da noch viel zu
wünschen übrig.
Die ideologische Krise
besteht also nicht etwa in einer direkten Konfrontation zwischen
sozialistischen und Freie-Markt-Ideologien, sondern gerade im Fehlen einer
solchen Konfrontation auf der ideologischen Ebene. Der christlich-marxistische
Dialog hat einmal dabei geholfen, einige ideologische Fragen zu klären. Heute
aber herrscht die Tendenz, ideologische oder theoretische Fragen im Dialog zu
vermeiden und die Diskussion auf allgemein akzeptable Dinge und Programme zu
beschränken. Das Endergebnis ist, daß die Leute abgeschnitten werden von der
ideologischen Reflexion, die nun auf eine halbverdaute Diskussion unter
"sicheren" Akademikern beschränkt bleibt.
FdGO (Freiheitlich-demokratische Grundordnung)
als Bekenntnisschrift der EKD ? (1985)
von Dieter Kraft
Stellen wir uns einmal
vor, daß der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR eine Denkschrift
herausgäbe mit dem Titel:
"Evangelische
Kirche und sozialistische Demokratie. Der Arbeiter- und Bauernstaat der
sozialistischen Verfassung als Angebot und Aufgabe."
Stellen wir uns weiter
vor, die Einleitung zu dieser Denkschrift begänne:
"Als evangelische
Christen in der Deutschen Demokratischen Republik nehmen wir auf vielfältige
Weise am Leben und an der Gestaltung unseres Staates teil. Daß wir in einer
sozialistischen Demokratie leben, ist weithin selbstverständlich geworden. Diese
Denkschrift soll über die Zustimmung zu dieser Demokratie und das Eintreten für
sie Rechenschaft ablegen ... Was hier über Staat und Demokratie gesagt wird,
gilt dem Staat der sozialistischen Verfassung der Deutschen Demokratischen
Republik."
Dann würde noch einmal
unterstrichen:
"Die hier
vorgelegte Denkschrift will die Zustimmung evangelischer Christen zur
sozialistischen Staatsform der Verfassung begründen und ihre Konsequenzen für
das Leben als Bürger in unserem Staat erörtern."
Stellen wir uns weiter
vor, wir läsen in dieser Denkschrift des Kirchenbundes:
"Nur eine
sozialistische Verfassung kann heute der Menschenwürde entsprechen ... Keine
heute bekannte Staatsform bietet eine bessere Gewähr, die gestellten Probleme
zu lösen, als die sozialistische Demokratie...
Die Kirche begleitet
den Staat in seinem Auftrag und die Christen in ihrer politischen Existenz;
aber sie tritt nicht an die Stelle des Staates und nimmt den Christen nicht
ihre Verantwortung als Bürger ab..."
Dann schließlich liefe
die Begründung der Zustimmung und die Erörterung der Konsequenzen dieser
Zustimmung evangelischer Christen zur sozialistischen Verfassung aus in eine
lebhafte Explikation des gesamten sozialistischen Staatsrechtes, die ohne
Bedenken als Lehrmaterial für den Staatsbürgerkunde-Unterricht akzeptabel wäre.
Und zuletzt stelle man
sich vor, die Denkschrift hätte der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR
ausarbeiten lassen von einem Gremium, von dem über die Hälfte der Mitglieder
hohe Staatsfunktionäre, Minister, Staatssekretäre und oberste Richter gewesen
wären...
*
Das alles stimmt nur
beinahe! Es handelt sich bei dem, was wir zitierten, nicht um eine Denkschrift
des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR über seine Zustimmung zur
sozialistischen Verfassung. Sondern es handelt sich um einen Text, der dann
entsteht, wenn man die Denkschrift der EKD "Evangelische Kirche und
freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und
Aufgabe" unter dem Gesichtspunkt der goldenen Regel liest. Alle
Formulierungen sind der "Denkschrift der Evangelischen Kirche in
Deutschland" wörtlich entnommen; lediglich haben wir, was sie über den
kapitalistischen Staat der BRD, der sich in der FdGO, der
"Freiheitlich-demokratischen Grundordnung" im Grundgesetz der BRD
seine Verfassung gegeben hat, zu sagen weiß, auf die sozialistische Ordnung des
Arbeiter- und Bauernstaates in der DDR und seine Verfassung bezogen.
Wir können die
neugierige Frage nicht unterdrücken: Was würden wohl die Verfasser der
EKD-Denkschrift, die Bundesminister a.D., die parlamentarischen Staatssekretäre
im Dienst, die Verfassungsgerichts-, Universitäts- und sonstigen zahlreichen
Präsidenten und Vizepräsidenten samt prominenten Kirchenführern und
Professoren, die diese Denkschrift unter dem Vorsitz von Trutz Rendtorff
ausgearbeitet haben, sagen, wenn der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR
eine entsprechende Denkschrift vorgelegt hätte?
Jedenfalls würde man
es sich in der EKD sehr wohl überlegen, ob es unter diesen Umständen noch zu
verantworten wäre, die Beziehungen zu einer solchen DDR-Kirche weiterhin unter
dem Aspekt einer "besonderen Gemeinschaft" zu gestalten. Hätte der
Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR eine solche Denkschrift, wie wir sie
uns oben ausgedacht haben, verfaßt, müßte die EKD gegenüber dem Kirchenbund auf
Distanz gehen, wollte sie nicht in den Ruf kommen, mit prokommunistischen
Kräften zusammenzuarbeiten, die unter den gegenwärtigen Bedingungen der
BRD-Gesellschaft bekanntlich als verfassungsfeindlich gelten.
Doch für die EKD
besteht kein Grund zur Beunruhigung, denn es ist nicht zu erwarten, daß der
Kirchenbund jemals eine entsprechende Denkschrift verabschieden würde, und es
ist ganz und gar nicht zu erwarten, daß Staat und Gesellschaft der DDR vom
Kirchenbund jemals eine solche Denkschrift erwarten könnten.
Erwartungen hegt
lediglich die EKD gegenüber dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR: er
möge sich als eine "eigenständige gesellschaftliche Kraft" erweisen.
Die Christen in der DDR "leben in einem anderen gesellschaftlichen System
und einer anderen Staatsform. Ihren Weg und ihre Aufgabe als Staatsbürger
bestimmen sie in ihrer Kirche als einer eigenständigen gesellschaftlichen Kraft
für sich selbst, so wie wir es hier für uns tun. Diese Klarstellung mindert
nicht den Ernst unserer Überzeugungen." Sprich: der Überzeugung, daß
gesellschaftliches System und Staatsform der DDR nicht der Würde des Menschen
entsprächen, denn: "Nur eine demokratische Verfassung", versteht
sich: im Sinne der FdGO, "kann heute der Menschenwürde entsprechen."
Wer nicht zu verstehen
vermag, wie eine solche Aussage mit der Wirklichkeit des außergewöhnlich
gewöhnlichen BRD-Kapitalismus in Einklang zu bringen ist, wer also nicht in der
Lage ist, zum Beispiel die Millionen Arbeitslosen wegzudenken, damit er sich
unter dieser "Menschenwürde" etwas denken kann, der wird auch
Schwierigkeiten mit der den Christen in der DDR empfohlenen
"Eigenständigkeit" haben.
Ganz deutlich meint ja
dieser Satz keine "Eigenständigkeit" des DDR-Kirchenbundes gegenüber
der EKD, sondern gegenüber der DDR. Dabei täuscht der Vergleich "Wie wir
es hier für uns tun" über die Realität hinweg, die gerade in dieser
EKD-Denkschrift selbst Ausdruck findet: Abgesehen davon, daß die Kirche nicht
berufen ist, eine "eigenständige gesellschaftliche Kraft" zu sein (wo
zum Beispiel ist sie das im Neuen Testament?), zeigt jedenfalls die Denkschrift
der EKD nicht einmal eine Spur von Eigenständigkeit der evangelischen Kirche
gegenüber der Gesellschaftsordnung der BRD, insbesondere auch keinerlei
geistliche Eigenständigkeit ihr gegenüber. Dahingegen wird der Verdacht durch
diese Denkschrift keineswegs entkräftet, sondern eher gefördert, die
"eigenständige gesellschaftliche Kraft" der evangelischen Kirchen in
der DDR müsse eigentlich im Sinne des Bonner Grundgesetzes wirken.
*
Mit der
EKD-Denkschrift ist die These, die bislang niemand bestritten hatte, daß
nämlich das Bonner Grundgesetz nicht zu den kirchlichen Bekenntnisschriften
gehöre, faktisch problematisiert worden. Die in der Denkschrift zum Ausdruck
gebrachte Bejahung der "freiheitlich-demokratischen Ordnung" wird
nämlich nicht politisch begründet, sondern theologisch sanktioniert. Daran läßt
auch der Satz keinen Zweifel: "Die Demokratie beruft sich nicht auf ein bestimmtes
religiöses Bekenntnis." Denn dieser Satz meint nichts anderes, als daß die
Zustimmung zur FdGO nicht von einem bestimmten
religiösen Bekenntnis abhänge, da doch die Präambel des Grundgesetzes lediglich
allgemein religiös feststelle,
"daß das deutsche Volk das Grundgesetz 'im Bewußtsein seiner Verantwortung
vor Gott und den Menschen' beschlossen habe."
Diese Präambel (die
die in der Denkschrift gleichfalls beschworene Religionsfreiheit und weltanschauliche
Neutralität des Staates schon insofern aufhebt, als das Menschenrecht auf
Areligiosität und darauf, diesen Allerweltsgott, auf den die bürgerliche Nation
vertraut, zu verleugnen, durch eine solche Passage gröblich mißachtet wird)
reicht den Verfassern der Denkschrift offensichtlich nicht aus, um eine
"positive Beziehung der Christen zum demokratischen Staat"
hinlänglich begründet zu sehen. Deshalb bringen sie eine massivere Begründung
ins Spiel: die "besondere Nähe und deswegen auch eine positive Beziehung
zwischen den geistigen Grundlagen der demokratischen Staatsform und dem
christlichen Menschenbild". "Für Christen ist es wichtig zu erkennen,
daß die Grundgedanken, aus denen heraus ein demokratischer Staat seinen Auftrag
wahrnimmt, eine Nähe zum christlichen Menschenbild aufweisen ... Auch die
Demokratie ist keine 'christliche Staatsform'. Aber die positive Beziehung von
Christen zum demokratischen Staat des Grundgesetzes ist mehr als äußerlicher
Natur; sie hat zu tun mit den theologischen und ethischen Überzeugungen des
christlichen Glaubens."
Wenn dem so wäre, wenn
das Verhalten von Christen gegenüber dem Grundgesetz der BRD nicht allein und
ausschließlich nach politisch begründeten Grundsätzen erfolgen könnte, sondern
zunächst und vor allem oder auch nur gleichermaßen theologischer Natur wäre,
dann gehörte dieses Grundgesetz der BRD nicht mehr zu den bekenntnisneutralen
Adiaphora, sondern nähme den Charakter eines Bekenntnistextes an.
Und so verwundert es
denn auch nicht mehr, daß in der Denkschrift die bürgerlichen Verfassungsprinzipien
geradezu wie Dogmen der Kirche behandelt und festgeschrieben werden, allen
voran das Prinzip der "repräsentativen Demokratie", das die
Legitimität außerparlamentarischer politischer Aktivität verfassungsrechtlich
suspekt macht, weshalb sich die Denkschrift letztlich auch gegen
"plebiszitäre Verfahren", gegen Volksbegehren und Volksentscheide,
ausspricht und damit jene Entwicklung begünstigt, die der ehemalige
Bundesverfassungsrichter Helmut Simon auf dem Düsseldorfer Kirchentag dieses
Jahres öffentlich als "repräsentativen Absolutismus" verworfen hat [1].
Daß die
"Freiheitlich-demokratische Ordnung" des Bonner Grundgesetzes für die
Verfasser der EKD-Denkschrift sakrosankt geradezu in dem Sinne ist, der im
Mittelalter allein "heiligem Recht" und "göttlicher
Ordnung" zugebilligt wurde, bestätigt endgültig auch die Auskunft, diese
"Freiheitlich-demokratische Grundordnung" sei schlechthin
unantastbar, und ein politisches Widerstandsrecht könne ausschließlich solchen
zugebilligt werden, die einer historischen, gesellschaftlichen oder moralischen
Infragestellung der bürgerlichen Ordnung widerstehen: "Dies ist ein
Widerstandsrecht zugunsten der Ordnung des Grundgesetzes, nicht gegen
sie."
*
Helmut Simon hat auf
dem Kirchentag nicht nur vom "repräsentativen Absolutismus"
gesprochen, sondern auch von der in der BRD herrschenden "Tendenz, die
Verfassung zum Religionsersatz für die säkularisierte Gesellschaft
hochzustilisieren."[2]
Die Denkschrift der
EKD tritt dieser Tendenz nun wirklich nicht entgegen. Sie erscheint zudem zu
einer Zeit, die geradezu als Unzeit erscheint, wenn man bedenkt, daß eine Wegweisung
zu demokratischem Bewußtsein durch die EKD eigentlich 1945 fällig gewesen wäre.
Damals allerdings verglichen ihre Führer die Nazis mit den bürgerlichen
Revolutionären des ausgehenden 18. Jahrhunderts und diskriminierten damit die
Väter der Demokratie statt die Faschisten, die sie mit diesem Vergleich treffen
wollten. Damals befanden sich die Führer der EKD in ihrer Mehrheit in einem
zähen Widerspruch gegen die Mahnung Karl Barths und anderer zur Entwicklung
demokratischen Verantwortungsbewußtseins in den deutschen Kirchen. Aber hat
sich seitdem überhaupt so viel geändert, wie es scheint? In der Denkschrift ist
schließlich immer von der demokratischen Form
des Staates, niemals von dem Inhalt
der Demokratie, der Volksmacht, die Rede.
Erst in dem Maße, in
dem die restaurative Entwicklung in der BRD zeigte, daß Formen der bürgerlichen
Demokratie durchaus verwendbar waren, um die Oligarchie von Konzernen zu
verhüllen, öffnete sich diese kirchliche Institution "demokratischen"
Gedanken. Und jetzt wirbt sie für einen bürgerlichen Staat um Zustimmung und
Vertrauen, der sich offenkundig als unfähig erwiesen hat, die wachsenden
Sozialprobleme einer "freiheitlich-demokratischen" Kapitalwirtschaft
aufzuhalten, geschweige denn zu lösen, und der gleichermaßen durch seine Rüstungspolitik,
durch seine Politik gegenüber der Dritten Welt und durch einen zunehmenden
Demokratieverlust an Zustimmung und Vertrauen immer mehr - gerade auch unter
engagierten Christen und Demokraten - verliert.
Das ist nicht Ursache,
sondern Ausdruck einer Gefährdung der Demokratie. Sie droht wie meistens so
auch hier von rechts. Die Oligarchen der Monopole können die demokratischen
Hüllen fallen lassen, wenn sie die demokratischen Inhalte weit genug
paralysiert haben. Wenn die EKD in politischer Mitverantwortung davor warnte, dann wäre ihr die
Zustimmung der Ökumene bis nach Südafrika (denn zum Beispiel an der Politik dem
Rassistenstaat gegenüber zeigt sich, wie ernstlich man demokratisch ist!) und
auch unsere Zustimmung gewiß.
Die Verfasser der
EKD-Denkschrift aber wissen zwar: "Die Loyalität zum Staat kann in eine
Krise geraten, wenn ihm die Kompetenz zur Lösung lebens- und
zukunftsentscheidender Probleme nicht zugetraut wird" und fürchten, daß
sich dann "die Frage nach möglichen Alternativen" stellt. Doch ihre
Antwort lautet: "Die Lösung kann nicht in einer Abkehr vom
parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat liegen." Denn: "Auch wo es
dem demokratischen Staat schwerfällt, Probleme zu lösen, hat er doch den
unschätzbaren Vorteil, die öffentliche, freie Diskussionen aller Probleme zu gewährleisten
und so die Prüfung aller Lösungsmöglichkeiten zu ermöglichen."
Aber auch diese
Argumentation ist defensiv im Blick auf die juristischen Formen statt offensiv
im Blick auf die gesellschaftlichen Inhalte der Demokratie. Zudem operiert sie
mit einer Verwechslung: Ein parlamentarisch-demokratischer Rechtsstaat ohne
Anführungsstriche, also wenn man diese Bezeichnug im ursprünglichen Sinne der
einzelnen Worte und nicht als Fachausdruck versteht, ist zum Beispiel die DDR
auch: in ihr geht alle Gewalt vom Volke aus; sie ist demokratisch. Diese Gewalt
wird von gewählten Organen wie der Volkskammer und anderen ausgeübt, in denen
Parteien zusammenwirken; ihre Organisation ist also parlamentarisch. Und ihre
Gesetzlichkeit ist allgemeinverbindlich; sie ist also ein Rechtsstaat. Mag die
"Freiheitlich-demokratische Grundordnung" des Bonner Grundgesetzes eine Form des "parlamentarisch-demokratischen
Rechtsstaates" sein, so ist sie jedenfalls doch nicht die einzige Form einer Demokratie mit dem
Charakter des Rechtsstaates und der Machtausübung durch Volksvertretungen. Dies
fortlaufend zu unterstellen, ist ein typischer Ausdruck dafür, wie tief auch
die EKD die Überheblichkeit verinnerlicht hat, die in ihrer schlimmsten Form in
der Idee der Herrenmenschen und in ihrer mehr komischen Form in der
Hallsteindoktrin ihren Ausdruck gefunden hat und bis heute in der arroganten
Selbstbezeichnung der Bundesrepublik als "Deutschland" nachklingt.
Kennzeichnend ist, daß
die EKD zur Bezeichnung des Wesens der Demokratie, die sie vertreten möchte,
offenbar des Begriffes der Volkssouveränität nicht bedarf. Ihrer Entfaltung
aber dienten doch nur all die verschiedenen Formen, die die Denkschrift so
hochschätzt. Die Volksmacht ist für die Demokratie das Wesen und die Konstante.
Parlamentarismus, Gewaltentrennung, Repräsentationsformen, Wahlsysteme und
dergleichen gehören zu ihren historisch unterschiedlichen Erscheinungen und
sind variabel im Zuge der Weiterentwicklung der Demokratie, zum Beispiel auch
zum volksdemokratischen oder Sowjetsystem. In ihnen tritt lediglich in
verschieden bedingter sozialer und historischer Form das Wesen der Demokratie
als Selbstherrschaft des Volkes in Erscheinung. Verwechselt man wie die
EKD-Denkschrift eine konkrete Erscheinung von Demokratie mit deren Wesen, dann
ist man bestenfalls scheindemokratisch.
Darum anscheinend
fällt es der EKD schwer, die politische Mitverantwortung von Christen für das
öffentliche Wohl politisch zu
begründen. Darum will sie für die Grundordnung der BRD "theologisch"
"Rechenschaft" ablegen. Die Frage der Evangelischen Kommentare [3]
ist demgegenüber nicht unbegründet; sie lautet: "Grundsätzlich aber bleibt
die Frage, ob die evangelische Kirche gut beraten war, ihre Zustimmung zur
Staatsform der Bundesrepublik so nachdrücklich und in dieser Form zu
präsentieren ... Auch wenn man als Bürger dem zustimmen mag, daß es keine
bessere als die gegenwärtige Staatsform für die Bundesrepublik gibt, bleiben
Zweifel, ob diese Erkenntnis einer theologischen Beweisführung bedarf. Der EKD
könnte ungeachtet der politischen Richtigkeiten ihrer Demokratie-Denkschrift
dieses Dilemma schon bald offenbar werden: dann, wenn andere Protestanten -
zumal auf deutschem Boden - sich genötigt sehen, eine theologische Begründung
für eine andere politische Grundordnung zu liefern."
Nun, wir Christen in
der DDR können die Verfassung unseres Landes politisch begründen. Das Volk
unserer Republik hat sie sich nicht im Vertrauen auf einen Allerweltsgott,
sondern in politischem Selbstvertrauen gegeben, und wir Christen haben ihr
zugestimmt. Dabei haben wir auf den Gott vertraut, von dem uns die Schrift
sagt, nach seiner Anordnung habe der Staat die Aufgabe, nach menschlicher
Einsicht und nach menschlichem Vermögen unter Androhung und Ausübung von Gewalt
für Recht und Frieden zu sorgen. Das ist für uns (mit Barmen V) ein
Bekenntnissatz, und zwar ein solcher, der auch ökumenisch akzeptabel ist. Nur
auf unsere menschliche Einsicht berufen wir uns darum, wenn wir überzeugt sind
und andere davon überzeugen wollen, daß hier und heute die Verfassung unseres
Landes dieser Friedensaufgabe, die wir mit dem Staat wahrnehmen und die der
Staat mit uns wahrnimmt, höchst dienlich ist. Es erschiene uns aber sowohl als
unchristlich wie auch als undemokratisch, diese Verfassung selber
"theologisch" begründen zu wollen. Als unchristlich, weil wir uns zu
Jesus Christus allein und nicht zu einer Staatsverfassung, nicht einmal zur
Demokratie oder zum Sozialismus "bekennen", und undemokratisch, weil
wir nach unserer menschlichen Einsicht politisch die Volkssouveränität und
Volksmacht bejahen, die ihrem Wesen nach säkular ist und säkular bleiben muß.
Unser Friedensprogramm (Januar 1986)
von Hanfried Müller
Die Weißenseer Blätter
gelten als "kritisch", und das ist uns so recht. Nur zu applaudieren
und zu akklamieren liegt uns nicht. Triumphalismus, Lobhudelei und Personenkult
mögen wir nicht (und wer uns dabei erwischt, möge uns das sagen!). Aber wir
halten auch nichts von kleinlichem Spießertum, das jeden großen Entwurf
bemäkeln oder ihn sich selbst zuschreiben muß. Wenn ein Land, eine Partei, eine
Person (in diesem Falle die Sowjetunion, ihre kommunistische Partei und Michail
Gorbatschow) die führende Rolle auf dem Weg zum Frieden übernehmen, indem sie
einen Plan unterbreiten, der die guten Elemente aller bisherigen Vorschläge
(gerade auch solcher, die aus der Kirche kamen) realisierbar zusammenfaßt, der
sich mit den Interessen fast aller verträgt und der zu verwirklichen
verspricht, was für die meisten von uns eine Bekenntnisfrage ist: Abschaffung
der Massenvernichtungsmittel! - dann gilt es, diese Führung anzuerkennen und zu
der möglichen Lösung des Weltproblems Nr.1 ja zu sagen. Dann darf der
selbstbezogene Rückblick (was wir, die Kirche, doch alles schon für den Frieden
getan haben) den Blick nach vorn nicht verstellen, und die kritisch-würdigende,
auf "eigenständige Friedensarbeit" bedachte Distanz muß hinter
völliger Integration zurücktreten. Wenn Frieden für uns nicht eine
gelegentliche Aufgabe, sondern die politisch zentrale Frage ist, dann mündet
die Erziehung zum Frieden und der Traum, Schwerter zu Pflugscharen zu
schmieden, nun in die Aufgabe, eine Konzeption und einen Plan für den Frieden
zu realisieren, sie mündet in unser Friedensprogramm.
Dabei ist das Wort "unser" gerade nicht urheberrechtlich gemeint. In
diesem Sinne handelt es sich um ein Programm der Sowjetunion und der KPdSU, wie
Michail Gorbatschow es vorgelegt hat. In diesem urheberrechtlichen Sinne ist es
weder das Programm der UNO noch der Ökumene, weder das Programm der DDR noch
das unseres Kirchenbundes und schon einmal gar nicht das Programm der
Weißenseer Blätter. In diesem Sinne also ist es nicht unser Programm. Aber sollen darum wir, die wir nicht die Urheber
dieser Konzeption sind, so eitel sein, sie bestenfalls "hoffnungsvolles
Zeichen" oder "Schritte in die richtige Richtung" zu nennen und
von "sorgfältiger Prüfung" zu reden, weil es nicht unsere Entdeckung
ist? Sollen wir die Erde für eine Scheibe halten, weil nicht wir entdeckt
haben, daß sie eine Kugel ist? Sollen wir nicht mehr auf Rädern fahren, weil
nicht wir sie erfunden haben? Das hieße, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.
Und dies Programm ist
heute dringlicher, als es einst die Entwicklung des Rades und die kopernikanische
Wende war. Zur Not hätte die Menschheit auch noch ein bißchen länger ohne Räder
oder mit dem ptolemäischen Weltbild weiterexistieren können; ohne die Wende von
der Hochrüstung zur Abrüstung wird sie das kaum zureichend sicher können. Denn
je mehr die vorhandene over-kill-Kapazität der Massenvernichtungsmittel
elektronisch automatisiert wird, desto wahrscheinlicher wird die Auslösung der
Katastrophe durch eine Fehlleistung der Vollautomatik: Ende der
Menschheitsgeschichte durch Unfall! Aber durch einen solchen Unfall, der -
gemessen an dem, was heute jeder weiß oder wissen kann oder jedenfalls wissen
müßte - grob fahrlässig, wenn nicht bedingt vorsätzlich verschuldet wäre.
Denen, die fahrlässig die Gefahr heraufbeschwören, muß das Gewissen für ihre
Verantwortung geschärft, denen, die sie bedingt vorsätzlich in Kauf nehmen, muß
ihre Macht beschnitten werden. Erfreulicherweise wird deren Macht von selbst in
dem Maße geringer, in dem die politische Fahrlässigkeit derer abnimmt, die zwar
keineswegs den Weltbrand in Kauf nehmen wollen, aber noch zu leichtfertig
darauf vertrauen, zum schlimmsten könne und werde es nicht kommen. Denn der
Masseneinfluß derer, die einen Atomkrieg riskieren, beruht zum Teil darauf, daß
breite Massen ihnen das leichtfertiger Weise nicht zutrauen.
Den Sinn für die
Gefahr zu schärfen und zur Wachsamkeit zu rufen, war schon bisher ein wichtiger
Dienst der Weltfriedensbewegung. Sie vermochte auch positiv den Weg zu derjenigen
Struktur zu zeigen, die politisch die Erhaltung des Friedens gewährleisten
kann: zu einer gleichen Sicherheit für alle und in diesem Sinn zu einer
"Sicherheitspartnerschaft" durch internationale Beziehungen
entsprechend der Konzeption friedlicher Koexistenz zwischen Staaten
verschiedener und zum Teil antagonistischer Gesellschaftsordnung. Dabei zeigte
sich, daß ein Programm, wird es zur Leitlinie breiter Massen und zugleich
einflußreicher Staaten, auch gegen erhebliche Widerstände durchsetzbar ist.
Nach zehn bis fünfzehn Jahren hartnäckigen Ringens triumphierte die Politik
friedlicher Koexistenz in Europa und hatte weit über Europa hinaus denkbar
positive Auswirkungen auch in der übrigen Welt. Man sollte sich auch ruhig
einmal dessen erinnern, daß gerade in der Kirche viele "Helsinki" mit
Emphase begrüßt haben, die noch wenige Jahre vorher der Idee friedlicher
Koexistenz zwischen sozialistischen und imperialistischen Staaten mehr als
skeptisch gegenüber standen: Hier ist niemand besiegt, aber eine ganze Menge
gewonnnen worden.
Aber die richtige
Erkenntnis, daß nur militärische Abrüstung den Prozeß der Entspannung im Sinne
der Beendigung militärischer Konfrontation unumkehrbar zu machen vermöge,
führte nicht zu ebenso fruchtbaren Ergebnissen wie die Durchsetzung der Politik
friedlicher Koexistenz. Weil es nicht zur Abrüstung kam, konnte der Prozeß der
Entspannung umgekehrt werden in einen Prozeß konterrevolutionärer Rückschritte
und imperialistischer Hochrüstung. Zwar nahm der Massencharakter des Kampfes um
Abrüstung gerade unter diesen Bedingungen zu. Er führte aber auch, einerseits
durch die erfreuliche Aufnahme vieler junger Rekruten in die Friedensarmee (die
zum Teil meinten, der Friedenskampf habe erst mit ihrem Eintritt begonnen) und
andererseits durch virtuose gegnerische Demagogie, die natürlich vor allem auf
Unerfahrene wirkte, zu Zersplitterungen: Da setzte man darauf, wenn man den
"Ostblock" destabilisiere und Staaten unregierbar mache, käme man dem
Frieden näher; oder man meinte, man müsse durch einseitige, womöglich totale
Abrüstung ein gutes Beispiel geben: ihm werde der im Grunde wohlwollende
Gegner, von Angst befreit, alsbald folgen. Wieder andere verstanden nicht, daß
Frieden nun einmal gerade Frieden zwischen Gegnern ist, und dachten, durch
Versöhnung mit dem Feind käme man weiter, oder aber sie meinten gar, man müsse
die Gegenseite erst einmal ihres Wesen berauben, ehe man mit ihr zusammen
existieren könne, also erst einmal den Sozialismus (oder auch den Kapitalismus)
beseitigen, ehe der Frieden sicher sei. Konzeptionen eines fruchtlosen
"Alles oder nichts" standen pragmatischen Überlegungen gegenüber, die
zuweilen die Frage herausforderten, ob es überhaupt um kontrollierte Abrüstung oder nur um Kontrolle der
Rüstung gehe.
Es fehlte bisher ein
universales, alle noch historisch unvermeidlich gegebenen und insoweit
verständlichen Interessen berücksichtigendes und darum nicht utopisches,
sondern realisierbares Programm der
Abrüstung, das ebenso schrittweise durchzusetzen ist wie das Programm der friedlichen Koexistenz.
Zwar gab es schon viele Pläne und Vorschläge zur Abrüstung oder dazu, wie sich
der Weg zur Abrüstung bahnen lasse, nicht nur von der Sowjetunion und den
sozialistischen Staaten, sondern zum Beispiel auch von Schweden, Griechenland,
Indien sowie manchen anderen Staaten, ebenso auch von starken bürgerlichen
Kräften in imperialistischen Staaten getragene oder mitgetragene Programme wie
zum Beispiel Freeze oder wie den Plan einer chemiewaffenfreien Zone in Europa.
Was diesen Plänen noch
fehlte, war eine differenzierte Universalität. Vorschläge einer allgemeinen
totalen und globalen Abrüstung lösten die Frage aus, wie der Weg dahin führe,
und Vorschläge differenzierter erster Schritte riefen die Frage hervor, wie es
jeweils weitergehen solle zum Endziel völliger Abrüstung. Viele Vorschläge
wurden weder dem engen Zusammenhang aller Waffen- und Vernichtungssysteme
untereinander umfassend gerecht noch den verschiedenen und zuweilen
gegensätzliche Interessen vieler Regionen und Staatengruppen. So blieb oft der
Einwand möglich, der Vorteil der einen gereiche den anderen zum Nachteil. Es
handelte sich meist um partielle Pläne, die gewiß zum Aufbau eines dialektisch
zur Einheit verschmolzenen Gesamtprogramms hilfreich, ja, als Denkmodelle dafür
geradezu notwendig waren; sie waren aber offensichtlich noch nicht zugleich
universal und spezifiziert genug, um alle zu gewinnen und zu verbinden, in
deren Gesamtinteresse es liegt, ihre besonderen Interessen im gesicherten
Frieden zu verfolgen.
Ein solches zeitlich
und sachlich differenziertes Universal-Friedensprogramm ist nun der
Gorbatschow-Vorschlag. Insofern ist er, über seine unmittelbare Funktion als
Verhandlungsvorschlag an die USA hinaus, inhaltlich ein Programm, das geeignet
ist, zum zusammenfassenden Programm aller Friedenskräfte, der staatlichen wie
der gesellschaftlichen, zu werden. Es kann für uns alle, die wir die reale
Gefahr, die unsere Generation heraufbeschworen hat, daß nämlich die Menschheit
selbst oder zumindest ihre gesamte Kultur das zwanzigste Jahrhundert nicht
überlebt, wieder bannen müssen, zu unserem
Programm werden.
Würde das Programm von
Gorbatschow - keine Angriffswaffen im Weltraum, Abschaffung aller
Massenvernichtungswaffen auf der Erde und Verringerung der konventionellen
Bewaffnung in einem Stufenplan, bei dem auf jeder Stufe für alle die gleiche
Sicherheit gewährleistet wäre und zugleich alle in gleichem Maße jede
Angriffsfähigkeit schrittweise einbüßten - realisiert, dann wären gewiß nicht
alle Probleme gelöst. Aber die Lösung aller Probleme wäre nicht schwerer,
sondern leichter, ja, vielleicht überhaupt erst möglich geworden. Der gewiß
harte Schlag, den eine Realisierung dieses Programms für diejenigen bedeutet,
die aus dem militär-industriellen Komplex spielend Maximalprofite ziehen, würde
das Streben nach Maximalprofit in den imperialistischen Ländern geradezu
zwangsläufig auf das einzige Gebiet verlagern, wo fast ebenso wie in der
Rüstung die Öffentliche Hand Steuergelder durch Profite zu reprivatisieren
vermöchte: auf den ökologischen Sektor. Und auf der anderen Seite, im
sozialistischen Lager, würden ebenfalls bisher schweren Herzens dafür entbehrte
Mittel frei. Die Verelendung der sogenannten Dritten Welt durch
imperialistische Ausbeutung würde zwar ebensowenig wie der Kampf dagegen
aufhören, aber er würde zumindest unter geringerer Bedrohung durch militärische
Einmischung von außen stattfinden, und das durch Entlastung vom Rüstungszwang
reicher werdende sozialistische Lager vermöchte mehr ökonomische Hilfe zu
bieten. Die Entwaffnung der kleinen Atombombenbanditen, die das
Nichtweitergabe-Abkommen mutmaßlich inzwischen unterlaufen haben, wäre
jedenfalls nicht schwieriger, sondern einfacher; gegenwärtig scheint sie ja so
undurchführbar, daß man von dieser Gefahr (Südafrika, Israel, Pakistan) kaum
spricht.
Unter den Gegnern der
Sowjetunion und des Kommunismus tief im bürgerlichen Lager gibt es Kräfte, die
ihre eigenen Interessen unbefangen genug erkennen, um einzusehen: Dieses Friedens-
und Abrüstungsprogrammm liegt im Interesse beider Kontrahenten, des sozialistischen
und imperialistischen Lagers, sowie aller Dritten. Es wäre gut, wenn alle
Friedenskräfte, wo immer sie sozial-ökonomisch und politisch-ideologisch
beheimatet sind, dies Programm in ihren Kreisen, Gruppen und Ländern zum
allgemeinen Programm der Abrüstungspolitik machten. Das gilt auch für unsere
Kirchen und kirchlichen Kreise. Wenn wir den Frieden für unsere vordringliche
politische Aufgabe halten (und dem widerspricht ja niemand), dann sollte auch
für uns die Zeit der kleinen Ideen (von individuellen Friedensverträgen über
pädagogische Maßnahmen gegen Kriegsspielzeug für Kinder bis zu den
Individualproblemen der Beteiligung an der Verteidigung des Sozialismus) vorbei
sein, und wir sollten aufs Ganze gehen und jeden dazu ermutigen, aufs Ganze zu
gehen: Die planmäßige Weltabrüstung bei gleicher Sicherheit für alle bis zum
Jahr 1999 steht auf der Tagesordnung!
Die Ernsthaftigkeit
und Politikfähigkeit des Friedenszeugnisses unserer Kirchen wird daran zu
messen sein, was unsere Synoden in nächster Zeit zu dem Programm sagen, das
davon ausgeht, "die Sicherheit" könne "nicht bis ins Unendliche
auf der Angst vor Vergeltung, d.h. auf den Doktrinen der 'Eindämmung' oder
'Abschreckung' aufgebaut werden"1, und darum auf die
schrittweise und ausgewogene Abschaffung der Massenvernichtungsmittel überhaupt
zielt.
Daß in Europa
(jedenfalls zeit- und teilweise) die friedliche Koexistenz gegen die Kräfte des
kalten Krieges durchgesetzt werden konnte, hat gezeigt, daß auch wahrhaft
revolutionäre Programme realisierbar sind. Allerdings müssen sich diejenigen,
die dieses revolutionäre Ziel, eine Welt ohne schwere Waffen, wollen,
bedingungslos, uneigennützig und solidarisch dafür einsetzen.
Stellungnahme des WAK zur Begegnung in Reykjavik (1986)
Wir haben dankbar zur
Kenntnis genommen, daß bei dem Gespräch in Reykjavik zum ersten Mal seit der
Zündung der ersten Atombombe eine von beiden Hauptnuklearmächten als annehmbar
angesehene Vereinbarung vorlag, die in zehn Jahren die Kernenergie aus dem Potential
der Massenvernichtungswaffen hätte beseitigen können.
Wir haben besorgt zur
Kenntnis genommen, daß diese Vereinbarung daran gescheitert ist, daß die
Regierung der USA nicht bereit war, auf die Erprobung neuer Waffensysteme im
Weltraum zu verzichten. Solange sie jedoch auf diesem Standpunkt gefährlicher
Umrüstung beharrt, ist eine umfassende Abrüstung nicht durchführbar.
Wir halten es für ein
Ärgernis, daß eine Macht, die gern als christlich gelten möchte, ein Friedens-
und Abrüstungsabkommen ausgeschlagen hat, das ihr Politiker angeboten haben,
die keine Christen sind.
Wir haben 1963 in den
"Sieben Theologischen Sätzen" erklärt und erklären aufs neue:
"Psychologischen
oder militärischen Gebrauch von Massenvernichtungsmitteln halten wir ebenso wie
ihre Herstellung und Erprobung nicht für legitime staatliche Gewaltanwendung,
sondern für Sünde und deren kirchliche oder christliche Legitimation für Irrlehre,
vor der wir uns zu hüten haben."
Wir halten es für
dringlicher denn je zuvor, alle Christen aufzufordern, "gemeinsam mit
Nichtchristen eine Friedensordnung einzurichten, in der der Krieg als Mittel
des Machtkampfes überwunden, die Rüstungen überflüssig, die bewaffnete Macht
auf polizeiliche Ordnungskräfte beschränkt und der Kampf der Interessen im
waffenlosen Wettstreit ausgefochten wird."
Wir sehen in der
Herstellung einer stabilen Friedensordnung eine ebenso notwendige wie
revolutionäre Aufgabe unserer Zeit und meinen, sie sei nur zu lösen durch die
Beseitigung der Massenvernichtungsmittel, diese aber sei nur zu erreichen durch
die Garantie, daß nicht eine Seite lediglich umrüstet, während die andere
abrüstet.
Weil die Formel von
der "Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung" nicht nur
nicht davor schützt, sondern fast dazu verleitet, sogenannte "Strategische
Verteidigungsinitiativen" zu rechtfertigen, die eine Hochrüstung neuer
Qualität heraufführen und jede Abrüstung zu verhindern drohen, bitten wir die
Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR,
eindeutig zu sagen:
"Absage an Geist,
Logik und Praxis der Abschreckung" bedeutet:
o Abbau der Massenvernichtungsmittel
ohne Aufbau eines strategischen Potentials im Kosmos;
o Absage an die Bindung der Politik
durch das Profitinteresse in der Rüstungsindustrie;
o Absage an die Verwechslung von
kontrollierter Abrüstung mit kontrollierter Rüstung;
o Absage an die Vortäuschung von
Verhandlungswillen, wenn keine Abrüstungsvereinbarungen erstrebt werden,
sondern nur die Verschleierung eigener Rüstungspolitik.
Denn wir haben allem
abzusagen, was dem Geist, der Logik und der Praxis einer Politik der
Hochrüstung, der Drohung und der versuchten Einschüchterung entspricht.
Wir bitten die
Konferenz der Kirchenleitungen, die ökumenische Christenheit darin zu bestärken
und dazu zu ermutigen, solchen Politikern, die Christen sein möchten, das
Gewissen zu schärfen, damit sie nicht eigennützige Interessen höher achten als
die Sorge für den Frieden.
Es gilt einem Geist
abzusagen, in dem Christen sich als die vermeintlich Guten gegenüber den
vermeintlich Bösen zum Weltenrichter machen und damit den verleugnen, dessen
Namen sie tragen.
Schalom, Schalom, und ist doch kein Schalom (1986)
von Björn Rugenstein
Schalom" gilt
zunehmend als Schlüsselbegriff kirchlicher Friedensarbeit 1.
Auch die "unabhängige Friedensbewegung der Kirche" ("UFB"),
wie sie sich um die Seminare "Konkret für den Frieden" sammelt,
opponiert häufig unter diesem überaus unkonkreten, verwirrend vieldeutigen und
undefinierbaren Begriff. 2
Schalom - unverbindliches
Markenzeichen eines unverbindlichen kirchlichen Friedensengagements? Schalom -
mehr Keil als Klammer in einer umfassenderen Friedensbewegung?
Durch das Reaktivieren
einer hebräischen Vokabel wird das Wort Gottes nicht lebendig. Vielleicht wird
der welken kirchlichen "UFB" damit gutes Selbstwertgefühl vermittelt,
doch ein wirksamer Beitrag zum Weltfrieden kann mit der Chiffre "Schalom"
schwerlich beigesteuert werden.
1. Eindrücke von der "UFB" 1986
Viele Friedenskreise
ruhen. Der Atem war kurz. Ihre Wortführer verlieren zunehmend ein schmales
Hinterland. Eine Schwerpunktverlagerung ist gefragt. Doch der alte Rahmen
bleibt: Appelle zu "kleinen (persönlichen) Schritten" (als wollte und
könnte jemand Riesenschritte tun), verbunden mit unrealistischen Forderungen an
den Staat bei Ausnutzung der westlichen (Medien-)Interessen.
Echte, weltweit auf
der Tagesordnung stehende Gefahren für den Frieden werden marginal und formal
abgehakt. Globalpolitische und internationale Gesichtspunkte fallen im
allgemeinen unter den Tisch. Theorie und Praxis der "UFB" führen vom
Kern der Friedensgefährdung - dem ökonomischen, militärischen und politischen
Vormachtstreben der USA - weg. Die "UFB", ungeschminkt betrachtet,
zeigt sich im wesentlichen an sich selbst interessiert. Man erklärt die eigenen
Forderungen zum Maßstab, an dem die Friedenspolitik der DDR zu messen sei, und
bietet sich westlichen Interessenten damit als Druckmittel und
Verhandlungsgegenstand an. Drapiert wird diese Selbstbezogenheit durch einen
dumpfen Humanismus. Der täuscht aber nicht darüber hinweg, wie hier
verabsolutierende Subjektivität auf Kosten des Allgemeinmenschlichen kultiviert
wird. Dem Grundtenor nach läuft dies politisch darauf hinaus, die Friedensfrage
durch Aufgabe des Sozialismus und zügige Übernahme bürgerlich-demokratischer
Grundwerte zu lösen. Dabei werden die bestimmenden Inhalte der "UFB"
nicht aus Spontaneität und "seismographischer Sensibilität" von
"Basisgruppen" gespeist. Die der "Basis" nachgesagten und
von ihr geschätzten Wesenszüge halten sich in der Regel in sehr engen Grenzen.
Bestimmender erschien dem Beobachter des letzten Seminars "Konkret für den
Frieden" ein Nachspiel der "Grünen", vor allem aber die Logistik
weniger "geistiger Köpfe" (Eppelmann, Tschiche, Meckel). Das
einfarbige Bild der Abschlußdokumente des Seminars bestätigt den Eindruck von
einer Regie hinter den Kulissen.
Entgegen
anderslautenden Lippenbekenntnissen dominiert ein Hang zur Konfrontation mit
dem gesellschaftlichen Umfeld und zur Ausgrenzung Andersdenkender. Möchte sich
eine Kerngruppe mit der "UFB" im Rücken Autorität und mit den
Seminaren "Konkret für den Frieden" ein Podium schaffen? Wird hier
"billige Gnade" gespendet, indem für Wehrdienstverweigerung,
persönliche Friedensverträge, die Entmilitarisierung von Gesangbuchversen und
ähnliches mehr "Absolution" erteilt wird? Soll so, gedeckt durch die
Kirche und die aktuellen Sorgen um den Frieden, in erster Linie ein Mißbehagen
an der DDR popularisiert werden, das schließlich zur eigenen Profilierung
genutzt wird? Die "seelsorgerliche Begleitung" vermittelt dabei oft
als "Evangelium", einer moralisch besseren Minderheit anzugehören. -
So lebt die "Unabhängige
Friedensbewegung" zum großen Teil abhängig
von der Beachtung, die sie - aufs Ganze gesehen - durch die Synoden und
Kirchenleitungen erfährt, aber mehr noch abhängig
von der Würdigung, die sie in westlichen Medien findet. Losgelöst und
unabhängig ist sie dagegen von der großen Friedensbewegung der DDR, zu der sich
auch Christen zählen. Bei aller subjektiven Redlichkeit, die der Mehrheit im
Troß der "UFB" unterstellt werden kann, sind Zweifel angebracht, ob
hier wirklich eine politisch sachliche Auseinandersetzung und Wirksamkeit für
den Weltfrieden gesucht wird oder ob man sich nur selbst bespiegeln möchte und
einer fragwürdigen Publizität nachjagt. Niemand sollte sich einer
Selbsttäuschung oder Überbewertung hingeben - unter dem Strich entspricht man
genau den Interessen derer, die Reagan
& Co. zur Galionsfigur haben.
2. Schwerpunkte
Die "UFB"
hat kein verabschiedetes Programm. Jede "Basisgruppe" setzt gewisse
eigene Akzente. Gemeinsam ist den meisten Gruppen ein inhaltliches Gefälle von
individual-psychologischen über innergesellschaftliche zu innerkirchlichen und
außenpolitischen Anliegen. Diese Hierarchie wirkt auch als
Abgrenzungskriterium.
Dem "eigenen
Betroffensein" als Ausgangspunkt und Richtschnur wird konstituierender und
beweisender Charakter zugestanden. Das führt leicht zu moralischem Rigorismus -
aber eher in den Forderungen an den Staat als an sich selbst. Persönliche
Verbindlichkeit wird zum Beispiel durch private Friedensverträge,
"Abrüstung von unten", "Abrüstung in den Köpfen der Kinder"
und durch die "Entmilitarisierung der Sprache" angestrebt.
Im Blick auf die
DDR-Gesellschaft werden Spannungen zwischen innerem und äußerem Frieden
definiert. Ausgehend von diesem selbstgesetzten Axiom wird versucht, eine
autonome Bewegung zu profilieren, die sich als Korrektiv zur Politik der DDR
versteht. Auf derselben taktischen Linie liegt es, sich der DDR-Regierung als
Gesprächs- und Verhandlungspartner - verbunden mit Junktims als Kriterium für
die Vertrauenswürdigkeit staatlicher Stellen - anzubieten. Eine Reihe von
Paragraphen des Strafgesetzbuchs, des Wahlgesetzes und des Wehrdienstgesetzes
sollen geändert werden. Vehement klagt man über die eigenen Reisemöglichkeiten.
Woher rührt das
übersteigerte Selbstbewußtsein?
Die Kirche wird als
Dach für die immer wieder neu angestrebte Vernetzung angesehen. Hier soll eine
Basismentalität entwickelt werden, die dann gegebenenfalls auch für
verschiedene der Gruppen den Auszug aus der Kirche erlauben soll. Synoden und
Kirchenleitungen werden gebeten und gedrängt, die Kirche stärker als
Kontrapunkt zu Staat und Gesellschaft zu verstehen und zu organisieren.
Theologische Beiträge und Einwände werden kaum beachtet, zuweilen verhöhnt.
Engagiert gibt sich die Unterstützung für den sogenannten 2%-Appell des Ökumenischen Rates der Kirchen
und für ein Konzil des Friedens. Die Konzilsidee wird allerdings durch den
eigenen Themenkatalog eher belastet als gefördert. Kritisiert wird die (zum
Teil antiimperialistische) Ausrichtung von Materialien der letzten
Friedensdekade. Stattdessen sollen DDR-spezifische Probleme noch umfangreicher
thematisiert werden. Darüber hinaus sind für die Kirche beispielsweise auch
"Bundesschlüsse" mit Partnergemeinden in der BRD erwünscht.
Außenpolitisch wirken
vor allem wehleidige Selbstdarstellungen in westlichen Medien. Im übrigen
geistern außenpolitische Vorstellungen wie die von der Neutralisierung der DDR
durch Diskussionen, die ansonsten oft tiefe Skepsis gegenüber einer
Verhandlungs- und Vertragspolitik ausdrücken. Dessen ungeachtet beruft man sich
mit Vorliebe auf UN-Konventionen und auf Passagen der Schlußakte von Helsinki -
Musterbeispiele für Verhandlungs- und Vertragspolitik und den Versuch einer
"Abrüstung von oben". Ist innenpolitisch der eigene Erfahrungshorizont
maßgeblich, sind es außenpolitisch nicht selten Desinteresse und Halbwissen.
Eindeutigen Vorrang genießen individual-ethische und psychologische Themen.
3. Defizite
Dazu zählt die
Neigung, sich in Gruppen oder als "Szene" abzukapseln und
Außenstehenden nicht selten mißtrauisch zu begegnen. Mit anderen
gesellschaftlichen Gruppen werden in der Regel keine Gemeinsamkeiten gesucht
oder angestrebt. Die "UFB" erscheint bündnisunfähig, da
Verantwortungsgefühl und Verbindlichkeit gegenüber der Gesellschaft im
allgemeinen fehlen. Durch den latenten Antikommunismus stellt man sich von
vornherein selbst an den Rand der Gesellschaft. Die Hege dieser schmalen
Übergangszone in eine andere Welt ist dann auch überwiegend der Wirkungs- und
Rekrutierungsbereich der "Basis". Selbstüberschätzung und die
Unmöglichkeit, das eigene Engagement überzeugend im Zusammenhang der biblischen
Botschaft darzustellen, macht die "kirchliche Friedensbewegung"
selber in der Kirche eher zum Adressaten als zum Zeugen des Evangeliums.
Die Frage nach der
Stellung zu den entscheidenden sowjetischen Friedensinitiativen der letzten
Jahre macht das inhaltliche Debakel der "UFB" offensichtlich. Während
die Bedeutung einseitiger Vorleistungen der UdSSR im Grunde ignoriert wird,
bagatellisiert man die friedensbedrohende Politik der USA. Da überrascht es
kaum, fast jede Solidarität mit antiimperialistischen Befreiungsbewegungen zu
vermissen. Es fehlt die Einsicht, daß die großen und viele der kleinen
Konflikte in der Welt eine reale, materielle Grundlage haben. Diese Auseinandersetzungen
sind doch keine Mißverständnisse oder Ausdruck unterschiedlicher moralischer
Kategorien im Ost/West-Nord/Süd-Spannungsfeld, sondern sie sind die
Reibungsflächen unaufhebbarer Widersprüche. Forsche Parolen oder ehrbare
Gefühle richten hier nichts aus. Heute geht es darum, die unvermeidbaren
Reibungsflächen zwischen den Grundwidersprüchen derart zu präparieren, daß
keine atomare Initialzündung entstehen kann. Spannungen bleiben unvermeidlich,
sie dürfen und können nicht durch unsere Nächstenliebe abgebaut oder vertuscht
werden, aber sie sollen sich - mit Gottes Hilfe - friedlich entladen. Da genügt
es nicht, "engagiert" zu sein, sich als "Betroffener"
auszuweisen oder unbedingt "etwas" für den Frieden tun zu wollen, um
mit allen Schlußfolgerungen akzeptiert zu werden.
Die "UFB" am
Rande der Kirchen in der DDR leistet meines Erachtens weder einen effektiven
Beitrag zum Frieden im Land, geschweige denn zum Frieden zwischen den Ländern.
Ausschlaggebend ist nicht so sehr die angeschnittene Themenbreite. Was zählt,
ist das Verhältnis von Stellung und Bedeutung der Themen sowie die Beachtung,
die sie finden. Und wer kann das beifällige Interesse derer übersehen, die
handgreiflich versuchen, mit militärischen Mitteln der Welt ihren
kapitalistischen Willen zu diktieren? Daß solches von der "Basis"
nicht beabsichtigt ist, ermöglicht bestenfalls ein Umdenken für die Zukunft,
mindert aber nicht die Schäden im Verband der weltweiten Friedensbewegung, die
durch Torpedos der "UFB" ausgelöst wurden.
4. Widersprüche
Mißerfolge im Einsatz
für eine Weltfriedensordnung dürfen nicht zum Rückzug ins Individual-Ethische
führen, um von dort nur noch pathetisch gegen die "große Politik" und
die DDR zu moralisieren. Sicher ist das westmedienwirksam, jedoch kein
Entspannungsbeitrag.
Zwar hat die
"UFB" auch einen politischen Anspruch, doch ist sie im Grunde
unpolitisch. Für Politik - als Versuch, das Mögliche zugunsten des Notwendigen
auszuschöpfen - fehlt das Verständnis. Frieden läßt sich aber nun mal nicht
durch "ehrliche" individuelle Aktionen sichern - so wenig, wie sich
Hunger und Not durch weihnachtliche Spenden aus der Welt drängen lassen. Auch
Hingabe für ein liebevolles Zusammenleben in unserer Gesellschaft ist leider
kein Konzept, um Kriege zu verhindern. Wirksamer sind da schon innenpolitische
wie ökonomische Stabilität und eine kalkulierbare Außenpolitik.
Die Ambivalenz der
"UFB" wird beispielsweise auch darin deutlich, daß dem ermordeten
Olof Palme hohe Ehre gezollt wird, nicht aber seiner Friedenspolitik. Die
Schaffung eines atomwaffenfreien Korridors und der Abschluß eines Kernwaffenteststopabkommens
stehen in den eigenen Aktionsplänen nicht obenan. Ähnlich aufschlußreich ist
das Verhältnis zum "UN-Jahr des Friedens": den hoffnungsvollen
Initiativen und Vorleistungen der Sowjetunion, aber auch den beängstigenden
"Strafexpeditionen" und Vorrüstungen der USA wird ein Appell zum Jahr
des Friedens entgegengesetzt 3 , in dem maßgebliche
Vertreter der "UFB" eine Justizreform für die DDR fordern.
Diese Bewegung gibt
sich autark und ist - über die Jahre gesehen - doch nur synkretistischer
Nachnutzer westlicher Modelle und Konzeptionen, die, wenn sie schon nicht in
ihren Ursprungsländern fraglich sind, dies in der Regel spätestens in unserem
gesellschaftlichen Umfeld werden. Eine sozialistische Gesellschaft wird mit
Ansprüchen konfrontiert, die gegen eine kapitalistische Gesellschaft erhoben
werden. Die "UFB" entpuppt sich so über weite Strecken als
"nachgespielte" Friedensbewegung.
Das fehlende tragende
Fundament und die Abhängigkeit von einer Medienresonanz macht sie zudem
anfällig für Modernismen. Ausgeliefert der journalistischen Frage: "Was
gibt es Neues?", folgt man einer zwar ewig interessanten, in die Breite
gehenden Frage, die aber - geht man ihr allein nach - nur zu einer Kette von
Trivialitäten und Modeerscheinungen führt. Eine wirklich alternative, in die
Tiefe gehende Frage wäre wahrscheinlich: "Was ist das Wirksamste?"
Kritik von der sich
als alternativ verstehenden "Basis" beschränkt sich zu sehr auf das,
was man sieht, zu wenig auf das, was
es bedeutet. Das führt zu oberflächlicher
Gleichmacherei und Dämonisierung, wie der von beiden "Supermächten mit
gleichen Machtinteressen" oder zu Postulaten wie "Soldat ist gleich
Soldat", "Rakete gleich Rakete"... .
Insgesamt dominiert in
der "UFB" induktives Denken, das heißt: von besonderen persönlichen
Erfahrungen wird kurzerhand auf allgemeine Wahrheiten geschlossen. Dahinter
steckt wohl eine verengte Auffassung von der Realität: Real und damit
bewußtseinsbestimmend ist im allgemeinen nur, was vor Augen steht: genau und
nur hier und genau und nur jetzt, - ganz gleich, was Wissenschaftler,
Politiker, Militärs, Techniker oder Theologen darüber hinaus zu sagen haben.
Bewußtseinsbildende Kompetenz wird bestenfalls noch künstlerischer Sicht
zugestanden. Realität, wie sie sich in wissenschaftlicher und technischer
Arbeit oder in politischer oder militärischer Analyse darstellt, verschließt
man sich vorschnell. Aber auch die Realität, wie sie sich in Gottes Wort
offenbart, bleibt weitgehend ausgeblendet. Diese Scheuklappensicht, die einen
wesentlichen Teil der Welt ignoriert oder verketzert, führt zu einer lässigen
Art, die Dinge zu werten, und zwingt zum Beispiel, die Gorbatschow-Vorschläge
zu übergehen, weil durch sie die eigene Weltsicht bedroht wird.
Unverdrossen bleibt
die "UFB" am Werk, den sozialistischen Entwicklungsweg dahin zu verbiegen,
daß er schließlich in die Sackgasse einer bürgerlich-demokratischen oder
"grünen" Neutralisierung einmündete. Einige gesellschaftliche
Faktoren, wie das Beispiel mancher Entwicklungen in Ungarn oder Polen und das
Aufleben kleinbürgerlicher Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft, geben
dieser Strategie gewisse Zusatznahrung.
5. Ausweichmanöver: "Menschenrechte"
Wer heute zur
Schaffung einer Weltfriedensordnung beitragen will, kann unmöglich gleichzeitig
antisowjetisch-antikommunistisch agieren. Das hat manchem
"Friedensstrategen" der NATO den Schneid genommen, aber macht auch
der "UFB" zu schaffen und veranlaßte eine agitatorische
Schwerpunktverlagerung: Ihre Wortführer präsentieren - synchron mit einer antisowjetisch/antisozialistischen
Kampagne im Westen - einen bürgerlich-liberalen Menschenrechts-Wunsch-Katalog.
Anmerkend wird die demagogische These vertreten, dieses Menschenrechtsverständnis sei die Voraussetzung, um über
die Friedenspolitik der DDR überhaupt erst sprechen zu können. (Als Analogie
spiele man ein Gedankenexperiment durch: Die Staaten des Warschauer Vertrages
würden ihre Verhandlungsbereitschaft von der Beseitigung des Arbeitslosen- und
Drogenproblems in den NATO-Staaten abhängig machen.) Weit eher trifft die
Antithese zu: Erst eine erfolgreiche Friedenspolitik schafft die
Voraussetzungen für das erste Menschenrecht - ein Leben in Frieden - und auch
für die lange Liste der individuellen Menschenrechte.
Oft werden unter den
Menschenrechten wohl fundamentale Grundrechte zusammengefaßt, die ein
glückliches und würdiges Leben jedes einzelnen in Gemeinschaft mit allen
anderen sichern sollen. Das ist nicht allein durch juristische Urkunden zu
bewerkstelligen, eher noch durch eine sinnvolle Ökonomie, die auch den Anspruch
zukünftiger Generationen auf Menschenrechte respektiert. Das heißt: stets
müssen die Folgen von Menschenrechten ausgelotet sein. - Zum Beispiel: Was
bedeutet die Gewährung eines Rechtes auf Maximierung des Privatbesitzes, was
seine Einschränkung?
Also, ein
Menschenrechtskatalog ist nicht a priori gültig, weil er Menschenrechte
summiert. Entscheidend ist, wie weit er gesellschaftlich konstruktiv und
ökologisch vertretbar ist. Darum wird auch Friedenspolitik nicht an der
Verwirklichung eines Menschenrechtskatalogs kalibriert, sondern der
Menschenrechtskatalog leitet unter anderem sein Recht daraus ab, wie wirksam er
zur Sicherung des Friedens beiträgt.
Hilfreich erscheint
es, zwischen formalen und praktikablen Menschenrechten zu unterscheiden. Für
wen besteht wann die reale Möglichkeit, ein Recht zu nutzen?
Trivial ist
festzustellen, daß nicht jedes Mischungsverhältnis individueller und sozialer
Menschenrechte möglich ist, aber auch jedes mögliche Verhältnis ein Defizit
dialektischer Widersprüche behält. Aber das ist nichts für die "UFB".
Sie ist einseitig - stets nur einen Pol der Widersprüche beachtend - auf
Konfrontation aus. Ausgewählte individuelle Menschenrechte in individuell
ausgewählten Sektoren des DDR-Alltags werden an formalen westlichen Menschenrechten
gemessen. Mit welchem Recht? Viele der individuellen bürgerlichen Menschenrechte
haben implizit zur Voraussetzung und Folge, daß die Dritte Welt individuell und
sozial entrechtet bleibt.
In das Bild der
Menschenrechte gehören doch wohl nicht nur Touristenströme nach Israel,
Heidelberg, Bangkok oder Südafrika, sondern auch manipulierte Konsumsucht,
Arbeitslosenraten und die Quoten von Mord, Vergewaltigung oder Drogenmißbrauch.
- Sollen die Machthaber dieser Sphäre und ihre Epigonen unsere Schulmeister im
Fach "Ausbau der Menschenrechte" sein? Ist die volle Entfaltung der
Menschenrechte unter der Diktatur des Proletariats nicht sicherer als unter der
Diktatur des Profits? Daß sich Menschenrechte entwickeln und kein statisches
Naturrecht sind, sondern mit gesellschaftlichem und privatem Wohlstand, aber
auch mit der weltpolitischen Lage korrespondieren, werden Marxisten sicher
nicht bestreiten.
6. "UFB" - Theologie und Kirche
Kritische theologische
Einwände haben für diese "kirchliche Friedensbewegung" kaum Gewicht.
Gelegentlich entsteht der Eindruck, als hätte uns die im Wort Gottes geschenkte
Freiheit vor allem zu Forderungen frei gemacht. Daß diese Freiheit - zum
Beispiel private Rechtsansprüche - auch durch unsere Teilnahme an Recht und
Unrecht begrenzt ist, stößt auf Unverständnis. Zum Evangelium gerät dann auch
eher das "Basisgruppenerlebnis" als die Erlösung durch Jesus Christus
und deren Bedeutung für uns alle und überall. Mir scheint, im Licht der
biblischen Botschaft fällt auf die "UFB" ein Schatten. Nicht, weil
hier unkonventionell oder radikal gedacht würde, sondern weil es Gott nicht so
sehr um die Art unseres Denkens als um die Richtung unseres Handelns geht. Und
da ist wohl radikales Handeln zuerst gegen uns selbst gemeint. Gibt es Zweifel,
daß uns die Bibel vom Anfang bis zum Ende in dieser Weise disziplinieren will,
daß sie Selbstdisziplin und Gehorsam
einklagt (Phil. 2,8)? Dazu zählt auch Loyalität gegenüber staatlicher
Ordnungsmacht und ihren politischen Entscheidungen, solange sie ein würdiges
Leben gewährleisten und auf ein friedliches Zusammenleben im Staat und zwischen
den Staaten ausgerichtet sind.
Der Anspruch Gottes verbietet Resignation als eine Form
unseres Kleinglaubens. Sein Evangelium macht uns aufmerksam auf die Begegnung von Liebe und Vernunft.
Könnten das spezifisch christliche Beiträge zur Friedensbewegung sein? Wo liegt
das spezifisch Christliche der "UFB"?
Zusammenkünfte der
"Basisgruppen" erwecken oft den Eindruck einer
"Zwei-Bereiche-Lehre": (erstens) kirchliches "Vor- und/oder
Nachspiel"; dann losgelöst und unbeeindruckt davon (zweitens)
kleinbürgerlich-wichtigtuerisches "grünes Politisieren".
Teils gibt man sich
unbefangen heidnisch, teils wird versucht, mangelnde theologische Substanz
durch den Rückzug in neoromantische Verinnerlichung zu übertünchen.
Alles in allem könnte
ich meine Kritik auf die Worte von Röm. 1, 21-23*
bringen oder auch: Die "UFB" ist in ihrem Wesen auch unabhängig von
der Heiligen Schrift! Sie erscheint vielmehr als ein Sammelbecken eklektischer
Lebensphilosophien.
Da nimmt es nicht
wunder, wenn große Teile der "Basisgruppen" und sie begleitende
Pastoren für die "UFB" nach Wegen aus der Kirche suchen, um sich
stärker als politischer Gegenpol zu etablieren. Der theologische Anspruch, mit
dem diese "Basis" von Zeit zu Zeit in der Kirche konfrontiert wird,
verunsichert sie und wird als belastend empfunden, solange er nicht der
Selbstrechtfertigung dient. Dagegen dürfen polemische Angriffe gegen die
Theologie mit breiter Unterstützung rechnen. Die "UFB" ist nicht in
oder mit der Kirche, sondern in ihrer Nähe oder an ihrem Rand, beansprucht für
sich aber zentrales Interesse. Politische Ambitionen dieser kirchlichen
"Basis" werden von Synoden und Kirchenleitungen in der Regel nur sehr
verhalten aufgenommen. Die Kirche versteht sich heute nicht mehr so sehr als
politischer Faktor, um so mehr jedoch als moralischer Faktor, als Gralshüter
der besseren, ja vorbildlichen Moral. Sie versucht - auch in ihrer
"seelsorgerlichen Begleitung" dieser Gruppen -, ihre Position als die
der moralisch Überlegenen und Verständnisvollen aufzubauen. Darin liegt eine
Versuchung für Synoden, Kirchenleitungen und Pastoren. Scheint doch derart eine
Selbstaufwertung und Profilierung gegenüber dem Staat und den eigenen Gemeinden
möglich, die die geistliche Dürre und Beziehungsarmut des Christlichen in der
Gesellschaft kompensiert. Der Versuchung ist nachgegeben, wenn - wie zu
beobachten - diese Gruppen ekklesiologisch überhöht werden und ihnen teilweise
prophetische Kraft zugestanden wird, die unentbehrlich für die Zukunft der
Kirche in der DDR sei.
Wirklich unentbehrlich
ist die "UFB" womöglich nur für die entbehrliche Diplomatie der Kirche.
Eine gewisse Zweigleisigkeit kirchenleitender Personen ist gelegentlich
unübersehbar: Bei Zusammenkünften der "Basisgruppen" hält man sich
bedeckt, läßt es gären oder gibt gar ein gewünschtes Ferment hinzu. Kommt es
zum aufbrausenden Schäumen, stellt man sich gern als Korken auf der gärenden
Flasche dar und möchte allseitig Kompromisse aushandeln. In einer
Rückzugsmentalität wird versucht, Faustpfänder zu halten, um mit dem Staat zu
Kompromissen zu kommen, die helfen sollen, ein kleiner gewordenes Terrain zu
sichern. Aber was die Kirche um dieser Kompromisse willen zur Disposition
stellen kann, sollte sie kompromißlos abtreten, denn was ihre Sendung ausmacht,
kann nicht zur Disposition gestellt werden.
7. Ausblick
Eine zunehmend
geschickter operierende Gegenseite möchte die weltweite Friedenbewegung
zersplittern. Nur in ihrem Sinne läge es, wenn die Friedenskräfte verstärkt
ihre sehr unterschiedliche, teils widersprüchliche Herkunft problematisierten,
statt das gemeinsame Ziel gemeinsam anzustreben. In dieser Situation eine
irgendwie geartete Unabhängigkeit zu betonen,
statt das Verbindende herauszustreichen, wird zu unnötigen Sperren,
unfruchtbarem Streit, zu Verengung und Verkrampfung führen. Statt sich um
Politikfähigkeit zu sorgen, sollte mehr über Politikwirksamkeit nachgedacht
werden. So wenig "Friedensaktivitäten" an sich zählen, so wichtig ist
es, hohe "Friedenseffektivität" zu erreichen. Konkret: Alles spricht
dafür, daß unser effektivster Beitrag für die ersehnte Friedensordnung wäre,
wenn wir die sowjetische Großinitiative zur Beseitigung der Atomwaffen und die
sie flankierenden Vorleistungen[4]
phantasievoll unterstützen würden. Dabei zählt nicht zuerst die Größe unserer
Schritte, im Vordergrund steht ihre Abfolge und die Deutlichkeit ihrer
Richtung. Vortritt hat, was dem globalen Überleben dient - nicht das
Interessanteste. Jedes Junktim, das den Frieden einem Problem nachordnet,
schadet.
In Anbetracht von
Ausdauer und Kraft der Opponenten gegen die Friedensbewegung werden
Selbstlosigkeit, Standhaftigkeit, Disziplin, Wachsamkeit, Selbstbeherrschung
und taktische Fähigkeiten entwickelt werden müssen, um zielbewußt und
wirkungsvoll zu bestehen. Unsere Kirche wird ihren spezifischen Beitrag zur
Weltfriedensbewegung erhöhen, wenn sie in ihr Handeln Gottes Zuspruch und seine
parteilichen Gebote unmittelbarer und mehr einbezieht als die neutralistischen
Gebote/Versuchungen westlich-parteiischer Kirchenleitungen und
Christ(demokrat)en. Ein Leitfrage unseres Friedensengagements sollte sein: Wie
können wir mit unserer Friedenssehnsucht politische Spannungen und Kriege
verhindern und zu Partnern der Unterdrückten und Armen werden?
Wer Alternativen zu
der durch starke politische (und militärische) Kräfte getragenen Friedenspolitik
anbieten will, hat nachzuweisen, was theoretisch möglich und was praktisch mit
welchen Kräften und Mitteln zu verwirklichen ist. Weiterhin sind die zu
erwartenden politischen, ökonomischen und ökologischen Folgen zu zeigen. Und
schließlich muß verstanden werden, mit den Reaktionen - bei Freunden und
Gegnern - umzugehen, die eine Alternative auslösen. Aber wie auch immer, der
Schutz vor einem Einsatz oder die Abschaffung atomarer und konventioneller
Waffen wird eine Machtfrage bleiben, die nur politisch lösbar ist und nicht
nach dem individuell-ethischen Motto "... und keiner geht hin".
Auch die zentrale
(Negativ-) Formel unserer Kirche - "Gegen Geist und Logik der Abschreckung"
- ist zukunftslos. Nicht nur, weil sie unausgesprochen zur Voraussetzung hat,
beide Seiten müßten einander gleichermaßen abschrecken, vielmehr, weil sie zwei
grundsätzliche Trends unserer Tage nicht richtig erfaßt: Gegen "Geist und
Logik der Abschreckung" ist sowohl (a) das demagogische SDI-Projekt (durch
Aufrüstung die Atomwaffen zu beseitigen),
indem es darauf zielt, durch eine militärisch und ökonomisch gesicherte
Vormacht der USA die Abschreckung (einseitig) aufzuheben, als auch (b) das
sowjetische Projekt, durch Abrüstung
der Atomwaffen bis zum Jahre 2000 die Abschreckung (gegenseitig) aufzuheben.
Zwei konträre Entwicklungen, die beide die eine Formel befriedigen. Das heißt,
die Formel ist unbrauchbar.
Es ist bezeichnend,
daß die "UFB" kaum Wesentliches zum Gorbatschow-Vorschlag einerseits,
zur Fortsetzung der Atomtests der USA und ihren bewaffneten Interventionen
gegen mißliebige Staaten andererseits zu sagen hat und man ihre konzeptionellen
Schirmherren, zum Beispiel Heino Falcke, fragen muß, welche Marschrichtung sie
für "Frieden konkret 5" vorzugeben gedenken.
Ein herzlich
aufrichtiges "Schalom, Schalom" tut es freilich nicht! Wir müßten
Farbe bekennen und Klartext sprechen, damit die vielen Menschen, die seit dem
15. Januar 1986 um eine große Hoffnung reicher sind, nicht enttäuscht werden.
Dafür sollen wir beten
und das Rechte tun.
Leben aus Buße? Vierzig Jahre "Darmstädter Wort"*
Erklärung vom 12. September 1987 - 81 Unterzeichner
Der Rat der
Evangelischen Kirche in Deutschland hat am 18. und 19. Oktober 1945 in Stuttgart
Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen gegenüber bekannt: "...durch
uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden..."
Diese Stuttgarter
Erklärung hat damals vielen Christen in Deutschland geholfen, einen neuen
Anfang zu machen. In den Kirchengemeinden war das Stuttgarter Schuldbekenntnis
umstritten, nicht alle wollten durch Buße zur Schulderkenntnis und zum
Schuldbekenntnis kommen. So ging in den meisten Gemeinden das kirchliche Leben
ohne Bruch weiter. Die Schuld an Kriegen wurde den Machthabern zugeschrieben,
und als gottlos wurde bald nur noch bezeichnet, was aus "dem Osten"
kam: der Kommunismus. Diese Kirche verstrickte sich in den Kalten Krieg. In den
Kirchengemeinden identifizierte man weithin "westliche" Gesellschaftsordnung
und Christentum, auch in der Ökumene gab es diese Gleichsetzung. Typisch dafür
waren die Grundhaltung von Bischof Dibelius und der Auftritt von John Foster
Dulles bei der ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in
Amsterdam 1948. Der Geist des deutschen Nationalismus wurde in kürzester Zeit
wieder lebendig.
Demgegenüber verfaßte
und veröffentlichte der Bruderrat der Bekennenden Kirche 1947 das Darmstädter
Wort. Das Wort wollte heraushelfen aus der Befangenheit der Kirche in ihren sozialökonomischen
Traditionen, es wollte zur Neuorientierung in Ost und West rufen und dazu
helfen, die Schuldfrage nicht beiseite zu schieben, sondern vom
Schuldbekenntnis her die Erneuerung der Kirche auf allen Gebieten zu betreiben.
Die Konferenz der
Kirchenleitungen in der DDR betrachtete zwar in Berichten vor der Bundessynode
(1970 Schönherr, 1985 Hempel) das Darmstädter Wort als Orientierungshilfe, aber
in den Gemeinden ist es bis heute nicht sehr bekannt geworden.
Durch die
weltpolitische Entwicklung sehen wir uns herausgefordert, neu zu denken und zu
handeln. Dazu sind wir solange nicht in der Lage, wie wir alte Schuld nicht
bekannt und alte Irrwege nicht verlassen haben. Angesichts eines weltweiten
Antikommunismus und einer Wiederbelebung des deutschen Nationalismus durch
gesamtdeutsche Emotionen, die auch in den Kirchengemeinden der DDR wirken, ist
es erforderlich, die Frage nach der politischen Mitverantwortung in der
Evangelischen Kirche erneut aufzugreifen. Der Ruf des Darmstädter Wortes in ein
Leben aus Buße bleibt gültig.
Als Glieder der
Evangelischen Kirche erklären wir:
I.
Es bleibt die
geschichtliche Schuld unserer deutschen evangelischen Kirchen, die Nation auf
den Thron Gottes gesetzt zu haben. Diese Schuld wirkt bis heute in dem Bemühen
unserer Kirchen nach, eine Klammer zwischen den beiden deutschen Staaten zu
bilden. Sie haben dem Reden westlicher Regierungen von Wiedervereinigung,
Wandel durch Annäherung und der einen Nation oft mehr vertraut als dem
Evangelium. Das hemmte den Entspannungsprozeß und verschärfte die Konfrontation
zwischen Ost und West. Damit haben wir das Zeugnis und den Dienst für
Gerechtigkeit und Frieden einem deutsch-nationalen Empfinden untergeordnet.
Wir wollen dazu
mithelfen, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgeht. Wir wollen jeder
Sehnsucht nach der Restauration eines bürgerlichen Gesamtdeutschland absagen.
Wir wollen dazu beitragen, daß es zwischen den beiden deutschen Staaten und den
politischen Systemen in Europa zu einer Koexistenz ohne militärische
Konfrontation und zu einer Kooperation ohne Mißachtung ihrer Unterschiede
kommt.
Es bleibt darum für
uns beim Darmstädter Wort:
"Wir sind in die
Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung
zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne ... . Damit haben
wir unsere Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben
mitzuarbeiten im Dienst an der gemeinsamen Aufgabe der Völker."
II.
Es bleibt die
geschichtliche Schuld unserer deutschen evangelischen Kirchen, daß sie dem
Antikommunismus in ihren Reihen einen breiten Raum gegeben haben. Diese
politische Hauptsünde unserer Kirchen führte dazu, daß viele Christen in den
Kirchenleitungen und Gemeinden zwar den christlichen Glauben mit der Ideologie
des sogenannten freien Westens für vereinbar hielten, aber einen unvereinbaren
Gegensatz zwischen Christentum und sozialistischer Gesellschaftsordnung
behaupteten. Deshalb konnte eine gesamtdeutsche Synode den
Militärseelsorgevertrag mit der westdeutschen Bundeswehr abschließen und später
die organisatorische Einheit der EKiD mit der Gemeinschaft im Leibe Christi
verwechseln. So haben wir uns Schritt für Schritt in eine weitgehende geistige
und materielle Abhängigkeit von den Kirchen in der BRD begeben.
Wir wollen dazu
mithelfen, daß der Antikommunismus in unseren Kirchen überwunden wird. Wir
wollen dazu beitragen, daß anstelle der Faszination durch westlichen Reichtum
und individualistisches Freiheitsverständnis ein verantwortliches Miteinander,
das dem Zusammenleben der Menschheit in Frieden und Gerechtigkeit dient,
möglich wird.
Es bleibt für uns
darum beim Darmstädter Wort:
"Wir sind in die
Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des
Lichtes gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im
politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen. Damit haben wir
das freie Angebot der Gnade Gottes an alle durch eine politische, soziale und
weltanschauliche Frontenbildung verfälscht und die Welt ihrer
Selbstrechtfertigung überlassen."
III.
Es bleibt die
geschichtliche Schuld unserer deutschen evangelischen Kirchen, daß sie sich auf
Grund ihrer antirevolutionären Traditionen zum Antisowjetismus haben verführen
lassen. Auch nach Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR
haben unsere Kirchen nie öffentlich ihre Mitschuld am Tod von zwanzig Millionen
sowjetischen Menschen und an der barbarischen Ausrottungspolitik des
faschistischen deutschen Staates im zweiten Weltkrieg gegenüber den Völkern
Osteuropas und der Sowjetunion bekannt. Damit haben wir auch die Fähigkeit
verloren, schwierige Perioden in der Politik der Sowjetunion und der
sozialistischen Staaten nach dem zweiten Weltkrieg einsichtig, sachlich und
gerecht zu beurteilen.
Wir wollen dazu
mithelfen, daß unsere Kirchen ein solches öffentliches Schuldbekenntnis
nachholen und die Bedeutung der sozialistischen Oktoberrevolution sowie die
Rolle der sowjetischen Völker bei der Befreiung unseres Landes vom Faschismus
würdigen. So sollten wir die Freiheit gewinnen, sowjetische Vorschläge und
Initiativen, die der Abrüstung und der gemeinsamen Sicherheit dienen,
vorurteilslos zu unterstützen.
Es bleibt für uns
darum beim Darmstädter Wort:
"Das Bündnis der
Kirche mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich
schwer an uns gerächt. Wir haben die christliche Freiheit verraten, die uns
erlaubt und gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der
Menschen solche Wandlungen erfordert."
IV.
Es bleibt die
geschichtliche Schuld unserer deutschen evangelischen Kirchen, daß sie weitgehend
blind geblieben sind dafür, daß die fortgesetzte Ausbeutung der Dritten Welt,
die zunehmende Arbeitslosigkeit und der Mißbrauch von Menschen als
"Billig-Lohn-Arbeiter" vor allem eine Folge der kapitalistischen
Strukturen des Weltmarktes ist. Das hat uns gleichzeitig gehindert, die Chancen
wahrzunehmen, die sozialistische Strukturen für mehr Gerechtigkeit bieten. Wir
sind noch gefangen in einem karitativen Verhalten gegenüber den armen und
entrechteten Menschen, die um ihre Befreiung und grundlegende Rechte kämpfen.
Wir wollen dazu
mithelfen, daß das Eintreten für gerechte politische und ökonomische Strukturen
weltweit zu einem festen Bestandteil des geistlichen Lebens in unseren
Gemeinden wird. Wir wollen nicht vor allem den Spielraum unserer Kirchen
unangefochten bewahren, sondern selbstkritisch dazu beitragen, daß unser Land
wirksam und glaubwürdig für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt arbeiten
kann.
Es bleibt für uns
darum beim Darmstädter Wort:
"Wir sind in die
Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der
marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde
für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen
müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß
dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu
machen."
V.
Es bleibt die
geschichtliche Schuld unserer deutschen evangelischen Kirchen, daß sie ein
falsches Verständnis von christlicher Freiheit nicht überwunden haben und
deshalb übertrieben auf Eigenständigkeit, in Distanz gegenüber der
sozialistischen Ordnung unseres Staates, pochen. Deshalb haben auch viele
Glieder unserer Gemeinden und Pfarrer ihre Mitverantwortung für die DDR
aufgekündigt und das Land verlassen. Es reicht nicht, wenn wir demgegenüber zum
treuen Aushalten an dem Platz mahnen, an den Gott uns gestellt hat, oder zur
Wahrnehmung des missionarischen Auftrages in einer nicht mehr vom Christentum
geprägten Gesellschaft rufen.
Wir wollen dazu
mithelfen, daß unsere Kirchen ihre Existenz in der sozialistischen Gesellschaft
bejahen, weil es um die bessere Ordnung der Gesellschaft und auch um ein
"besseres deutsches Staatswesen" geht, als wir es in der
Vergangenheit kannten. Wir möchten unsere Gemeindeglieder ermutigen zu einem
fröhlichen Christsein für diese Gesellschaft und für eine Atmosphäre, in der
Vertrauen, gegenseitige Achtung und Liebe gedeihen können. Dazu gehört, daß wir
Fehler und Mißstände auch als Folgen unserer eigenen Schwäche anerkennen und
für ihre Korrektur arbeiten, statt vor ihnen zu fliehen.
Es bleibt für uns
darum beim Darmstädter Wort:
"Wir sind in die
Irre gegangen, als wir begannen, eine 'christliche Front' aufzurichten gegenüber
notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der
Menschen."
Indem wir das erklärt
haben, verpflichten wir uns erneut zu bezeugen, daß das Evangelium Menschen aus
gottlosen Bindungen befreit, so daß sie lernen, dem Herrn Christus allein zu
dienen.
Berlin, den 12.
September 1987 116 Unterschriften
"Wir haben das Recht zur Revolution verneint..."
Aus einer Umfrage zum Thema:
40 Jahre nach dem "Darmstädter Wort", 70 Jahre
nach der Oktoberrevolution
"Versöhnung" nicht mehr im Einbahnverkehr (1987)
von Eberhard Bethge
Ihre lebhafte Bitte,
liebe Freunde der Weißenseer Blätter, anläßlich "40 Jahre Darmstädter
Wort" eine persönliche Rechenschaft aufzuschreiben in der Form einer
Resonanz auf die Oktoberrevolution, erzeugt zwiespältige Reaktionen in Kopf und
Herz eines Zeitgenossen, der sich im Prozeß seines fortschreitenden Abtretens
befindet. Wenn ich mich dennoch kompetent machen könnte, über diese Revolution
mehr zu sagen, als was inzwischen jeder gute Historiker allgemein auszusprechen
hat, daß nämlich 1917 tatsächlich Gesicht und Bewußtsein des Erdkreises
unumkehrbar verändert hat, dann sollte das öffentlich von mir in einem Organ
meines Lebensbereiches geschehen und nicht erstmalig in einem der DDR.
Aber gern spreche ich
aus, wie überrascht und zufrieden ich bin, noch zu erleben, welches Echo
Darmstadt nach 40 Jahren findet: bei uns wenigstens in Akademien und mancherlei
Zeitschriften, bei Ihnen sogar auf repräsentativer akademischer, ja kirchenleitender
Ebene: dieses damals unerhörte, erstmalig solche Analyse bietende und zu
aktivem Umkehren, also zu Positionsveränderungen rufende Bekenntnis. 1947
mußten wir ohnmächtig begreifen, daß die Neugeburt sofort der Schwindsucht
verfiel. Das Erbe der Bekennenden Kirche erstickte im unaufhaltsamen,
verführerischen Anschluß unserer Kirchen an 1932.
Nun aber nehme ich
wahr: es ist gar nicht erstickt. Es ist sogar aktuell und vermittelt erstaunliche
Frische. Das liegt natürlich auch daran, daß der Anschluß an 1932 nicht mehr an
1917 einfach vorbeidenken kann. Mit anderen Worten: das liegt daran, daß
Darmstadt immer noch zu Recht den Tatbestand analysiert, wie unsere Kirchen das
Evangelium auch weiterhin antidemokratisch, antisozialistisch,
antikommunistisch, ja antipazifistisch synkretisieren und weitergeben - ich
kann hier nicht unterdrücken, zu erwähnen, daß 1947 bei unseren großen Lehrern
noch jedes Wort zum antisemitischen Überliefern des Evangeliums fehlt.
Heute stellt für mich
die überzeugendste Konkretion, ja Fortsetzung von Darmstadt das erregende
Kairospapier von 1985 dar und seine erstaunlichen Fortschreibungen. Allerdings
setzen sich auch gewohnte Ablehnungssyndrome fort, am Entstehungs- wie am
Rezipienten-Ort bei uns, mit wohlbekannten theologisch auftretenden
Begründungen, die wir kennen: Politik, Kommunismus, selektierte Bibel,
Theologie von unten, Versöhnungsverweigerer, laxe Ekklesiologie. Aber hier
handelt es sich tatsächlich um authentisches Erbe der Bekennenden Kirche. Und
darin, daß hier machtvoll und streng in "Theo-logie" (wie bei Barth
1933: Ihr habt einen anderen Gott!) gefaßte und begründete Ablehnung formuliert
ist, daß die zentrale Vokabel "Versöhnung" (mit der auch in Darmstadt
alles anfängt) nicht mehr weiter im Einbahnverkehr von den Privilegierten zu
den Unterdrückten benutzt werden wird, als status confessionis; die Ablehnung,
sich noch auf diese kostbare Sache, auf biblisch legitime Versöhnung
einzulassen, ohne daß praktische Positionsveränderungen vollzogen sind.
Theologie ist hier
also nicht ohne "revolutionäre" Politik - und Politik nicht ohne den
Kampf um bessere strikte Theologie. Das ist Zentrum des Kairospapiers; das war
Zentrum des Darmstädter Wortes. Natürlich weiß ich, wie wenig weit wir bisher
mit diesem wie mit jenem gekommen sind. Aber ihre Sache dringt in theologischen
und politischen Auseinandersetzungen immer wieder zur Oberfläche; sie klopft an
unsere Türen wie eh und je. Das macht mir mitten in resignativen
Altersbefindlichkeiten Hoffnung. Es gibt auch Fortschritte - wie Sie sagen:
"Krieg zu tilgen... Raubbau... zu beenden" und sogar
"...Ausbeutung von Menschen durch Menschen" zu bekämpfen.
Oktober-Nachlese (1987)
von Heinz Kamnitzer
Wir müssen immer noch
verlernen zu vergessen. Dafür genügen nicht Geschichtsstunden. Wer nicht
erfährt, was seine Vorfahren im Alltag durchgemacht haben, wird auch nicht
nacherleben können, was gewesen und geworden ist.
Ich selbst bin auf
Erden seit dem Jahr, da Lenin und seine Genossen in Rußland die Macht
übernahmen. Auch wer damals in Deutschland geboren wurde, alterte rasch, wenn
er sich umsah und nicht wegsah, wenn er zuhörte und nicht weghörte. Dann fand
er bald heraus, daß seine Welt nicht gut war - keineswegs nur im Geiste.
Die Weimarer Republik
versprach viel und hielt zuletzt gar nichts mehr. Die bürgerliche Demokratie
und ihr Gewaltmonopol unterlagen von Anfang an dem Geldadel, der als Staatsdoktrin
nur die Heuchelei von einer Harmonie zwischen Herr und Knecht gelten ließ. Das
war meine Sache nicht.
Ich weiß nicht mehr
genau, wie lange es dauerte, bis ich zwischen der deutschen Revolution von 1918
und der russischen Doppelrevolution von 1917 zu unterscheiden lernte.
Jedenfalls faszinierte mich die Gegenwelt im Osten vor der Machtübergabe an
Hitler und seine Horden.
Ich hatte frühzeitig
meine Suche nach Gerechtigkeit, nach Gemeinschaft und Freiheit begonnen. Bald
wurde mir deutlich, daß meine Passion nur von liberté, egalité und fraternité
erfüllt werden konnte. Aber da ich darunter eine Dreieinigkeit verstand, die
unauflösbar zusammengehörte und sich nicht aufsplittern läßt, entsprach nur
eine sozialistische Republik den Grundsätzen und Grundlagen, um meine Ideale
von einer schönen Utopie in die spröde Realität zu übertragen.
Seitdem vermochten
weder Rufmord noch Rückschläge mich davon abzubringen, was bis heute für mich
Mittelpunkt geblieben ist. Der neue Staat und die maßgebliche Partei in der Sowjetunion
machten vor, wie man eine Ordnung herstellt, in der die Bauern nicht mehr die
Lasttiere der Gutsherren sind, die Arbeiter nicht mehr die Fabrikbesitzer reich
machen, der Lohn von Mann und Frau sich nicht mehr unterscheiden, die Mieten
nicht mehr Pfründe von Hauseigentümern sind, Schule, Studium und Lehre
kostenfrei, so wie der Arzt und die Medizin.
Ich empfand, daß damit
zum ersten Mal in der Geschichte der Neuzeit das Volk nicht mehr um seine
Lebensrechte betrogen wurde. Im Laufe der Jahre begriff ich auch, wie
nachteilig sich allerdings auswirken mußte, den Sozialismus in dem Land
durchzusetzen, das kaum Industrie kannte und über wenig Menschen verfügte, die
gelernt hatten, Betriebe zu leiten, geschweige denn einen sozialistischen
Staat.
Dennoch habe ich den
Vorrang, den für mich eine solche societas besitzt, nie preisgegeben. Ich ziehe
vor, wenn eine gerechte Gesellschaft anfangs eine Gleichheit in Armut verwalten
muß, in der alle das karge Leben teilen, während ich nichts für so sittenwidrig
und gemeingefährlich halte wie eine Ordnung der Ungleichheit, in der Wohltat
und Plage so ungerecht verteilt sind.
Ich weiß allzu gut,
wie in der UdSSR nicht nur glänzende Leistungen zu verbuchen sind, sondern auch
furchtbare Verluste. Niemand kann mehr darüber erschüttert sein, als wer ihr
zugetan ist. Aber so verfehlt für uns die Zurücknahme der 9. Sinfonie von
Beethoven ist, so wenig ist eine Zurücknahme der 10. Sinfonie von
Schostakowitsch gerechtfertigt.
Wer mit seiner
Gesinnung durchhalten will, wird immer viel ertragen müssen, nicht zuletzt in
den eigenen Reihen. Es gibt auch in der Geschichte keine unbefleckte
Empfängnis, schon gar nicht, wenn man in Jahrzehnten einige Jahrhunderte
nachholen muß und dabei noch durch Bürgerkrieg, Hungersnot, Boykott und durch
Kreuzzüge von Fremdmächten behindert wird.
Da ist die Tugend der
Treue unerläßlich, in guten und besonders in schlechten Zeiten. Gerade
Christen, die auf ihre zweitausend Jahre zurückblicken, sollten wissen, wieviel
Geduld jede Sehnsucht braucht, um sich einem großen Ziel zu nähern, und wie
eine lange Strecke auch Abwege aufweist.
Für die Zukunft wird
lebenswichtig, wenn nicht nur das Martyrium verbindet und sich eine kühle Ko-Existenz
erhält, sondern auch Gläubige, allen voran ihre Hirten, der Sowjetunion die
öffentliche Hochachtung für das moderne Beispiel eines solidarischen
Gemeinwesens entgegenbringen und auch historisches Mitgefühl zeigen für die
heroische Selbsthilfe, das russische Reich zu befreien aus dem Sog des
Morastes, den Selbstherrscher und ihr Troß sowie Dunkelmänner und ihre
Trabanten hinterließen. Der Baron von Münchhausen hatte es leichter, sich am
eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Destabilisierung (1987-1989)
Vorläufige Anmerkungen zum Fall "Grenzfall"(1987)
von Hanfried Müller
Was rund um die
Berliner Zionskirche eigentlich geschehen sei, wollten einige Leser von den WBl
telefonisch wissen*. Die knappen
Mitteilungen in der DDR-Presse reichten ihnen nicht zur Orientierung, und die
westliche Fernsehdramatik zu diesem Anlaß erzeugte nur Nervosität, was ja wohl
auch beabsichtigt war.
Wir sind gern bereit,
zu sagen, was wir wissen. Allerdings wissen wir nur an einem Punkt mehr als die
breite Öffentlichkeit. Wir kennen den "Grenzfall", um den es ging. Im
Heft 4/86 berichteten wir auf S. 51 von der Nr. 1 des "Grenzfall":
"Gerade Mitglieder dieser Gruppe erklärten offen, daß sie mit der Kirche
nichts zu tun hätten, sondern sie nur gebrauchten, um ein Forum in der
Öffentlichkeit zu haben." In Heft 2/87 berichteten die WBl auf S. 59 von
den Sympathisanten der ungarischen Konterrevolution 1956**
und schlossen: "Immerhin hat inzwischen ein Gespräch seitens der Redaktion
mit jemandem aus dem Kreis der Kontrahenten stattgefunden." Dabei zeigten
sich enge Beziehungen unserer Kontrahenten zum "Grenzfall"; ein
Austausch wurde vereinbart. So konnten wir uns seitdem von weiteren Ausgaben
des "Grenzfall" selbst einen Eindruck bilden.
Als Herausgeber des
"Grenzfall" bezeichnen sich "Mitglieder der Initiative Frieden
und Menschenrechte", die nicht namentlich zeichnen. Der
"Grenzfall" erschien anonym. Der Inhalt war - auf der Linie von
Charta '77, KOR und ähnlichen autonomen Gruppen, mit denen der
"Grenzfall" engen Kontakt hielt - antikommunistisch. Die Themen, die
behandelt wurden, waren - darin hatten einige Westmeldungen recht - rein
politischer Art, allerdings mit einer Ausnahme: Der "Grenzfall" war
stets interessiert an der Frage, inwieweit die Kirche Gelegenheit zur
Propagierung seiner politischen Linie biete - von Krawczyk-Auftritten bis zum
"Kirchentag von unten". Dessen Parole: "Glaubt nicht mehr diesem
Pfaffenbrei/ setzt lieber bißchen Power frei!" begegneten wir zuerst im
"Grenzfall" 4/87, 3. Blatt.
Unverkennbar zielte
der "Grenzfall" darauf ab, durch kontinuierliche Steigerung seiner
antisozialistischen Provokationen die Strafverfolgungsorgane der DDR in die
Alternative zu treiben, entweder offene Ungesetzlichkeit stillschweigend zu
dulden oder einzugreifen. Im ersten Falle hätte man triumphierend einen
scheinbar rechtsfreien "Freiraum" behaupten können, im anderen Falle
konnten die Freunde im Westen (die CDU/CSU-Bundestagsfraktion behandelte die
hiesigen Autonomen ja ungeniert wie eine Schwesterpartei) eine offensichtlich
wohlgeplante Verleumdungskampagne gegen die DDR auslösen - wie es dann ja auch
geschah.
Tatsächlich ist nicht
mehr geschehen, als daß die Staatsanwaltschaft ihrer gesetzlichen Pflicht
nachgekommen ist, beim Verdacht einer Straftat ein Ermittlungsverfahren
einzuleiten, Beweismittel und unabgesprochene Zeugenaussagen zu sichern.
Solange das Verfahren
schwebt, gebietet es demokratischer Anstand, mit voreiligen Urteilen
zurückhaltend zu verfahren. Diesem Stil möchten die WBl entsprechen. Nur ein
allgemeiner Satz sei immerhin gesagt: Wer die Rechtstradition, die die
Strafverfolgung dem Legalitätsprinzip und nicht dem Opportunitätsprinzip
unterwirft, für ein geeignetes Mittel hält, um die Rechtssicherheit aller zu
sichern, der könnte allenfalls Bedenken gehabt haben, solange an dieser Stelle nicht ermittelt wurde, nicht aber gegen
die Ermittlungen.
*
Der
"Grenzfall" will nichts mit der Kirche zu tun haben. Die Kirche aber hat es mit dem
"Grenzfall" zu tun. Denn unter ihrem Dach ist er entstanden.
Und eben dies ist der
Skandal - nicht die Ermittlungen der Justizorgane, durch die der Skandal nun
offenkundig geworden ist! Egal, ob es sich um Ordnungswidrigkeiten oder um
Straftaten handelt - das eigentliche Ärgernis liegt darin, daß die Kirche, die
1. Petr. 4,15 liest: "Niemand unter euch leide aber als ein ... Übeltäter
oder der in ein fremdes Amt greift", sich verhält, als nähme sie nicht
etwa daran Anstoß, daß in ihren Räumen ein konterrevolutionär-aufrührerisches
Blatt hergestellt, sondern nur daran, daß es in kirchlichen Räumen gefunden und
beschlagnahmt wurde.
In der Weimarer
Republik gab es eine Kirche, deren Herz deutschnational schlug, auch das Herz
einiger sogenannter "Vernunftrepublikaner", die der Kirche halfen,
sich recht und schlecht mit der verhaßten Republik zu arrangieren. Weil dies
Arrangement als unaufrichtig empfunden wurde, wuchsen in dieser Kirche junge
Christen heran, die sich in allzu großer Zahl als zu allem Möglichen verführbar
erwiesen, besser gesagt: zu allerlei Unmöglichem. Und die Republik machte gute
Miene zum bösen Spiel. Sie wollte ja den Kulturkampf nicht, den diese Kirche
provozierte. Vestigia terrent!
Die Kirche bedarf
einer geistlichen Leitung, die sich geradlinig vom Evangelium leiten läßt und
nicht von eigenen politischen Wünschen, Sympathien, Leidenschaften und
Traditionen. Gewiß soll rechte Kirchenleitung barmherzig sein, das heißt aber
nicht einfach nachgiebig; sicher soll sie sich gegenüber allen verständnisvoll
verhalten, das heißt aber nicht kompromißlerisch nach allen Seiten. Die
Stolperei von noch so respektablen "Vernunftsozialisten", die beim
Streben nach Arrangements nicht nur über fremde
antikommunistische Füße stolpern, reicht notorisch nicht aus, um zu verhindern,
daß wir uns in der Kirche noch einmal auf solchen Irrwegen verlaufen, auf denen
schon unsere Väter so furchtbar in die Irre gegangen sind.
Ist es nicht eine
höllische Verwirrung, wenn eine Kirchenleitung - wie es in der Schnellinformation
des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR vom 4.12.1987 heißt - "die
Grenze zwischen kirchlichen Gruppen und sogenannten 'Unabhängigen' nicht leicht
und eindeutig zu bestimmen" vermag? Eine Kirchenleitung, die nach ihrem
Auftrag fragt statt danach, was in dieser oder jener Situation zu erreichen
oder machbar sei, hätte es doch wohl nicht allzu schwer, die Grenze zu
bestimmen zwischen solchen, die in "konspirativer Untergrundarbeit"
von Jesus Christus und dem Wort Gottes "unabhängig" sein wollen, und
denen, die um des Christuszeugnisses willen umgekehrt nicht abhängig sein
wollen von "konspirativer Untergrundarbeit".
*
Weil die Kirche leider
etwas mit dem "Grenzfall" zu tun hatte, so wenig die Autoren des
"Grenzfall" etwas mit der Kirche zu tun haben wollen, hatte nun in
der Tat die Leitung der Kirche etwas dazu zu sagen.
Die Erklärung des
Konsistoriums vom 26. und der Kirchenleitung vom 27. November 1987 konnten nun
allerdings keineswegs befriedigen.
Kann man zum Beispiel
redlicherweise die Freilassung von Zugeführten und gar von wegen Verdunklungsgefahr
Verhafteten verlangen, solange noch Ermittlungen laufen, die man nicht kennt?
Man könnte es doch höchstens dann, wenn man aus eigener Wahrnehmung wüßte, daß
die Beschuldigungen unbegründet sind. Wie aber will eine Kirchenleitung das
wissen, wenn sie gleichzeitig erklärt, die inkriminierten Aktivitäten seien
zwar in kirchlichen Räumen, jedoch hinter dem Rücken der kirchliche
Verantwortlichen geschehen? Stünde es einer Kirche, wenn sie sich unschuldig
fühlen dürfte, nicht besser an, umgekehrt gründlichste Ermittlung und
Aufklärung zu wünschen, wie jeder schuldlos Bezichtigte das tut, und dazu
eigene Hilfe anzubieten?
Stattdessen verhalten
sich Mitglieder der Kirchenleitung - sofern das offiziöse Organ der
Berlin-Brandenburgischen Kirche Die
Kirche in ihrer Nr. 49/87 korrekt berichtet - nicht wie von einem
Verdacht mitbetroffene Unschuldige, sondern wie Abenteurer nach einem geglückten
Husarenstreich.
"Gemeinsam könne
man viel erreichen, die Umweltbibliothek sei ein fester Bestandteil der Arbeit
der Kirche und bleibe es auch, die Zionskirchgemeinde habe viel Sympathie
erfahren, die Mahnwache habe einen hohen Symbolwert. Er habe tiefen Respekt vor
den Jugendlichen, die sie gehalten hätten. Die Kirchenleitung stünde zu ihr und
würde dies, wenn es nötig werde, auch wieder tun", soll der
Konsistorialpräsident gesagt haben. Als "Ausdruck des konziliaren
Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung"
interpretiert Die Kirche diese
"Mahnwachen". Sollte ein Jurist *
wirklich nicht bemerkt haben, daß sie in Wirklichkeit den Versuch darstellten,
ein Justizorgan zur Einstellung strafrechtlicher Ermittlungen zu nötigen?
Der Staatssekretär für
Kirchenfragen ** hat
doch völlig recht, wenn er - wie das ebenfalls der Bund in seiner
Schnellinformation mitteilt - konstatiert: "Die von der Mahnwache
erhobenen Forderungen widersprächen allen Regeln der Rechtspflege und seien
völlig unangemessen." Tatsächlich zielen sie darauf ab, durch politischen
Druck die Justiz ihrer dem Recht unentbehrlichen Unbefangenheit zu berauben.
Ist es nicht
beschämend, daß eine Kirchenleitung sich von einem säkularen Staat vorhalten
lassen muß, was ihre ureigenste Aufgabe gewesen wäre? "Die
Verantwortlichen der Kirche müßten ihre Verantwortung wahrnehmen, um die Dinge
wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. Sie müßten sich fragen lassen, warum
sie die seit längerer Zeit gegebenen Hinweise und Warnungen in den Wind
geschlagen und in ihrem Verantwortungsbereich nicht sichergestellt hätten, daß
die Kirche und ihre Einrichtungen nicht für gesetzwidrige Aktivitäten
mißbraucht würden. Es sei zu fragen, warum sie nicht von ihrem Hausrecht
Gebrauch machten. Es werde erwartet, daß sie sich angesichts der Medienkampagne
eindeutig äußerten und Falschmeldungen auch ihrerseits richtigstellten."
Heißt es nicht, Öl ins
Feuer gießen, wenn aus der Kirchenleitung heraus mit aller Konsequenz die
Irreführung verstärkt wird, es ginge um Maßnahmen gegen die
"Umweltbibliothek", obwohl die Kirchenleitung genauer als die breite
Öffentlichkeit darüber informiert ist, daß sich die Ermittlungsmaßnahmen wegen
des Verdachtes strafbarer Handlungen ausschließlich gegen den
"Grenzfall" richteten? In der Schnellinformation des Bundes liest
man: "In diesem Gespräch (mit Vertretern der Kirche - H.M.) erklärte der
Staatsanwalt, daß sich die Aktion in der Nacht vom 24. zum 25. November 1987
nicht gegen die in der Zionsgemeinde untergebrachte Umweltbibliothek und die
mit ihr verbundenen Gruppen gerichtet habe, sondern allein gegen die nicht
lizensierte Schrift 'Grenzfall'. Diese erscheine seit Mitte 1986, seit 1987
sogar monatlich. Sie werde herausgegeben von der Initiative 'Frieden und
Menschenrechte' und sei gekennzeichnet durch tendenziöse Artikel, die oftmals
staatsfeindliche Äußerungen enthielten, immer aber die Zielstellung, die DDR
herabzuwürdigen. Anlaß zum Eingreifen der Staatsanwaltschaft sei der Verdacht
gewesen, daß diese Schrift in den Räumen der Umweltbibliothek gedruckt werde.
Bei der Haussuchung wurden sechs Vervielfältigungsgeräte und eine Schreibmaschine
konfisziert, außerdem eine unvollständiger Satz von bereits abgezogenen Seiten
des 'Grenzfall' 11/1987 und noch nicht abgezogene Matrizen. Durch inzwischen
vorliegende Teilgutachten sei nachgewiesen, daß der 'Grenzfall' 9/1987 auf
einer der in den Räumen der Umweltbibliothek vorgefundenen Maschinen gedruckt
wurde. Die von der Umweltbibliothek herausgegebenen 'Umweltblätter' seien nicht
beschlagnahmt worden ... Der Hektographierapparat der Zionsgemeinde wurde nicht
beschlagnahmt."
*
Wenn aber die
Kirchenleitung (anders als der Staatsanwalt) einen Zusammenhang zwischen der
"Umweltbibliothek" und dem "Grenzfall" wahrzunehmen meint -
wie die offiziöse Propaganda in Die
Kirche vermuten läßt -, müßte sie dann nicht schleunigst die
"Umweltbibliothek" unter die Lupe nehmen, statt mit dem Hinweis auf
sie vom Fall "Grenzfall" abzulenken? Müßte sie nicht darüber
nachdenken, was es bedeutet, daß der Name dieser Bibliothek irreführend ist?
Denn "Umwelt" läßt hierzulande doch jedermann an Ökologie denken. Im
Namen dieser "Bibliothek" jedoch meint das Wort"Umwelt" den
weiten Begriff, der alles umgreift, was um uns her geschieht, den Umweltbegriff
einer neu entstandenen westlichen Ideologie. Kann man aber, wenn die
"Umweltfrage" so weit gefaßt ist, solche Frage nach der
"Umwelt" noch dem kirchlichen Auftrag zuordnen? Das Mandat, die Erde
zu bauen und zu bewahren, das die Kirche zu predigen hat, legitimiert das
jedenfalls nicht. Wenn es aber keineswegs Auftrag der Kirche ist, zu allem und
jedem etwas zu sagen (das hieße Allotria treiben), mit welchem Recht bezeichnet
man dann diese "Umweltbibliothek" als "Bestandteil der
Kirche"?
*
Was sich in
Berlin-Brandenburg zwischen offizieller Kirche und sogenannten Gruppen abspielt,
droht zu einer Verwilderung der Sitten zu führen, die nicht mehr erträglich
ist. Folgte die Kirche dem Beispiel zivilisierter Gemeinwesen, dann wäre es
höchste Zeit, einen Untersuchungsausschuß damit zu beauftragen, eigene
schwerwiegende Versäumnisse zu klären und zu beheben. Unsere Kirchenleitung
wird sich sehr ernstlich an ihre wirkliche Verantwortung erinnern lassen
müssen: Sie soll die Gemeinde Jesu Christi geistlich mit dem Wort leiten. Es
ist nicht ihr Auftrag, gesellschaftliche Kräfte so oder so zu organisieren und
dabei kirchenfremde Gruppen zu integrieren, um "gemeinsam viel zu
erreichen". Und was haben "Kirche" und "Gruppen"
bisher gemeinsam erreicht? Es hätte leicht ein kirchenpolitischer
Scherbenhaufen sein können, wenn nicht die andere Seite besonnen genug gewesen
wäre, sich nicht provozieren zu lassen. "Staatssekretär Gysi hob am
1.12.1987 noch einmal (!) nachdrücklich hervor" - so informiert der
Kirchenbund -, "daß von staatlicher Seite in keiner Weise daran gedacht
sei, die seit dem 6. 3. 1978 verfolgte Linie der Staatspolitik in Kirchenfragen
zu verlassen; es gäbe für diese Kirchenpolitik keine vernünftige Alternative.
Die Vorgänge um die Zionskirche Berlin, besonders nach dem 25. 11. 1987
("Mahnwachen" - H.M.) gefährdeten jedoch das erreichte Verhältnis von
Staat und Kirche und müßten darum bereinigt werden." Es ist unanständig,
die Verständigungsbereitschaft und den Friedenswillen eines anderen
auszunutzen, um ihm den eigenen Willen aufzuzwingen; es ist doppelt
unanständig, wenn man das dann noch hinterher triumphalistisch als
vermeintlichen Erfolg seiner Polemik feiert. Anstand aber sollte auch in der
Kirche gelten: "Fleißiget auch der Ehrbarkeit gegen jedermann" (Röm.
12, 17). (...)
Offener Brief an Bischof Forck (1988)
Unterzeichnet von 52
Gliedern der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg
Herr Bischof, lieber
Bruder Forck! 7. Februar 1988
Was in den letzten
Wochen zur Beeinträchtigung des öffentlichen Lebens unseres Landes unternommen
wurde, hat Prozesse gestört, die wir alle nur mit Genugtuung und Hoffnung
begleiten konnten. Damit mußte man rechnen. Nicht nur erste Erfolge in der
Abrüstungsfrage, sondern auch der Aufbruch zu neuem Denken unter
kommunistischer Führung rief Gegenkräfte auf den Plan. Sie stören sowohl den
Friedensprozeß als auch den Prozeß der Höherentwicklung des Sozialismus. Darum
fanden sie die Unterstützung antikommunistischer Massenmedien. Leider wurde in
diese Störfälle auch unsere Kirche verstrickt.
In dieser ernsten
Situation, die zu einem tiefen Riß durch unsere Kirche führt, wenden wir uns an
Sie in Ihrer verantwortlichen Stellung. Es ist ja das Amt, in dem Sie gemeinsam
mit der Kirchenleitung dafür Sorge zu tragen haben, "daß das Evangelium
recht verkündigt und nicht durch falsche Lehre verdunkelt wird" (GO Art.
81,3).
Solche Verdunkelung
ist geschehen, indem die im Auftrage der Kirchenleitung mehr als zwei Wochen
lang stattfindenden "Fürbitt-Andachten" und
"Fürbitt-Gottesdienste" das Wort und Werk des Herrn in den Dienst
eigenmächtig gewählter Wünsche und Pläne stellten. Das betrachten wir als
Widerspruch zu unserem Bekenntnis (Theol. Erkl. von Barmen, These VI.). Wenn
sich die Kirche als eigenständige gesellschaftliche Kraft, als Forum für
Aussteiger und Auswanderer zu profilieren sucht, müssen wir widersprechen. Die
Kirche ist weder dazu berufen, die bestehende Gesellschaftsordnung zu
rechtfertigen noch die Kritiker des Sozialismus in ihrer Kritik zu bestätigen.
Vor allem kann die Kirche nicht die "Gegenseite" sein, auf die solche
überlaufen, die sich vom Sozialismus abgewandt haben und ihn nun untergraben
wollen.
Die Gemeinde Jesu
Christi ist offen für alle, und wir haben unsere Kirchentüren vor niemandem zu
verschließen. Es geht aber nicht an, daß wir, wenn Dissidenten zu uns kommen,
das Predigtamt an sie abtreten oder selber ihr Programm predigen.
Wir möchten Ihnen zu
bedenken geben, was uns beschwert:
o In der Erklärung der Kirchenleitung
vom 30.1. heißt es, sie habe sich "von ihrem Auftrag her für Menschen
einzusetzen, die auf Grund von Gewissensentscheidungen handelten und offen ihre
Meinungen äußerten"; speziell diese Inhaftierten wolle der Bischof besuchen.
Nach Matth.25,36 und 40 sind wir nicht dazu frei, nach Sympathie auszuwählen,
wen wir besuchen. Solche Auswahl wäre kein Akt der Barmherzigkeit, sondern eine
Demonstration. Gerade die damals Inhaftierten (auf Grund einer von Ihnen
dankenswerterweise nicht gutgeheißenen "Meinungsäußerung") gehören
keineswegs zu den Geringsten und Schwächsten unserer Mitmenschen, sondern haben
die stärkste Medienmacht - Presse, Funk und Fernsehen der westlichen Welt - auf
ihrer Seite. Gerade durch diese Medienmacht wird unsere Kirche benutzt. Sollen
wir uns deren politischer Erwartungshaltung
beugen, deren Auswahl unter den
Hilfsbedürftigen befolgen? Dann wäre es um die Glaubwürdigkeit unserer
Nachfolge schlecht bestellt.
o Sie, Bruder Forck, haben mit Ihrer
Abendpredigt am 30. Januar in der Gethsemane-Kirche es nicht vermocht, diesem
Gottesdienst den Charakter einer politischen Massenversammlung zu nehmen. Gibt
es Ihnen nicht zu denken, daß die Gemeinde zu einem Publikum wurde, das alle
Teile des Gottesdienstes einschließlich Predigt und Fürbitte wie politische
Agitation wertete und entsprechend applaudierte? Hätte Ihre Predigt nicht die
unbequeme Wahrheit enthalten sollen, die den Hörer zur Besinnung bringt?
o Wurde das von Ihnen als Predigttext
gewählte Evangelium von der Feindesliebe nicht überdeckt durch das Programm von
Vera Wollenberger, von dem Sie berichteten und das von einer wahrheitswidrigen
Unterstellung geprägt ist: die DDR wäre bis 1983 für die Aufstellung von
Raketen eingetreten und hätte sich erst jüngst zu Frau Wollenbergers
Abrüstungsprogramm bekehrt?
o In Ihrer Predigt und den Erklärungen
der Kirchenleitung hört man keinen Ruf zur Buße der Kirche. Zwar sagen Sie in
der Erklärung vom 30.1. (und wir fragen, warum im Bischofswort vom 21. Januar
eine so wichtige Klarstellung fehlt!), daß Sie die "Aktivitäten am Rande
der Demonstration zu Ehren von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nicht
gutheißen. Mitglieder der Kirchenleitung haben von einer Beteiligung abgeraten."
Aber in den Monaten zuvor haben Mitglieder der Kirchenleitung viel dafür getan,
daß sich in der Kirche die organisatorischen Planungen und Vorbereitungen zu
solcherart Aktivitäten entwickelten, Mitglieder der Kirchenleitung haben den
Trägern der Umweltbibliothek ein gutes Gewissen gemacht und alles mögliche
gedeckt, was unserem Bekenntnis widerspricht ("Umweltblätter"). Nicht
zuerst der atheistischen Welt, sondern der pharisäischen Kirche gilt der
Bußruf.
o Generalsuperintendent Krusche hat am
4. Februar erklärt, die Kirche sei keine Agentur zur Förderung der Entlassung
aus der Staatsbürgerschaft. Dies war ein richtiger und nötiger Satz. Aber die
Errichtung einer Beratungsstelle für Auswanderungswillige verträgt sich damit
schlecht.
Wo unsere Gesellschaft
Unvollkommenheiten aufweist, haben wir zu ihrer Verbesserung zu helfen, ohne
aus einer Kirche zu einer politischen Bewegung zu werden.
Es ist noch nicht
lange her, daß unsere Kirche von der Gesellschaft als eine restaurative und
gegenrevolutionäre Institution betrachtet werden mußte. Weil wir einander ein
offenes und aufrichtiges Wort schuldig sind, bitten wir Sie, Bruder Forck,
diesen Irrweg nicht wieder zu betreten. Was Sie und die Kirchenleitung in den
letzten Wochen zugelassen oder getan haben, muß diesen Eindruck erwecken. Die
Gefahr, daß ausgerechnet vom Boden der Berlin-Brandenburgischen Kirche ein
neuer Kalter Krieg ausgehen könnte, beunruhigt uns aufs tiefste.
Stellen Sie bitte den
Auftrag der Kirche, "allen Menschen in allen Bereichen ihres Lebens Gottes
anspruchsvolle Liebe zum Sünder zu bezeugen", klar heraus und prüfen Sie,
wann Ihre Worte und Handlungen für fremde Pläne und eigensüchtige Wünsche in
Anspruch genommen werden.
Es grüßen Sie in Sorge
und Hoffnung (52 Unterschriften)
Zwischenbilanz zum Fall "Grenzfall" und anderen
Fällen (1988)
von Hanfried Müller
Noch keine Entwarnung
Den "Vorläufigen
Anmerkungen zum Fall 'Grenzfall'" (WBl 5/87, S.37 ff.) können noch keine
"Abschließenden Bemerkungen" folgen. Das Problem ist aufgeschoben,
nicht aufgehoben. Ob es in Zukunft leichter zu lösen sein wird als bisher, ist
mir mehr als fraglich.
Nichts wäre
leichtsinniger, als entspannt zu sagen, es wäre alles noch einmal gut gegangen,
- und nichts zu tun.
So mancher kirchlich
Verantwortliche stand in den letzten Wochen - mit allem Grund! - unter dem
Eindruck von Goethes Zauberlehrling: "Die ich rief, die Geister, werd''
ich nun nicht los." Aber das Bild ist unvollkommen. Das Zauberwort hatte
der große Hexenmeister in der Kirchenleitung nicht nur vergessen, das
Zauberwort gibt es nicht.
Viel treffender ist
das biblische Bild von dem unsauberen Geist, der, wenn er ausgefahren ist, hingeht,
sich sieben andere Geister holt, die ärger sind denn er selbst, und mit ihnen
zurückkehrt (Matth.12,43 ff.). So ging es doch auf dem Wege vom ersten Anschlag
des "Grenzfall" bei der Friedenswerkstatt 1986 über die Eskalation
rund um die Zionskirche Ende 1987 bis hin zu der Provokation bei der
Gedenkdemonstration für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 17. Januar 1988.
Und die Kirche lief
mit: Von den "Mahnwachen" über die "Fürbittgottesdienste"
bis zu der "Beratungsstelle für Ausreisewillige", die nur ein
Mißverständnis sein sollten. Der Berliner Volksmund spottete: "In der DDR
haben wir die größte Kirche der Welt. An der Zionskirche in Berlin geht man hinein, und in Gießen
kommt man heraus."* - Ob dies im
Kirchenbau neuartige Langschiff stabiler ist als der Turm von Babel?
Geistliche Ohnmacht
Von der Macht über die
unsauberen Geister, die Jesus den Seinen gegeben hat, war wenig zu merken in
dieser Geschichte. Warum? Das kann man nachlesen in der Aussendungsrede Jesu an
seine Jünger bei Matthäus 10, 1 ff.
Nicht auf der Völkerstraße
sollen die Seinen wandeln und nicht in die Samariterhäuser gehen. Vielmehr sind
sie gesandt zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Den in der Volkskirche
Verirrten sollen sie verkündigen, daß ihnen das "Himmelreich", also
das unsichtbare Regiment Jesu Christi, nahe ist. Das - und nur das! - ist ihre
Mission. Von der Nähe der Herrschaft Gottes und der Buße mögen dann auch die
Heiden und Samariter hören, diejenigen, die andere oder keine Götter oder Gott
anders anbeten, und mit den Sündern in der Kirche, den verlorenen Schafen aus
Gottes Volk zusammenkommen unter dem einen guten Hirten, der die Verlorenen
sucht und rettet.
Was aber haben wir
gemacht? - Wir als Kirche, von der ein evangelischer Christ sich nicht trennen
kann, auch dann nicht, wenn er sich ihres Verhaltens nur in Schmerz und Trauer
schämen kann, was haben wir gemacht?
Statt unsere Sendung,
unsere "Mission" zu erfüllen, wollten wir unsere Kirchen füllen. Dazu
haben wir "missioniert", Musik gemacht, obstinate Agitatoren als politische
Kabarettisten auftreten lassen und ihnen den Altar als Bühne angeboten. Da
wurde nicht mehr Evangelium gepredigt, sondern Frustration demonstriert. Aus
Gottesdiensten wurden antistaatliche Kundgebungen. Treue Gemeindeglieder
berichteten erschüttert, zum ersten Mal in ihrem Leben hätten sie in der Kirche
Angst gehabt.
Muß man sich darüber
wundern? In der Aussendungsrede Jesu steht auch der Satz: "Umsonst habt
ihr's empfangen, umsonst gebt es auch!"
Was aber haben wir
gemacht? - Wir, die Kirche, deren Leitungen wir nicht von diesem Irrweg
zurückzurufen vermochten?
Statt gratis zu geben,
was wir gratis empfangen haben, Gottes Wort und selbstlose Liebe, haben wir
geschachert. Statt in der Freiheit der Kinder Gottes zu leben und zu dienen,
haben wir auf den Stuhl der Propheten und Apostel Manager und Makler gesetzt und
um kirchlichen "Freiraum" gefeilscht: Gebt uns Baugenehmigungen, und
wir besorgen euch Devisen. Gebt uns Sendezeiten, und wir erkennen euch ein
bißchen an. Gebt uns Stadien, und wir schmücken Berlin zu seinem Geburtstag mit
etwas Heiligenschein. Verzichtet auf kommunistische Erziehung, und wir könnten
ein wenig Antikommunismus aufgeben. Müssen wir uns wundern, wenn das dabei
endet: Verleugnet euer Recht und Gesetz, und wir schaffen euch die Westpresse
vom Halse?
Christliche Freiheit
"Trachtet am
ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch
solches alles zufallen." (Matth. 6, 33)
Wenn wir uns selbst
nicht darauf verlassen, wie sollen es uns andere glauben?
Würden wir unser
Westgeld ohne Gegenleistung mit unseren Brüdern nach dem Fleisch teilen, dann
wäre es wohl eher möglich, daß manche unserer Westbrüder nach dem Geist es uns
nicht mehr schenkten, als daß unsere Ostbrüder nach dem Fleisch uns nicht
erlaubten, auch kirchliche Bauten davon zu finanzieren.
Wenn wir die weltliche
"Obrigkeit" der Arbeiter- und Bauernmacht so willig anerkennten wie
bisher die vermeintlich "christliche" Obrigkeit der Feudal- und
Kapitalmächte (einschließlich des Satzes von den "wunderlichen
Herren" aus 1.Petr.2,18), warum sollten sie uns nicht zum Beispiel auch in
ihren Medien zu Wort kommen lassen?
Allerdings: Mit
welchem Recht könnten wir von Kommunisten verlangen, sie sollten auf
kommunistische Erziehung verzichten? Wir wollen doch auch nicht die
Verkündigung des Evangeliums aufgeben. Aber: Wenn wir unsere
antikommunistischen Vorurteile aufgäben, warum sollten dann nicht auf der
anderen Seite antikirchliche Vorurteile (und Urteile) verschwinden?
Lateinamerika zeigt es!
(Ich höre den Einwand:
Kommunistische Erziehung sollen wir dulden? Die ist doch atheistisch! Nun,
bitte einmal Hand aufs Herz! Kommt es euch, die ihr so fragt, wirklich auf Gott
an, den ihr wie ein Mittel zur Selbstfindung und Selbstbehauptung handhabt,
oder auf die Kirche? Habe ich nicht von euch in Synoden gehört, sich zu Jesus
Christus als unserem Herrn und Gott zu bekennen, das sei "Theorie vom
grünen Tisch"? - "Theologie" sagtet ihr verächtlich! Darauf
komme es an, ob sich jemand "zur Kirche bekenne" - und wenn er das
tue, werde er "unterprivilegiert".)
Und weiter: Täten wir
das Unsere, den Justizorganen unseres Staates die ausländischen Erpresser vom
Halse zu schaffen - zum Beispiel, indem wir wahres Zeugnis für unsere Nächsten
gäben und sagten, daß es keine Menschenrechte verletzt, wenn unser Staat wie
jeder Staat souverän seine Gesetze anwendet, - dann könnten wir wohl auch auf
offene Ohren hoffen, wenn wir hier und da bäten, Gnade vor Recht ergehen zu
lassen, aber bitte: vor anerkanntem und anzuerkennendem Recht und nicht vor
bestrittenem Recht!
Man wendet ein, das
sei illusionär, weltfremd, unpolitisch gedacht? In der Politik gehe es nun
einmal um Kräfteverhältnisse und ihre Veränderung, um Einfluß und um Macht, um
Interessen und ihren Ausgleich, um ein "do ut des": "ich gebe
dir, damit du mir gibst"! Gewiß, darum geht es in der Politik. "Die
Mächtigen herrschen und lassen sich Wohltäter nennen" (Luk. 22,25). Das
sehen, wissen und berücksichtigen auch wir - wie unser Herr. Aber die
eigentliche politische Verantwortung der Kirche beginnt damit und hat dies zum
Vorzeichen, daß sie - auch wo sie politisch wirkt - frei wird von diesem
Gesetz! "Ihr aber nicht so" geht der Text Lukas 22,25 weiter. Ginge
es der Kirche - auch dort, wo sie politisch wirkt und das verantworten muß - um
dasselbe, worum es in der Politik geht, dann wäre sie nicht mehr Kirche.
Es heißt nicht:
Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes, damit
euch solches Alles zufalle. Wir glauben dies Wort nicht darum, weil wir die Erfahrung gemacht hätten, daß es stimme; und
wir gehorchen ihm nicht deshalb, weil
wir "solches alles" haben möchten.
Aber es gibt doch auch
dies: Da haben Christen zuerst geglaubt, und dann im Glauben erfahren, daß Gott
hält, was er sagt. Sie sind Kommunisten nicht als Feinden begegnet, und Kommunisten
sind ihnen zu Freunden geworden. Und sie haben Gesellschaft und Staat in der
DDR als ihre Gesellschaft und ihren Staat behandelt und sind in ihm als
gleichberechtigte Bürger anerkannt worden. Das zu erreichen, war nicht ihr
Motiv - aber es ist geschehen, mehr jedenfalls, als zu erwarten war.
Das politische Problem
Wir teilen mit unseren
Mitbürgern, die keine Christen sind, die Freude über Errungenschaften, die
Sorge um Schwierigkeiten, den Zorn über Unzulänglichkeiten und die
Betroffenheit von Niederlagen in unserer Gesellschaft.
Was wir als
"Bewegung im Friedenskampf"* begrüßt hatten, mußte
eine Gegenbewegung hervorrufen. Von diesen Gegenkräften hatten wir gesagt:
"Politisch-moralisch stehen sie mit dem Rücken an der Wand. Gerade darin
liegt auch eine Gefahr!" und hatten daraus geschlossen: "Das gibt
zwar Anlaß zu höchster Besorgnis, aber keinen Grund zum Defaitismus."**
So sind die
Gegenbewegungen für uns keine Überraschung. Aber waren wir zureichend darauf
gerüstet?
Wieweit ist das
politische Unterscheidungsvermögen schon entwickelt, um den Gegensatz zu
erfassen zwischen sozialistischer Offenheit und Öffnung für den
Antisozialismus?
Offenheit heißt: Offen
sagen, was man will und tut und warum man es will und tut, Erfolge und
Niederlagen weder übertreiben noch beschönigen und vor allem: offene
Auseinandersetzung mit politisch-ideologischer Verführung, ohne falsche Tabus
zu respektieren. Offenheit sozialistischer Propanganda, orientierende
Information im Vertrauen zu den Massen hilft den Massen, verantwortlich
mitzudenken, mitzuarbeiten und mitzuregieren. Je sozialistischer die Demokratie
ist, desto mehr wird Leitung an die Stelle von Verwaltung, Führung an die
Stelle von Gängelei, Massenverbundenheit an die Stelle von Kumpelei,
Sachlichkeit an die Stelle von Lobhudelei, konstruktive Kritik an die Stelle
von Nörgelei und Besserwisserei, die Lösung von Problemen an die Stelle ihrer
Verdrängung treten. So würde sozialistische Demokratie wirksamer gegenüber den
unter den Bedingungen des Privateigentums am gesellschaftlichen Reichtum, des
bürgerlichen Bildungsmonopols und kapitalistischen Medienmarktes funktionierenden,
aber für den Sozialismus anachronistisch gewordenen bürgerlich demokratischen
Formen.
Das Ergebnis einer
sogenannten "Öffnung" jedoch ist das genaue Gegenteil echter
sozialistischer Offenheit und Öffentlichkeit, nämlich das unaufgedeckte
Einsickern flexiblerer oder flagranterer antisozialistischer Ideologie zwecks
Verbreitung von Skepsis, Resignation und Kapitulantentum.
Wieweit ist die
Alternative schon ins Bewußtsein gedrungen zwischen sozialistischer Demokratie
und spontaner Liberalisierung? Wie tief ist bereits allen, die es angeht, der
sozialistische Charakter der Demokratie-Konzeption Gorbatschows bewußt, die auf
einen schnellen und zeitgerechten Fortschritt zur Schärfung und Inanspruchnahme
umfassender politischer Verantwortung der Bürger für ihren sozialistischen
Staat gerichtet ist? Und wie tief ist bereits erkannt, daß die elektronischen
Medien des Westens nicht ohne Grund Gorbatschow popularisieren, als ob er
Dubcek hieße und als ginge es um den liberalistischen Schutz
apolitisch-privatisierter Bürger vor dem Verantwortlichkeit heischenden
Anspruch der res publica.? Liberalisierung heißt in Wirklichkeit
Privatisierung. Privatisierung aber bedeutet Entpolitisierung, und
Entpolitisierung ist Entdemokratisierung.
Wie deutlich ist
bereits allen, die es angeht (und wen ginge es nicht an?), daß die
sozialistische Gesellschaft innen- wie außenpolitisch ihrer Weltverantwortung
nur gerecht werden kann, wenn die Arbeiterklasse und ihre Avantgarde
selbständig und schöpferisch, niemanden imitierend, aber von allen lernend und
dann auch lehrend zu notwendigen Veränderungen, nicht nur ökonomisch, sondern
auch politisch, entschlossen vorwärts führt, ohne sich die Führung streitig
machen zu lassen von Leuten, die - als Verführer oder Verführte - "Perestroika"
schreien und Konterrevolution meinen?
Das sind keine
rhetorischen Fragen, die eine hämische Fehlanzeige herausfordern (...)
Die "Fenster der
Verwundbarkeit"
Der Sozialismus hat
zwei "Fenster der Verwundbarkeit". Eigentlich kann er sie sich zur
Ehre anrechnen. Es handelt sich nämlich um die Erhaltung des Friedens und der
sozialen Sicherheit.
An diesen beiden
Punkten ist ein sozialistischer Staat erpreßbar. Es fällt ihm schwer, dann
Zugeständnisse zu verweigern (sei es auch, daß solche Zugeständnisse in anderer
Weise die Gefahr vergrößern und die Schmerzgrenze überschreiten), wenn man ihm
sagt: "Wenn ihr das tut oder jenes nicht unterlaßt, dann treten wir von
der Politik der friedlichen Koexistenz zurück!", oder wenn man ihm sagt:
"Wenn ihr das tut oder jenes nicht unterlaßt, dann würgen wir euch
wirtschaftlich so ab, daß eure Arbeitsproduktivität und mit ihr eure soziale
Sicherheit sinkt, statt zu steigen!"
Gerade weil es
objektiv "Fenster der Verwundbarkeit" gibt, kommt es, um sie zu
sichern, auf subjektive Faktoren an. Sozialistische Länder können sich
keinerlei Führungsschwäche leisten. Sie gerade möchten unsere Gegner
hervorrufen oder fördern. Denn Nachgiebigkeit oder Starrsinn, Schwankungen oder
Würdelosigkeit, Eitelkeiten oder Ängstlichkeiten erleichtern dem Erpresser sein
Handwerk. Festigkeit und Besonnenheit einer Führung, die sich auf gut orientierte
Massen stützt, die belastbar sind, wenn es gilt, einem entwürdigenden Druck zu
widerstehen, weisen ihn in die Schranken.
Welche Konzessionen
aber fordern die Erpresser? Konzessionen, die das notwendige "Durchgreifen
und Verändern" erschweren! Sie möchten die Partei und die Staatsführung
schwächen, um sie an einer bewußt sozialistischen Entfaltung der Demokratie zu
hindern - in der Hoffnung, es werde dann der sozialistische Charakter unserer
Demokratie oder das demokratische Wesen des Sozialismus im Selbstlauf
verschwinden.
Der Schein sieht
anders aus. Gegner des Sozialismus erwecken den Anschein, als wollten sie die
sozialistische Gesellschaft gerade zu durchgreifenden Veränderungen zwingen.
Aber gemeint ist das, was einst "Wandel durch Annäherung" hieß: Sie
wollen keine Vorwärts-, sondern eine Rückwärtsentwicklung des Sozialismus bis
zu seiner "friedlichen" Heimholung in den Spielraum bürgerlicher
Reformbewegungen. Bürgerliche Liberalisierung statt sozialistischer
Demokratisierung ist gemeint: Freiheit und Macht für Privatinteressen statt
Volksmacht solidarischer Individuen. Wer der Illusion erliegt, "der
Westen" sei "für Gorbatschow", weil er ihm fortwährend
Komplimente macht, ist politisch blind. Kaum etwas fürchten die Repräsentanten
des militär-industriellen Komplexes mehr als eine der heutigen Zeit
gerechtwerdende qualitative Höherentwicklung des Sozialismus.
Aber diese Furcht ist
zunehmend nahezu ausschließlich nur noch ihre Furcht. Sie sind auch damit mehr
denn je isoliert. Das heißt aber nicht, daß sie zu schwach wären, um überall
ihre Gegenoffensiven zu starten. Das geht militärisch-ökonomisch von den
Contras in Nikaragua über Südafrika bis in den vorderen Orient. In Europa
bedarf es vergleichsweise zivilerer Mittel, nämlich des ökonomischen Drucks und
der ideologischen Manipulation, um zu verhindern, was man verhindern will:
"Perestroika". Ein offener Feldzug dagegen böte kaum Chancen. Die
Sache ist zu populär bei allen einfachen friedliebenden Menschen. Man muß
versuchen, sich an die Spitze dieser Bewegung zu drängen, um sie umzukehren.
Die Zwickmühle
Das Wort Offenheit
wird übernommen und propagiert - aber im Sinne von Öffnung für Transplantationen,
die den Sozialismus belasten würden wie ein unverträglich fremdes Gewebe einen
Körper.
Man behandelt das Wort
"Umgestaltung" nicht als "böses Wort", sondern benutzt es
reichlich. Aber man suggeriert, es gehe nicht um sozialistische
Höherentwicklung, sondern um die resignative Einsicht, ohne bürgerliche
Liberalisierung käme der Sozialismus nicht weiter. Und man könnte (könnte!)
damit ja Glück haben.
Wenn Antisozialisten
sich als Freunde eines anderen Sozialismus ausgeben und sich zu Sprechern und
Führern auf dem Weg zu solchen "Reformen" machen, die sie als "Perestroika"
empfehlen, dann könnte (könnte!) es ja klappen, den Sozialismus in eine
Zwickmühle zu bringen. Dann könnten sich die einen aus der keineswegs
unbegründeten Sorge, so könne die Arbeiter- und Bauernmacht destabilisiert
werden, verhärten und Front machen gegen jede Veränderung, auch die
fortschrittliche. Und dann könnten andere, verzweifelt über solche Verhärtung
und Erstarrung, den Etikettenschwindel vergessen und sich auf eine nur
vermeintliche und nur so genannte "Perestroika" einlassen, die zur
Rutschbahn in die Konterrevolution werden könnte. Wozu auch immer diese falsche
Alternative von Prinzipientreue und Flexibilität und diese falsche
Identifikation von sozialistischer Demokratisierung und konterrevolutionärer
Liberalisierung führen würde, für die Erfinder wären beide möglichen Ergebnisse
gleichermaßen erfreulich: sowohl eine Stagnation des Sozialismus als auch seine
Selbstauflösung.
Konterrevolution?
Ist das nicht ein zu
kräftiges Wort? Ein Schlagwort aus einer vergangen gehofften Zeit, das nicht
mehr ankommt? Ist es nicht überdies sachlich falsch? Kann es eine
Konterrevolution geben ohne Revolution?
Zuerst: In der Tat
heißt Konterrevolution Gegenrevolution, und eine Revolution muß schon
stattfinden, wenn man von Konterrevolution reden will. Aber ist das, was wir
als "Bewegung im Friedenskampf" bezeichneten - und nicht nur das! -
nicht eine eminent revolutionäre Bewegung? Wird nicht die ganze bisherige
Menschheitsgeschichte umgewälzt, wenn Krieg nur noch als kollektiver Selbstmord
der Menschheit denkbar ist und es gilt, eine Politik zu finden, die nicht mehr
mit jenen "anderen Mitteln" fortgesetzt werden kann, von denen
Clausewitz sprach? Und im Blick auf die Universalität der Ausbeutung ganzer
Völker der "Dritten Welt" und der irreversiblen Zerstörung statt der
Kultivierung der Natur ließe sich analog reden. Ist das alles aber eine
revolutionäre Bewegung, dann ist die Gegenbewegung dazu gegenrevolutionär. Dies
Wort veralten zu lassen, kann nur einschläfernd wirken, solange man kein
alarmierenderes Wort dafür zur Verfügung hat.
Zum anderen: Ich halte
hier und heute eine "Konterrevolution" nicht für besonders wahrscheinlich,
aber die Versuche ihrer Initiierung für besonders gefährlich. Setzt sich ein
Risiko aus der Größe und der Wahrscheinlichkeit eines Übels zusammen, dann ist
die Konterrevolution ein Risiko, das jedenfalls nicht von solchen verharmlost
werden kann, die sie nicht für ein besonders großes Übel halten. Und ich habe
den Eindruck, gerade sie sind es, die es am liebsten hätten, wenn dies
"antiquierte" Wort überhaupt verschwände.
Mit der Sorgfalt, mit
der man Kernkraftwerke mehr sichern muß als einen Kachelofen, selbst wenn die
Wahrscheinlichkeit, der Kachelofen könnte explodieren, viel größer wäre als
die, daß ein Kernreaktor durchgeht, eben mit dieser Sorgfalt müssen wir
sichern, daß die demokratische Entwicklung des Sozialismus nicht in bürgerliche
Liberalisierung abgleitet, daß die Abrüstung nicht in Umrüstung endet, daß die
Befreiung der "Dritten Welt" nicht in der Verewigung von
Kapitalexport und Lohnsklaverei untergeht und so weiter. Das alles wäre, wie
unwahrscheinlich immer es sein mag - gefährliche "Konterrevolution".
Der Angriff
Was aber nützt den
Gegnern sozialistischer Entwicklung die beste Zwickmühle, wenn sie auf einem
anderen Brett eröffnet wird als dem, auf dem der Sozialismus spielt? Was nützt
die dickste Made außerhalb des Apfels und die schönste Demagogie außerhalb der
Gesellschaft, für die sie erfunden ist?
Man muß die Zwickmühle
in der DDR zu einem innenpolitischen Problem machen. Dazu kann man sich der
beiden "Fenster der Verwundbarkeit" bedienen.
Es beginnt mit kleinen
Funken. Sie sind nicht allzu gefährlich, denn die DDR ist kein Pulverfaß.
Trotzdem müssen sie natürlich ausgetreten werden, denn auch eine
Zigarettenkippe kann ein Schadenfeuer zünden. Und nun tritt gegenüber dem
Brandschutz die Erpressung in Funktion.
Zunächst zieht der
Wolf den Schafspelz an. Von Menschlichkeit und Mitleid ist die Rede: Du sollst
den glimmenden Docht doch nicht auslöschen. Wer, wie die politische Rechte in
der BRD, dessen allzu verdächtig ist, nur sehr selektiv Menschlichkeit und Mitleid
zu empfinden (...) und die friedliche Koexistenz nur zähneknirschend zu
schlucken, hält sich zurück. Man sucht und findet Sozialdemokraten (zwar nur
wenige unter vielen, aber einige), die in ihrer Naivität auch noch mit Stolz
verkünden, nicht die bundesrepublikanische Rechte, sondern die
"Opposition" habe mit ihrer "Kritik" an den
Strafverfolgungen in der DDR gegen die Provokateure vom 17. Januar die
westlichen Medien beherrscht. Sie berufen sich mit einer eigenartigen Auslegung
auf den Satz im SED-SPD-Papier, "Kritik" dürfe nicht als
"Einmischung" zurückgewiesen werden. Als "Opposition"
haften sie ja nicht für das, was ihre Regierung tut. Die aber bringt, gestützt
auf das System der Einmischung der BRD in Angelegenheiten der DDR, wie es mit
dem Namen "Bundesrepublik Deutschland" und dem Wiedervereinigungsgebot
in ihrem Grundgesetz beginnt und mit ihrem Staatsbürgerrecht und der
Nichtanerkennung der DDR als Ausland endet, nun sogar ihr
"innerdeutsches" Ministerium ins Spiel.
Was soll die DDR tun?
Partner der Koalition
der Vernunft verprellen?
Was ist wichtiger: die
friedliche Koexistenz und die Durchsetzung der Politik der Abrüstung oder die
Durchsetzung geltender Gesetze gegen ein paar Provokateure?
Was wiegt schwerer:
Wirtschaftskontakte, die einer Ökonomie dienen, die zum Beispiel auch die
Sicherheit der Arbeitsplätze, den Schutz jeden Bürgers vor Hunger, Krankheit
und Armut, nicht zuletzt das Wohnungsbauprojekt garantieren und überdies den
Umweltschutz forcieren und die Arbeitsproduktivität steigern muß, oder der
Handel um Pässe einer Handvoll Frustrierter?
Wie schwer aber wiegt
auf der anderen Seite die gelungene Erpressung? Wird der Erpresser nicht
ermutigt, weiterhin zu erpressen, wenn er Erfolg hatte? Wie schwer wiegt der
Verzicht auf die Durchsetzung von Gesetzen? Welche Autorität hat ein Gesetz
noch, wenn seine Anwendung problematisiert wird? Wie schwer wiegt ein
Prestigeverlust von Strafverfolgungs- und Justizorganen, deren Pflichterfüllung
aus Gründen der Staatsräson suspendiert wird? Vor allem aber, wie schwer wiegt
die Belastung des Rechtsbewußtseins breiter Massen, die es für
selbstverständlich halten, daß Provokateure - sei es juristisch oder politisch
- zur Verantwortung gezogen werden?
Ist das unsere Frage?
So mancher Leser wird
schon seit einiger Zeit fragen: Ist es Sache der WBl, solche politischen
Probleme aufzuwerfen? Treten die WBl nicht damit an die Seite derer, deren
Meinung sie sonst bestreiten: die Meinung, die Kirche habe zu allem etwas zu
sagen?
In der Tat: es ist
nicht unsere Sache, nach dem Staatsanwalt zu rufen - aber auch nicht nach dem
Rechtsanwalt! Ihn aber hat in diesem Falle die Berlin-Brandenburgische
Kirchenleitung bestellt.
Unsere Kirchenleitung
hat sich zum Anwalt der Provokateure vom 17. Januar*
gemacht. An dieser Feststellung ändert es gar nichts, daß sie sich - wie jeder
Strafverteidiger, der sich standesgemäß verhält - von der Tat ihrer Mandanten
distanziert hat (was der Bischof eine Woche vorher, als es noch eine
öffentliche Wirkung hätte haben können, leider versäumt hatte). Aber nicht
einmal diese Distanzierung war eindeutig. Nicht die Ziele, sondern die Methoden
der Beschuldigten, die Länge und Geschwindigkeit ihrer Schritte auf dem Wege
der Eskalation, faktisch also taktische Beratung der Provokateure, waren
vielfach das Thema von Repräsentanten der Kirchenleitung bei Gesprächen mit den
Sympathisanten der Regimegegner.
Wenn die Kirche so
massiv politisch Partei nimmt, ja Partei wird, dann muß nach der politischen
Situation gefragt werden, in der sie das tut. Diese Situation ist dadurch
bezeichnet, daß ein Staat aus Friedensliebe in seiner Selbstverteidigung
gehemmt ist, daß er unter dem Druck steht, im Interesse nicht nur seiner
Bürger, sondern sogar auch noch seiner Gegner nachzugeben.
Und in dieser
Situation verstärkte die - fast allein - öffentlich in Erscheinung tretende
Mehrheit der Kirchenleitung mit Bischof, Präses und Konsistorialpräsidenten an
der Spitze den Druck!
Abgesehen davon, was
dieser Kirchenleitung theologisch vorzuwerfen ist, daß sie sich geradezu
exemplarisch zum "Ankläger, Verteidiger und Richter der Parteien der
Welt"* gemacht und damit das
Evangelium verleugnet hat, ist ihr außerdem ganz schlicht
menschlich-moralisches Versagen vorzuwerfen. Und daß sie so versagt hat, ergibt
sich aus der politischen Situation. Darum mußten wir uns mit ihr befassen.
Wie kommt die Kirche
unter die Provokateure?
Planungsstab und
Logistik der Gegenbewegung gegen die Bewegung, die vom Sozialismus ausgeht,
müssen nicht innerhalb eines sozialistischen Landes wirken. Wie
propagandistischen so kann man auch politischen und wirtschaftlichen Druck von
außen ausüben. Aber Kreise, die man als "Opposition" bezeichnen und
denen man dann von außen Flankenschutz geben kann, indem man sie in den
elektronischen Medien überrepräsentiert, ihnen organisatorisch und materiell
hilft, die braucht man im Lande selbst.
Eine wirkliche
Massenbasis hatte man dafür in der DDR nicht. Um sie, wenn nicht zu schaffen,
so doch zumindest vorzutäuschen, brauchte man Sprecher der Unzufriedenheit und
eine Infrastruktur, die es ihnen ermöglichte, sich zu zeigen und zu sammeln.
Die Aufgabe der
"Sprecher" fiel den Contra-Grüppchen à la "Grenzfall" oder
"Umweltbibliothek" zu, gleichgültig, wie weit sich die Betroffenen
darüber klar waren, welcher Sache sie dienten. Sie hatten den Finger auf
Verbesserungswürdiges zu legen, gleichzeitig aber Veränderungen in solcher
Richtung zu fordern, die den Sozialismus hätten destabilisieren müssen. Das
wiederum sollte Mißtrauen bei ehrlichen Sozialisten gegen Veränderungen
überhaupt schüren. Dieses Mißtrauen wurde wiederum zum Argument für die
Behauptung, mit wirklichen Sozialisten sei ein Fortschritt des Sozialismus
nicht zu erreichen, man müsse den Sozialismus gegen sie verändern.
So wurde an die Stelle
der Frage, was wie zu tun sei, die Frage geschoben, ob es "von oben"
oder "von unten" zu tun sei. Der eigentliche Inhalt dieser
Alternative aber war: ist es von der Arbeiter- und Bauernmacht in der DDR unter
Führung der Partei der Arbeiterklasse zu tun oder unter Führung von
Westideologien und Westmedien? - Wobei denn wohl nur das Gegenteil dessen
herauskommen könnte, was man zu wollen vorgab und zum Teil vielleicht wirklich
ursprünglich einmal gewollt hatte: Das Gegenteil einer sozialistischen Weiterentwicklung.
Diese Kontras
brauchten aber mangels einer echten gesellschaftlichen Basis, die es ihnen
ermöglicht hätte, zu einer Organisation zu werden, einen Resonanzboden, der
ihnen breitere Wirkung verschaffte.
Um ihn zu gewinnen,
mußten sie versuchen, die Infrastruktur einer Institution mitzubenutzen, die
ihnen sowohl Kommunikations- als auch Agitationsmöglichkeiten bot, die weit
über ihre eigene Kapazität hinausreichten.
Diese Institution
fanden sie in der Kirche. In ihrem "Freiraum" konnten sie Schritt für
Schritt weitergehen, immer so langsam, daß sie noch genügend Sympathisanten
fanden, die für sie eintraten, wenn sie zur Verantwortung gezogen werden
sollten, und immer so schnell, daß die folgende Provokation die vorangehende
überholte und in den Schatten stellte, damit entweder die Furcht vor dieser
Bewegung wachse und zur Erstarrung führe oder damit durch ständigen Gebrauch
die Rutschbahn in die Konterrevolution glattpoliert werde.
Die Kirche aber hielt
es für den Ausweis ihrer "Eigenständigkeit", diesen Gruppen
"Freiraum" zu gewähren. Die klerikale Neigung zu so etwas wie einer
kirchlichen Konsulargerichtsbarkeit, an deren Grenzen das Rechtsmonopol des
Staates ende, ließ in ihr eine "my home, my castle"-Mentalität
entstehen, in der sie diese Gruppen sogar dann noch vor der weltlichen Justiz
schützte, als diese vermeintlich Obdachlosen, die sie aufgenommen hatte, sich
in den Kirchenmauern bereits wie die Herren des Hauses betrugen.
Erpresste Erpresser
In den "Sieben
Sätzen über die Freiheit der Kirche zum Dienen" wird in Satz 2 zur Ordnung
der Kirche gesagt:
"Im
Glaubensgehorsam wird sie nicht vergessen, daß niemals ihre Ordnung die
Erfüllung ihres Auftrages, wohl aber die Erfüllung ihres Auftrages ihre Ordnung
begründet und sichert... So wird sie am besten davor bewahrt, in Situationen zu
geraten, in denen sie bestochen oder erpreßt werden könnte."
Leider hat die Kirche
weithin vergessen, daß allein die Erfüllung ihres Auftrages ihr Schutz ist. Der
vielzitierte Satz von Bischof Leich: "Die Kirche ist für alle da, aber
nicht für alles", hätte sie noch einmal daran erinnern können.
So kam es, wie es
kommen mußte. Keine Kirchenordnung schützte die Kirche davor, das Amt, das die
Versöhnung der Welt in Christus predigt (2.Kor. 5,18 f.), denen zu überlassen,
die ihre eigene "Betroffenheit" und "Frustration" verkündigen
und allenfalls Versöhnung mit sich selbst fordern.
Wir hatten damit
gerechnet, daß die Kirche - vergäße sie, daß allein Gottes Wort und weder ihre
Ordnung noch kirchenpolitische Errungenschaften ihr Schutz sind - erpreßbar
werden könnte. Aber wir ahnten 1963 noch nicht, daß sie 1988 genau dazu erpreßt
werden würde, selber zu erpressen.
Das hätten wir für
unmöglich gehalten. Das aber ist geschehen!
Kein Zweifel, viele
Kirchenführer standen selbst unter Druck. Aber man kann schuldhaft oder
schuldlos erpreßt oder genötigt werden. Daß die Kirche auf einmal angefüllt war
mit sogenannten Ausreisewilligen, die man nur wieder aus dem Kirchenraum
entfernen konnte, indem man ihnen eine "Beratungsstelle" versprach,
das war Folge eigenen schweren Versagens. Daß die Kirchenleitung ihr Wort nicht
halten konnte, war eine natürliche Strafe. Die unsagbar peinliche Folge dieses
Versprechens konnte man am 10. Februar auf der letzten Seite der "Berliner
Zeitung" lesen: "Bedauerlicherweise hat es Mißverständnisse über die
Information zu Seelsorgemöglichkeiten an Antragstellern für
Ausbürgerungsanträge gegeben..."
Allerdings muß man
sich nicht wundern, daß in einer Kirche statt des Heiligen Geistes auf einmal
Ausreiserversammlungen bestimmen, was zu tun ist,
o wenn auf Synoden dieser Kirche so
geredet wird, als sei die Hoffnung, die in uns ist (1.Petr.3,15), die Hoffnung
auf Auslandsreisen;
o wenn über den Nationalartikel der
Grundordnung unseres Kirchenbundes (Art.4,4)*
jedes Gefühl dafür abhanden kommt, wo Inland und wo Ausland ist;
o wenn man Gottes Gerechtigkeit und
gesellschaftliche Gerechtigkeit ständig verwechselt und so in ein Labyrinth
gerät, in dem man nicht einmal mehr prüfen kann, ob die "Grenzfall"-Produzenten
um ihrer politischen Taten willen belangt würden, so daß Mahnwachen zu ihren
Gunsten auch politisch begründet und verantwortet werden müßten, oder um des
Glaubens willen verfolgt würden, womit sich dann Demonstrationen ohnehin verböten;
o wenn - um noch weiter auszuholen -
seit Otto Dibelius' Zeiten die Gemeinden in der DDR zum guten Teil statt mit
der frohen Botschaft von der Rechtfertigung der Gottlosen in Christus mit der
falschen Botschaft von der Front aller Gottgläubigen gegen den gottlosen
Kommunismus gesammelt worden sind, ohne daß es je zu einer öffentlich unüberhörbaren
Scheidung zwischen unserem Evangelium und dieser Irrlehre gekommen wäre.
Und die Liste der
Gründe für das Versagen der Kirche ließe sich noch verlängern.
Gewiß wurde die
Kirchenleitung erpreßt. Weil sie an der falschen Stelle solidarisch gewesen
war, wurde sie zu einer verkehrten Solidarität erpreßt. Weil sie an falschen
Stellen vermittelt hatte, wurde sie zu verkehrten Vermittlungen erpreßt. Weil
sie selbst jahrelang in ihrem Verhalten zur Gesellschaft auf der Grenze zur
Erpressung gewandelt war, wurde sie erpreßt, zu erpressen.
Dieser Staat bedarf
der Koalition der Vernunft, um mit seinen Feinden gemeinsam den Frieden zu
erhalten. Um die Koalition der Vernunft zu schließen, braucht er Verbindungen
zum Gegner. Um sie zu knüpfen, nahm er vielleicht hier und da zu vertrauensvoll
(aber wer hätte sich dessen zu schämen?) die "guten Dienste"
kirchlicher Politiker in Anspruch. Wenn nun solche mühselig geknüpften Fäden
zur Gegenseite unter antikommunistischem Druck zu reißen drohen, ist das ein
schwerer Nachteil, nicht nur für den Sozialismus, sondern für den Frieden aller
Völker.
An diesen mühsam
geknüpften Fäden scheuert aber derjenige, der in solcher Situation die
Anwendung von Gesetzen, die für alle gelten, in einem Strafverfahren, das allen
Regeln einer zivilisierten Prozeßordnung entspricht, als Verletzung von Menschenrechten
bezeichnet und es als eine Art Kirchenverfolgung ausgibt, wenn ein Staat meint,
daß auch die Kirche weder außer noch über, sondern unter dem für alle geltenden
Gesetz stehe. Er muß sich zumindest den bedingten Vorsatz der Friedensstörung
vorwerfen lassen.
Und wenn in dieser
Lage eine Kirchenleitung zu erkennen gibt, sie könne dafür sorgen, daß diese
Fäden halten, für diesen guten Dienst aber verlange sie, daß der Staat die
Geltung seiner eigenen Gesetze suspendiere - dann nenne ich das Erpressung! Das
ist rechtswidrige Drohung mit einem schweren Nachteil zum eigenen Vorteil. Das
wäre moralisch verwerflich schon dann, wenn es "Zöllner" (Matth. 5,46
f.) täten.
Die Lösung des
Problems hat unseren Staat viel gekostet und wird noch viel kosten. Jeder
loyale Bürger ist davon mitbetroffen. Mag sein, daß hier die Regel gelten muß:
"Der Klügere gibt nach." Aber sie setzt die Gegenerkenntnis nicht
außer Kraft, daß es zum Triumph der Dummheit führen müßte, wenn alle Klügeren
immer nachgäben. Und vielleicht zum Triumph von Schlimmerem als der Dummheit.
Darüber, ob es
unabdingbar war, in diesem Fall der Erpressung nachzugeben, kann man streiten -
aber nicht mit dem Erpresser, auch nicht mit dem durch eigene Schuld erpreßten
Erpresser, nicht mit dieser Kirchenleitung und in dieser Kirche. (...)
*
Zwar bleibt eine
"Zwischenbilanz" unsicher, solange sich nicht nur die Fronten
bewegen, sondern auch viele Einzelne, auf der Suche nach Orientierung
schwankend, noch zwischen den Fronten. Deutlich aber zeichnet sich die
antikommunistische Konzeption ab. Vermutlich den Handelnden zumeist unbewußt,
entspricht ihr allzu viel, was in der Kirche und um sie herum geschieht. Daß
der Sozialismus attraktiver würde, wenn er sich unter Bedingungen friedlicher
Koexistenz freier entfalten könnte als bisher unter den Bedingungen heißer und
kalter Kriege, die ihm immer wieder Züge eines Kriegskommunismus aufprägten,
ist natürlich Antikommunisten ein Dorn im Auge. Darum soll nach ihrer Logistik
die Kirche in der DDR eine Rolle übernehmen, die derjenigen ähnelt, die
Westberlin auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges spielte: "Pfahl im Fleisch
der DDR", "Schaufenster des freien Westens" - so hießen damals
die zur Selbstbezeichnung gewählten Vokabeln.
Das alles ist für den
Sozialismus schmerzlich, enttäuschend und gefährlich; für uns aber ist es eine
Frage "stantis et cadentis ecclesiae", eine Frage, mit der die Kirche
steht und fällt. Wenn aus der "Stadt auf dem Berge" eine "Frontstadt"
würde, dann wäre eine solche Kirche nicht mehr Zeugnis- und Dienstgemeinschaft
ihres Herrn - dann wäre sie nicht mehr Kirche.
Die Schulden fressen den Sozialismus (1988)*
von Ton Veerkamp
Im Osten Europas entsteht eine Zone neuer Armut
Vier Länder im Osten
Europas sind in erheblichem Maße verschuldet und müssen nach den Maßstäben der
Weltbank zu der Gruppe der höchst verschuldeten Länder gerechnet werden:
Jugoslawien, Polen, Rumänien und Ungarn. Rumänien hat sich einer Politik des
raschen Schuldenabbaus verschrieben mit dramatischen Folgen für den Wohlstand
der Bevölkerung. Auch wenn, wie geplant, Rumänien Anfang der neunziger Jahre
schuldenfrei sein würde, wird das Land doch mindestens zehn Jahre - vermutlich
aber viel länger - unter dem riesigen Kapitalsabfluß Richtung Westen zu leiden
haben. Wenn man die Maßstäbe der Weltbank zugrundelegt, gehörten diese vier
Länder zu der Gruppe der Schwellenländer mit mittelhohem Bruttosozialprodukt
pro Kopf. Unter diesem Gesichtspunkt sind sie vergleichbar mit anderen
Schwellenländern in Lateinamerika und Ostasien. Im Unterschied zur DDR, CSSR
und Bulgarien, die nach diesen Maßstäben zur Gruppe der Industrieländer gehören
- mit Einkommen, die auch im Falle Bulgarien höher sind als die der
EG-Mitgliedsländer Spanien und Irland, im Falle der DDR genauso hoch wie in
Belgien -, sind jene vier Länder nicht fähig, aus eigener Kraft mit dem
Schuldenproblem fertig zu werden. Wir werden dies am Beispiel Ungarns verdeutlichen.
Die Angaben werden dem Weltentwicklungsbericht 1987 der Weltbank entnommen.
1985 betrugen die
Auslandschulden Ungarns knapp 13 Milliarden US-$. Das Bruttosozialprodukt wird
für dieses Jahr <1988> mit 20,7 Milliarden angegeben; die totale
Verschuldung liegt daher bei 62,8 % des Sozialproduktes (...) Das heißt: ganz
Ungarn müßte knapp acht Monate nur für den Westen arbeiten, wenn es seine
Schulden auf einmal zahlen wollte. Ungarn mußte wiederholt IWF-Kredite in
Anspruch nehmen, um seinen Schuldendienst zu leisten und kurzfristige
Verbindlichkeiten (1985: 1,9 Milliarden) bedienen zu können. Allein an Zinsen
mußte Ungarn 1985 792 Millionen zahlen, knapp 4% des Sozialproduktes. Da das
Wachstum aber unter 2 % liegt, bedeuten allein die Zinszahlungen schon einen
Rückgang des verfügbaren Einkommens um mehr als 2 %.
Der Internationale
Währungsfonds (IWF) erwartet für die Gewährung von weiteren Krediten von Ungarn
erhebliche Anstrengungen, seine Wettbewerbssituation auf dem Weltmarkt zu verbessern
und seine Wirtschaft den Gesetzen, die auf dem Weltmarkt herrschen, anzupassen.
Das heißt, daß die spärlichen Mittel, die für Investitionen und Innovationen
zur Verfügung stehen, fast ausnahmslos in außenwirtschaftliche Bereiche
fließen. Dies erfordert die Einschränkung des privaten und öffentlichen
Verbrauchs. Für die Bevölkerung heißt das, daß die Preise für Güter des
primären Lebensbedarfs (wie Lebensmittel, Wohnungsmieten, öffentlicher Verkehr)
ständig steigen, ohne daß diese Steigerungen durch Lohnerhöhungen ausreichend
kompensiert werden. Die Bezieher von Renten sind die Leidtragenden dieser
Entwicklung. Noch sind Bildung und Gesundheit in Ungarn von diesen
Anpassungsmaßnahmen nicht betroffen, aber dies ist nur eine Frage der Zeit; der
IWF verlangt überall in der Welt gerade auch in diesem Bereich
"Opfer"; es ist kaum zu erwarten, daß er aus Liebe zum Sozialismus
hier Ausnahmen machen wird (...)
Verschuldung bedeutet
notwendig einen Verlust
der nationalen
Souveränität.
Die Eckdaten für die
Wirtschaftspolitik werden bei den hoch verschuldeten Ländern nicht mehr von den
eigenen Regierungen gesetzt, sondern von den internationalen Gläubigerkartells.
Dabei spielt die innere demokratische Legitimation der nationalen Regierungen
nur eine untergeordnete Rolle. Ob demokratisch gewählt oder durch einen Putsch
an die Macht gekommen, die Regierungen müssen tun, was ihnen der IWF sagt; tun
sie das nicht, werden sie für kreditunwürdig erklärt, und ihre Tage sind
gezählt. Das hat die bolivianische Regierung 1986 ebenso erfahren müssen wie
die Regierung Jamaicas 1983.
Jahrzehntelang hat man
sich im Osten Europas daran gewöhnt zu glauben, daß alles in Moskau dekretiert
würde. Tatsächlich aber ist die Abhängigkeit Ungarns von Moskau nie auch nur annähernd
so groß gewesen wie die heutige Abhängigkeit vom "goodwill"
westlicher Kapitalgeber. In dieser Hinsicht ist auf dem Umweg über Kredite dem
Westen das gelungen, was ihm politisch-militärisch nie gelang oder gelingen
konnte, die Unterhöhlung und allmähliche Überwindung des Sozialismus. Nach
diesen Maßstäben ist Franz Joseph Strauß tatsächlich ein weitsichtiger Politiker;
seine Kreditpolitik kann man Kriegführung "mit anderen Mitteln"
nennen.
Verschuldung ist nicht
die Folge schlechter Politik, sondern ein Strukturelement der Machtverhältnisse
im internationalen Wirtschaftssystem.
Im allgemeinen sagt
man, diese Probleme seien durch die Rigidität des staatsbürokratischen
Wirtschaftssystems verursacht, das nun einmal nicht flexibel genug sei, schnell
auf externe Schocks zu reagieren und sich umzustellen. Tatsächlich aber sind so
viele verschiedene Länder mit ganz unterschiedlichen Gesellschafts- und
Wirtschafstsystemen von der Entwicklung betroffen, daß mangelnde Flexibilität
im Sozialismus nicht die einzige Erklärung sein kann. Man kann sagen, daß die
Probleme besonders gravierend sind in jener Ländergruppe, die die Weltbank
unter der Aufschrift "Länder mit mittleren Einkommen, gehobene
Gruppe" zusammenfaßt; unter ihnen sind auch Ölexporteure (Mexiko,
Venezuela). Gemeinsam ist diesen Ländern, daß sie versucht haben, schnell zu
industrialisieren beziehungsweise zu modernisieren unter Inanspruchnahme
fremden Kapitals. Sie öffneten sich dem Weltmarkt. Da auf dem Markt nur kaufen
kann, wer über ein Geldeinkommen verfügt, auf dem Weltmarkt nur der, der über
"Westgeld" verfügt, mußten die Länder ihre Volkswirtschaften auf die
Bedürfnisse dieses Marktes ausrichten, damit sie eben jenes
"Westgeld" (sprich konvertierbare Währung, Dollar) verdienen können,
womit sie jene Kapitalgüter kaufen können, mit denen sie industrialisieren/modernisieren
können. Da sich ihre eigenen, verkaufbaren Ressourcen (Rohstoffe/Nahrungsmittel)
entweder nur bedingt absetzen ließen oder sich deren "Terms of Trade"
(Austauschverhältnis zwischen einem bestimmten Quantum eines Rohstoffes zu
einem bestimmten Quantum eines Industriegutes) ständig verschlechterten, konnte
der Industrialisierungs- oder Modernisierungsprozeß nur über Fremdfinanzierung
fortgesetzt werden. Der Verschuldungsprozeß ist daher ein strukturelles Problem
und erst in zweiter Instanz Folge "schlechter Politik". Natürlich
gibt es "schlechte Politik": das geliehene Geld wurde in unsinnige
Projekte gesteckt, für Rüstungsausgaben verpulvert, oder es verschwand auf
Umwegen auf die Valutakonten der Eliten in den USA oder in der Schweiz. Aber
auch ohne "schlechte Politik" wäre die Lage jetzt nicht viel anders
gewesen.
Man kann daher sagen,
daß nicht in erster Linie "schlechte Politik" der Kreditgeber und
-nehmer, sondern das Projekt einer nachholenden und nachahmenden,
fremdfinanzierten Industrialisierung und Modernisierung die Hauptursache des
Problems ist.
Die Wirtschaftsprobleme
im Osten Europas lassen sich nicht durch innere Reformen und Anpassung allein
lösen.
Wenn das ... Gesagte
stimmt, drängt sich sofort die Frage auf: haben wir es bei dem heutigen
Reformkurs Osteuropas mit einer Verbesserung oder gar Optimierung des
Sozialismus zu tun oder mit einer Anpassung an die Erfordernisse des
Weltmarktes? Da es weder ein Land noch ein System gibt, das man vollkommen
nennen kann, gibt es auch immer "schlechte Politik", die verbessert
werden kann und muß. Je offener Kritik vorgetragen werden kann, um so besser
wird dies gelingen. Wenn es sich aber um ein Strukturproblem jenes
Wirtschaftssystems handelt, in das sich gerade einige sozialistische Länder
eingliedern oder eingliedern müssen, so ist es mit inneren Reformen nicht
getan. Dann steht das Ganze auf dem Spiel, und zwar in zweifacher Hinsicht.
Entweder wird das Konzept der nachholenden und nachahmenden, fremdfinanzierten
Entwicklung in Frage gestellt, oder der Sozialismus selber hat ausgedient. Auf
einer Konferenz mit Wirtschaftsreformern aus Osteuropa einerseits und einer
Reihe westlicher Ökonomen andererseits im März 1988 im ungarischen Ort Györ
erklärte der ungarische Leiter des Wirtschaftsinstitutes bei der ungarischen
Akademie der Wissenschaften, Josef Bognar, man könne nicht gleichzeitig
Wirtschaftsentwicklung und Gleichheit haben, deswegen müsse das Prinzip der
Gleichheit aufgegeben werden. Und der "Architekt" des ungarischen
Reformkurses, der Ökonom Reszö Nyers, sagte bei dieser Gelegenheit, daß der
Ostblock "einen historischen Kompromiß" eingehen müsse: "die
sozialistischen Wirtschaften müssen Marktwirtschaften werden." Es scheint
also, als ob man sich in Ungarn für das zweite entschieden hätte: die
Verabschiedung des Sozialismus. Sehr wahrscheinlich nehmen nun die ungarischen
Manager und Ökonomen als Zukunftsmodell für ihr Land den Nachbarstaat
Österreich als Beispiel; das sollten sie lieber nicht tun, sondern sie sollten
eher an Portugal denken, ein Land, das in Größe, Ressourcen, Sozialprodukt und
Verschuldungsausmaß in fast einer identischen Position steht. Ungarn hat keine
Chance, bei voller Integration in den Weltmarkt den jetzt schon bescheidenen
Lebensstandard für die Masse der Bevölkerung auch nur annähernd zu halten.
Die Verarmung einer
Reihe von Staaten im Osten Europas bedeutet eine Verschlechterung für die
Aussichten, eine stabile Friedensordnung in ganz Europa zu verwirklichen.
Die ungarische
Opposition hat auf einer Art Vollversammlung der einzelnen Gruppen unter
anderem gefordert, daß man sich um das Schicksal der "außer die Grenzen
Ungarns gefallenen Ungarn" kümmern müsse. Die Teilrepubliken Slowenien und
Kroatien haben gefordert, daß die Parlamente der Republiken das Recht haben
sollten, die Zentralregierung in Belgrad notfalls zu entlassen. Slowenien und
Kroatien gehören zum reicheren Teil Jugoslawiens und lehnen es ab, die
Armenhäuser der Föderation in Bosnien, Herzegowina, Kosevo und Mazedonien
mitfinanzieren zu müssen. Auch anderswo in der Region tauchen unerledigte
Minderheitsfragen auf ... Armut potenziert solche Probleme; Armut
destabilisiert. So wie die Dritte Welt durch Armut "libanisiert"
wird, so könnten der Osten und Südosten Europas durch die Armut
"balkanisiert" werden. Wir wären dann am Ende dieses für Europa so
blutigen Jahrhunderts genau dort, wo wir am Anfang schon einmal waren (...)
Der Kampf gegen die
Politik des internationalen Gläubigerkartells sollte auch die Länder Osteuropas
einbeziehen.
Wir haben öfters
gesagt, daß man nicht erwarten kann, auf die Dauer in Frieden leben zu können,
wenn die Welt ringsherum in Armut und Elend versinkt (...)
Wir müssen, statt
kritiklose Unterstützung für Dissidenten und Oppositionelle zu leisten, dafür
sorgen, daß den Geldeintreibern des Pariser Klubs oder des IWF eindeutige
Grenzen gezeigt werden.
Nur Gerechtigkeit kann
dauerhaften Frieden bringen. Unrecht und Armut gebären Verzweiflung.
Verzweiflung gebiert Fanatismus und Irrationalismus. Und diese schließlich gebären
den Krieg.
Warum ich im Ernstfall für den Kommunismus votiere
Probleme der Geschichte - Geschichte als Problem (1988* )
von Hanfried Müller
1. Probleme der Geschichte
Ich könnte auch
provokatorischer einsetzen, mit einem aufreizenden Zitat von Louis Fürnberg:
"Die Partei hat
immer recht!"
Als ich diesen Satz
das erste Mal hörte, habe ich mich mächtig über ihn geärgert - wie wohl viele.
In der Tat hat er manche zuweilen zu Überheblichkeit, Selbstzufriedenheit und
Schönfärberei, zu Starrsinn und Dogmatismus und dazu verleitet, vielem zu
akklamieren und vieles urteilslos zu legitimieren, was gerade der Partei, aber
noch schlimmer: der Sache, die sie vertrat, nachhaltig geschadet hat.
Dann lehrte mich ein
antifaschistischer Widerstandskämpfer, diesen Satz besser zu verstehen, als er
wohl allzu oft verstanden wurde. Er fragte mich "Hat eigentlich die
Bekennende Kirche gegenüber den Deutschen Christen, ja haben auch nur deine
'Dahlemiten'** gegenüber
den Jungreformatoren*** immer alles richtig
gemacht?" Selbstverständlich anwortete ich, wie er es auch nicht anders
erwartet hatte: "keineswegs, eher im Gegenteil!" Darauf er:
"Aber waren sie nicht gegenüber der nazistischen Pseudokirche im
Recht?"
Es geht um das Recht
des Kommunismus, sogar wenn er alles falsch gemacht hätte oder falsch machte,
was man nur falsch machen kann - so wie in einem Rechtsprozeß eine Partei, die
im Recht ist, alles falsch machen und sogar den Prozeß verlieren kann, aber doch
nicht einfach darum, weil sie ihr Recht nicht durchsetzt und bekommt, im
Unrecht ist.
Bei der Frage, warum
ich im Ernstfall für den Kommunismus votiere, geht es nicht um eine Frage des Bekennens sondern des Erkennens. Die Christengemeinde hat kein
politisches Mandat, allerdings politische Mitverantwortung. Die Bürgergemeinde
jedoch hat ein politisches Mandat - und ich gehöre zu beiden. Ich habe kein
politisches Glaubensbekenntnis, wohl aber eine politische Meinung. Es geht auch
nicht um die Frage, ob ich Kommunist wäre. Darüber streiten sich seit vierzig
Jahren sporadisch Kommunisten und Antikommunisten. Meist meinen dabei die
Kommunisten, ich sei keiner der Ihren. Vermutlich haben sie recht - mir soll's
egal sein. Nicht wer oder was sozialistisch, kommunistisch, marxistisch oder
dergleichen ist, ist mir entscheidend; es geht darum, was gut und richtig,
epochal und global menschlicher Kultur zuträglich und nicht abträglich ist.
In diesem Sinne
plädiere ich für die Realisierung des Sozialismus als den ersten Abschnitt auf
dem Wege zum Kommunismus im Sinne des wissenschaftlichen Sozialismus. Das meine
ich mit meiner prokommunistischen Option.
"Uns bläst der
Wind nicht ins Gesicht!"
Ich stelle die Frage
nach der Option für den Kommunismus jetzt, weil ich finde, der Ernstfall läge
heute näher als zum Beispiel vor dreißig Jahren.*
Damals sagte Chrustschow triumphierend: "Uns bläst der Wind nicht ins
Gesicht!"
Für diesen Ausspruch
gab es eine ganze Menge Indizien - in der Weltlage, in der Lage des
sozialistischen Lagers und auch in der Ökumene und in den Kirchen:
o 1954 stellte die UdSSR das erste
Atomkraftwerk der Welt in Dienst;
o 1957 startete die UdSSR den ersten
künstlichen Erdsatelliten;
o 1959 begann in Kuba die erste
sozialistische Revolution in Amerika;
o 1960 fand die Entkolonialisierung
einen Höhepunkt mit der Unabhängigkeit von sechzehn ehemaligen Kolonien in
Afrika;
o 1961 eröffnete die UdSSR als erstes
Land der Welt die bemannte Raumfahrt;
o 1961 enthüllte der Souveränitätsakt
vom 13. 8. die realen Kräfte des Sozialismus in Europa;
o 1962 erwies sich das sozialistisch
werdende Kuba als für den Imperialismus unliquidierbar;
o 1964 errang die antirassistische
Massenbewegung in den USA ein neues Bürgerrechtsgesetz, das mehr
Gleichberechtigung für die Farbigen brachte.
Und die Kirchen, in
der Ökumene wie in beiden deutschen Staaten samt Rom, zogen nach:
o 1958 wurde Johannes XXIII. zum Papst
gewählt;
o 1958 entstand die Christliche
Friedenskonferenz in Prag;
o 1958 stellten die Kirchlichen
Bruderschaften der EKD-Synode im Blick auf die Massenvernichtungsmittel die
Bekenntnisfrage;
o 1958 sammelte sich in den Kirchen in
der DDR zum ersten Mal die Opposition gegen den die Kirche beherrschenden
Antikommunismus;
o 1958 kam es in der DDR zu einem mit
der Regierung abgesprochenen modus vivendi der evangelischen Kirchen, zu dem
"Kommuniqué";
o 1961 fand in Prag die erste
"Allchristliche Friedensversammlung" statt;
o 1962 begann das II. Vatikanische
Konzil einen wirklichen konziliaren Prozeß **
o 1963 öffnete die Enzyklica "pacem
in terris" für Katholiken den Weg zu ungehemmter Kooperation mit
Nichtkatholiken und Nichtchristen unter der biblischen Devise: "Prüfet alles,
und das Gute behaltet";
o 1966 löste sich mit der Konferenz
"Kirche und Gesellschaft" die Ökumene von dem sterilen
Antikommunismus und der Option für klerikale Restauration, wovon sie unter dem
Einfluß von J.F. Dulles beherrscht gewesen war.
Die Ära des
politischen Klerikalismus als Vehikel der imperialistischen Restauration
Europas ("Christentum als Kitt der NATO") schien zuende zu gehen.
Mit Rückenwind nach
Helsinki
Das alles war die
Frucht des Zusammenwirkens sehr unterschiedlicher Kräfte, vor allem die Frucht
vorangegangener ungeheurer Kraftanstrengungen der Sowjetunion. Es war die
Frucht eines schrecklichen und blutigen Pflügens, das viele unvermeidliche,
aber leider auch viele vermeidliche Opfer gekostet hatte. Es war aber auch die
Frucht eines arbeitsreichen friedlichen Säens unter Schweiß und Verzicht auf
vorzeitigen Genuß.
Die Ernte ging noch
eine ganze Zeit fort.
Fast alle ehemaligen
Kolonien gewannen ihre staatliche Souveränität - zum Teil in verheerenden
Kriegen und oft nicht ohne ruinöse innere Wirren. Die Bürgerrechtsbewegung in
den USA vermochte den Rassismus zumindest aus der Rechtsordnung zu verdrängen.
In Europa befreiten sich die letzten Länder vom Faschismus, und Portugal kam
dabei hart an die Grenze einer sozialistischen Revolution. Für Lateinamerika
beispielgebend entstand die Volksfrontregierung in Chile, und auf die Tradition
der Volksfrontbewegung besann sich auch Frankreich. Italien träumte vom
"historischen Kompromiß". In ganz Westeuropa kam die Jugend, vor
allem die akademische, in revolutionäre Gärung. Marxistische Fragestellungen
erlebten eine Renaissance - zumindest intentional. Allerdings waren sie
überlagert von allerlei spontanistischen und soziologistischen Verzerrungen,
die der Maoismus oder die "Frankfurter Schule" lieferten.
Sozialismus,
Kommunismus, Marxismus - wie immer verstanden - waren "in".
Diese Ernte
kulminierte - begleitet von der Anerkennungswelle gegenüber der DDR, dem Warschauer
und Moskauer Vertrag und dem vierseitigen Abkommen über Westberlin - in der
Konferenz von Helsinki. Sie eröffnete die Chance, Europa auf den Weg
friedlicher Koexistenz zu führen, und nährte die Hoffnung, das von den
sozialistischen Ländern seit Jahrzehnten verfolgte Ziel sei greifbar nahe: Ein
System kollektiver Sicherheit in Europa unter Einschluß Nordamerikas.
Es entstand die
Illusion, es sei bereits erreicht.
Der Fortschritt schien
unaufhaltsam. Besonders deutlich zeigte sich das in der Kirchengeschichte in
der DDR und BRD. Die kirchliche Opposition, die sich 1958 gesammelt hatte (in
der DDR: Bruderschaften, Pfarrerbund und Thüringer Kirchenleitungsrenitenz),
nutzte die Situation aus. Die breite Mitte kirchenpolitischer Pragmatiker trug
ihr Rechnung. Die kirchlich-antikommunistische Rechte lavierte angesichts des
scheinbar unaufhaltsamen Prozesses zwischen Obstruktion, Opposition und
Subversion. Die Kirchen in der DDR gewannen mit dem Segen der EKD eine relative
Selbständigkeit der EKD gegenüber. Sie konstituierten den Bund der
Evangelischen Kirchen in der DDR und interpretierten ihn als Zeugnis- und
Dienstgemeinschaft nicht gegen den Sozialismus und nicht neben, sondern in ihm.
Allerdings versanken
die geistigen Vordenker dieses Prozesses scheinbar in Bedeutungslosigkeit.
Seine Gegner jedoch überdauerten in Schlüsselpositionen. Es bot sich das Bild
einer allgemeinen Versöhnung unter Rückdrängung der Extreme.
Wie der umfassende
politische Fortschritt in Helsinki, so kulminierte dieser partikulär kirchenpolitische
Fortschritt im "6. März 1978" *- zu einem Zeitpunkt,
zu dem die militärpolitische Konzeption der USA bereits enthüllte, daß die
Hoffnungen, die sich an Helsinki knüpften, noch keineswegs verwirklicht waren.
Die Wetterwende
Im Rückblick wird
deutlich, daß "Helsinki" nicht nur Höhepunkt, sondern auch Wendepunkt
der günstigen Entwicklung für Frieden und Sozialismus war. Der Kompromiß von
Helsinki, der das Ende des kalten Krieges besiegeln sollte, wurde von den kalten
Kriegern als Niederlage empfunden. Sie gingen daran, diesen "Schaden"
zu begrenzen und die Voraussetzungen zu einer antisozialistischen
Gegenoffensive zu schaffen, während die Weltöffentlichkeit über die Entspannung
erleichtert aufatmete, vielerorts die Wachsamkeit nachließ und sich ein Gefühl
wohlverdienter Ruhe ausbreitete, das bereits Gefahren der Stagnation
signalisieren konnte.
Militärpolitische
Gegenoffensive der NATO
Von Anfang an war
klar, daß der Prozeß friedlicher Koexistenz nur dann unumkehrbar würde, wenn
ihm ein Prozeß der Abrüstung entspräche. Mit äußerster Anstrengung hatte die
Sowjetunion ein ungefähres militärstrategisches Gleichgewicht des Warschauer
Paktes gegenüber der NATO erreicht. Sie hielt es für den bestmöglichen
Ausgangspunkt, um beiderseits ausgewogene Abrüstungsvereinbarungen mit dem Ziel
gleicher Sicherheit für alle zu erreichen. Die USA jedoch hielten gerade dies
Gleichgewicht für unerträglich. Für sie war es nicht Basis möglicher Abrüstung,
sondern Grund beschleunigter Hochrüstung. Sie wollten ihre militärstrategische
Überlegenheit und damit vor allem die Erstschlagskapazität, deren es zu einer
glaubwürdigen Blitzkriegsdrohung bedarf, wiedergewinnen. Sie drehten an der
Rüstungsschraube. Wollten sie sich wirklich instand setzen, das "Zentrum
des Bösen" auszurotten, auch wenn das alle menschliche Kultur kosten
könnte? Oder sollte diese Gefahr "nur" das sozialistische Lager zu
Rüstungsanstrengungen zwingen, um es wirtschaftlich zu ruinieren? Wollte man
den Kommunismus totschlagen oder "nur" totrüsten? Die Sowjetunion
jedenfalls rang erbittert um die Erhaltung des militärstrategischen
Gleichgewichtes - und auf allen Gebieten kam es, vielleicht gefördert durch das
Gefühl der "gewachsenen Stärke des Sozialismus", zur Stagnation: Die
Politik des "Totrüstens" zeigte Wirkung in Krankheitserscheinungen
ihrer Wirtschaft.
Der Trick mit den
Menschenrechten
Im Kalten Kriege war
die Freiheitsdemagogie Startloch der psychologischen Kriegsführung gewesen. Was
"Freiheit" heißt, steht in Relation zu sozialökonomischen
Möglichkeiten und Bedürfnissen und unterliegt historischer Entwicklung. Es ist
ein Unterschied, ob dieser Begriff die Freiheit meint, Sklaven zu kaufen und
nicht selber Ware zu sein, oder die Freiheit, Produktionsmittel zu erwerben und
zu besitzen und als solcher Besitzer "freie Lohnarbeiter" auf dem
Arbeitsmarkt anzuwerben, oder die Freiheit von Ausbeutung und das Recht auf
Arbeit mit gesellschaftlichem oder genossenschaftlichem Eigentum. In der
Nachkriegszeit gelang es, die bürgerliche Freiheit so sehr als Freiheit
überhaupt darzustellen, daß die bedeutendste Freiheitsbewegung der Neuzeit, der
Sozialismus, als Ausgeburt eines "Systems der Unfreiheit" und die
imperialistische Welt als "freie Welt" erschien. Angesichts von
Mc-Carthyismus, Algerien- und Vietnamkriegen, den vom Imperialismus
ausgehaltenen Diktaturen in aller Welt und Berufsverboten sogar im
Schaufensterland westlicher Demokratie war dieser Freiheitsbegriff nahezu der
Lächerlichkeit verfallen und als Kampfbegriff des Kalten Krieges durchschaut.
Nun verhandelte man in
Helsinki über den Friedensschluß im Kalten Kriege. Aber bereits bei der
Darstellung dieser Verhandlungen selbst wurden die Startlöcher zum neuen
psychologischen Krieg markiert.
Zielgerichtet wurde
der Anschein erweckt, als mache "der Westen" "dem Osten"
die "Konzession" friedlicher Koexistenz und Anerkennung der
Nachkriegsgrenzen, um vom "Osten" "menschliche"
"Zugeständnisse" als "Gegenleistung" zu erhalten. Der
"menschliche" Westen bringt "um der Menschen willen" dem
"unmenschlichen Osten" "politische Opfer": Das war nicht
nur die ganz gefährliche Entgegensetzung von Politik und Humanität, die tief im
Charakter imperialistischer Politik verankert ist, sondern Knospenfrevel an der
Knospe der Entspannung.
Aus diesem Ansatz
entwickelte sich dann sehr bald die Menschenrechtsdemagogie als psychologisches
Instrument der Wiederbelebung des Kalten Krieges. Sie trat an die Stelle der
Freiheitsdemagogie im eben beendeten Kalten Krieg. Denn auch Menschenrechte
stehen in Relation zu sozialökonomischen Bedingungen und Bedürfnissen. Versucht
ein Land, einem anderen seine Menschenrechtsvorstellungen aufzudrängen,
obgleich sie unter den anderen ökonomischen, sozialen oder politischen
Bedingungen nicht realisierbar sind, ohne zu einem revolutionären oder
konterrevolutionären Umsturz zu führen, dann wird das zu einer Einmischung in
innere Angelegenheiten des anderen Staates, die eine friedliche Koexistenz mit
ihm behindert. Man stelle sich einmal vor, die DDR machte ihr Verhältnis zu
Berlin(West) davon abhängig, daß dort das Menschenrecht auf Arbeit für
jedermann realisiert sei: solange ihr Arbeitslose habt, gibt's keinen
Besucherverkehr! Ist es aber etwas wesentlich anderes, wenn immer wieder
BRD-Sprecher deren Verhältnis zur DDR daran knüpfen, ob die DDR realisiere, was
ihnen als "Menschenrecht Nr. 1" erscheint: unbeschränkte
Ausreisefreiheit? Inhaltlich heißt das, die DDR möge die Arbeitskraft ihrer
Bürger auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt feilbieten, sie wieder zur Ware
und für das internationale Kapital frei käuflich machen. Das wäre eine Paralyse
des Sozialismus. "Die starre Haltung der DDR" gegenüber solchen
"Reformen" hat Kohl jüngst als "Belastung des
Verhältnisses" beklagt. Sie ist aber dringend nötig. Wenn das "Recht
zu freier Ausreise" aus jedem beliebigen Land ein "Menschenrecht"
sein soll, warum eigentlich nicht auch das "Recht zu freier Einreise"
in jedes beliebige Land? Was würde aber dazu die BRD sagen? Sie ist ja schon
nervös geworden, als ein paar Tamilen von Schönefeld nach Westberlin fuhren,
und hat die DDR flehentlich gebeten, solche "Reisefreiheit" zu
unterbinden. Was würden gar die USA sagen, wenn sie die Grenzen nach Mexiko für
unbeschränkte Einreise öffnen sollten? Das liefe auf die Paralyse ihrer
sozial-ökonomischen Stabilität hinaus.
Solange die Menschheit
in Klassen existiert, sind Menschenrechte nicht klassenneutral. Und wenn die
eine Klassengesellschaft der anderen Klassengesellschaft die
Menschenrechtsauffassungen oktroyieren will, die ihr spezifisch sind, kann sie
schwerlich mit ihr friedlich koexistieren. Umgekehrt allerdings erleichtert die
friedliche Koexistenz es jeder Klassengesellschaft, im Rahmen ihrer
sozial-ökonomischen Realität solche Menschenrechte zu vervollkommnen, nach
denen sie selbst Bedürfnisse entwickelt - am elementarsten, weil Ressourcen aus
dem militärischen in den sozialen Bereich umgelenkt werden können (auch die
Sicherung so mancher Menschenrechte kostet ja Kraft und Geld).
Ökonomische
Intensivierung hier und soziale "Wende" dort
Auf sozialistischer
Seite ist, wenn wir an die Zeit um und nach "Helsinki" denken, kaum
von einer sozialökonomischen Wende zu reden, desto mehr allerdings, jedenfalls
in der DDR, von einer Ausnutzung der eben genannten Möglichkeit für eine sozialökonomische
Beschleunigung und Intensivierung. (...) Neu war nicht das Ziel, sondern neu
waren manche Voraussetzungen und die Ausnutzung dieser Voraussetzungen zu
seiner Realisierung. (...) Die DDR begann damit, die Wohnungsfrage als soziales
Problem zu lösen. Das war ein erheblicher Beitrag zur Erfüllung des
Menschenrechts auf menschenwürdige Unterkunft. (...)
Man kann fragen, ob
die Konzentration auf sozial-ökonomischen Fortschritt nicht begleitet war von
einem Nachlassen politisch-ideologischer Orientierung und dem Anwachsen kleinbürgerlicher
Wünsche und Vorstellungen. Eine bedenkliche Entpolitisierung zeigten allerlei
Intellektuelle, vor allem Literaten, die die Nähe der Kirche suchten und sich,
Frieden mit Versöhnlertum verwechselnd, kaum daß sie sich der
Weltfriedensbewegung einerseits näherten, andererseits "in
Eigenständigkeit" von ihr separierten. Sie verstanden und begrüßten den
Fortschritt der "Entspannungspolitik" als Bestätigung ihrer
Konvergenztheorie. Sie liebäugelten mit der Totalitarismusdemagogie. Sie
meinten, auch die DDR bedürfe einer grundsätzlichen Wandlung, um
"friedensfähig" zu werden; in einer gleichzeitigen und einander
begegnenden Bewegung der DDR in Richtung bürgerlich liberalstaatlicher und der
BRD in Richtung nicht minder bürgerlich sozialstaatlicher Positionen sahen sie
die Möglichkeit zur Lösung der in ihren Augen oft durchaus noch "offenen
deutschen Frage", die lediglich behindert werde durch beide
"Supermächte". In solchem kleinbürgerlichen Bewußtsein verband sich
eine erstaunliche politische Naivität mit einem Mangel an Sinn für historische
Tatsachen und mit der elitären Überzeugung, man selbst sähe die Dinge
"objektiv", insbesondere auch "das Recht der anderen Seite",
und sei darum fähig und bereit, sich von der "Parteilichkeit", die
dann wie ein Residuum des Kalten Krieges betrachtet wurde, zu lösen. Erst in
jüngster Zeit verspürt man erfreulich mehr Wachsamkeit in dieser Richtung,
nachdem ihre Protagonisten bereits anfingen, sich einzubilden, sie
repräsentierten den Geist einer neuen Zeit
Wenn die Sowjetunion
konstatiert, ihre Entwicklung habe nicht nur politisch-ideologisch, sondern
auch sozial-ökonomisch stagniert, so sollten sachliche Kritiker nicht
übersehen, daß die militärpolitische Gegenoffensive der NATO gegen
"Helsinki", von der oben die Rede war, zur - sicher fehlerhaft
einseitigen - Konzentration auf militärstrategisches Schritthalten verführen
sollte und leider auch konnte.
*
Von einer
sozial-ökonomischen Wende ist allerdings sehr nachdrücklich im Blick auf die
Entwicklung im Imperialismus zu reden.
Zuerst bildete sich -
wie so oft in der Meteorologie nun auch in der Grundlinie kapitalistischer
Politik - ein Orkantief bei den britischen Inseln. Margret Thatcher begann, die
in Westeuropa längere Zeit dominierende liberal-soziale Variante bürgerlicher
Politik, orientiert auf "Sozialpartnerschaft", "Sozialbindung
des Eigentums" und "Sozialstaatlichkeit", völlig umzukehren.
Inzwischen triumphiert sie, nicht darum habe sie "den Sozialismus" -
und damit meint sie Labour! - "zerschlagen", damit er auf dem Wege
einer westeuropäischen Währungs- und Wirtschaftsunion auf ihre Insel
zurückkehre.
Der
"Thatcherismus" griff aber bald auch nach Frankreich und nach den USA
über. Dort entwickelte er sich weiter in Richtung "Reaganomics". In
der BRD wurde die "Wende" bei dem Regierungswechsel Schmidt/Kohl
offen deklariert - tatsächlich hatte sie sich bereits grundlegend mit der
weniger registrierten, aber desto gravierenderen Wende Brandt/Schmidt vollzogen.
Und das Schlimmste: das kalkulierte Risiko der Störung des "sozialen
Friedens", zuerst in England voll wirksam, erwies sich als vorerst
tragbar.
Die imperialistische
Rechnung geht vorerst auf
Im Weltmaßstab und
innerhalb der imperialistischen Länder werden die Reichen immer reicher und die
Armen immer ärmer. Und das Kapital macht Gewinne wie selten in der Geschichte.
Sozial bleibt die Lage kontrollierbar. Die totale Verelendung riesiger Menschenmassen
und ihre Ausbeutung vollzieht sich im heutigen Imperialismus außerhalb der
Grenzen seiner Kernländer: in der sogenannten "Dritten Welt". Sie
kann darum in den Stammländern des Imperialismus nicht zu inneren Unruhen
führen. Im Inneren wird die Verelendung verbunden mit Vereinzelung und
Isolierung. Arbeitslose können ohnehin nicht streiken. Und im Unterschied zu
den dreißiger Jahren sammeln sie sich nicht mehr an Stempelstellen, sondern
werden individuell per Kontozahlung am Leben erhalten. So hält man auch hier
die soziale Unruhe in Grenzen, indem man die Entsozialisierung und
Entsolidarisierung der "Opfer des Wirtschaftswachstums" betreibt.
Überdies kann man ja die Arbeiterklasse noch in "Erwerbstätige" und
"Erwerbslose" spalten, indem man diejenigen, die Arbeitsplätze haben,
danach fragt, warum sie diese Arbeitsplätze nicht mit Arbeitslosen teilen,
warum sie nicht ohne Lohnausgleich auf Arbeitszeit verzichteten, angeblich
könne dieser Verzicht dann Arbeitslosen zugutekommen. Kämpfe gegen den
Sozialabbau läßt man geradezu als unsozial erscheinen: Sollen denn die
Kapitaleigentümer wieder veranlaßt werden, ihr Kapital, statt es zu investieren,
zu exportieren oder stillzulegen, so daß noch mehr Arbeitsplätze verloren
gehen?
Selten ist die
Arbeiterklasse so unverhüllt erpreßt worden: Wenn ihr nach dem Verhältnis von
Lohn und Profit fragt statt nach der Teilung von Arbeitsplätzen bei gleicher
Gesamtlohnsumme, dann ziehen wir das Kapital ab in Länder, die gar keine
soziale Sicherheit bieten - und ihr könnt sehen, wo ihr ohne Innovationen und
Wirtschaftswachstum bleibt. Wir legen dann unsere Betriebe still. Ihr dürft
frei wählen: Wirtschaftswachstum plus Sozialabbau oder soziale Rechte - aber
unrealisierbar wegen Betriebsstillegungen mangels Maximalprofit.
Aber was hilft's? Die
Erpressung funktioniert. Und das Kapital floriert. Das Nationaleinkommen
wächst. Alle wirtschaftlichen Parameter scheinen gut - außer dem der
Vollbeschäftigung. Und in den USA zeigte sich, daß, wenn erst einmal die
"Ansprüche" der Arbeiter sinken, auch die Arbeitslosigkeit -
wahrscheinlich allerdings nur vorübergehend - zurückgehen kann.
Anscheinend ist der
Kapitalismus zwar häßlich, aber erfolgreich. Von seiner endgültigen Krise ist
wenig sichtbar, zumindest solange der Blick auf den glitzernden Reichtum der
imperialistischen Kernländer fällt. Im Blick darauf ist von einer erneuten
relativen Stabilisierung des Kapitalismus zu reden - diesmal erheblich
gefördert durch die Möglichkeiten, die die qualitativ neuen Technologien der
Kapitalverwertung bieten, und durch die Umstellung von früher üblicher
Ausplünderung der Kolonien auf die systematische Ausbeutung der
"Billiglohn"-Länder. Das Menetekel des - gerade noch bewältigten -
Börsenkrachs wurde schnell verdrängt.
So kommt die Frage
auf: ist die "Marktwirtschaft" nicht doch die eigentliche
Naturordnung der menschlichen Gesellschaft? (Und in der Tat hat sie ja etwas
vom selbstwachsenden Urwald mit seinen Dschungelgesetzen an sich; die -
bewußter Pflege bedürftige - Kulturlandschaft menschlicher Gesellschaft ist
eben der Sozialismus.) Trotzdem preisen inzwischen sogar Theologen den
Kapitalismus erneut wie eine göttliche Naturordnung an.*
Und: Anscheinend oder
angeblich "stagnierte" der Sozialismus. Muß er etwa bei dem erfolgreichen
Kapitalismus in die Schule gehen? Bei ihm Ökonomie studieren und Demokratie
lernen? Lernen, wie man Arbeitslosigkeit, Zweidrittelgesellschaft, neue Armut
gesellschaftlich akzeptabel macht, indem man das Volk frei wählen läßt, ob
soziale Sicherheit das Kapital vertreiben und zu Mangel und Schrumpfung führen
oder ob Sozialabbau das internationale Kapital anziehen, die Reichen reicher
machen und die Armen verkommen lassen soll?
In der Tat: der Wind
scheint in mancherlei Weise - ausgehend von jenem Tief bei den britischen
Inseln - seit Helsinki umgeschlagen zu sein.
Allzu vielen scheint
es so, als sei der Kapitalismus "in" und der Sozialismus
"out".
Zu den Stimmen der
Reaktion, die das mit unverhohlener Schadenfreude verkünden, gesellen sich
Stimmen der bisherigen Linken, ja sogar Stimmen aus Ländern des sozialistischen
Lagers, die es mit Selbstmitleid, Resignation oder Verbitterung
kapitulantenhaft bestätigen.
Stimmungsumschlag
Vorbereitet,
ausgedrückt, begleitet und - zum Teil
wider Willen - gefördert wurde und wird diese Wende zur realen Stabilisierung
des Imperialismus von einem Umschwung des Lebensgefühles durch eine
ideologische Reaktion.
Die beiden
Hauptströmungen spätbürgerlicher Philosophie, Positivismus und Lebensphilosophie,
erleben - sich komplementär ergänzend - eine Renaissance. Auf Seiten der
"Wendepolitiker" zeigt sich überwiegend ein kaltschnäuziger
Positivismus, der das unter angeblichen "Sachzwängen"
"Machbare" für die Norm des Gebotenen hält. Für ihn verkommt Vernunft
tatsächlich zu jener Cleverness, von der es im "Faust" heißt:
"Er nennt's Vernunft und braucht's allein, um tierischer als jedes Tier zu
sein." An seine Seite tritt eine ultrarechtsgerichtete Rezeption der
manisch-rebellischen Elemente der Lebensphilosophie. Die Wiederentdeckung der
barbarischen Züge Nietzsches auf der konservativen Rechten ist dafür ein
Symptom. Komplementär dazu aber zeigt sich auf der Linken eine resignativ
geprägte Grundstimmung, Ausdruck einer vielleicht gar nicht wirklich
erlittenen, aber subjektiv empfundenen historischen Niederlage. Hier prägt
sich, wie zur Zeit Metternichscher Restauration die resignierende Spätromantik,
nun in der Zeit reaganscher Restauration eine resignative Neoromantik aus.
(Allen Resignierenden zum Trost: Schon als Metternich noch lebte, erschien das
Kommunistische Manifest. Relative Stabilisierungen können eine allgemeine Krise
aufhalten, jedoch nicht lösen.) Diese Grundstimmung ist zutiefst pessimistisch.
Schopenhauer liegt ihr näher als Nietzsche, den sie allerdings (auch mehr
depressiv als manisch) zu respektieren sucht als einen, der gezeigt hat,
"wie es wirklich ist". Sie wendet sich nicht nur von einer
instrumentalisierten, erbarmungslos funktionierenden, sondern auch von
humanistischer Vernunft und rationaler Humanität ab und einer objektlosen
Subjektivität zu: Gefühl ist alles! Und daß auch Gefühle wahr oder falsch sein
können, wird vergessen oder verdrängt. An die Stelle objektiver Welterkenntnis
tritt die Frage nach einem subjektiv befreienden Selbst. Man wendet sich von
planmäßiger bewußter Weltveränderung - oft in aufbegehrendem Protest gegen die
Weltwirklichkeit - der bloßen Reflexion zu: Identitätsfindung und
Ichverwirklichung stehen im Zentrum eines lädierten Lebensgefühls, das sich
nach Erlösung sehnt. Ein sich hilflos fühlender Individualismus rebelliert
gegen alle gesamtgesellschaftliche Organisation, subjektivistischer
Spontanismus der Einzelnen wirkt wie ein Pendelschlag gegen einen objektivistischen
Spontanismus, den vermeintlichen Automatismus, der zuweilen in vulgärmarxistischen
Köpfen spukte und vorgaukelte, daß ein guter absoluter Weltgeist den
Sozialismus als Welterlösung von selbst "geschichtsnotwendig" wie
"naturgesetzlich" zustande bringe ohne die bewußte Tat und
Opferbereitschaft derer, für die er in der Tat "geschichts-not-wendig"
ist, allerdings nicht als Erlösung, sondern als selbst zu erkämpfende
Befreiung. Wie einst in der Spätromantik kulminierte diese ganze neoromantische
Welle in einem Sturmwind neuer Religiosität.
Und es waren die
Wipfel kirchlicher Bäume, die das Übergreifen des Westwindes über unsere
Grenzen als erste durch kräftiges Schwanken signalisierten.
Nun gibt es in der
Kirche und um sie herum viele, die sich "wägen und wiegen lassen von
allerlei Wind der Lehre durch Schalkheit der Menschen und Täuscherei, damit sie
uns suchen zu verführen." (Eph. 4,14b)
"Der Mensch denkt,
Gott lenkt"
Die Welle neuer
Religiosität ist nicht allzu verwunderlich. Religion entsteht - und auch wenn
dieser Satz von Friedrich Engels immer wieder viele ärgert, trifft er etwas
Wesentliches -, wo der Mensch zwar denkt, aber nicht lenkt. Insofern ist sie in
der Tat Kontingenzbewältigung - freilich illusionäre Kontingenzbewältigung,
weil nur in der Vorstellung, aber nicht in der Realität -, wenn man sich selber
tröstet: "Der Mensch denkt, und Gott lenkt." Gewiß ist das nicht
alles.
Religion entsteht
zuerst darum, weil der Mensch, der sich selber sucht und liebt - ihn nennt die
Bibel Sünder! - ewig bei sich selbst und für sich selbst sein möchte. Er möchte
keineswegs von dieser Selbstsucht, die ihn in die Knechtschaft von Tod und
Sünde zwingt, erlöst sein, sondern von seiner Endlichkeit, um ewig für sich
selbst zu leben, nicht endlich für andere zur Ehre Gottes. Er möchte als Sünder leben und nicht sterben. Dazu soll ihm Gott helfen. Und dazu macht er sich Götter und
Gottesvorstellungen. Sie sind andere Götter als der Gott, von dem geschrieben
steht: "... so er spricht, so geschieht's; so er gebietet, so steht's da
... Von seinem festen Thron sieht er auf alle, die auf Erden wohnen: Er lenkt
ihnen allen das Herz und merkt auf all ihre Werke." (Ps. 33, 9.14 f.)
Dieser Gott hat den Menschen "zum Herrn gemacht über seiner Hände
Werk" und "alles ... unter seine Füße getan." (Ps. 8,7) Das ist
nicht der Gott, von dem "die Religiösen sprechen..., wenn ... menschliche
Kräfte versagen - ... der deus ex machina, den sie aufmarschieren lassen ...
als Kraft bei menschlichem Versagen ...; das hält zwangsläufig nur so lange
vor, bis die Menschen aus eigener Kraft die Grenzen etwas weiter hinausschieben
und Gott als deus ex machina überflüssig wird..."1
Hier aber geht es
darum, die Welle neuer Religiosität historisch aus ihren geschichtlichen
Gründen zu verstehen. Darum mag die theologische
Frage nach dem Wesen der Religion
hier unberücksichtigt bleiben. Für unseren Zweck genügt der Ansatz bei der historischen Kritik Friedrich Engels'.
Der Mensch denkt. Und
weil er denkt, erkennt er: zum erstenmal in der Geschichte kann sich die
Menschheit als Gattung selbst umbringen. Schon heute kann sie es durch die
Nuklearenergie, bereits morgen kann sie es durch die Gentechnologie, und
schleichend tut sie es vielleicht schon täglich durch die moderne chemische
Massenproduktion. Die Veränderung der Umwelt durch die Menschheit bekommt eine
neue Qualität. Vergleichsweise im Kleinen verändert sie die Umwelt durchaus
planvoll, keineswegs nur denkend, sondern auch lenkend - im einen Teil der Welt
überwiegend, um mehr Profit zu machen, im anderen Teil der Welt überwiegend, um
schwere Existenzbedingungen zu erleichtern oder überhaupt erst Existenzbedingungen
für Menschen zu schaffen. Aber im Großen und Ganzen verändert sie die Umwelt
dabei planlos. Darum ist zum ersten Mal in der Geschichte die Sorge begründet,
es könnte eine Umwelt entstehen, in der künftig keine menschlichen Generationen
mehr leben könnten.
Die neue Fähigkeit der
Menschheit, sich als Gattung umzubringen, muß dazu führen, daß der
Selbsterhaltungswille jeder Klasse und sogar jeden Individuums den Willen zur
Selbsterhaltung der Menschheit mit umfaßt. Zu allererst scheidet damit der Krieg
als ultima ratio der Politik im Selbsterhaltungsinteresse aller Klassen als
Form von Klassenkämpfen aus. Zugleich zwingt das zu einer
"Humanisierung" der Klassenkämpfe, wie Kommunisten sie im Blick auf
internationale Klassenwidersprüche mit ihrem Konzept friedlicher Koexistenz von
Staaten auch gegensätzlicher Gesellschaftsordnung seit langem erstrebt haben.
Das aber bedeutet offenbar keineswegs das Ende des Klassenkampfes, nicht einmal
nur die Verlagerung des Klassenkampfes auf ausschließlich ideologisches Gebiet,
als würde er einfach zum Meinungsstreit, für den es nur eine neue Kultur zu
finden gelte. Vielmehr liegt es am Tage, daß der Klassenkampf national wie
international erbittert weitergeht, sogar mit mörderischer Härte: Die
Hungerregionen der Welt zeigen das! Unerbittlich wird er auch gegen das
sozialistische Lager geführt, wenn auch in letzter Zeit flexibel und
überwiegend subversiv.
Dabei aber geht die
Hauptgefahr vom innerimperialistischen Gegensatz aus. Er wird vernebelt, wenn
man diejenigen Regionen der Welt, in denen das internationale Kapital seine
Beute anhäuft und - zur Vermeidung sozialer Konflikte im eigenen Haus wie zur
Stimulierung schöpferischer Leistung - an dieser Beute auch Ausgebeutete
beteiligt, die "Erste Welt" nennt und diejenigen Regionen, aus denen
es so viel Beute wie möglich herausholt und die es verelendet, die "Dritte
Welt". Beide "Welten" zusammen sind die unteilbare eine
imperialistische Welt, so wie im klassischen Kapitalismus ausgebeutete
Arbeiter, verelendete Arbeitslose und ausbeutende Fabrikherren die eine
bürgerliche Nation bildeten. Die Möglichkeit der Menschheit, sich mittels ihrer
wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten selbst zu vernichten, wird
gesellschaftlich konkret virulent vor allem durch den sozialen Widerspruch, daß
die Produktivität im imperialistischen Weltsystem immer mehr wächst und
zugleich immer mehr Menschen absolut verelendet werden, also durch die
weltweite Wirkung des Grundwiderspruches von gesellschaftlicher Arbeit und
privater Aneignung. Und diese Gefahr würde nicht geringer, sondern sogar noch
größer, wenn es kein sozialistisches Lager gäbe.
Eine Kapitulation des
Sozialismus durch seine Anpassung an die "Marktwirtschaft" oder an
die bürgerliche Demokratie, jeder Rückschritt im Sozialismus auf
vorsozialistische Positionen würde nahezu alle Probleme nur verschärfen und die
Lage gefährlich destabilisieren - ganz abgesehen davon, daß man historisch
vorhandenen Kräften - seien es die der sogenannten "Zweiten" oder
"Dritten" Welt - nicht gebieten kann, einfach zu verschwinden.
Vielmehr umgekehrt!
Einstein hatte sicher Recht, als er meinte, der Sozialismus sei die notwendige
"Rahmenbedingung" für die Lösung der zukünftigen Probleme der
Menschheit. Die gegenwärtige sozial-ökonomische Realität der Welt sieht so aus,
als hätte der Weltgeist, wenn es ihn gäbe, sie geschaffen, um denen, die das
Kommunistische Manifest nicht begriffen haben, zu sagen: Wer nicht hören will,
muß fühlen. Und dies Gefühl entlädt sich ja nun in Unbehagen, Ratlosigkeit, Rebellion
und Resignation, Frustration und Verzweiflung - nur es hilft nicht weiter.
Der Mensch lenkt ... ?
Wo ist "der
Mensch, der nicht nur denkt, sondern auch lenkt"? Also: Wo ist die
gesellschaftliche Kraft, die bewußt und planmäßig zum menschlichen Gemeinwohl
Geschichte macht? Die zumindest die zureichenden Bedingungen schafft, um die
sogenannten Globalprobleme zu lösen? Die also die Möglichkeit für eine
menschliche Zukunft eröffnet, auch wenn sie keine Garantie für sie bieten kann
(denn was kann nicht alles "aus Versehen" in einem modernen Labor
oder Betrieb passieren)?
Es scheint so, als sei
dieser "Mensch" zwar schon geboren, aber noch nicht erwachsen - eine
Frühgeburt, die noch nicht gekräftigt genug ist, ihre Menschheitsaufgabe zu
erfüllen? Kommt daher die Unruhe, das Schwanken zwischen Euphorie und Skepsis -
mal die Illusion, in der je noch lebenden Generation schon den Kommunismus zu
erreichen, und dann wieder die Neigung, eilig und unbesonnen am Sozialismus
"nachzubessern" und ihn dabei "auseinanderzunehmen"?
Tatsächlich wirkt es ja fast wie ein Grundwiderspruch in der ersten Phase des
Sozialismus, daß er historisch gerade dort günstige Bedingungen für seine
Entstehung fand, wo die Bedingungen für seine Entwicklung ungünstig waren, -
weil die Kette am schwächsten Glied zu reißen pflegt. Wo der Sozialismus bisher
gesiegt hat, da fehlte es meist an nationalem Reichtum, der zu
vergesellschaften war, an demokratischer Tradition, die sozialistisch umzugestalten
war, und an entwickelter Massenkultur, die mit sozialistischem Inhalt zu
erfüllen war. Vor allem aus solchen objektiven Gründen - gewiß von subjektiven
Faktoren (die aber auch wieder objektive Gründe in der Geschichte zu haben
pflegen) beeinflußt - entsprach in den meisten sozialistischen Ländern dem
historischen Vorlauf in ihren Produktionsverhältnissen ein Nachholbedarf an
Produktionskapazität und Arbeitsproduktivität.
Dieser Anschein nährt
die post festum unhistorische Frage: ist der Sozialismus zu früh gekommen?
Waren global und lokal die Verhältnisse schon reif für ihn? Historisch ließ der
Ernst dieser Frage Lenin auf die mittel- und vielleicht auch westeuropäische
Nachkriegsrevolution hoffen - sie kam nicht. Universeller gestellt, kann die
Frage die Gestalt annehmen, ob nicht - wie die bürgerliche Gesellschaft, wenn
auch vor der ersten industriellen Revolution entstanden, so doch dieser
bedurfte, um sich völlig durchzusetzen - zur Durchsetzung der sozialistischen
Gesellschaft die sich erst gegenwärtig vollziehende technisch-wissenschaftliche
Revolution hinzugehört hätte, einfach wegen der erst durch sie möglich
werdenden qualitativ neuen Steigerung der Arbeitsproduktivität?
Tiefsinnige, aber
zugleich naive Fragen. Denn in der Geschichte kann man sich seine
Lieblingsspeisen nicht à la carte bestellen.
Und überdies wäre,
wenn man schon die "Was-wäre-wenn-Fragen" stellt, die andere Frage
viel überzeugender: Ist der Sozialismus nicht zu spät gekommen? Ist die
Kapazität der heute modernen Technologien zur Selbstvernichtung der Menschheit,
ausgeliefert an das unbewußt-spontan wirkende Selbstverwertungsinteresse des
internationalen Finanzkapitals, nicht so gefährlich wie "Messer, Gabel,
Schere, Licht" in Kinderhand? Hätte der Übergang von der ihrer
Bewegungsgesetze unbewußten "Naturgeschichte der Menschheit" zu ihrer
"bewußten Geschichte" nicht dieser neuen Kapazität zur Anwendung
ungeheurer Naturkräfte vorausgehen müssen? Und hätte nicht sogar der
Sozialismus mehr Erfahrung gebraucht, als er bisher sammeln konnte, um das
Richtige, was von der historisch-dialektisch-materialistischen Methode her im
Marxismus angelegt war, auch stets richtig zu machen? Auch die
"richtige" Naturwissenschaft - beträchtlich älter als die von Marx
begründete Gesellschaftswissenschaft - macht ja sogar auf ihrem eigensten
Gebiet immer wieder so manches falsch. (Übrigens verwendet das keiner als
Argument, die Rückkehr zur Alchemie zu empfehlen.) Auch "im real
existierenden Sozialismus werden ja Fehler gemacht, wie jeder weiß."
Manche Leute meinen nun, diesen weisen Satz von Winfried Maechler *
benutzen zu können, um dem Sozialismus die
Rückkehr zu bürgerlicher Demokratie und Marktwirtschaft zu empfehlen. Aber so
wenig wie Fehler von Naturwissenschaftlern oder gar der Naturwissenschaft
selbst die Preisgabe naturwissenschaftlichen Denkens und seiner Anwendung
nahelegen, so wenig tun das auch Fehler der Gesellschaftswissenschaft oder
Fehler bei ihrer Anwendung. In beiden Fällen geht der Weg nicht hinter
bisherige wissenschaftliche Erkenntnis zurück, sondern über ihre Mängel und
Fehler hinaus nach vorn.
Sinnvoller als die
ungeschichtliche Frage, ob der Sozialismus zu früh oder zu spät gekommen sei,
ist die Frage, was unter den hier und heute historisch realen Bedingungen, die
zu ihrem besten Teil Produkt der Realisierung des Sozialismus sind, zu tun sei - und zwar nicht irrational und bloß emotional begründet, sondern
mit vernünftiger Leidenschaft, nicht individualistisch oder anarchisch, sondern
organisiert und diszipliniert, vor allem aber nicht skeptisch, sondern
urteilsfähig entschlossen -, um die fortgeschrittenen sozialistischen
Produktionsverhältnisse dazu zu nutzen, die Produktivkräfte, die
Produktionskapazität und die Arbeitsproduktivität optimal zu fördern.
Die weitere Geschichte
der Menschheit ist durch die Entwicklung der Menschheit selber zum Problem
geworden. Wird es nur als ungelöstes Problem reflektiert, dann führt diese
Reflexion fast unvermeidlich dazu, es als ein kontingentes Schicksal zu
verstehen, das nur religiös bewältigt werden könne - und gerade so nicht
bewältigt wird. Wird es aber begriffen als ein von den Menschen selbst in ihrer
Geschichte notwendig hervorgebrachtes Problem, dann wird es zur Aufgabe, die zu
lösen ist - im doppelten Sinne des Wortes: zur Aufgabe, die gelöst werden muß
und die gelöst werden kann. Allerdings kann sie nur gelöst werden mit einem
Denken und Verhalten, das dialektisch der Bewegung der Geschichte begegnet und
weder romantisch sich in vergangene Geschichte zurücksehnt noch utopisch über
sie hinausgreift in eine Zukunft, die es historisch noch nicht gibt, also nicht
mit einem Denken und Verhalten, das hinter dem wissenschaftlichen Sozialismus
zurückbleibt.
Gelöst werden aber muß
diese Aufgabe. Denn die Alternative: "Sozialismus oder Barbarei" hat
sich verschärft zu der Alternative: "Sozialismus oder Untergang". Sie
ist nicht entschieden. Aber wir alle müssen sie entscheiden.
Eine Welt in Bewegung
(...) Wohin geht nun
die allgemeine Bewegung? Grundsätzlich läßt sich die Frage nach dem
Grundcharakter, oder vielleicht besser: nach der Grundaufgabe unserer Epoche
leicht beantworten: Aufhebung der Bestimmung der Menschheitsgeschichte durch
das spontan wirkende Selbstverwertungsinteresse des Kapitals, also Übergang zu
bewußt geplanter und gelenkter Produktion und Arbeit zum Gemeinwohl. Wird diese
Aufgabe versäumt, dann lautet die wahrscheinliche Alternative: Untergang
menschlicher Kultur in den Widersprüchen zwischen Kapital und Arbeit, wie sie
in den Globalproblemen zutage treten.
Diese Aufgabe ist
lösbar, wenn wir nicht resignieren und kapitulieren. Aber die Bewegung zur
Lösung dieser Aufgabe vollzieht sich in Widersprüchen, in einem Bergauf und
Bergab, mal mit dem Strom allgemeiner Meinung und Hoffnung, mal gegen ihn, mal
vor dem Winde, mal gegen den Wind kreuzend. Hier sind voreilige
Verallgemeinerungen täuschend. (...)
Inwieweit der
Imperialismus insgesamt friedensfähiger wird oder nur diesen Anschein erweckt,
während er seine Waffensysteme, seine Kräfte und seine Methoden
"innoviert" und dabei nur Verschlissenes preisgibt, ist eine offene
Frage.
In der Ökumene kam es zu einer bis
dahin nicht erreichten Homogenität in der Verwerfung der Kernwaffen. Sie war
zuerst 1950 vom Weltfriedensrat im "Stockholmer Appell" gefordert,
dann (1958) zugleich von der Christlichen Friedenskonferenz ökumenisch und von den
Kirchlichen Bruderschaften in beiden deutschen Staaten bekannt worden. Nun
wurde sie in Vancouver zum Bekenntniskonsens des Ökumenischen Rates der
Kirchen, dem Organ der weltweiten Christenheit. Mit diesem Bekenntnis verband
sich die Solidarität mit der verelendeten "Dritten Welt" zu einem
kräftigen Protest gegen die rücksichtslose Reorganistion des Imperialismus
unter Führung der USA. Aber fast unverzüglich kam es auch hier zur - nicht
konfrontativen, aber zielbewußt erweichenden und flexibel umlenkenden -
Gegenbewegung. Unter der Parole eines "konziliaren Prozesses" wurden,
in Anknüpfung an "Vancouver", viele mitgenommen auf einen Weg, der
zumindest in manchen Regionen, so auch in der DDR, in einem großen Bogen von
"Vancouver" weg in einen konziliaren Rückschritt führte: aus der
Öffnung der Christenheit für die Not und Probleme der weiten Welt zur immer
engeren Konzentration auf regionale, lokale, kirchliche und schließlich
individuelle "Betroffenheiten" - aus urbaner Solidarität in spießiges
Selbstmitleid. Die Gewichtsverlagerung der Polemik von Fragen imperialistischer
Hochrüstung auf Fragen individuellen Wehrdienstes, von Fragen nach dem
Lebensrecht von in Hunger und Slums verkommenden Massen auf das "Recht"
vergleichsweise sehr wohlsituierter "Andersdenkender", die DDR von
innen zu bekämpfen oder zu verlassen, ist dafür bezeichnend.
In dieser Haltung der Kirchen in der DDR zum "konziliaren
Prozeß" wirkten eine Reihe von Faktoren ungünstig zusammen:
1. Kirchenpolitische Maßnahmen, die mit
Recht darauf gerichtet waren, eine Kooperation von Staat und Kirche zu fördern
und keine Konfrontation zuzulassen, führten weniger zur Einbeziehung der
Kirchen in eine solidarische Mitverantwortung für Frieden und Abrüstung als
vielmehr vielfach dazu, daß starke kirchliche Kräfte den damit gegebenen
Spielraum egozentrisch klerikal ausnutzten, um die Belastbarkeit der
Vereinbarungen vom 6. März 1978 auszuloten. (Bei diesem Versuch zu probieren,
wieviel Provokationen die andere Seite erträgt, sind Kirchenzeitungen bereits
gelegentlich eingebrochen.)
2. Politische Schritte der BRD gegenüber,
die mit Recht darauf gerichtet waren, den Fortschritt der Entspannung, wie er
das Verhältnis zwischen UdSSR und USA in mancherlei Weise kennzeichnete, auch
für die Beziehung beider deutscher Staaten zueinander zu nutzen, ließen nie
ganz verschwundene nationalistische Ambitionen und Illusionen in der Kirche
wieder aufleben. Ein ganzes Stück der Verinnerlichung der Anerkennung völliger Souveränität
der DDR, die die Kirche ohnehin reichlich spät, nämlich erst seit 1968 nachgeholt
hatte, ging wieder verloren. Der "Lernprozeß" stockte, manche drehten
ihn zurück, andere resignierten oder kapitulierten dieser
"Gegenreformation" gegenüber. Diese Mängel fanden ihren Ausdruck
darin, daß "man" in der Kirche überwiegend alle Ergebnisse der
Politik zwischen beiden deutschen Staaten unreflektiert beurteilte, als würden
die eigenen Interessen von der BRD und nicht von der DDR vertreten. So wünschte
"man" in der Kirche (zum Teil politisch gedankenlos, zum Teil
politisch berechnend) eine "Öffnung" zum Westen, insbesondere solche
nationalistisch funktionierenden Kontakte, die Herr Kohl umso nachdrücklicher
"menschliche" nennt, je deutlicher er völkisch-politische meint. Daß
es "Kontakte" und "Öffnungen" gibt, die dem Frieden dienen,
und solche, die ihm schaden, wollte und will man nicht wahrhaben. Nicht
Friedenswille und Friedenseffekt soll Kriterium der "Öffnung" und der
"Kontakte" sein, sondern "Öffnung" und "Kontakte"
sollen Kriterium von Friedensliebe und Entspannungsbereitschaft sein: Politik
wird scheinbar zurückgenommen ins Private; in Wirklichkeit werden Privatinteressen
der Kirche zum Kriterium der Politik. Es ist kein Wunder, daß "man"
mit solcher Haltung Ausreiser anzog und in der Kirche begann, jede Abgrenzung
zu verteufeln. (Um alle Mißdeutungen auszuschließen: Privatinteressen sind
etwas anderes als persönliche Anliegen; nichts vom eben Geschriebenen richtet
sich gegen Familienbesuche und dergleichen.)
3. Mißverständnisse oder Mißbrauch von
Begriffen wie "neues Denken", "Glasnost" und
"Perestroika" ermöglichen eine gewisse Art von
"Probabilismus". "Probabilismus" nennt man die Lehre
einiger Jesuiten, etwas, was auch nur ein einziger Kirchenlehrer behauptet, sei
"probabel", das heißt: annehmbar, es dürfe also nicht als Irrlehre
oder Irrtum verworfen werden. Nun brachte es "Glasnost" mit sich, daß
man in der Sowjetunion nicht nur zurückkehrte zur Offenheit sozialistischer
Propaganda, sondern (gerade auch en masse für den fremdsprachigen Export)
unwidersprochen antikommunistische und antisowjetische Stimmen zu Wort kommen
ließ. Das wird nun in unserer Kirche und um sie herum weidlich ausgenutzt.
Berief man sich früher auf die "Stimme der freien Welt", dann war
jedenfalls klar, daß man sich auf Gegner des Sozialismus berief. Nun konnte man
sich auf etwas berufen, was in sozialistischen Ländern gedruckt wurde, die
weniger als die DDR dem auch propagandistisch aggressiven Imperialismus benachbart
sind. Wurde es dort kommentarlos publiziert, war es dann nicht auch hier
"probabel" - akzeptabel?
Es wurde zum
heuchlerischen Spiel: Mit dem Geigerzähler des Antikommunismus spürte man auf,
was einem, weil antikommunistisch, sympathisch war - und dann propagierte man
es, nicht als die Stimme von Gegnern, sondern als Stimme aus einem
sozialistischen Land. Den Höhepunkt markierte - auf der äußersten kirchlichen
Rechten - Superintendent Dr. Ulrich Woronowicz bei der diesjährigen
öffentlichen Tagung der "Lutherischen Arbeitsgemeinschaft in der
Berlin-Brandenburgischen Kirche" (...): "Wir brauchen heute, und das
ist das aufregend Neue in unserer Zeit, nicht mehr zu Anklägern gegen den
Marxismus zu werden. Er tut es selbst..."
II. Geschichte als
Problem
Geschichte, Fehler,
Recht und Unrecht
Emotional tiefer als
vieles andere haben zwei Kräfte die jüngere deutsche Geschichte geprägt - und
in und mit ihr den politischen Charakter der Christen: Antikommunismus und
Antifaschismus. Der Antikommunismus war deutsch-national und nazistisch
dominiert, aber keineswegs auf die Harzburger-Front-Parteien beschränkt. Der
Antifaschismus war besonders tief bei Kommunisten und Sozialdemokraten
verwurzelt, aber keineswegs auf sie begrenzt.
Beide Kräfte wirkten
nach der Befreiung vom Faschismus weiter. Die BRD entstand aus dem Geist des
Antikommunismus und restaurierte den deutschen Imperialismus. Die DDR entstand
aus dem Geist des Antifaschismus und beschritt den Weg zum Sozialismus. Die
Grenze zwischen beiden deutschen Staaten trennte die Hegemonie beider Ideen,
aber in der BRD blieb erfreulicherweise der Antifaschismus lebendig, und in der
DDR ist leider der Antikommunismus noch nicht tot. Der Kampf antifaschistischen
Geistes und antikommunistischen Ungeistes geht weiter. Unter anderem wird er
mit den Mitteln der Geschichtsschreibung geführt - übrigens in der
Kirchengeschichte analog zur Profangeschichte.
Dieser Kampf ist
legitim. Er ist ein Streit um das historische Erbe und um die aus der
Geschichte zu gewinnende Erkenntnis, wie künftig Geschichte zu machen ist. Aber
er hat seinen Preis. Ihn zahlt vor allem die jeweils nachwachsende Generation.
Sie möchte wissen, "wie es wirklich war". Aber um zu erkennen,
"wie der Kampf wirklich war", muß man in den Kampf eintreten. Nur wer
historisch handelt, versteht Geschichte. Nur wer Geschichte versteht - ich
meine damit gerade kein akademisches Verständnis -, kann verantwortlich
Geschichte machen. Dieser Zirkel löst sich nicht theoretisch, sondern nur im
Vollzug eines Lernprozesses, der Lehrgeld kostet. Dazu kommt die Bewegung des
zeitlichen Abstandes: Aus erlebter Geschichte wird erinnerte Geschichte - und
die Erinnerung ist selektiv. Aus erinnerter Geschichte und überlieferten
Dokumenten wird geschriebene Geschichte - und was an Dokumenten erhalten und in
Erinnerungen überliefert wird, ist auch eine Selektion. Und: mancher Streit der
Vergangenheit wird für die Gegenwart gegenstandslos; manch anderes Ereignis -
scheinbar bedeutungslos, als es sich ereignete - zeigt erst in der Gegenwart
seine Wirkung und sein Gewicht.
Man kann sich das am
leichtesten an der Kirchengeschichtsschreibung nach 1945 verdeutlichen.
Da stand in der
Kirchengeschichte am Anfang das "Heldenepos" - man nehme Wilhelm
Niemöller als Beispiel. Das war keine Verfälschung! Das war die zuerst einmal
nötige historische Beweisführung, daß die Bekennende Kirche gegenüber der
nazistischen Pseudokirche im Recht gewesen war.
Dann kam Baumgärtel
mit seiner "Kirchenkampflegende". Das gab sich als wahrheitsliebende
Demontage eines Mythos: Die Helden hatten Schwächen. War Martin Niemöller nicht
zuerst auf den Nazismus reingefallen? Hatten nicht viele tapfere Kirchenkämpfer
mit den Wölfen geheult? Aber es war eine Diskreditierung. Zielgerichtet: Die
Autorität derer sollte lädiert werden, die zeitgenössisch verzweifelt darum
kämpften, aus der bitteren Erfahrung Lehren zu ziehen und zu verhindern, daß
die Kirche noch einmal von vorne dort anfing, wo sie 1933 aufgehört hatte.
Dann kam die
"volkskirchliche Historiographie". Beispiele finden sich in der DDR
und in der BRD*. Auch
sie demontierten das Heldenepos. War es nicht begreiflich, daß so viele
Christen zu den Nazis gingen? Taten sie es nicht aus moralischen Gründen, um
weiterhin wirken zu können, um ihre Familien zu sichern, ja eigentlich um der
Kirche willen, um sie gegen die "weltanschaulichen
Distanzierungskräfte" zu erhalten? War nicht gerade unter diesem
Gesichtspunkt der Widerstand der radikalen BK geradezu unverantwortlich? Setzte
sie nicht die Kirche aufs Spiel? Lassen wir einmal die ganze
geistlich-theologische Problematik außer acht, daß die Kirche solange nicht um
ihre Selbsterhaltung kämpfen kann, wie sie sich darauf verläßt, daß nur die
Treue ihres Herrn sie gegen ihre eigene Untreue erhält, das heißt aber, solange
sie Kirche Jesu Christi ist - was bleibt dann übrig? Der Eindruck, daß
Historiker, mehr dem Zug der Zeit folgend als ihr eigenes Bewußtsein kritisch
bildend, vielmehr sich "den neuen Verhältnissen" anpassend, nur allzu
viel Verständnis aufbringen für die "Mitläufer der NSDAP", läßt sich
im Blick auf diese Art Historiographie nur schwer unterdrücken.
Und dann kam der
Gegenschlag. Nun bemängelten die Erben
der Bekennenden Kirche den Nachlaß. Was sie brauchten, hatten die Väter ihnen
nicht hinterlassen. Kriterium war nicht mehr, was damals möglich war, sondern
zum Maßstab wurde, was heute nötig wäre. Warum haben wir kein Wort der
Bekennenden Kirche zum Faschismus, was theoretisch so richtig, praktisch so
konkret ist, daß von der Kommunisten- bis zur Judenfrage, von der Analyse der
sozialökonomischen Wurzeln des Faschismus bis zur Kritik aller Erscheinungen
bis heute "alles stimmt"? Und dies Wort hätte dann wohl auch noch zu
seiner Zeit wirksam sein, ja eigentlich den ganzen Faschismus beseitigen sollen.
Nun, die Antwort darauf, warum es dieses Wort nicht gibt, ist einfach: Weil
auch die Klarsichtigsten und Mutigsten in der Bekennenden Kirche den Faschismus
erst im Kampf gegen ihn erkannten - und weil überdies, eben weil sie in ihrer
Erkenntnis anderen voraneilten, der Abstand zu denen immer größer wurde, die
sie auf ihrem Wege hätten mitnehmen müssen, um wirksam zu werden. Aber auch,
wenn man dieses "Warum?" - warum gab es keine bessere Bekennende
Kirche? - nicht kausal, sondern final versteht, ist die Antwort sehr einfach
und noch existentieller: darum, damit wir nicht ein Erbe empfingen, auf dem wir
uns ausruhen könnten, sondern ein Erbe, das uns fordert und in Bewegung setzt
auf dem Weg, den unsere Väter bahnten, ein Erbe, mit dem wir arbeiten, um das
wir ringen, das wir mehren und verbessern müssen, damit auch wir noch eine
Aufgabe haben.
Und wird man etwa
einst von uns sagen, wir wären besser gewesen als unsere Väter, auch wenn man
uns nur an dem mäße, was wir heute tun können und tun, nicht daran, was eine
Generation nach uns gern als unser Erbe empfangen möchte?
Heldenepos -
Bloßstellung der Helden durch die Erben ihrer Feinde - Überforderung der Helden
durch ihre berufenen Erben angesichts deren eigener Bedürfnisse in einer neuen
Zeit -: das alles ist kein Zugang zur Geschichte, aus dem der Mut und die
Einsicht gewonnen wird, deren es bedarf, um selber Geschichte zu machen.
Wer Geschichte
verstehen will, der muß fragen: Was konnte
in einer Epoche getan werden, was mußte
getan werden, was wurde getan? Welche
Kräfte haben die Aufgaben ihrer Zeit gesehen und zu erfüllen versucht, welche
Kräfte haben sie daran zu hindern gesucht? Wer war im Recht, und wer war im
Unrecht? Und dann stellt sich die
Frage: was haben die, die im Recht waren, für die man Partei nehmen muß,
richtig, was haben sie falsch gemacht, wie können wir als ihre Erben lernen,
ihre Sache fortzuführen und ihre Fehler zu vermeiden?
Geht man an die
Geschichte des Kirchenkampfes so heran, dann wird man für die Bekennende Kirche
und gegen die nazistische Pseudokirche Partei nehmen. Denn bei ihr wird man die
Ansätze finden, Aufgaben zu lösen, vor denen die Kirche in unserer Epoche
steht.
Erstens die Ansätze zur Lösung des Säkularisationsproblems: die endgültige
Befreiung aus der Säkularisierung der Kirche und aus der Klerikalisierung der
Welt - sei es im Stil des corpus christianum und seiner theologischen
Widerspiegelung im Gedanken der auf die Natur aufbauenden Gnade; sei es im Stil
des Bündnisses von Thron und Altar und seiner theologischen Widerspiegelung in
der Anknüpfung des Evangeliums an ein natürliches Gesetz, das die Kirche im
Namen Gottes und zum Wohl der Fürsten den Untertanen einschärft; sei es im
Sinne des "christlichen Staates" der Konservativen oder im Sinne der
"christlichen Welt" der Liberalen; sei es im Geiste des politischen
Klerikalismus, ob er sich nun durchsetzen möchte mittels einer
"christlichen Kulturmehrheit" oder mittels einer "christlichen
Partei", oder sei es auch - auf der anderen Seite der gesellschaftlichen
Barrikade - im Geiste eines "christlichen" oder religiösen,
jedenfalls nicht wissenschaftlichen, Sozialismus.
Zweitens Ansätze zur Lösung des Religionsproblems: das Zuendeführen des
biblischen Ansatzes und der reformatorischen Erkenntnis, daß das Evangelium uns
nicht als Fromme und Gerechte an die Seite aller Religiösen, die vor ihren
Göttern fromm und gerecht sein möchten, und gegen diejenigen stellt, die sie
"gottlos" nennen, sondern daß es uns umgekehrt in die
"christliche Solidarität mit dem Gottlosen" (Heinrich Vogel) führt;
das theologische Nachdenken darüber, was es bedeutet, allen Göttern und der Sehnsucht abzusagen, sich vor
Gott selbst zu rechtfertigen; die Absage an den Bindestrich in dem Begriff, der
alle bürgerliche Religion bestimmt und "Positive" mit
"Liberalen" und "Klerikalen" vereinigt, in dem Wörtchen
"religiös-sittlich".
Drittens Ansätze zur Lösung des Problems einer politischen Ethik für Christen - nicht
einer christlichen Ethik für Politiker: Die Erkenntnis, daß Christen in der
Nachfolge dessen, der vom Himmel auf die Erde kam, in die Profanität geführt
werden und nicht zu religiösen, sondern zu profanen guten Werken berufen sind,
die in der Politik nach menschlicher Einsicht und menschlichem Vermögen
für Recht und Frieden geschehen sollen,
so wie auch solche sie tun können und tun, die den Herrn nicht kennen, der sie
schenkt.
Wenn man dankbar Erbe
dieses Lernprozesses ist, der in der Bekennenden Kirche begann und sich
vollzog, dann wird man die Widersprüche entdecken, die auch innerhalb der Bekennenden
Kirche Motor dieses Lernprozesses waren. Dann wird man den
klerikalfaschistischen Flügel in der BK von dem reformatorischen Flügel in ihr
unterscheiden können, wird auf Seiten derer, die als radikaler Flügel "um
Gott eiferten", stehen, mit ihnen um die Reinheit und Einheit der
Bekennenden Kirche noch nachträglich bangen - und zugleich sehen, wo etwa sie
"mit Unverstand" eiferten und wo sie noch die Eierschalen ihrer
eigenen deutschnationalen, konservativen oder klerikalen Herkunft trugen - und
unter Schmerzen abstreiften. Man wird weder von ihnen verlangen, sie hätten
schon leisten müssen, was heute unsere Aufgabe ist, noch wird man sie als
Halbgötter oder Heroen verehren oder verlästern. Vielmehr wird man dankbar sein
für das, was Gott durch diese armen Sünder getan hat und sich zu den Sünden
bekennen, die als Last auf ihrem Erbe liegen.
Muß ich die Analogie
ausziehen von der Kirchengeschichte zur politischen Geschichte?
"Was ihr wollt,
daß euch die Leute tun, das tut ihnen auch" (Matth. 7,12). Wie ich die
Geschichte meiner Kirche, so muß ein Kommunist auch die Geschichte seiner
Partei sehen dürfen: dankbar, positiv, als Aufgabenstellung für sich selbst - und kritisch, aber nicht nihilistisch,
skeptisch, geschichtslos.
Ich denke, das etwa
Vergleichbare zu vergleichen, ist nicht meine Sache. Aber im Begriff der
Analogie ist auch ein Element der Unähnlichkeit enthalten. Und dazu bedarf es
noch einiger Worte.
Schuld - Reue - Busse
Ich habe das
Entscheidende weggelassen, als ich beschrieb, wie ich den Kirchenkampf historisch
verstehe. Er war zuerst - und ist
zuerst! - ein Kampf um die Buße, um die Reformation der Kirche.
"Reformation" heißt, daß die Kirche zurückfindet zu der
"Form", die ihr vorgegeben ist, indem Gott selbst die "Form
eines Sklaven" angenommen hat (Phil. 2,7), zu der "Form" des
erniedrigten und gekreuzigten Christus, dem sie unter dem Kreuz nachfolgen ,
für den sie keine Kreuzzüge führen soll. In der Reformation der Kirche geht es
um ihre Conformation mit ihm, um die conformitas Christi - und sie ist sein Werk, nicht das Werk der Kirche.
Der Kirchenkampf ist die Reformation des zwanzigsten Jahrhunderts in den
deutschen Kirchen. Und dieser Reformation, die uns geschenkt wurde, haben sich
unsere Väter immer wieder entzogen, und ihr entziehen wir selber uns immer
wieder: Das ist unsere Schuld!
Im Unterschied zu
historischen Epochen, die an dem zu messen sind, was ihnen als Aufgabe
aufgegeben war, wird die Kirche daran gemessen, was sie aus den Gaben und mit
den Gaben gemacht hat, die Gott ihr für andere gegeben hat: ob sie das
Evangelium, das wahre Zeugnis für ihre Nächsten, weitergegeben oder
unterschlagen, für sich selbst behalten, als Schatz im Acker vergraben hat. Für
uns gilt in der Tat: "Wenn ihr solches alles getan habt, sollt ihr
sprechen: wir sind unnütze Knechte." (Luk. 17,10) So gesehen ist die
Geschichte der Bekennenden Kirche die Geschichte des Propheten Jona.*
Und daß Gott mit ihr getan hat, was er
wollte, und sie denn doch nicht mit Gott machen konnte, was sie wollte - das ist die Freude der
Buße, die Freude des begnadigten Sünders, wenn er dem Gott, der Untreue mit
Treue vergilt, Recht gibt.
Und nun verführen sich
manche, die sich für Christen, und
andere, die sich für Kommunisten halten, gegenseitig.
Christen verführen
Kommunisten dazu, die Diesseitigkeit der Geschichte ihrer Revolution zu
transzendieren, unbemerkt theologische Begriffe, transportiert über eigene sich
unvermerkt zurückmeldende Religiosität, auf den Existenzbezug in ihrer
Parteigeschichte anzuwenden, Fehler - oft mörderische Fehler und bitteres
Unrecht; ich will das nicht bagatellisieren - als Sünden, Fehlerkorrektur als
Buße, Unrechtserkenntnis als Reue zu verstehen und statt Vernarbung (wie weise
war doch Bonhoeffer mit dieser Unterscheidung in seiner Ethik (S. 20*
) Vergebung als historische Kategorie anzusehen.
Das kann nur im
Revisionismus enden. Denn nicht die Buße führt zu Christus, sondern Christus
führt zur Buße. Wo das Christusbekenntnis: Du bist meine Gerechtigkeit! nicht
das Sündenbekenntnis trägt, lauert die Verzweiflung - und politisch kann sie
nur zu Opportunismus führen.
Und weil sie das tut,
verführen nun die so verführten, man muß wohl sagen: ehemaligen, Kommunisten
wiederum die Christen, das als "Missionserfolg" zu feiern, was unter
anderem Folge ihrer glaubenslosen antikommunistischen Kreuzzüge ist. Und damit
verführen sie uns zu geisttötender Selbstgerechtigkeit.
Und dann feiert sie
Triumphe, die "höllische Verwirrung", von der Luther einmal sprach,
die Vermischung von "Religion und Politik". Dann werden Kategorien
aus der Kirche in die Gesellschaft übertragen. Die Reklerikalisierung greift
sozusagen nach dem Säculum selbst: sie möchte das Weltliche gerade als
Weltliches zur Sache der Kirche machen. Nicht mehr um Gottes Wort sammelt sie
sich, sondern um weltliche Programme. Da werden Revolutionen betrachtet, als
sollten es Reformationen sein. Da wird von Buße, Umkehr, Reue geredet, als sei
das eine brauchbare Terminologie zur Erzielung politischer Erfolge. Da werden
Begriffe wie Vergebung, Vertrauen, Glauben und Feindesliebe behandelt, als
seien das unvermittelt Kategorien dieser Welt. Das ist nicht Glaube gegen den
Augenschein, sondern Enthusiasmus gegen das Wort vom Kreuz.
Wenn ich mahne, das
Regiment Christi vom politischen Regiment zu unterscheiden, geht es mir nicht
um eine Trennung, etwa mit dem Ziel eines "apolitischen
Christentums". In der Tat: Das befreiende Geschenk der Buße, wie es uns
durch Martin Niemöllers Predigt nach 1945 zukam und im Darmstädter Wort
formuliert wurde, traf uns Christen in unserer politischen Verantwortung als
politische Sünder! In der Politik hatten wir in einer vermeintlich "christlichen"
Front gegen die vermeintlich "gottlose" Welt das Unsere gesucht und
so die Liebe verleugnet, die "nicht das Ihre sucht" (1. Kor. 13,5),
sondern "der Stadt Bestes" (Jer. 29,7). Sollen wir nun Buße für
unsere Buße tun?
Hundert Jahre lang
haben wir den Marxismus bekämpft, weil er, statt die Augen vor dem Klassenkampf
zu verschließen, dessen Opfer aufrief, diesen Kampf aufzunehmen. Hundert Jahre
lang haben wir "soziale Verantwortung" geübt, über "arm und
reich" reflektiert, die Reichen ermahnt, die Armen getröstet und Almosen
vermittelt - aber das Wort "Kapital" mochten wir nicht hören, und das
Wort "Enteignung" noch weniger (schon eher das Wort "Reprivatisierung").
Hundert Jahre haben die weitsichtigsten unter unseren Vätern, wenn sie schon
den Kontakt zur Arbeiterbewegung aufnahmen (darum outsider in ihrer Kirche),
diesen Kontakt nicht zu deren revolutionärem und prinzipienfesten Flügel
gesucht, sondern den revisionistischen und reformistischen Flügel gestärkt.
Dafür hat die Kirche den Preis gezahlt, daß dann viele Christen auf die
"NS-Volksgemeinschaft" hereingefallen sind, weil sie sie für das Ende
des Klassenkampfes und den wahren Sozialismus hielten. Und tatsächlich tobte
der Klassenkampf härter denn je.
Und nun soll das
unsere Buße sein, daß wir bereuten, wir hätten des Klassenkampfes zu viel
getan? Das soll Buße heißen, wenn unsere Kirche eine Kehrtwendung vollzieht,
bei der sie genau dort wieder landet, von wo sie 1968/9 im
"Lernprozeß" aufgebrochen war? Beim Ruhm des Revisionismus? Bei der
Meinung, wahrer Sozialismus sei Utopie und realer Sozialismus Bürokratie?
Kein Zweifel: Auch in
Revolutionen fließt unschuldiges Blut, und das ist schlimm. Weit schlimmer ist
allerdings fast immer das Elend von Blut und Tränen, das zu den Revolutionen
führt und in ihnen aufgehoben wird. Wenn man aber konkret denkt, und nur konkret
gibt es ein Geschichtsbewußtsein, dann liegt doch am Tage, daß gerade die
Revolution in der DDR, wahrscheinlich zum einen, weil sie von außen geschützt
wurde, und zum anderen, weil sie von Revolutionären geführt wurde, die auf eine
lange Geschichte eigener und fremder revolutionärer Erfahrungen zurückblickten
und aus ihr zu lernen vermochten, eine der unblutigsten in der Geschichte war.
Natürlich gibt es
Fehler sozialistischer Politik - sehen wir zu, daß wir keinen machen, indem wir
zu sehr nach solchen suchen! Sozialistische Politik wäre sonst ja keine
menschliche, sondern himmlische Politik. Es gibt sogar schwerwiegende und
lebensgefährliche Fehler. Was leidet mehr darunter als der Sozialismus? Es ist
gut, Fehler oder Unrecht zu erkennen und zu korrigieren, und es ist gut, an
unschuldigen Opfern einer Revolution wieder gut zu machen, was noch gut zu
machen ist. Aber dabei geht es nicht um Buße und Reue, sondern um Selbstkritik
und Fehlerkorrektur.
Buße heißt:
"Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten in der Kraft des Todes und der
Auferstehung Jesu Christi" (Darmstadt). Reue heißt, in der Liebe Gottes
die Selbstliebe preisgeben, nicht, weil man sein Ziel nicht erreicht hat,
sondern weil man ein falsches Ziel hatte: das eigene Heil statt der Ehre
Gottes. Und Reformation - ich sagte es schon - heißt Konformität mit dem
gekreuzigten Christus. Sollte das das Ziel von Revolutionen sein sollen, sein
können, sein dürfen? Da geht es um die Verbesserung von Lebensverhältnissen der
Menschen in dieser Zeit und Welt.
Eine gesetzliche
Kirche hat Menschen zuweilen dazu verführt, erdichtete Sünden zu bekennen, um
dem Ideal eines bußfertigen Sünders zu entsprechen. Hat die neue Gepflogenheit,
Kommunisten nicht nur auf die Anklagebank zu setzen, sondern ihnen auch noch
gleich die Verteidigung zu verbieten: wenn ihr der Anklage widersprecht, dann
seid ihr nicht selbstkritisch, sondern "Betonköpfe" und der
Selbstrechtfertigung schuldig, etwa hier oder da Wirkung gezeigt? Die
Abrechnung eigener oder ererbter Schuld ist eine nüchterne und realistische
Sache. Etwas für eine Schuld zu halten, was keine Schuld ist, ist ebenso
verkehrt, wie etwas für gerecht zu halten, was ungerecht ist. Sich Schuld
zuzurechnen, die man gar nicht hat, ist Skrupulosität. Sie verleitet nur dazu,
der Verantwortung auszuweichen, die man wirklich trägt. Es gibt zuweilen einen
Ausbruch moralischen Bewußtseins sozusagen nach hinten, in die Form einer
Vergangenheitsbewältigung hinein, die den Blick nach vorn trübt und daran
hindert, worauf es ankommt: um der Zukunft willen die Probleme der Gegenwart zu
lösen.
Wir Christen sollten,
wo gute Freunde verunsichert sind, weil sie der sozialistischen Revolution
wegen Schuldgefühle entwickeln und uns darum schwach erscheinen, sie gerade
nicht für ideale Opfer einer religiösen Vergewaltigung halten. Man denke an
das, was Bonhoeffer dazu aus dem Gefängnis geschrieben hat. Wir sollten sie
nicht in einer Reu- und Bußstimmung bestärken, die Gegner ihnen aufschwätzen
und die mehr mit Kapitulation als mit der Freude der Buße zu tun hat. Die
Freude der Buße macht nicht schwach, sondern stark. Wir sollten schwankende
Freunde vielmehr trösten. Wenn wir das in geistlicher Freiheit fertigbrächten,
dann wäre das eine Probe aufs Exempel des Ernstes unserer eigenen Buße.
Warum sollten wir uns
nicht freuen und unseren Mitmenschen Freude vermitteln, daß wir vor schweren
Aufgaben stehen? Das ist doch eine Herausforderung. Wir alle müssen Probleme lösen,
die uns ganz fordern, vielleicht sogar überfordern. Da sollte einfach keine
Zeit sein für Weltschmerz oder Verzweiflung.
Wir müssen die
vielleicht schwerste Aufgabe bewältigen, vor der die Menschheit bisher in ihrer
Geschichte stand: nämlich lernen, als Gattung zu leben, die sich selber als
Gattung umbringen kann. Wir müssen das sozialistische Volkseigentum so
entwickeln, daß wir nicht erdrückt werden von dem Reichtum der
imperialistischen Länder, den sie den Ärmsten rauben. Wir müssen die Wege
finden, auf denen die "Dritte Welt" sich wehren und sich befreien
kann, ohne im Freiheitskampf mit ihren Ausbeutern und Unterdrückern zugleich
zugrunde zu gehen. Wir müssen diesen mörderischen ökonomischen und politischen
Kampf so führen, daß er weder in einen Krieg mündet noch die Natur so ruiniert,
daß kommende Generationen keine bewohnbare Umwelt mehr haben, in der sie leben
können.
Mag sein, daß wir die
eine oder andere Position räumen müssen, mag sein, daß wir das eine oder andere
Opfer bringen müssen, das uns schwer fällt - leichtfertig preiszugeben haben
wir nichts. Und Christen sollten in dieser Situation mobilisieren und nicht demobilisieren.
Denn es geht um Leben, Frieden, Recht und Freiheit. Mag sein, daß es Gott
gefällt, der Weltgeschichte morgen ein Ende zu setzen. Das entbindet uns nicht
von der guten, wahren und schönen Aufgabe, heute für diese Welt dazusein, die
Gott so geliebt hat, daß er seinen Sohn für sie gab.
Meine politische Option
hier und heute
Weil ich in unserer
Zeit für die Menschheit keine Zukunft sehe, es sei denn, an die Stelle der
spontanen Wirkung des Selbstverwertungsinteresses des Kapitals träte eine bewußte
Planung und Lenkung der Geschichte, weil ich zur Planung und Lenkung der
Geschichte in diesem Sinne nur die befähigt sehe, die gelernt haben, die
Geschichte wissenschaftlich, historisch-dialektisch und materialistisch zu
verstehen, und weil ich als ersten Brückenkopf zukünftiger
Produktionsverhältnisse die Länder sehe, die wegbereitend ihre Erfahrungen
sammeln für eine Arbeitsorganisation ohne Ausbeutung, gestützt auf das
Volkseigentum an Produktionsmitteln, darum votiere ich nach menschlicher Einsicht
für die Realisierung des Sozialismus nach menschlichem Vermögen aus Sorge für
Recht und Frieden. (...)
Die politische
Verantwortung der Kirche
Da die Kirche die
Versammlung der Glaubenden um das Evangelium ist und nicht die Versammlung
politischer Gesinnungsgenossen um ihr Parteiprogramm, da sie auf dem Konsens im
Bekenntnis zu Jesus Christus und nicht auf einem Konsens hinsichtlich der
Erkenntnis von Natur und Geschichte beruht, lebt sie nicht von einem
politischen Konsens ihrer Glieder, sondern muß gegebenenfalls deren politischen
Dissens ertragen (hier ist das Wort "Toleranz" am Platze). Schlimm
ist es, daß gegenwärtig in unserer Kirche faktisch in viel höherem Maße ein
"consentire", ein Übereinstimmen, hinsichtlich politischer Grundhaltungen
als hinsichtlich des Evangeliums zu spüren ist, ja, daß es zuweilen so scheint,
als kenne ihre theologische Toleranz gar keine Grenzen mehr, während sie
politisch immer intoleranter wird.
Alles, was ich zur
Begründung dafür, warum ich im Ernstfall für den Kommunismus votiere, bisher
gesagt habe, war meine politische Einsicht. Es kann und soll nicht zur Option
der Kirche werden, ebensowenig wie eine andere oder gegenteilige Einsicht. Die
Vielfalt der politischen Meinungen in der Kirche stößt nur an einer Stelle auf
eine vom Bekenntnis gesetzte Grenze: dort, wo nicht mehr Recht und Frieden
Kriterium der politischen Einsicht und des politischen Handelns sind, wo zum
Beispiel im Blick auf politisches Handeln Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit,
Individualrechte, Rede- und Schreibfreiheit, Freizügigkeit oder was immer nicht
mehr daran geprüft werden, wie sie der Sorge für Recht und Frieden dienlich
oder hinderlich sind, sondern wo umgekehrt an ihnen gemessen wird, was Recht
und Frieden sei.
Hier nun ist es
unvermeidlich, an die politische Verantwortung der Kirche, insbesondere an die
Verantwortung von Kirchenleitungen und in der Kirche Tonangebenden zu erinnern.
Ich weiß, auf wie empfindliche Ohren meist "Schuldzuweisungen" treffen.
Aber man kann nicht zur Umkehr von einem Irrweg rufen, ohne den Irrweg beim
Namen zu nennen, und wer sich auf diesem Irrweg verrannt hat, wird das als
"Schuldzuweisung" hören.
Was ein paar hundert
jugendbewegte Romantiker nach der Melodie Rilkes "Frühling auf allen
Fährten und nirgends ein Ziel" veranstalten, steht auf einem Blatt. Auf
dem anderen Blatt steht, was Kirchenleitungen daraus machen. Wie ungebildet
immer sie politisch sein mögen (oder wie verbildet
immer, wenn sie ihre politische Bildung in Berlin bei Repräsentanten
imperialistischer Länder abholen), sie verfügten immerhin über die Erfahrung
eines ganzen Lebens. Bei einigen von ihnen reicht es bis in die Zeit des
Faschismus und der Befreiung von ihm zurück. Und sie haben eine Verantwortung
übernommen, für die sie geradestehen müssen.
Viele dieser
Kirchenleitungen haben - abgestuft aktiv, zum Teil sicher auch gegen den Widerstand
Besonnener in ihren eigenen Reihen - folgende Politik zugelassen und zum großen
Teil zielgerichtet betrieben: Sie unterstützen eine hemmungslose - das Wesen
der Sache von Selbstkritik in Selbstzerfleischung umkehrende -
"Perestroika"-Propaganda in der DDR gegen die DDR gewendet. Sie
fragten nicht danach, ob mit dieser Propaganda jeweils konkret eine Entwicklung
oder eine Diskreditierung des Sozialismus bezweckt sei (beides kommt vor!).
Aber sie zeigten, daß sie es begrüßten, wenn solche abstrakte
"Perestroika-Demagogie" - die von den sozialistischen Prinzipien und
Zielen, denen sie laut Gorbatschow dienen soll, nichts wissen will -
Unsicherheit, Ängstlichkeit und Minderwertigkeitskomplexe in fortschrittliche
und halbfortschrittliche Kreise brächte und sie hemmte, ebenso selbstbewußt wie
selbstkritisch mutig und offensiv bei ihrer Sache zu bleiben und nicht zu
kapitulieren. Sie schienen zu meinen, wenn es dadurch zu einer Konfrontation
zwischen Kirche und Staat käme, sei das nicht so schlimm: man könne dem Staat
dann ja "Betonköpfigkeit" vorwerfen. Noch besser schien es ihnen
jedoch anscheinend, wenn die DDR vor dem "Neuen Geist" einer
"Neuen Zeit"*, die sie
propagierten, und der doch nur der alte Geist des Antikommunismus in neuen
Flaschen ist, die sie schwindlerisch mit dem Etikett "Perestroika"
überklebten, zurückwiche, Schleusen öffnete, schließlich kapituliere.
Wenn wirklich die
Gefahr bestünde, daß die DDR entweder hinter den wirklich neuen Anforderungen
unserer Zeit zurückbliebe oder daß sie wirklich den Sirenenklängen von
"sozial(istisch)er Marktwirtschaft" und "Pluralismus" (wie
man in der Moskauer "Neuen Zeit" davon lesen und in Ungarn etwas davon
sehen kann) erläge, dann geböte es die Redlichkeit zu sagen: genau das haben
nicht nur irgendwelche wildgewordenen "Gruppen" angerichtet, sondern
genau das haben Verantwortliche in unseren Kirchen zielgerichtet forciert.
(...)
Disputation in der Redaktion (1989)
Fehler und Schuld
von Christian
Stappenbeck
Christen sollen
Kommunisten nicht dazu verführen, "die Diesseitigkeit der Geschichte ihrer
Revolution zu transzendieren" (S. 128), und ich stimme dem zu. Christen
dürfen Kommunisten aber auch nicht durch den Hinweis auf 'theologische
Besetztheit' bestimmter Begriffe wie Schuld und Reue davon abhalten, die Schuld
in ihrer eigenen revolutionären Geschichte zu erkennen und Fehler zu
diskutieren mit dem Ziel, ihre Wiederholung zu vermeiden. (Die Maxime
"keine Fehlerdiskussion" gilt ja allenfalls im akuten Gefecht, aber
nicht als Langzeitlosung für Jahrzehnte.)
Schuld und Reue und
Buße sind zwar theologische Kategorien, aber vergessen wir nicht, daß ihre
säkulare Bedeutung älter ist als ihr theologischer Gebrauch.
Die KPD hat in ihrem
programmatischen Aufruf 1945 den Zusammenhang von Fehlern und Schuld - ohne ihn
ausdrücklich zu erörtern - doch wohl gespürt, als sie den selbstkritischen Satz
formulierte: "Wir deutschen Kommunisten erklären, daß auch wir uns schuldig
fühlen, indem wir es ... infolge einer Reihe unserer Fehler nicht vermocht
haben, die antifaschistische Einheit ... zu schmieden ... und jene Lage zu
vermeiden, in der das deutsche Volk geschichtlich versagte."
Mit dem Bild des
Gerichtsverfahrens (S. 110) hat Hanfried Müller den Tatbestand verdeutlicht,
daß eine Prozeßpartei, die im Recht ist, wohl alles mögliche falsch machen,
sogar den Prozeß verlieren kann, und dennoch darum nicht im Unrecht ist, nur
weil sie verliert. - Gewiß: die unterlegene Partei lädt in solchem Fall nicht
gegenüber der unrechtmäßig obsiegenden Partei Schuld auf sich. Etwas anderes
ist es aber um die Rolle des Rechtsanwaltes der unterlegenen Partei. Wenn er
durch fehlerhafte Auftragsausführung seinem Mandanten schadete, wenn er durch
ungenügende Beratung, schlechte Sachkenntnis oder eitle Selbstüberschätzung die
Niederlage verschuldete, ist die moralische Kategorie der Schuld ja nicht ganz
abwegig.
So können auch,
analogerweise, die Fehler einer revolutionären Partei im Klassenkampf, sofern
sie eine bestimmte Quantität überschreiten, umschlagen in Schuld. Nicht Schuld
gegenüber der Reaktion - das wäre derselbe Trugschluß, wie wenn man den
Friedenskräften wegen nicht optimaler Kampfführung unrecht gäbe gegenüber den
Initiatoren und Beifallspendern einer gelungenen Aufrüstung -, sondern in
Schuld vor den Massen, deren legitime Interessen sie bestmöglich vertreten
sollten.
Also
konkret-historisch: Waren es Fehler oder war es eine Schuld kriminellen
Ausmaßes, wenn vor dem hitlerfaschistischen Einfall in die Sowjetunion die
Stalinsche Führung das Gros der Generalität der Roten Armee umbrachte und die
Sicherung der Westgrenze voluntaristisch unzulänglich organisierte? Waren es
Fehler oder eine Schuld, wenn die Rákosi-Gerö-Führung in Ungarn sich von den
Volksmassen, von den Bündnispartnern elitär isolierte und die nötigen Reformen
(Revision von Fehlern ist ja nicht "Revisionismus") bis zum
gewaltsam-blutigen Austrag der Widersprüche hinausschob?
Fehler kann die sich
entwickelnde Gesellschaft im Vorwärtsschreiten überwinden - sind aber Fehler
umgeschlagen in geschichtliche Schuld, geht es mit der Bewältigung so leicht
nicht.
Schuld und Vernarbung
von Hanfried Müller
Recht und Unrecht,
Fehler, Verfehlungen, moralische, rechtliche, politische und historische Schuld
- das kann man gewiß nicht fein säuberlich trennen. Darin hat Christian
Stappenbeck sicher recht. Man sollte es freilich auch nicht
durcheinanderbringen. Unter anderem davor wollte ich warnen, denn dies scheint
mir heute die akutere Versuchung zu sein.
Dabei geht es mir
überhaupt nicht darum, historische Personen zu entschuldigen oder zu
beschuldigen. Auch negativer Personenkult verkennt die Geschichte. "Schuld
kriminellen Ausmaßes" klingt gut in einer Anklageschrift; im Blick auf die
Geschichte, das hat Christian Stappenbeck recht, wiegt historische Schuld viel
schwerer. Sie ist leicht zu erkennen im Blick auf die physische Vernichtung
gegen Stalin opponierender oder ihm gegenüber kritischer Kommunisten. Komplizierter
zum Beispiel ist bereits die mangelhafte Sicherung der sowjetischen Westgrenze.
Sie wirkte verhängnisvoll. Aber wenn nun der Beginn ihrer stärkeren Sicherung
dazu geführt hätte, daß man bis heute mit einem Schein von Recht behaupten
könnte, der Überfall sei ein klassischer Präventivschlag gewesen? Diese Frage
bleibt sogar im Rückblick schwer entscheidbar.
Selbstverständlich
kann man nicht nur über historische Fehler diskutieren, man muß es sogar, um
aus der Geschichte zu lernen. ("Fehlerdiskussion" meint ja etwas
anderes, nämlich daß man Fehler so thematisiert, daß sie nicht überwunden,
sondern daß Gemeinschaften gespalten werden; sie ist oft nicht so
unpolitisch-moralisch, wie sie sich gibt, sondern dient unter Umständen
verheimlichten politischen Zwecken.) Kritische Aufarbeitung der eigenen
Geschichte, in der man die Errungenschaften und Versäumnisse erkennt, fällt für
mich nicht unter das Verdikt: "Fehlerdiskussion". Aber ich finde es
bedenklich, wenn sich an Fragen der Vergangenheit statt an Aufgaben der
Gegenwart ein Pro und Contra profiliert, an dem sich die Geister zu scheiden
scheinen. Woher kommt diese Leidenschaft, mit der die Historie moralisiert
wird? Kann es dabei ausbleiben, daß dann alsbald umgekehrt die Moral
historisiert wird, nicht mehr auf das zielt, was wir zu tun haben, sondern auf das, was andere getan haben? Gerade für jemanden, der wie ich in einer
Schulddebatte politisch mündig geworden ist, haftet so mancher
"Schuld-und-Reue-Debatte" heute etwas Unechtes und Ungerechtes an.
Vielleicht kann ich
mit zwei etwas längeren Reminiszenzen an Bonhoeffers ethische Fragmente
deutlich machen, worum es mir eigentlich geht:
Da spricht Bonhoeffer
einmal (E., S. 208*)
von den "Gesinnungstüchtigen", die den Zeitpunkt verpaßt haben,
"den ihnen die Geschichte bot, sich in den Zeiten der gesellschaftlichen
Umbildung unter dem Eindruck des ethischen Themas nicht nur durch Gesinnung,
sondern auch durch Lebensleistung zu qualifizieren":
"Das krampfhafte
Festhalten des ethischen Themas in der Gestalt der Moralisierung des Lebens ist
die Folge der Furcht vor der Fülle des täglichen Lebens und des Bewußtseins der
Lebensuntauglichkeit, es ist die Flucht in eine Position neben dem wirklichen
Leben, von der aus man nur noch überheblich und neidisch zugleich auf das Leben
sehen kann."
Wichtiger noch als die
Abwehr solcher Moralisierung der Geschichte - "des Lebens" - ist mir
die Stelle, an der Bonhoeffer zeigt, wie er geschichtliche Schuld in der
Hoffnung auf Vernarbung sieht:
"So tragen Völker
das Erbe ihrer Schuld, und doch kann es durch Gottes gnädiges Regiment in der
Geschichte geschehen, daß das, was im Fluch begann, den Völkern endlich zum
Segen wird. ... Damit wird zwar die Schuld nicht gerechtfertigt, nicht aufgehoben,
nicht vergeben, sie bleibt bestehen, aber die Wunde, die sie riß, vernarbt.
Während es für die Kirche und für den einzelnen Gläubigen nur einen völligen
Bruch mit der Schuld und einen Neuanfang geben kann, der durch die Vergebung
der Sünde geschenkt wird, kann es im geschichtlichen Leben der Völker immer nur
um den allmählichen Heilungsprozeß gehen ... Die Kontinuität mit der
vergangenen Schuld, die im Leben der Kirche und der Gläubigen durch Buße und
Vergebung abgebrochen wird, bleibt im geschichtlichen Leben der Völker erhalten.
Nur darauf kommt es an, ob die vergangene Schuld tatsächlich vernarbt ist ...
Es wird hier auf die volle Sühne des geschehenen Unrechts durch den Schuldigen
Verzicht geleistet, es wird erkannt, daß das Vergangene durch keine menschliche
Macht wiederhergestellt, daß das Rad der Geschichte nicht mehr zurückgedreht
werden kann. Nicht alle geschlagenen Wunden können geheilt werden, aber
entscheidend ist, daß nicht weitere gerissen werden. ... Voraussetzung für
diese innergeschichtliche Vernarbung bleibt, daß die Schuld vernarbt ist, indem aus Gewalt Recht, aus Willkür
Ordnung, aus Krieg Frieden geworden ist. Wo das nicht der Fall ist, wo das
Unrecht ungebrochen herrscht und immer neue Wunden schlägt, dort kann freilich
von solcher Vernarbung keine Rede sein, vielmehr muß dort die erste Sorge sein,
dem Unrecht zu wehren und die Schuldigen ihrer Schuld zu überführen." (E.,
S. 53 f.)
Oft habe ich den
Eindruck, wo mit moralischer Entrüstung der Vollzug der sozialistischen
Revolution verurteilt und nach immer neuen "Enthüllungen" gelechzt
wird, gehe es in Wahrheit um das Ergebnis der Revolution. Und daran scheiden
sich mit Recht die Geister: Ob aus der Gewalt, mit der sich die Revolution
durchsetzte, Recht geworden ist, sozialistisches Recht, das man bejaht? Ob
trotz der Willkürakte, die die Revolution - zu ihrem Schaden! - begleiteten,
eine gute sozialistische Ordnung entstanden ist, besser als die Ordnung, die
die Revolution beseitigte? Ob trotz vermeidbarer eigener Opfer und trotz
militärisch sinnloser Flächenbombardements und Gewalttaten der Sieg der
Anti-Hitler-Koalition einen Frieden brachte, der - bei allen Mängeln - im
Gegensatz zu der "Neuordnung Europas", die der Faschismus wollte,
seinen Namen verdient?
Das eben, daß aus
Unrecht Recht und aus Willkür Ordnung geworden ist, kann man und muß man wie
einst von der bürgerlichen, so jetzt von der sozialistischen Revolution sagen.
Darum gibt es hier Vernarbung - und es wäre unrecht, die Wunden neu
aufzureißen, so gewiß es gut ist, Opfer willkürlicher Justiz zu rehabilitieren.
Nirgends aber ist aus
faschistischem Unrecht Recht geworden, nirgends aus faschistischer Willkür
Ordnung, und darum - ich schreibe das gerade deshalb, weil in diesem Heft über
den "Historikerstreit" in der BRD berichtet wird - muß demgegenüber "die
erste Sorge sein, dem Unrecht zu wehren und die Schuldigen ihrer Schuld zu
überführen".
Neues von Rainer Eppelmann(1989) / -ft.
Lange hatte ich nichts
mehr von ihm gehört. Nun zeigte man mir bei einer Reise etwas, wovon ich schon
viel gehört, aber bisher wenig gesehen hatte: eine richtige
"Bildzeitung". Und die Schlagzeile:
"Friedenspfarrer
Eppelmann /greift Bonn und rote Bonzen an."
Ein langes
Telefoninterview von Eppelmann! Ob's authentisch ist? Wer kann das wissen bei
"Bild"? Immerhin: Die wohlgereimte Überschrift verrät einiges mit
ihrer Sprachtradition. "Rote Bonzen" - war das nicht Goebbelsjargon,
vor allem vor 1933, insbesondere gegen die SPD? Daß Eppelmann sie angreift, ist nicht so arg
verwunderlich. Ein "Friedenspfarrer" - so nannte man bei Springer vor
nicht allzu langer Zeit noch einen Emil Fuchs, einen Erich Hertzsch und einen
Karl Kleinschmidt, damals betont verächtlich - ist Eppelmann ja nun eben nicht.
Aber auch "Bonn" greift er an? Jawohl. Offenbar soll sich Bonn
"souveräner" in die Innenpolitik und Kirchenpolitik in der DDR
einmischen - vielleicht seine Souveränität ein bißchen hierher ausdehnen?
Laut "Bild"
sagte Eppelmann wörtlich:
"Sehr traurig bin
ich übrigens, daß der Vertreter der Bundesregierung in Ost-Berlin, Franz Jürgen
Staab, vergangenen Montag einen Termin bei mir absagen mußte. Er wollte sich
mit einer Gruppe aus unserer Gemeinde treffen. Er sagte, das Verhältnis
zwischen Regierung und Kirche sei so belastet, daß es nicht gut sei, wenn der
Chef der ständigen Vertretung in Ost-Berlin zu uns käme. Ich würde mir mehr
Souveränität der Bundesregierung wünschen."
Nun ist mein Weltbild
gestört. Bisher dachte ich, rechts von der Bundesregierung käme die NPD und
dann die Wand. Nun merke ich: irgendwo dazwischen steht auch noch Pfarrer
Rainer Eppelmann, der es doch bislang so gern zu hören schien, wenn man ihn
eher irgendwo auf die Linke plazierte.
*
Ist es eigentlich
erträglich, daß ein Pfarrer einer DDR-Kirche eine ausländische Regierung auffordert,
eine offensivere Politik gegen sein eigenes Land zu treiben?
Was bekäme in der BRD
- ich wende nur die Goldene Regel an - eine Organisation zu hören, wenn einer
ihrer Funktionäre die Regierung der DDR tadelte, weil sie sich scheute, sich in
innere Angelegenheiten der BRD einzumischen? Was bedeutet es, daß dieser Fall
nahezu undenkbar ist, daß dagegen eine Äußerung wie die von Eppelmann nicht
einmal Aufsehen erregt hat?
(Wenn es sich um eine
'Bildente' handelt, stehen die WBl R. Eppelmann für ein Dementi offen!)
Zum Weg unserer Kirche. Erklärung des WAK vom 15. 8. 1989
Wir erheben Protest,
weil in unseren Kirchen vielen, die den Sozialismus für eine gerechte Ordnung
menschlichen Zusammenlebens halten, ein schlechtes, und solchen, die ihn für
mißlungen halten, ein gutes Gewissen gemacht wird.
Darum legen wir
folgende Thesen vor:
In der evangelischen
Kirche gilt das vierfache Allein - allein Jesus Christus, allein aus Gnade,
allein im Glauben, allein nach der Schrift -, oder sie ist nicht evangelische
Kirche.
I.
1. Wir verleugnen diese evangelische
Wahrheit, wenn wir, statt Gemeinde allein unter dem Wort zu sammeln - in der
dann auch darüber gestritten wird,
welchen politischen Weg Christen zu gehen haben, wenn sie mit ihren Mitmenschen
die Gesellschaft gerecht gestalten und ihr den Frieden erhalten wollen -,
Menschen um politische Programme sammeln und so aus der Gemeinde eine Gruppe
oder Gruppierung machen, in der dann auch
über Theologie diskutiert wird.
Vielmehr sammelt allein Jesus Christus als guter Hirte
seine Gemeinde und sendet sie in die Welt.
Das heißt, daß die Kirche nicht
durch weltliche Interessen - seien es religiöse oder seien es politische,
soziale und ökonomische - konstituiert wird.
2. Wir verleugnen diese evangelische
Wahrheit, wenn wir, statt uns von Gott zur Umkehr rufen zu lassen, Reue zu
einem Werk machen, das wir von uns und anderen fordern, indem wir Umgestaltung
der Gesellschaft als "Buße" und "Reformation" deuten.
Vielmehr lebt die Gemeinde allein aus Gnade.
Das heißt, daß die Kirche nicht in
vermeintlicher politischer Bewährung - sei es als "Avantgarde von
Veränderung" oder als "guter Makler zwischen den Fronten" - ihre
Legitimation suchen darf.
3. Wir verleugnen diese evangelische
Wahrheit, wenn wir, statt uns gegen den Augenschein auf die Güte Gottes zu
verlassen, uns selbst und unsere Gesellschaft an selbstgemachten
Vollkommenheitsidealen messen, das, was wir glauben dürfen, schon sehen wollen
und, statt einerseits von Gottes Reich und andererseits von politischen Programmen,
in beiden Fällen nur noch von Utopien reden.
Vielmehr leben Christen allein im Glauben.
Das
heißt, daß sie sich allein auf die Liebe Gottes zur gottlosen Welt und nicht
auf sich selbst verlassen, nicht sich selbst suchen oder verwirklichen müssen,
sondern befreit werden zur Hilfe für andere in deren wirklichen Nöten.
4. Wir verleugnen diese evangelische
Wahrheit, wenn wir, statt in der Schrift zu forschen, was Gott geboten und
verheißen hat, aus unserer jeweiligen Situation einen Kontext machen, aus dem
heraus wir deuten, was Gott meinen könnte.
Vielmehr ist allein die Schrift Norm
des Evangeliumszeugnisses.
Das heißt, daß nicht die Realitäten
der Welt der Kontext der Verkündigung sind, sondern das Gesetz und die
Propheten. Wenn die Kirche die Bibel nicht mehr liest oder durch Bibelkritik
der Kirchenkritik der Bibel ausweicht, verleugnet sie die Verheißung, aus der
sie lebt.
II.
Im Blick auf diese
evangelische Wahrheit bitten wir alle Christen:
Verkauft nicht euer
Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht, nicht die Hoffnung des kommenden
Reiches für die kleinen Hoffnungen auf ein "Mehr" - sei es an
Reisemöglichkeiten, Warenangeboten, politischen Reformen und Liberalitäten,
Privat-Eigentum und -Initiativen oder Wohlhabenheit. All dies ist weder an sich
gut noch an sich böse, aber es ist daran zu messen, ob es dem menschlichen
Zusammenleben zugunsten Schwacher und Armer dient oder schadet.
Christen können nicht
unsolidarisch das Ihre suchen und eine Lebensweise erstreben, die die Armut
anderer zur Voraussetzung oder zur Folge hat. Sie dürfen nicht die elementaren
Lebensbedürfnisse ihrer Nächsten wo immer in der Welt und das allgemeine Wohl
der Gesellschaft, zu der sie gehören, aus dem Auge verlieren.
III.
Im Blick auf diese
evangelische Wahrheit mahnen wir alle, die zur Leitung in der Kirche berufen
sind:
Sucht die Stärke der
Kirche in der Anleitung zur rechten Evangeliumsverkündigung, die Gemeinde
sammelt, und nicht in der Konfrontation zum sozialistischen Staat, mit der ihr
allenfalls eine Partei bildet.
Widersteht der
Versuchung, daß Christen ihre Hoffnung auf Schwierigkeiten der sozialistischen
Gesellschaft setzen - sei es sogar, um in deren Minderung ihren Ruhm zu suchen
-, sondern ermutigt Christen dazu, in der Bürgergemeinde tätig mitzuwirken zu
konstruktiver und hilfsbereiter Überwindung von Schwierigkeiten.
Führt Christen nicht
noch einmal an die Seite solcher gesellschaftlicher Kräfte, deren Hauptwunsch
das Scheitern und deren Hauptziel die Vernichtung des Sozialismus ist
Konterrevolution (1989-1990)
Erklärung der Redaktion zum Beschluß des Politbüros der SED
vom 11. Oktober 1989
(aus "Zu diesem Heft", WBl 5/89)
In aufgeregter Zeit
hat Karl Barth dazu geraten, "... als wäre nichts geschehen ... Theologie
und nur Theologie zu treiben." Hätte die Kirche auf diesen Rat gehört, sie
wäre wohl mehr bei ihrem Auftrag geblieben und hätte weniger politische Schäden
angerichtet. So scheint es uns kein Mangel, daß dies Heft auch in unruhiger
Zeit sehr "normal" ist. (...* )
Wir sollen Theologie treiben "als wäre nichts
geschehen", aber wir dürfen nicht "so tun, als ob nichts geschehen wäre". Es ist und wird viel
geschehen. Darum wagen wir es nach dem Maß unserer Einsicht ein paar Worte zur
Lage voranzustellen:
1. Bei allem, was wir im Sozialismus
falsch gemacht haben mögen - noch wichtiger, als sich darüber
auseinanderzusetzen, ist es jetzt, keine weiteren Fehler zu machen, auch nicht
den Fehler, zu meinen, das Richtige wäre einfach das Gegenteil der früheren
Praxis.
2. Um das Richtige tun zu können, ist
neben der Überwindung der elenden Selbstzufriedenheit das Wichtigste, sich
weder konfus machen zu lassen noch vor der Gefahr zu erstarren wie das
Kaninchen vor der Schlange. Auf Nüchternheit, ehrliche Analyse der zu lösenden Probleme
und Tatkraft kommt es an.
Es ist nüchtern
festzustellen, daß in langer Zeit eine Anzahl von Problemen und Widersprüchen
anwuchsen, die in den offiziellen Medien nicht angesprochen wurden; das zwingt
jetzt zu einer Beschleunigung der gesellschaftlichen Kommunikation, um den
Zeitverlust aufzuholen.
3. Gleichzeitig mit der sich breit
erhebenden und überaus berechtigten Forderung nach "mehr Demokratie und
mehr Sozialismus" ergeht von einem Teil der sogenannten Reformkräfte ein
planmäßiger Angriff auf den Sozialismus insgesamt und in der DDR im besonderen.
Das Schiboleth für diese antikommunistischen Fraktionen im Proteststrom ist die
Negierung von Gemeinbesitz der Produktionsmittel, Wirtschaftsplanung und
Führung durch eine marxistische Partei als Avantgarde.
Dabei können
Antikommunisten neben unvermeidlichen Aufbauproblemen des Sozialismus und
kalkulierten Risiken, die das sozialistische Lager um des Friedens willen auf
sich genommen hat, in stärkerem Maße vermeidbare Fehler und Fehlentwicklungen
ausnutzen, vor allem politisch-ideologisch-moralische Schwächen.
4. Der Angriff erfolgt in drei aufeinander
folgenden und ineinander greifenden Wellen:
a) Die erste Welle zielt auf die
angespannte Wirtschaftslage der DDR. Die wertvollste Produktivkraft wird
dezimiert, nämlich die Schicht modern ausgebildeter junger Facharbeiter, die
vor allem das gesellschaftliche Mehrprodukt schaffen, dessen die sozialistische
Gesellschaft als Solidargemeinschaft bedarf, um die soziale Existenz der
weniger Leistungsfähigen zu sichern.
Ökonomisch basiert diese Attacke
auf dem Produktivkraftgefälle zwischen dem (dank Ausbeutung!) reichsten Lande
der Welt und der DDR.
Politisch wird sie gefördert
durch die dezidierte Mißachtung der Personalhoheit der DDR und des
Selbstbestimmungsrechtes ihres Staatsvolkes, dem ein "Selbstbestimmungsrecht
der Deutschen" im Sinne von "Volkstum" völkerrechtsfremd entgegengestellt
wird.
Ideologisch wird sie
vorangetrieben mit einer hemmungslosen Wiederbelebung des deutschen
Nationalismus von der Maas bis an die Memel.
All dies wird durch
Bild- und Hörfunk der BRD umgesetzt in eine Krisenhypochondrie. Dabei wirken
diese Medien wie Rauschgiftproduzenten und Dealer, Fehlentwicklungen und Mängel
auf unserer Seite wirken als Disposition für Suchtgefahren.
Das Etappenziel dieser
Welle ist die spürbare ökonomische Schwächung der DDR. Sie kann vorerst nur
politisch-moralisch ausgeglichen werden.
b) Folgerichtig zielt die zweite Welle
darauf, den ökonomisch angeschlagenen Gegner, also uns, politisch
handlungsunfähig zu machen. Statt für eine bessere Führung im sozialistischen
System zu sorgen, soll das sozialistische System führerlos gemacht werden.
Darum zielt der Angriff auf die führende Rolle der Partei und nicht darauf, wie
sie geführt wird. Darum wird systematisch der Gegensatz vernebelt zwischen denen,
die ehrlich den Sozialismus verbessern, und solchen, die ihn verwässern wollen.
Ziel ist eine politisch-ideologische Massendesorientierung, in der
wirklichkeitsbezogene Vernunft und ihr entspringende Lösungsmöglichkeiten
erstickt werden in einem Schrei nach utopischen "Reformen an sich",
ohne Auskunft zu geben, was, warum, wozu und wie zu reformieren ist.
Dies Etappenziel ist
erreicht, wenn das Kapital den inhaltsleer gemachten Begriff der
"Reform" mit seinem Inhalt füllen kann: "Reform" gleich:
Rückformung des Sozialismus mittels Marktwirtschaft zum Kapitalismus samt
dessen politisch-ideologischem Überbau an der Peripherie der EG.
c) Die dritte Welle wird noch nicht voll
in die DDR hinein propagiert. Aber deutlich wird bereits in der BRD ihre
öffentliche Akzeptanz vorbereitet. Somit ist sie prognostizierbar. Dieser
Schlag zielt darauf, die DDR - ist sie hinsichtlich ihres sozialistischen
Charakters ökonomisch und politisch zureichend geschwächt - wie einen
Konkurrenten, den man auf dem freien Markt zu Tode gehetzt hat, aufzukaufen.
Das klar voraussehbare
Etappenziel heißt: Schuldenfalle, sei es unmittelbar der "Internationale
Währungsfonds", sei es - der Größenordnung wegen modifiziert - eine Art
"Marshall-Plan", jedenfalls: Wiedereingliederung der DDR in das
imperialistische Weltsystem, um sie an seinem Rande einer
"Austerity"-Politik des internationalen Finanzkapitals zu
unterwerfen.
Geschähe das, würde es
uns zwar kaum besser gehen als jetzt, aber wenn wir auch dann mit unseren
Zuständen unzufrieden wären, könnten wir nicht mehr sagen, das läge an den
Fehlern der Partei, sondern nur noch, das seien die Folgen der wirtschaftlichen
Entwicklung - für die eine bürgerliche Regierung noch niemals ernstlich die
Haftung übernommen hat.
5. Antikommunisten jubeln, der Sozialismus
befände sich in der Auflösung. Wir meinen, das ist falsch! Er hat ganz
erhebliche Reserven. Man muß es nur verstehen, sie zu mobilisieren.
Selbstzufriedene
meinen, der Sozialismus habe keine Niederlage erlitten. Das scheint uns auch
falsch! Die Geschichte um die revolutionäre Nachkriegskrise 1919-1923, um den
30. Januar 1933 und im Juni 1941 zeigt, was es kosten kann, sich eine
Niederlage nicht rechtzeitig einzugestehen.
Nach Niederlagen muß
man sich aufrichten und weiterkämpfen. Dazu aber muß man eine Position suchen,
die haltbar ist und eine Reorganisation der Kräfte erlaubt. Diese Position zu
beziehen, kostet meist Verzicht und Opfer, die Reorganisation kostet Anstrengung.
6. In dieser Situation finden wir mehrere
Hauptpunkte des Politbürobeschlusses vom 11.10. 1989 gut. In deutlicher
Abgrenzung vom Konzept des Gegners und mit der eindeutigen Aussage, daß die
Grundlagen des Sozialismus in der DDR nicht zur Disposition stehen, werden drei
Punkte benannt, die zwar noch nicht die Probleme lösen, aber die Voraussetzungen
dafür sind, die Probleme ehrlich anzusprechen und anzupacken:
a) eine neue - nunmehr hoffentlich
zunehmend gute - Informationspolitik
b) Ausarbeitung einer realistischen und
vorwärtsweisenden Konzeption,
c) eine öffentliche Diskussion über
Schwierigkeiten und sozialistische Wege zu ihrer Überwindung
Das ist eine heilsame
Penizillinspritze. Fragen kann man, ob sie ausreichend dosiert ist. Penizillin
darf man bekanntlich nicht unterdosieren, will man nicht riskieren, daß die
Viren resistent werden.
Wir fürchten, das
beginnt schon hier und da. Das Neue ist in allzu viele alte Sprachblöcke
verpackt. Das gibt solchen, die zwar nicht berauscht sind, aber ihren
Schönfärberrausch von gestern noch ausschlafen, die Chance, ihr
Weiterschnarchen für einen prinzipienfesten Diskussionsbeitrag zu halten. Und
das provoziert die Rebellen und führt sie darum eher zusammen, statt sie zu
differenzieren in solche, die nihilistisch alles destruieren wollen (ihnen darf
man kein Stück nachgeben!), und in solche, die aufbrechen wollen, wenn auch
noch ziellos (ihnen gilt es, wieder ein Ziel - kein beliebiges, sondern ein
sozialistisches - zu geben, und das nicht im Oberlehrerton, sondern in der
Einladung zu gegenseitig anspruchsvoller Zusammenarbeit, zum Beispiel im
Demokratischen Block.)
7. Wie sollten wir Bürger der DDR auf den
Politbürobeschluß reagieren? Wir meinen, wir sollten
a) nüchtern bleiben, uns die Größenordnung
unserer Probleme und unserer Verantwortung für deren Lösung auch im Blick auf
die Weltmaßstäbe vor Augen halten, die Wirkungen dessen, was wir tun wollen,
zuvor bedenken, nichts Unmögliches versuchen, aber das Mögliche tatkräftig tun
und die heilsame, aber bittere Pille schlucken, daß die ehrliche Auskunft über
unsere reale Lage möglicherweise desillusionierender ist, als manche erwarten,
andererseits vielleicht nicht so schlimm, wie andere befürchten.
b) mitwirken, daß eine Atmosphäre
angestrengter gemeinsamer Arbeit ohne Hektik entsteht. Wir haben wenig Zeit,
aber nur eine solide erarbeitete Konzeption hat Wert. Sie kann nicht aus dem
Boden gestampft werden und braucht, auch wenn sie da ist, ihre Zeit, um zu
greifen. Wir sollten als Parteilose der Partei, wenn sie mit dem Politbürobeschluß
endlich zu ihrer Führungsverantwortung zurückfindet, jenes "Recht der
hundert Tage" einräumen, das in alten Demokratien die Opposition einer
neuen Regierung gewährt, damit sie zeigen kann, was sie vermag.
c) jedoch dazu helfen, daß dem etwaigen
Geist, nun habe man "erst einmal Ruhe", wo er sichtbar wird, nicht
chaotisch, aber höchst energisch und besonnen gewehrt wird. Die "Aktuelle
Kamera" sollte keine Ruhe finden, bis sie zumindest so gut ist wie -
immerhin oft - die "Junge Welt". Und gemessen werden muß sie daran,
ob sie beginnt zu lernen, dem ZDF und der ARD im Rahmen ihrer engeren
ökonomischen Mittel gewachsen zu sein.
8. Gibt es "spezifische
Aufgaben" für uns Christen? Zunächst einmal gibt es nichts, was wir, weil
wir Christen sind, politisch besser könnten als unsere Mitbürger. Leider haben
wir - zumal in den letzten Jahren - bewiesen, daß wir es oft schlechter machen
als sie. Selbstzufriedenheit stünde uns besonders schlecht an!
Aber gerade weil viele
aus unseren Kreisen den politischen Rausch gefördert haben - das Wort
"Besonnenheit" war für eine laute Fraktion in der
Berlin-Brandenburgischen Synode noch vor kurzem ein rotes Tuch! - gilt es für
uns besonders, im Zickzack aufgeregter Bewegungen den Überblick zu behalten,
womöglich Trunkene zu ernüchtern, Verkaterten die Resignation zu nehmen und vor
allen Dingen: selbst nicht zu resignieren und dennoch Geduld zu haben, nicht
Geduld im Sinne von Passivität, aber Geduld - upomonh - als die Fähigkeit,
Lasten zu tragen. Solche Geduld ist eine "Tugend der Heiligen".
Jedenfalls sollten wir
uns im politischen Leben durch unsere Mitbürger in zweierlei nicht übertreffen
lassen: Im Mut, die Realität unbeschönigt zu sehen, wie sie ist. Auch in unsere
politische Existenz muß hineinwirken: theologus crucis dicit, quod res est. Und
im Mut, zuversichtlich zu handeln. Auch in unsere politische Existenz muß
hineinwirken: "Seid allezeit bereit zur Verantwortung jedermann, der Grund
fordert der Hoffnung, die in euch ist." (1. Petr. 3,15).
Berlin, den 16.
Oktober 1989 Hanfried Müller
Christian Stappenbeck
"Keine Reue, keine Buße keine Schuldbekenntnisse!"*
Offener Brief an meine Freunde in der SED (1989)
von Hanfried Müller
Das hätte ich nicht
gedacht, daß ausgerechnet ich einmal einen Brief schreiben würde mit dem cantus
firmus: Keine Reue! Keine Buße! Keine Schuldbekenntnisse! All das heißt hier
und heute nur allzu leicht, an der Stelle zu kapitulieren, wo es nur auf eines
ankommt: Widerstand! Unser Weg, der Weg aller, die eine Solidargemeinschaft
gegen die Ellenbogengesellschaft, friedliche Koexistenz gegen eine pax
imperialistica, das Recht arbeitender Menschen gegen die Macht der
Selbstverwertungsinteressen des Kapitals durchsetzen wollten und wollen, führt
jetzt in die Résistance.
Wenn ich Euch so
pauschal mit "Euch" anrede, dann vergesse ich dabei keinesfalls, daß
viele von Euch meine Sorgen und Ratlosigkeit seit langem geteilt haben.
Nicht darauf, Euch,
wohl aber darauf, Eure Sache zu rechtfertigen, kommt es jetzt an. Es war und
ist eine gute Sache. Klagt Euch an, wo Ihr selbst sie ruiniert habt! Aber tut
das so, daß durch das Aussprechen Eures Unrechts das Recht Eurer Sache nur deutlicher
wird! Das Schlimmste ist die "Reue", mit der man sich selbst in
Sicherheit bringen möchte, indem man seine gute Sache verrät.
Ich habe Euch vor
reichlich fünf Jahren versprochen:
"Wir <evangelisch-reformatorische
Christen> bleiben auch in der Kooperation den Kommunisten gegenüber frei.
Das heißt keineswegs: Wir stehen hier und können auch anders. Aber es heißt:
Was uns bindet, ist nicht der Partner, sondern die Sache, um die es ihm und uns
geht. ... Was wir mit euch Kommunisten gemeinsam tun, das haben wir zu unserer
eigenen Sache und Aufgabe gemacht... Das bedeutet aber zum Beispiel: Wenn etwa
welche von euch den Kampf einstellten oder diese Sache aufgäben, in der wir
zusammenwirken, dann würden wir sie noch lange nicht nur darum aufgeben und
noch lange nicht nur darum kapitulieren, weil es einige unter unseren
Verbündeten täten, es sei denn, sie vermöchten uns davon zu überzeugen, daß
sich dieser Kampf als ungerecht und diese Sache als falsch und schlecht
erwiesen hätte."*
Ich möchte mein Wort
halten.
Möglich, daß die
anderen stärker sind und uns zunächst einmal schlagen. Tatsache, daß die anderen
reicher sind und uns kaufen wollen. Aber das ist kein Beweis für ihr Recht. Ich
habe auch umgekehrt niemals das Recht unserer gemeinsamen Sache aus unserer
Stärke abgeleitet und Einspruch erhoben, wenn manche von Euch das Recht des
Sozialismus in seiner "Sieghaftigkeit" suchten - kein Wunder, daß sie
nun zu resignieren drohen.
Wenn man das Wort
"Krieg" durch das Wort "Kampf" ersetzt (und beim Rückblick
auf den damaligen antifaschistischen Krieg an den heutigen
antiimperialistischen Kampf denkt), kann man einen Brief von Karl Barth an die
"Protestanten von Frankreich", den er im Oktober 1940 (nach jenem
volksfestähnlichen entsetzlichen Jubel über den Sieg und die
"Großmut" des "Führers") verfaßte, lesen, als wäre er eben
jetzt an uns geschrieben:
"Was hat sich für
Sie geändert? Dies, daß Sie heute vorläufig (in der Vorläufigkeit des
Waffenstillstandes!) Gründe haben - ich untersuche nicht, ob sie gut oder
schlecht sind - nicht mehr oder noch nicht wieder Krieg führen zu wollen. Aber,
nicht wahr, Eines hat sich auch für Sie nicht verändert, hat sich seither sogar
noch verstärkt: der Grund nämlich, der Sie... veranlaßt hat, denselben Krieg zu
bejahen und allen Ernstes führen zu wollen. Brauche ich es noch auszusprechen:
ein Meer von Wirklichkeit - z.B. ein Meer von feindlichem Erfolg und eigenem
Mißerfolg - bedeutet für uns Christen noch keinen Tropfen von Wahrheit. Es ist
die Einsicht, daß wir den anderen unterschätzt und uns selbst überschätzt
haben, eine gute und notwendige Sache. Über Recht und Unrecht aber und über
das, was aus der Erkenntnis von Recht und Unrecht folgt als Verpflichtung und
Entscheidung, dürfen wir uns durch diese Einsicht nicht belehren
lassen..."1
Diejenigen unter Euch,
die sich darüber ärgerten, daß ich sie "Kinder des VIII. Parteitages"
zu nennen pflegte, haben zwei Jahrzehnte lang von der "gewachsenen Stärke
des Sozialismus" gesprochen, während sie den Sozialismus in einer Richtung
zu verbessern suchten, wie die 2/3-Gesellschaft sie in den imperialistischen
Zentren für sich selbst realisieren kann, und während die wirklich
sozialrevolutionären Bewegungen im Sozialismus mehr und mehr zu stagnieren
drohten - wenn auch gewiß die Lösung des sozialen Wohnungsproblems ein
Ruhmestitel dieser Zeit bleibt. Aber der deterministische Spontanismus (der
Sozialismus kommt gesetzmäßig fast wie im Selbstlauf der Geschichte) war
objektiv eine Lebenslüge. Man konnte sie immerhin noch damit entschuldigen, daß
die, die sie aussprachen (das tatet Ihr ja keineswegs alle), sie selber
glaubten. Wo man aber jetzt in der DDR die Restauration des Kapitalismus als
"Erneuerung des Sozialismus" auszugeben beginnt, verfällt man einer
Lebenslüge, für die es keine Entschuldigung gibt. Wer so wie Honecker, um sich
gegenüber Ulbricht zu profilieren, Bananen unter das Volk warf und dabei auf
die Rutschbahn wirtschaftlicher Abhängigkeit geriet, nun etwa, um sich
gegenüber Honecker zu profilieren, Reuebekenntnisse unter das Volk wirft und
dabei auf die Rutschbahn politischer Ohnmacht gerät, der setzt die Politik
fort, die uns in die Lage gebracht hat, daß unsere Feinde triumphieren: die
Politik eines hemmungslosen Rechtsopportunismus. Genau an dieser Stelle
brauchen wir keine Wende um 360°, sondern um 180°, das heißt eine Umkehr. Es
dürfte uns schwer sein, nach dem Verlust sozialistischer Macht aus einer
sozialistischen Opposition heraus neue Kraft zu gewinnen, wenn wir etwa das
Schielen nach kapitalistischer Lebensweise als heimlich-unheimliche Sehnsucht
in vielen Köpfen weiter kultivieren.
Als das Volk der DDR
beim Abschluß des Grundlagenvertrages aus den Westmedien erfuhr, warum der
BRD-Botschafter in der DDR "Vertreter" hieß, daß der Bundestag der
BRD (soweit ich mich entsinne einstimmig) nahezu die Hälfte von dem, was er
völkerrechtlich ratifizierte, staatsrechtlich revozierte, daß das dortige
Bundesverfassungsgericht die völkerrechtliche Anerkennung der DDR für die BRD
außer Geltung setzte, daß wir weiterhin nicht als Bürger unseres Staates
geachtet, sondern als potentielle BRD-Bürger mißachtet wurden und an die Stelle
der "Hallsteindoktrin" die "Obhutspflicht für alle
Deutschen" trat - habe ich beim ZK daran erinnert, daß Lenin den Frieden
von Brest-Litowsk, den er mühsam durchgesetzt hatte, als bittere Notwendigkeit
begründet, aber doch nicht etwa Kaiser Wilhelm II. dazu gratuliert hatte.
Damals habe ich angeregt, man solle doch unsere ebenso kräftige Opposition
gegen die unvermeidlichen Konzessionen unserer Seite in der DDR zulassen, wie sie
die CDU/CSU für ihre Klasseninteressen im Westen gegen die
Brandt/Scheel-Regierung artikulierte, um ein Gegengewicht dazu zu setzen. Damit
hätten wir besser "Demokratie" geübt als heute. Dabei meine
allerdings auch ich, daß wie der Abschluß des Friedens von Brest-Litowsk auch
die Ratifizierung des Grundlagenvertrages trotz "Bundestagserklärung zur
deutschen Einheit" und "Bundesverfassungsgerichtsurteil"
vernünftig war. Die DDR ist nur unvernünftig mit letzterem umgegangen. Und ich
meine auch, daß es wohl tatsächlich unvermeidbar war, jetzt unwiderruflich die
Grenzen zu öffnen. Aber ist es vernünftig, so zu tun, als sei das ein Bombenerfolg
für die DDR? (...) Die Negativfolgen solch pauschaler Grenzöffnung zwischen
einem armen und dem reichsten Land der Welt werden doch unausweichlich
offenbar. Wäre es da nicht besser, Ihr könntet dann sagen: wir haben gewarnt?
Was wir neben allem anderen bei einer offenen Grenze verlieren, wissen wir doch
noch von vor 1961. (...)
Möchte sich doch Eure
Partei abgewöhnen, so zu denken und zu handeln, als lautete die Definition von
Sozialismus: Erfolg haben. Und als hieße Erfolg haben bereits, den Sozialismus
aufbauen. Gegenwärtig jedenfalls ist der Antikommunismus erfolgreicher, als
allen Antiimperialisten in der ganzen Welt lieb sein kann. Und wir werden die
höchst fällige Linkswende gegen die Rechtswende nur herbeiführen können, wenn
wir das nicht verdrängen, sondern begreifen. Einem Feind, den man nicht sehen
will, kann man auch nicht widerstehen. Der Feind kann triumphieren, wenn man
sich kein richtiges Bild von ihm macht.
Was ich gegen Reue,
Buße und Schuldbekenntnisse zur Unzeit schreibe, schließt allerdings
Selbstkritik nicht aus, sondern ein. Ich erinnere dazu an die Warnung von Karl
Barth an die Schweiz angesichts jenes Frankreich, das unter anderem auch darum
so geschlagen war, weil es im Lande Feuerkreuzler, eine "fünfte
Kolonne", verräterische Führer und maßlose Selbstüberschätzung gegeben
hatte (man lese noch einmal Ilja Ehrenburgs "Fall von Paris"). So gut
wie Barth kann ich nicht in Worte fassen, worauf es ankommt, wenn Selbstkritik
nicht entmutigen, sondern ermutigen soll.(...)
Lesen wir auch hier
Barth transparent:
"Aber wie dem
auch sei: die bis jetzt kaum unterbrochene Kette von Erfolgen, die dieser Macht
beschieden war, sollte genügen, um an ihrer Quantität und Qualität heute keinen
Zweifel mehr übrig zu lassen. Es sollte heute auch das ganz deutlich sein: Was
in irgendeinem Sinne faul, morsch und hohl, was liederlich, was in sich
uneinig, was verlogen war und ist in Europa, das ist dieser Macht nicht
gewachsen, darüber triumphiert sie spielend. Mit Fiktionen und Illusionen kann
man ihr nicht begegnen und mit Traditionen nur dann, wenn diese sehr gesund und
sehr lebendig sind. Die Macht, die hinter jener Drohung steht, ist eine
unerbittliche Probe für alle, die mit ihr zu tun bekommen. Man täusche sich
nicht: Das Böse war und ist nun einmal immer stärker als das Halbgute. Dem
Bösen kann nur das Gute gewachsen und überlegen sein." (S.162)
Ich - ich sage
"ich, weil ein "wir" immer undefiniert zu schillern droht, aber
ich meine natürlich alle unter meinen Schwestern und Brüdern, die ähnlich
denken und reden würden - ich kann Euch, liebe Freunde Genossen, Eure
Selbstkritik, Eure notwendige eilige Einigung untereinander, Eure Reinigung von
dem, was "faul, morsch, hohl, liederlich und verlogen" ist, nicht
abnehmen. Und wenn ich es könnte, wollte ich es nicht einmal, denn das hieße,
Euch Eure ureigenste Chance nehmen, zurückzufinden zu Eurer Mission: und die
heißt allemal, die Massen führen, statt ihnen nachzulaufen oder vor ihnen
wegzulaufen.
An einer Stelle aber
kann ich Euch vielleicht etwas helfen. Ich sehe Euch und Eure Sache ja von
außen - und zu lesen, wie man von außen gesehen wird (mag man das Bild, das
einem da gezeigt wird, bestätigen oder bestreiten), kann einem ja eine Hilfe
sein, wenn man sich von innen neu orientieren will und muß.
Das "Außen",
von dem ich Euch schreibe, schließt drei Dimensionen ein.
Zum ersten: Ich bin
Christ - und höre und glaube darum (anders als ihr), was - um ihn noch einmal
zu zitieren - Karl Barth nach der Tragödie im Wald von Compiègne nach
Frankreich schrieb:
"Wenn ich recht
orientiert bin und verstehe, wird nun in christlichen Kreisen des heutigen
Frankreichs viel von der Demut geredet, mit der man die erlittene 'totale
Niederlage' als göttliches Gericht anerkennen und hinnehmen müsse. Und weiter
von der Buße, die jetzt nötig sei. ... Demut ist eine ausgezeichnete Sache. Zum
Hochmut besteht ja wirklich kein Anlaß, und wenn wir bisher hochmütig waren, so
haben wir nun seit einem halben Jahr tüchtig auf die Nase bekommen. Aber ...
ist es nicht fast zu zeitgemäß, heute gerade die Demut zu predigen? Aber sei es
denn! Nur daß es sich dann um Demut vor Gott wird handeln müssen und nicht etwa
um die Demut vor Tatsachen und Umständen, vor Mächten und Gewalten, vor
Menschen und menschlichen Autoritäten. Es wird die Demut vor Gott mit
Resignation nichts zu tun haben können: nicht mit dem staunenden Starren auf
ein Schicksal, dem wir - auch nur provisorisch - eine Art von Unabänderlichkeit
zuerkennen müßten ... und es würde dann - wenn es um die Demut vor Gott ginge -
von der 'totalen Niederlage' eigentlich gar nicht die Rede sein dürfen.
Erinnert der Begriff nicht peinlich an die 'totalen' Absichten und Ansprüche
der Gegenseite? Wie kommen wir denn als Christen dazu, das Wort 'total' auf
etwas anderes als auf Gottes allmächtige Gnade anzuwenden? Wann und wie könnte
denn eine menschliche Niederlage anders 'total' werden als damit, daß die
beteiligten Christen den Glauben an Gottes allmächtige Gnade und damit die
Freudigkeit und damit den Mut zum Zeugnis verlieren würden? Eben dies ist es,
was nicht geschehen darf... Es würde dann die nötige Buße gewiß nicht in einer
ergebnislosen allgemeinen Beugung, in einem passiven Bedauern begangener Fehler
stecken bleiben und noch weniger in solchen vermeintlichen Neuerungen sich
manifestieren können, mit denen man dem 'alten Menschen' nun erst recht zu
vollendeten Triumphen verhelfen würde." (S. 152 ff.)
Zum zweiten: In dem,
was Ihr und was sich in der DDR "Kirche" nennt - und unter dem
verborgen die Kirche Jesu Christi existiert -, habe ich, während Ihr unter
Freunden des Sozialismus lebtet oder zu leben meintet, unter einer Vielzahl von
Antikommunisten gelebt. Euch begegneten sie in Verhandlungen und verbargen
ihren Antikommunismus. Mir begegneten sie in Streitgesprächen und offenbarten
ihn mir. Wo das öffentlich geschah - so daß von Indiskretion nicht die Rede
sein konnte -, habe ich es Euch gesagt und Euch gewarnt. Meist glaubtet Ihr es
mir nicht, sondern meintet, die Wahrheit sagten sie Euch am runden Tisch, und
was sie öffentlich sagten, sei nur eine Konzession, um Anhang zu gewinnen.
(...) Jedenfalls aber habe ich, während ihr von der "gewachsenen Stärke
des Sozialismus" sprachet, die wachsende Stärke zuerst antikommunistischer
Frustrationen, dann antikommunistischer Emotionen und schließlich
antikommunistischer Organisationen gesehen - und beide Seiten gewarnt. Zugleich
aber habe ich im Austausch mit vielen Schwestern und Brüdern gelebt, die sich
in imperialistischen Ländern auf die Seite der Ausgebeuteten und Verelendeten
gestellt hatten. Von ihnen und an ihrem Schicksal konnte ich lernen, wie der
Imperialismus stärker wurde und welche Strategien er entwickelte: wie
zielbewußt er hartnäckig und flexibel - "Wandel durch Annäherung" -
eine Erosion im sozialistischen Lager erstrebte, dessen Ruin, wo immer es ging,
jede sozialistische Schwäche ausnutzend und an jedem Verrat anknüpfend,
manipulierte 2, eine ungeheuer
qualifizierte Demagogie über die elektronischen Medien in eine DDR
transportierte, die in ihrer Aktuellen Kamera dieser ideologischen
Großoffensive nichts besseres entgegenzusetzen wußte als Bilder von unserem
König. (...)
Wo Ihr innenpolitisch
"Zurückgebliebene" und außenpolitisch "Dialogpartner"
sahet, da habe ich diese zwar auch
gesehen. So sektiererisch, wie Ihr oft meintet, bin ich ja gar nicht! Jedoch
hinter ihnen und zwischen ihnen habe ich - darf man das Wort Euch gegenüber
noch in den Mund nehmen? - Euren Klassenfeind erkannt. Vielleicht konnte ich
ihn auch darum besser erkennen als die Jüngeren unter Euch, weil ich einst von
ihm zu Euch übergelaufen war, nämlich als ich einsehen mußte, daß meine Klasse
nicht mehr fähig war, für Recht und Frieden zu sorgen, Garantien gegen
Faschismus, Rassismus, Kolonialismus und Krieg zu bieten. So brauchte ich nicht
- wie einer Eurer Historiker - Luther zu lesen, um die "Herrschaftsmethoden
der Bourgeoisie zu studieren und zu übernehmen"; ich kannte sie von Hause
aus und bekam Angst um Euch, als ich merkte, wie gut sie außen- und
innenpolitisch noch funktionieren: die ganz primitiven Leitsätze von Zuckerbrot
(Kreditangebote) und Peitsche (Menschenreiserechtsforderungen), von divide
(zuerst der Versuch in Rumänien, dann der Erfolg in Ungarn und Polen usw.) et
impera (die Deutsche Bank und was dazugehört).
Zum dritten: 1958
schrieb ich (Ihr habt es mich sogar damals - in einer Zeit also, von der heute
so viele denken, da hätte es eine schlechthin jede "unorthodoxe"
Meinung ausschließende Zensur gegeben - freundlicherweise drucken lassen):
"Nicht alle
Unordnung berechtigt zur Revolte. Entscheidend ist aber, ob es sich wesentlich
um eine ungeordnete oder schlecht geordnete Ordnung handelt - das scheint mir
hier bei uns zuweilen der Fall zu sein - oder ob es sich um die vielleicht
sogar gut organisierte, also um geordnete Unordnung handelt - das scheint mir,
ebenfalls als Anmerkung meiner eigenen politischen Einsicht, in Westdeutschland
der Fall zu sein. Es wäre nun falsch, die Ordnung selbst anzugreifen, um sie
besser zu ordnen, wie es auch falsch wäre, sich mit der gesellschaftlichen
Unordnung selbst kampflos abzufinden, nur weil sie formal ordentlich funktioniert
- so wie etwa die Judenverfolgung im Nazireich 'funktionierte', so wie die
Kriegsvorbereitung in Westdeutschlands heute 'funktioniert'".3
(Ihr seht, ich habe
Euch immer ein bißchen weniger zugetraut, als Ihr Euch selber zutrautet; heute
möchte ich Euch gern mehr zutrauen, als viele von Euch sich selber zutrauen:
nämlich, daß Ihr in dieser katastrophalen Unordnung, in die unsere gute
sozialistische Ordnung geraten ist, nun nicht etwa Anleihen bei der gut
funktionierenden kapitalistischen Unordnung macht, sondern unsere gute
sozialistische Ordnung wieder in Ordnung bringt!)
Ich will damit nur
zeigen: ich konnte mir als Parteiloser etwas leisten, was Ihr Euch nicht
leisten konntet: in eine sozialistische (!) Opposition zu gehen, keineswegs
gegen, vielmehr für den sozialistischen Staat, aber an vielen Stellen gegen
seine Regierung oder Administration. Zuerst freilich hieß das, als bald nach
Eurem VIII. Parteitag das Bündnis zwischen Pilatus und Herodes*
gegenüber der innerkirchlichen Opposition wirksam wurde: Verdrängung aus der
Öffentlichkeit. Seitdem - und viele von Euch haben ja dabei geholfen, obwohl
das "oben" gar nicht geschätzt wurde! - die WBl erschienen, konnten
wir auch wieder öffentlicher im Blick auf den inneren Kreis - die
Christengemeinde - und im Blick auf den äußeren Kreis - die Bürgergemeinde (um
Barths Begriffe aufzunehmen) - sagen, was hier wie dort faul, morsch, hohl,
liederlich, verlogen und darum in der Kirche der Versuchung und in der Welt der
Macht des Imperialismus nicht gewachsen war.
So haben wir "von
außen" wohl manches gesehen, was man von innen nicht sehen oder anders
sehen mußte - so wie das auch umgekehrt für uns der Fall ist, wenn Ihr die
Kirche von außen seht und beschreibt. Aus dieser Perspektive "von außen"
möchte ich nun drei Themen aufgreifen.
Erstens die Frage, die gegenwärtig - wie ich
meine, das Kind mit dem Bade ausschüttend - gefährlich zurückgedrängt wird:
nach dem Angriff der Feinde des
Sozialismus - und die gibt es, und sie sind stärker als Ihr meintet und
meint! - auf die DDR.
Zweitens die Frage nach Mitläufern, Überläufern und Wegläufern im Blick auf Eure Partei und
die Sache des Sozialismus.
Drittens die "Vertrauensfrage",
die unter Euch, Euch gegenüber und in der ganzen Gesellschaft der DDR jetzt
allerorten aufgeworfen wird.
1. Der Imperialismus
hat in seinem antikommunistischen Kampf einen Erfolg errungen. Das
sozialistische Lager und die internationale Arbeiterbewegung in den meisten
Kernländern des Imperialismus haben eine Niederlage erlitten. Die revolutionäre
Weltbewegung insgesamt ist hart davon betroffen. Wir groß das Ausmaß dieser
Niederlage ist, kann zumindest ich noch nicht übersehen; es steht aber auch
noch gar nicht fest, sondern bleibt auch davon abhängig, wie wir alle auf diese
Niederlagen reagieren. Jedenfalls dürfen wir vor ihnen weder die Augen
verschließen noch resignieren, wenn wir den Kampf gegen Imperialismus,
Faschismus und Krieg nicht definitiv verlieren wollen. Übrigens wird er - was
immer wir wollen und tun - ohnehin weitergehen: Der Gegensatz zwischen denen,
die immer mehr verelendet werden, und denen, die sie verelenden, um immer mehr
Macht und Wohlstand zu gewinnen (der sie nicht einmal glücklich macht, sondern
auch bei ihnen oft nur Überdruß und Frustration hervorruft), wirkt nach unseren
Niederlagen ja unvermindert weiter. Der Motor der Klassen- und Konkurrenzwidersprüche
steht nicht still; er treibt weiter zum revolutionären Weltprozeß, aber er kann
auch hineintreiben in nicht mehr kalkulierbare Katastrophen imperialistischer
Kriege, Verwüstung der Erde und
Verzweiflung in tödlicher Armut. Viele Menschen, die nichts mit dem Sozialismus
im Sinn haben, sehen durchaus, daß die Konsolidierung des Sozialismus für die
ganze Welt eine Sicherheitsfunktion erfüllt - wer nicht auf die Kommunisten und
ihre Freunde hören will, möge zumindest solche Argumente sorgsam prüfen.
Schwerer als die weit
verbreitete Frage, "was haben wir falsch gemacht?" (die natürlich
nützlich ist), wiegt an dieser Stelle das Eingeständnis: Wir haben es nicht
vermocht, diese Rechtswende, in der sich der Imperialismus von seinen,
ebenfalls schweren, Niederlagen erholte und zum Gegenschlag gegen die
"Verdammten dieser Erde" ansetzte, zu verhindern. Damit sind wir
schuldig geblieben, zu verwirklichen, was zu verwirklichen wir schuldig waren. Das ist unsere Schuld. Ich erinnere noch
einmal an das Wort Bonhoeffers, das wir wohl nicht zufällig in letzter Zeit so
oft zitiert haben: "Das Fehlen von Macht kann Schuld sein." Da geht
es nicht nur um metaphysische Schuld und schon gar nicht um einen psychologischen
Schuldkomplex, sondern um Schuld, die aufgenommen und beglichen sein will. Als
solche, die etwas schuldig geblieben sind, haben wir nach vorn zu blicken und
zu fragen: was sind wir schuldig zu tun?
Zuerst möchte ich Euch
freimütig von außen sagen: Auch in meinen Augen habt Ihr schwere Fehler
gemacht. Ihr habt den Gegner verharmlost oder gar ignoriert. Ihr habt ihm oft
mehr vertraut als Euren wahren Freunden und damit das Vertrauen Eurer Freunde
schwer belastet. Und ich werde den Eindruck nicht los, daß unter Euch immer
noch einige Naive - hoffentlich nur Naive! - meinen, die Feinde der DDR, allen
voran die BRD, würden Euch selbstlos helfen. Und Ihr konntet nicht verhindern,
daß Eure Parteiführung ihre führende Rolle nicht wahrnahm, daß sie zum
Spielball der Kräfteverhältnisse wurde, statt sie richtig zu analysieren, zu
verändern und rechtzeitig auszunutzen.
Wer wie ich den
leidenschaftlichen Haß gegen den Kommunismus erlebt hat, den Vernichtungswillen,
der sich nicht darauf beschränkt, der Gegenseite Zugeständnisse abzuringen, um
für sich bessere Bedingungen der Koexistenz mit ihr zu erreichen, sondern sie
liquidieren will, der konnte immer nur erschrecken, wenn Ihr vertrauensselig
friedliche Koexistenz übergleiten ließet in Partnerschaft nicht nur mit solchen,
die sich mit der DDR einigen, sondern auch mit solchen, die sie beseitigen
wollten. Und Ihr habt Euch selbst überschätzt, viel zu lange den Gegner für
schwächer (und gutwilliger) gehalten, als er war, und Euch für stärker und
massenverbundener, als Ihr waret. Und das betraf nicht nur die Ideologie. Viele
von Euren Genossen vertrauten doch mehr auf Anleihen (materiell vor allem, aber
auch ideell) beim Gegner als auf das Bewußtsein der Arbeitermassen, das sie
vernachlässigten, und auf die Massen selbst, denen sie sich zunehmend
entfremdeten und nicht mehr vertrauten. Um die Illusionen nicht preiszugeben,
um der heilsamen Ent-Täuschung zu entgehen - sehe ich das richtig? - entstand
jene Schönfärberei und Vertuschung eigener Schwächen, die dahin führte, daß die
realen Kräfteverhältnisse, die der Gegner ausgezeichnet kannte, zum
Staatsgeheimnis gegenüber dem eigenen Volk gemacht wurden, das darum auch nicht
- solange es noch ging, weil das Vertrauen noch da war - als Subjekt seiner
eigenen Geschicke in Anspruch genommen wurde. Stattdessen konspirierten
Arbeiterführer mit dem Klassenfeind. Ihre Schönfärberei machte sie blind für
die Mobilmachung des Gegners, für seine wachsende Stärke, für die globale
Bedeutung der "Rechtswende".
Von außen konnte ich
das leichter sehen als Ihr.
Es machte mich
besorgt, daß nicht nur in vielen bedeutenden imperialistischen Zentralländern
die Rechtsparteien gegenüber den Linksparteien Stimmen gewannen (so etwas kann
die nächste Wahl ausgleichen), sondern daß sich innerhalb aller Parteien das Spektrum offenkundig nach rechts verschob. Nach
meinem Eindruck auch in der Euren! Ich denke daran, welches Interesse bei der
Dialogsuche die sogenannten Existentialien - Tod, Schuld, Leiden - unter Euch
fanden und wie individualistisch (nicht nur individualisierend) manche unter
Euch Begriffe wie "Selbstfindung" und "Sinngebung"
aufnahmen bis dahin, daß beim letzten Lesertreffen der WBl eine Genossin von
Euch uns mit dem Bekenntnis verblüffte, der Marxismus-Leninismus sei ein
"Glaube".
Ich wurde umso
unruhiger, je deutlicher ich merkte, daß die Bewegung, deren Ingangsetzung mit
dem Namen Gorbatschow verbunden ist, an vielen Stellen von einer reaktionären
Ideologie unterwandert wurde. Es war doch unter dem Deckmantel des
"neuen" ein sehr altes Denken, was man z.B. am 11. Juli 1989 in der
Moskauer "Neuen Zeit" lesen mußte:
"Rechtsgleicheit <hat>
mit der gewaltsamen, Fadheit und Haß, Neid und Verarmung hervorbringenden
Gleichheit des Vermögens nichts gemein... Wenn darüber, was Freiheit ist, noch
nachgedacht werden mußte, so trat doch das Eigentum <nach der großen
französischen Revolution> als Garant für Sicherheit und als Stachel des
Widerstandes gegen Unterdrückung und Gewalt in Erscheinung. In der Tat, was ist
eigentlich Eigentum?... Eigentum ist ein metaphysischer Wesenszug menschlicher
Existenz... Der Mensch ist vergänglich, sein Eigentum überlebt ihn, in ihm lebt
der Mensch objektiv..."
So Leonid Jonin im
"Tagebuch des Soziologen" unter dem Titel "Die Revolution geht
weiter". Welchem Christen wäre da nicht die Geschichte vom reichen
Kornbauern eingefallen, der zu sich sagte: "Liebe Seele, du hast einen
großen Vorrat auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iß, trink und habe guten Mut!
Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! diese Nacht wird man deine Seele von dir
fordern, und wes wird's sein, das du bereitet hast?" - "denn niemand
lebt davon, daß er viele Güter hat." (Luk.12,13 ff.) Jonin aber fährt fort
mit der tiefsinnigen Bemerkung: "Es ist der Geschichte bestimmt, zu geschehen,
und dem Mythos, sich zu verkörpern."
Die weltweite
Verschiebung des Lebensgefühls und all seiner emotionalen und intellektuellen
Ausdrucksmöglichkeiten von links nach rechts in Richtung Irrationalismus,
Voluntarismus, Subjektivismus, Individualismus, Solipsismus, Pessimismus,
Nihilismus, die Ästhetisierung aller Lebensbezüge, die neoreligiöse Welle und
der Fundamentalismus, manisch-depressives Schwanken zwischen Euphorie und
Resignation, die "no-future"-Stimmung, das Gerede von der
"Postmoderne" und die sich ubitär vollziehende Antiaufklärung
schreckten mich auf. Peter Hacks' boshaftes Bonmot, Perestroika sei das
russische Wort für New Age, alarmierte mich. Denn es signalisierte einen
evidenten Mangel an geistiger Immunität gegenüber der Zerstörung der Vernunft
auch innerhalb der sozialistischen Bewegung zumindest der "ersten"
und der "zweiten" Welt. Daß die WBl in den acht Jahren ihres
Erscheinens bis auf das letzte Heft niemals eine so leidenschaftliche Empörung
hervorgerufen haben (auch unter Genossen von Euch) wie mit meinem Protest gegen
eine drohende Nietzsche-Renaissance in der DDR, schien mir eine Stelle zu
markieren, an der sich Geist und Ungeist nicht nur in unserer Gesellschaft,
sondern auch in Eurer Partei scheiden mußten. (...)
Zwar wird dieser
Ungeist nicht daran zugrunde gehen, daß diejenigen, die vernünftig und nüchtern
bleiben, ihm ihre Reverenz verweigern. Götzen verhungern und verdursten nicht,
weil sie keine Speise- und Trankopfer bekommen. Dennoch kommt es auch darauf an,
diesem Ungeist kein Körnchen Weihrauch zu streuen, sondern ihm zu widerstehen.
Denn einen klaren Kopf brauchen wir, wenn wir in Zukunft unsere Schuldigkeit
tun wollen, allesamt.
Zum klaren Kopf gehört
auch, nun endlich die Stärke des Gegners richtig einzuschätzen und wieder offen
zu sagen, daß wir Feinde haben. Nicht weil ich (Ihr meint ja immer, weil
Christ, müsse ich auch Idealist sein) die Weltgeschichte aus der Ideologiegeschichte
erklären möchte, sondern weil ich an der Ideologiegeschichte - von der ich
beruflich relativ am meisten verstehe - Kräfteverhältnisse der Weltgeschichte
ablese, habe ich von diesem Ungeist des global herrschenden Imperialismus
gesprochen, der zum global herrschenden Ungeist zu werden droht. (...)
Wenn etwa der
Sozialismus als bereits in einem Teil der Welt realisiertes Gesellschaftssystem
noch nicht durchweg zu halten wäre und erst nach einem neuen Anlauf wieder
siegte, dann würde doch die Geschichtsschreibung der Zukunft im Rückblick kaum
mehr über Eure Fehler nachdenken, als antifaschistische Geschichtsschreibung
über die Fehler von Benes. Nicht an Benes' Fehlern ist nämlich nach 1938 die
Tschechoslowakische Republik zugrunde gegangen, sondern an dem Komplott von
München. Kein Mörder wird in der Strafjustiz durch die Fehler seines Opfers
entlastet, und sogar, wenn sich das Opfer mit Tapferkeit und Geschick hätte retten
können, verurteilt man nicht das Opfer, sondern den Täter. Daß das Opfer, wenn
es überlebt haben sollte, vernünftigerweise darüber nachdenken wird, wie es
sich künftig bei Überfällen vorsichtiger, tapferer und geschickter verhält,
steht auf einem anderen Blatt.
2. Ich wollte mit
meiner Polemik gegen diejenigen, die Euch in eine allgemeine Büßerstimmung
versetzen möchten, nicht bestreiten, daß es unter Euch Genossen gibt, die Anlaß
zur Reue haben. (...) Ich denke dabei weniger an die kleinen Leute, die Euch
zugelaufen sind, als es Euch gut zu gehen schien, und die Euch nun wieder
weglaufen. Vielmehr denke ich an diejenigen Mitläufer, die bei Euch
beträchtliche Karriere machten und nun überlaufen. Über sie bin ich weder
überrascht noch von ihnen enttäuscht. Ich habe Euch ja oft geraten, Ihr solltet
Euch nicht über diejenigen täuschen, die offensichtlich nur ihr Süppchen an
Eurem Feuer kochten. (...) Was mich dabei betrübt, ist nur, daß - wenn ich in
diesem Zusammenhang nicht nur an falsche Genossen von Euch, sondern auch an
Eure Blockfreunde denke - wieder Christen unter denen sind, denen Ihr
irrtümlich vertraut habt. (...)
Trotzdem habt im Blick
auf Mitläufer vielleicht auch Ihr etwas falsch gemacht. Eine erfolgreiche
politische Partei wird natürlich immer Mitläufer haben, und sie wird sie sogar
suchen, da sie ja Massenanhang und Mehrheiten braucht (sie wäre sonst keine
politische Partei). Aber habt Ihr es Euch mit ihnen nicht oft zu leicht
gemacht? Ihr habt sie agitiert, bis sie Eure Sprachblöcke fast besser
beherrschten als Ihr selber. Habt ihr auch stets ernstlich versucht, sie zu
überzeugen und zu gewinnen?
Ich hatte ja
Erfahrungen vor Augen, als ich Euch gegenüber 1985 kritisch vermutete,
"man könnte sich eines Mitarbeiters sicherer sein, der von einem selber
Lohn oder Strafe akzeptiert und den man in der Hand hat, als eines solchen, der
einem nur durch das gemeinsame Ziel verbunden ist und in der Bindung an dieses
Ziel eine Freiheit wahrt, die dem Partner auch unbequem sein kann"(WBl
2/88, S.21).
Jedenfalls habt ihr
Euch in der Kirchenpolitik manches verdorben, indem ihr nach 1945 die Mühe
scheutet, mehr antinazistische Christen aus der Bekennenden Kirche, die
allerdings mit unendlich viel deutschnationalen Eierschalen behaftet waren, für
Euch zu gewinnen. Zu oft seid ihr den leichteren Weg gegangen, pronazistischen
Deutschen Christen das gesinnungslose Überlaufen zu Euch als den Siegern zu
erleichtern bis dahin, daß ein Mitarbeiter am berüchtigten "Institut zur
Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben"
ein Volkskammermandat der CDU erhalten konnte.
Aber das betraf nicht
nur die Kirchenpolitik. Beim Dritten Deutschen Volkskongreß stimmten meine
spätere Frau (daß sie es wurde, hat etwas damit zu tun) und ich als einzige
gegen die Gründungsresolution der Nationalen Front, weil unser Antrag, die
Mitarbeit ehemaliger Nazis von einem deklarierten Gesinnungswandel abhängig zu
machen, nicht berücksichtigt wurde.
Danach allerdings
haben ältere Genossen von Euch - Wilhelm Koenen, Walter Ulbricht, Erich
Jungmann, Alfred Meusel, Werner Ilberg (auch Arnold Zweig, der unserer Meinung
zuneigte, ohne mit uns zu stimmen) - mit uns jungen parteilosen Studenten in
einer Intensität und Offenheit diskutiert, die uns tief beeindruckt hat. In
diesen Gesprächen habe ich den Gegensatz zwischen (monopolimperialistischem)
Klassencharakter und (überwiegend kleinbürgerlicher) Massenbasis der NSDAP
begriffen und gelernt, zuerst nach den großen Faschisten und erst dann nach den
kleinen Nazis zu fragen. (...)
Habt Ihr das, was Eure
Väter uns damals beibrachten, und mehr noch: die offen kameradschaftliche Art,
in der es diese alte Garde uns vermittelte, in der nötigen Konkretion und nicht
nur in abfragbaren und memorierbaren Lehrsätzen so weitervermittelt wie Eure
Väter damals uns?
Natürlich: Wir hatten
schon damals Vertrauen zu ihnen. Sie waren die Einzigen, die wir fanden, die
uns erklären konnten, wie Faschismus und Krieg gemacht werden. Dies Vertrauen
erleichterte es Euren Vätern, uns zu lehren, und uns, bei ihnen zu lernen. Und
dies Vertrauen war in Deutschland zunächst nur das Vertrauen der kleinen
Minderheit, die Hitler nicht vertraut hatte. Darin lag - und liegt durch viele
Modifikationen hindurch bis heute - ein Problem. Wir standen schon damals vor
der Frage: Wie schaffen Demokraten eine Demokratie, wie sichern Antifaschisten
die Welt vor dem Rückfall in einen deutschen Faschismus, wie bauen - das war
mehr Eure als unsere Frage - Sozialisten den Sozialismus auf, wenn sie in der
Minderheit sind? Wie wird aus einem - wie macht man aus einem - äußerlich
befreiten, innerlich noch immer unfreien Volk ein freies Volk? Ich meine keine
formale "Freiheit", in der Emotionen über Vernunft und Demagogie über
Erkenntnis triumphieren können. Der deutsche Faschismus selbst ist ja
schließlich (bei allem Betrug, aber doch durch Wahldemagogie und nicht durch
Wahlfälschung) nach "freien Wahlen" durch eine Koalitionsregierung,
wie es sie in fast allen "Demokratien" geben kann, an die Macht
gekommen. Und wer heute in der DDR "freie Wahlen" fordert, der
fordert damit allein ja auch viel eher inhaltlich eine deutschnationale als
eine demokratische Entscheidung heraus. Ich meine mit Freiheit die Einsicht,
das Pflichtbewußtsein und das Verantwortungsgefühl aller, dessen die Demokratie
bedarf, wenn sie weder der Anarchie noch Rattenfängern verfallen soll.
Wie konnte eine
Handvoll antifaschistischer Demokraten und Sozialisten einem Volk, das Adolf
Hitlers Souveränität als seine eigene verinnerlicht hatte, seine
Volkssouveränität zurückgeben? Ich weiß, wie problematisch es ist, in solchem
Zusammenhang von Erziehung zu reden. Auch ich kenne Marx'
"Feuerbachthesen" und weiß, daß Aufklärung unter anderem auch darin
Grenzen findet, daß der Erzieher selbst der Erziehung bedarf. Aber mußte nicht
unser Volk - nicht nur bei Strafe seines eigenen Unterganges, sondern bei
Strafe des Verlustes des eben gewonnenen Friedens - zur antifaschistischen
Demokratie "erzogen" werden? Und war es vermeidbar, daß dabei nicht
nur die zu Erziehenden sich gegen die Erziehung als "Gängelei"
auflehnten, sondern daß auch die Erzieher der Versuchung erlagen, zu
"gängeln" und sich ans "Gängeln" zu gewöhnen? War jene
Synode, die vor vier Jahren immer noch nicht begriff, daß der 8. Mai 1945 ein
Tag der Befreiung war, etwa politisch mündig? Bedurfte sie nicht, um den
Frieden vor Feuer in Kinderhand zu schützen, dringend einer Vormundschaft? Nur,
der Vormund funktionierte keineswegs so gelassen und überlegen, wie es geboten
gewesen wäre, sondern widersprüchlich und inkonsequent. Darum haben wir in den
WBl immer wieder Führungsqualität angemahnt.
Allerdings: Wie mit
unmündigen Kindern kann man nicht mit politisch entmündigten und - mit einer
kurzen Unterbrechung in den sechziger
Jahren - nicht wieder mündig gewordenen Massen umgehen. Da war es besonders
verhängnisvoll, daß der VIII. Parteitag der SED eine Entpolitisierung gefördert
hat, die alle noch vorhandene Unmündigkeit pflegte, statt sie zu überwinden.
Eine Partei, die nach politisch-wissenschaftlicher Erkenntnis die Gesellschaft
verändern will, kann doch nicht statt politischer Ideen Nietenhosen unter das
Volk werfen und zugunsten routinierter Legitimationsideologie das politische
Bewußtsein suspendieren, bis sozialökonomische Programme, wie zum Beispiel das
wirklich imponierende Wohnungsbauprogramm, realisiert sind. So entstanden die
Defizite in Eurer Führungskompetenz. Auch diesbezüglich bleibe ich bei dem, was
ich Euch 1985 sagte:
"Auch diese -
soll ich sagen 'Selbständigkeit'? (jedenfalls meine ich fast das Gegenteil von
dem, was man so gerne 'Eigenständigkeit' nennt) - diese, sagen wir: Selbstverantwortlichkeit für das
gemeinsame Tun kann mißverstanden
werden. Es könnte sich ja dabei um eine Infragestellung der führenden Rolle der
Kommunisten handeln und also um eine Negation der von Marx inaugurierten
historischen Erkenntnis und im alltäglichen Verhalten der in ihr begründeten
Disziplin. Das ist nicht gemeint. Wo Kommunisten wegweisend vorausgehen und
führen, erkennen wir das in der Zusammenarbeit gerne an und lassen uns führen.
Nur: im Unterschied zu einer geführten Hammelherde behalten Menschen, die sich
von Menschen führen lassen, eine bestimmte Verantwortung dafür, daß sie sich und wohin sie sich führen lassen. Das tut weder menschlicher Autorität
noch gesellschaftlicher Disziplin Abbruch. Trotzdem: Christen lassen sich an
einer ganz anderen Stelle als 'Schafe' bezeichnen, die eines 'guten Hirten'
bedürfen, daß er sie hüte..." (WBl 2/88, S.22).
Echte Führung heißt zu
allererst sagen, wohin der Weg geht und wie steinig er sein wird. Wenn Ihr
jetzt noch immer nicht offen sagt, was wirklich geschieht: daß man zwar nicht
in Bonn, aber im Kräfteparallelogramm der Kräfteverhältnisse in der Welt
darüber entscheiden wird, ob die DDR dem IWF ausgeliefert oder der BRD
angeschlossen wird, wenn sie sich nicht endlich dieser Gefahr zwischen Skylla
und Charybdis so bewußt wird, daß sie die Kraft findet, sich zu wehren, dann
werdet Ihr ohnmächtig bleiben gegenüber den vielen, die unter Eurer
Vormundschaft nicht mündig geworden sind und, während sie Euch deshalb
anklagen, offenbar wieder einmal drauf und dran sind, in politischem
Dilettantismus zu bewirken, was sie nicht wollen: sie wollen den Sozialismus
erneuern, aber sie werden - läßt man alles laufen - den Kapitalismus
restaurieren. 4
Ich war von dem
"Mitläuferproblem" ausgegangen. Dahinter steht meines Erachtens - und
das habe ich zu skizzieren versucht - das Problem der Befreiung von außen und
überdies die schweren Belastungen deutschen Erbes. Wie man diese Probleme
besser hätte lösen können, weiß jedenfalls ich nicht. (Die BRD hat es, von
linken Oppositionsbewegungen und -gruppen abgesehen, einfach nie versucht.)
Aber auf diesem vulkanischen Untergrund bildeten sich Unebenheiten an der
Oberfläche, die vielleicht vermeidbar gewesen wären.
Mußtet Ihr zum
Beispiel wirklich so viele Arbeitsplätze mit Euren Genossen besetzen, daß Ihr,
um sie auszufüllen, alle möglichen Karrieristen zu Genossen machen mußtet? Seid
Ihr damit nicht in einen bedenklichen Zirkel geraten? Die Karrieristen mußtet
ihr beaufsichtigen und gängeln. Da Ihr aber Euren Leitungsstil darauf
einrichten mußtet, fandet Ihr immer schwerer selbstbewußt-verantwortungsbereite
Kommunisten, freie Menschen, die bereit waren, wirkliche Verantwortung in den
Leitungen zu tragen. Begreiflicherweise wollten sie ja zwar
bewußt-diszipliniert handeln, aber nicht nur scheinverantwortlich Weisungen
empfangen und weitergeben. Damit könnte es wohl zusammenhängen, daß Leitungen
bürokratisiert wurden und sich bürokratische Verwaltungen wie Leitungen
gebärdeten. Natürlich brauchen gute Leitungen gut funktionierende Büros, aber
die Leitungen müssen die Apparate leiten, nicht umgekehrt, und die Grenzen und Kompetenzen
zwischen Leitungsverantwortung und funktionaler Pflichterfüllung müssen klar
sein. (...)
3. Es ist kein Ruhm,
auf den Ruinen seiner Vaterstadt wieder einmal Recht gehabt zuhaben - so etwas
ähnliches habe ich einmal bei Dietrich Bonhoeffer gelernt. Darum sollten wir
jetzt weder gegenseitig noch je untereinander abrechnen, wer etwa am ehesten oder
am meisten "recht gehabt" hat. Jetzt immer wieder die Vertrauensfrage
stellen heißt, eine Zwiebel schälen. Wenn eine Klasse unter Wahrung ihrer Macht
eine unfähig gewordene Regierung ersetzen will, dann kann sie das gar nicht
anders tun als in den Grenzen ihrer eigenen Machtstrukturen. Das heißt
zugleich, daß - wer immer wen ablöst - der Nachfolger kraft seiner
Zugehörigkeit zum Klassensystem bis zu einem gewissen Punkt mitverantwortlich
ist für das, was vorher geschah. Nur wer die Klassenherrschaft selbst umstürzen
will, wird aus solchen Gründen Rücktritte fordern - Nachdenken zu fordern ist
etwas anderes. (...)
Etwas anders ist die
Frage nach Verrat und Verbrechen.
Kein Vertrauen,
sondern das Gegenteil verdient, wer - so wie die bürgerlichen Regierungen sich
mit Wahlgeschenken Stimmen kaufen - Volksvermögen, das wir dringend für
produktive Investitionen brauchen, verschleudert hat, um sich nach der Devise
"nach uns die Sintflut" mit attraktiven Westimporten Wohlwollen zu
erkaufen; wer, statt mit seinen Freunden offen zu reden, zu Antikommunisten
Verbindung aufgenommen hat in der Hoffnung, sie könnten ihm über
Schwierigkeiten hinweghelfen; wer - statt dem Volk die Wahrheit über die
Situation zu sagen und es mobil zu machen angesichts dessen, daß die DDR in
Gefahr geriet - gegenüber seiner eigenen Partei und dem eigenen Volk zum
Staatsgeheimnis gemacht hat, was man in imperialistischen Zeitungen lesen konnte
und was jedenfalls die Feinde unseres Staates immer wußten. (Vor wem eigentlich
sind Staatsgeheimnisse geheim?)
Ich habe den Eindruck,
daß viele unter Euren Genossen, die ich hier nicht unmittelbar als meine Freunde Genossen anrede, denken, der
Hauptfehler Eurer Partei sei so etwas gewesen wie eine
"Linksabweichung". Ich finde - von außen gesehen! - das Gegenteil ist
der Fall, obwohl ich zu wissen denke, wieviel Sektierertum es in Eurer Partei
gab; aber das war weniger eine Frage der Theorie oder Anleitung von oben,
soweit ich es beobachten konnte. Das waren vielmehr unsachliche individuelle
Gegenschläge von unten gegen einen Sozialdemokratismus in den Leitungen oder
auch hier und da "Radfahrertum" (nach oben bücken, nach unten treten)
von Mitläufern, die ich nicht Kommunisten nennen möchte (siehe oben).
Vermutlich spielt bei dieser Unsicherheit, ob es eigentlich vorrangig um linken
oder um rechten Opportunismus ging (beides kann ja auch Arm in Arm wirken), die
Unklarheit eine Rolle, die sich für viele unter Euch mit der nun wieder einmal
aufbrechenden "Stalinismus/Antistalinismus-Frage" verbindet. Ich
begreife sehr wohl, daß für Ältere unter Euch besonders diese Frage in ihrem
ernsthaften Sinne ein existentiell belastendes Trauma berührt. Mir ist auch klar,
wie wichtig es ist, zu überlegen, welche Garantien gegen die Entgleisung einer
Partei wie der Euren von der Spitze her möglich sind - dabei waren (wie gesagt)
die letzten Entgleisungen gerade Eurer Partei zumindest nach meiner Einsicht
nahezu das Gegenteil von stalinistischen Entgleisungen, wenn man einmal von
den, in diesem Falle aber mehr tragikomischen, Elementen des Personenkultes
absieht. Immerhin konnten die WBl acht Jahre lang erscheinen, ohne daß auch nur
ein einziges Mal ein WAK-Autor dem Kultobjekt über sachlich gebotene Nennung
hinaus Reverenz erwiesen hätte. Zugegeben: daß wir darauf geachtet haben,
bestätigt den Verdacht des Personenkultes; daß wir uns straflos seiner
enthalten konnten, markiert einen Unterschied zum "Stalinismus". Für
all das aber bin ich inkompetent - zumal ich zu Stalin ein rein bürgerliches
Verhältnis gehabt habe, wie alle bürgerlichen Anhänger der Antihitlerkoalition
es hatten, von der Frage also existentiell kaum mehr betroffen bin als von den
üblen Dingen, die ich nach dem Krieg über mein damaliges Idol Churchill erfuhr.
Aber aus dieser
relativen Neutralität heraus bitte ich Euch: Laßt Euch doch nicht kopfscheu
machen! All das ist doch nicht die jetzt vor allem zu lösende Frage hier und
heute. Und hinter dem unhistorischen politischen Aufwerfen dieser Frage
verbirgt sich doch ein handfester Etikettenschwindel. Zuweilen klingt das ja
so, als wäre, vom Klassenkampf und Klassenfeind zu reden, stalinistisches
Sondergut, als wären solche bösen Worte Marx, Engels, Bebel, Liebknecht, Rosa
Luxemburg, Che Guevara, Ho Chi Minh oder Fidel Castro völlig fremd. Bei der
"Stalinfrage", die gegenwärtig in den politischen Kampf geworfen
wird, geht es doch nicht um Stalin, sondern um Euch Kommunisten insgesamt.! Und
keineswegs nur um Euch! (...)
Um auf die
Vertrauensfrage zurückzukommen: Ich denke, man sollte sie nicht mystifizieren
oder über Gebühr moralisieren. Wir wollen ja unsere Politiker nicht heiraten.
Und die politische "Vertrauensfrage" hat zwar mit der Frage
menschlichen Vertrauens etwas zu tun, fällt aber nicht einfach mit ihr ineins.
(...) Was traue ich wem zu wessen Gunsten zu? Das ist doch die entscheidende
Frage. Und diese Frage ist nicht primär im Blick auf die Vergangenheit zu
stellen. Das kann nur allzu leicht dazu führen, daß man mit ihr unentwirrbar
auch solche trifft, die sehr real die Gefahr erkannt haben, die dem Sozialismus
von seinen Feinden droht, und darum versuchten, ohne eine antikomunistische
Lawine loszutreten, den Kurs Eurer Partei parteilich und diszipliniert zu
korrigieren. Wenn sie dabei anscheinend darin irrten, daß sie die Disziplin
über die Parteilichkeit stellten und nicht beachteten, daß die Disziplin der
Parteilichkeit dienen muß, dann spricht das zwar gegen ihre politische
Fähigkeit (und daraus muß man eventuell Konsequenzen ziehen), aber nicht gegen
ihre Redlichkeit.
Ich finde, die
Vertrauensfrage ist vor allem im Blick auf Gegenwart und Zukunft zu stellen.
Und an dieser Stelle, liebe Freunde Genossen, kann ich nur ganz subjektiv
sagen: Vertrauen habe ich zu Euch, wenn Ihr wie in guten so auch in bösen Tagen
Eurer Sache treu bleibt: der Solidarität mit den "Verdammten dieser
Erde", der Solidarität mit dem "Drittel" in den
"Zwei-Drittel-Gesellschaften", der Solidarität mit den Verelendeten
in den Hinterhöfen des imperialistischen Wirtschaftssystems in der
"Dritten Welt", der Solidarität (nicht mit den Leistungsunwilligen,
aber) mit den Leistungsunfähigen gerade auch in Zukunft in unserem Land und der
Rationalität Eurer historisch-dialektischen Gesellschaftsanalyse, die aus einer
Legitimationsideologie wieder zu einer Aufgaben stellenden, zum Handeln
anleitenden Theorie werden muß, und wenn Ihr bei alledem mit dem
sozialistischen Charakter der DDR zu stehen und zu fallen bereit seid! Die
Pariser Commune wurde besiegt, aber sie hat nicht widerrufen. So ermutigte sie
zum revolutionären Prozeß, der weitergeht. Wahrt Eure Würde! Was wir brauchen
(wenn wir können in der Führung der DDR, sonst in der Opposition) ist eine
antiimperialistische Einheitsfront in ganz Europa. - Macht Ihr mit, Freunde
Genossen?
Offener Einspruch zu Hanfried Müllers Brief (1989)
von Christian
Stappenbeck
Es ist jammerschade
und politisch falsch, daß Sie, lieber Hanfried Müller, die Treue zur Sache der
Armen und "Verdammten dieser Erde" mit dem cantus firmus "keine
Reue, keine Schuldbekenntnisse" zu verbinden suchen.
Dahinter steht die
irrige Meinung, die jetzige Krise sei primär
durch feindliche Einwirkung und nicht durch eklatantes Versagen der
marxistischen Partei entstanden (derselbe Irrtum wie 1953!).
Richtig ist, es darf
keine Reue sein über die gute Zielsetzung: für Frieden und Sozialismus.
Unbedingt nötig aber ist die Schulderkenntnis über die Holzwege und Abirrungen
- eine Schuld gegenüber den Armen, deren Sache nicht bestmöglich wahrgenommen
wurde. Dabei zeigt ja Ihr Offener Brief etwas von der öffentlich notwendigen
Fehlerdiskussion, die bei uns 1953, 1956/57 und später leider unterlassen wurde
mit den bekannten negativen Langzeitfolgen.
Ihr Bild von der Vernarbung
alter Wunden (enthalten in einer Antwort an mich in WBl 1/89, S.62*)
wäre sehr schön, wenn - ja wenn nicht zurückgebliebene Eiterherde die
Narbenbildung verhinderten. Zu solchen Eiterherden gehören gleichermaßen die
Massenmorde von Katyn mit den nachfolgenden Lügen wie die strafrechtliche oder
andersgeartete Verfolgung alternativer Konzeptionen (Janka), was in der
Leninschen Partei undenkbar war. Da helfen nur radikale chirurgische Schnitte.
Damit aus Willkür Ordnung wird, müssen wir uns radikaler kritisieren als selbst
unsere Feinde.
"Nicht bereuen
ist aller Weisheit Anfang" - der dem früheren US-Präsidenten L. B. Johnson
zugeschriebene Satz mag zwar für politisches Taktieren sehr nützlich sein, ist
aber keine Grundlage für ernsthafte sozialistische Gesellschaftsgestaltung.
Revolutionäre bekannten durchaus ihre Schuld, wenn sie falsch geführt hatten.
Lenin, im Hinblick auf die Nationalitätenpolitik (Bd.36, S.590) schrieb: Ich
habe mich vor den Arbeitern Rußlands sehr schuldig gemacht...
Ihr Fehler zeigt sich
unter anderem bei dem Vergleich mit Benes und der CSR-Krise 1938: Diese war
erzeugt durch äußere Feindmächte; die unsere ist hausgemacht durch massive
Deformationen und Willkürakte und kein Ergebnis eines "Komplotts".
Man kann eben das Ziel nichtentfremdeter produktiver Arbeit, dem Sozialismus
gemäßer Formen in Kultur und Politik nicht erreichen, wenn man das
administrative System, den Ausschluß der Produzenten von der Verfügung über die
Produktion als "Sozialismus" ansieht.
Unsere "gute
sozialistische Ordnung" war natürlich noch kein Sozialismus, und sie wurde
zuletzt immer unordentlicher. Trotzdem, aus dieser nachkapitalistischen
Übergangsordnung konnte und kann man etwas Ordentliches machen, wenn man die
Konzeptionen und Alternativen öffentlich diskutiert, die Volkssouveränität laut
Verfassung ernst nimmt, die Usurpation der Macht durch eine bürokratische
Schicht überwindet. Wir haben leider übersehen, daß das Haupthindernis dabei
der (von unten) unabsetzbare Apparat war. Wobei nicht zu vergessen ist, daß
viele Apparatleute treu und selbstlos für eine Verbesserung unserer
Gesellschaft arbeiteten.
Sollen wir nicht
bereuen, daß die Volkswahlen mangels demokratischer Weiterentwicklung zur Farce
verkamen?
Soll die Partei der
Kommunisten nicht als Schuld bereuen,
daß sie seit langem die Konzeption der Konsumsteigerung statt der Steigerung
selbstverantwortlicher Mitbestimmung vertrat? Nicht bereuen, daß die letzten
Jahrzehnte ungenutzt blieben zur wirklich wissenschaftlichen Erforschung der
Ökonomie des Sozialismus?
Wir beide müssen
sicher bereuen, das Globalproblem Umweltvernichtung vernachlässigt zu haben in
der Erwartung, das erstrebte und dermaleinst verwirklichte Ziel der Abrüstung
würde dann die Zeit und das Geld dafür bringen. In diesem Punkt müssen wir z.B.
auf das jüngste Positionspapier aus der CFK hören (Rundbrief 5/89, S.6), das
angesichts der Umweltkrise über die ökologieverträgliche, sozial gerechte und
friedensfähige Gesellschaft als die wahrhaft fortschrittliche spricht.
Dennoch werden
künftige Historiker über unser Jahrzehnt wahrscheinlich feststellen können: Die
Staaten des sozialistischen Lagers (Warschauer Bündnis) haben insbesondere seit
Mitte der 80er Jahre das Entscheidende geleistet zur beginnenden Lösung der
Globalfrage Abrüstung, zur Umsetzung des Prinzips struktureller
Angriffsunfähigkeit in staatliche Politik, nachdem sie bereits zwanzig Jahre
zuvor das Konzept für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa initiierten. Aus
ökonomischer Schwäche dem Wettrüsten nicht gewachsen, wurden sie zu kühnen
Schritten alternativer Sicherheitspolitik gezwungen. - Was ihnen nicht gelang,
war die Umstürzung aller
Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, beleidigtes, verächtliches
Wesen ist.
Vor Jahren sagte mir
ein nordamerikanischer Sozialist auf die Frage, was unsere wichtigste Hilfe für
sie sei: Macht so wenig Fehler wie möglich! Das sind wir ihnen schuldig
geblieben, und darin besteht die Schuld der DDR gegenüber den Armen dieser
Erde. Diese Schuld zu tilgen verlangt, die geschehene unvermeidbare Revolte vor
dem Abgleiten in eine kapitalistische Restauration zu bewahren.
Briefwechsel zu einer Abbestellung mit Thomas Drachenberg
(1989)
Thomas Drachenberg an
die WBl: Berlin,
12. 11. 1989
Hiermit bestelle ich
die WBl ab. Auch die Redaktion der WBl muß sich nun öffentlich den Vorwurf
gefallen lassen, zu spät und mit dem letzten Heft nur halbherzig die
bestehenden Mißstände in unserer Gesellschaft erfaßt zu haben.
Der letzte
Synodalbericht wirkt geradezu peinlich angesichts der revolutionären
Geschehnisse in diesem Land. (Gerade das Datum 5. Oktober beweist, daß die WBl vor der "Wende" an den
Hauptproblemen vorbei publizierten.)*
Auch die WBl haben
durch Verharmlosung (Bewertung des Verbots einzelner Ausgaben der
Kirchenzeitung Die Kirche) und
durch Schweigen (Wahlbetrug kommt als Vokabel auch in zartesten Andeutungen
einfach nicht vor) Schuld an der derzeitigen Krise. Die von mir bestrittene
Meinung zu Reisefragen (Stappenbeck, Müller-Streisand) hat sich von der
Realität ad absurdum führen lassen.
Herr Stappenbeck! In
Heft 4/89, S. 2, Punkt 3 schreiben Sie von einer "marxistischen Partei als
Avantgarde". Wo war die Avantgarde denn, als wir, das Volk, trotz brutalem
7./8. Oktober auf die Straße gingen? Die Theorie vom Machtanspruch einer Partei,
das Ergebnis können wir studieren, muß ausgedient haben. Ansonsten können wir
Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus vergessen. Wahlen, keine zuletzt
noch frech manipulierten Theatervorstellungen, müssen die "Avantgarde"
bestimmen.
Die Verquickung von
bis zum 7./8. Oktober bestehender Gesellschaft und den Idealen eines Christen
war für mich bisher interessant, weil exotisch. Die Auseinandersetzung mit
diesen Denkschemata zum Teil reizvoll (siehe meine Wortmeldungen).
Ich denke aber, in
Zukunft darauf verzichten zu können, da die derzeitigen Entwicklungen im Lande
andere, effektivere Möglichkeiten eröffnen.
Rosemarie
Müller-Streisand an Thomas Drachenberg: Berlin,
15. 11. 1989
Leider sind wir uns nach
wie vor uneinig in der Lagebeurteilung. Sie erklären, was zur Zeit in der DDR
geschieht, als "revolutionär", während ich darin Sozialismus-,
womöglich gar Friedens- gefährdende Aktivitäten sehe, auch wenn sehr, sehr
viele Akteure das weder wissen noch wollen.
Denn die, die sich
jetzt als Subjekt der Geschichte fühlen, sind in Wirklichkeit Objekt in einem
bösen Spiel. Der Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen, von dem man wissen muß,
daß er "der DDR große Chancen <gibt>, wenn sie den Umbau in einer
freie Marktwirtschaft wirklich will"1, hat die Spielregel
erläutert:
"Warum hat sich
das alles so ergeben in der DDR, wie es jetzt ist? Weil die Menschen offenbar
ein anderes System wollen. Wenn das so ist, dann sollten wir nichts tun, was
diesen Schwung erlahmen läßt. Das wäre doch wohl gegen die Interessen derer,
die diese Entwicklung durch ihr Verhalten erzwungen haben. Das ist eine
Daumenschraube, die in der demokratischen Entscheidung der Bürger liegt. Und
die möchte ich ganz gerne erhalten sehen."2
Stellen Sie sich vor,
die Demonstranten riefen: "Wir sind die Deutsche Bank!" Keiner ginge
hin. Rufen sie jedoch "Wir sind das Volk!", dann kommen viele und
sind die "Daumenschraube", die Herr Herrhausen "ganz gern
erhalten sehen" möchte.
Der Begriff der
"Wende" - nicht zufällig vorgegeben aus der BRD-Geschichte - trifft
sachlich voll zu. Unser Weg führte - so stolpernd und rückwärtsblickend wir ihn
auch seit dem VIII. Parteitag gegangen sind, bis wir schließlich in ein
Schlammloch fielen, aus dem wir uns doch hätten aufrappeln können - immerhin
noch vage in Richtung Sozialismus und wäre korrigierbar gewesen. Nun aber
deutet alles darauf hin, daß sich, wie vor uns in Ungarn, eine Wende zum
Kapitalismus vollzieht.
Denn ich fürchte, daß
die, die rufen "mehr Demokratie", noch nicht gemerkt haben, daß bürgerliche
und sozialistische Demokratie Alternativen sind. Bürgerliche Demokratie, das
heißt: Schutz der Unternehmerfreiheit gegen Volksentscheidungen, Schutz der
privaten Kapitaleigner vor dem Willen der Produzenten. Sozialistische
Demokratie heißt: Recht der Produzenten auf den Staat, Schutz des Volkes vor
der Freiheit der Unternehmer.
Bei einer solchen
"Wende" wäre nur noch offen, ob der Kapitalismus ein bißchen
verschämt und sozialdemokratisch oder offen auf CDU-deutschnationale Weise
eingeführt würde. Aber das hängt nicht von uns ab, sondern von den
internationalen Kräfteverhältnissen, nämlich davon, ob die EG insgesamt die DDR
in ihr System einbeziehen wird (wie es Genscher und die SPD wollen) oder ob - auf
das Risiko hin, daß der "Gemeinsame Markt" nicht zustande kommt -
"Gesamtdeutschland" zum alleinigen Hegemon Europas wird und so der
Traum deutscher Faschisten von einer "Neuordnung Europas" nach 50
Jahren seine Erfüllung findet. Weil die DDR im ersten Fall zu den ausgebeuteten
und im zweiten Fall zu den Ausbeuternationen gehören würde, wird bei
"freien Wahlen" möglicherweise trotz Unterstützung der SPD durch die
II. Internationale der zweite Weg vorgezogen werden. Dann aber ist nicht nur
die polnische Westgrenze verloren, sondern auf die Dauer der 3. Weltkrieg der
Imperialisten untereinander vorprogrammiert. Die DDR-CDU hat bereits
regelmäßige Treffen mit Herrn Diepgen vereinbart und wird sich demnächst mit
Minister Warnke/CSU treffen. Soll so demonstriert werden, wohin unsere
"christliche" Partei steuert? Sofern nicht - ich wage kaum noch,
darauf wie auf ein Wunder zu hoffen - der Sonderparteitag der SED zu
Beschlüssen führt, die der gegenwärtigen Kapitulation eine entschiedene Absage
erteilen, würden uns Wahlen jene Alternative aufzwingen. (...)
Und so denke ich nicht
daran, in die Schuld- und Reuebekenntnisse der DDR-CDU miteinzustimmen, sie
hätte es versäumt, auf die warnende Stimme der Kirche zu hören. Und ich bin
auch nicht geneigt, der Einschätzung unserer leider immer noch nicht führenden,
sondern den Ereignissen hinterherhechelnden SED, die jetzt vom
"konstruktiven Wirken der Kirche" spricht, zuzustimmen. Ich sehe die
Dinge wieder einmal oder immer noch anders, und ich benutze die mutmaßlich kurze
Zeit, in der es noch möglich ist, das offen zu schreiben, zum Versuch einer
Begründung.
Dabei will ich
zunächst feststellen, daß ich nach wie vor zu meinem am 5.10. abgeschlossenen
Synodalbericht und seinen Einschätzungen stehe. Wenn Sie Heft 4/89 der WBl
durchsehen, werden Sie feststellen, daß ich noch 11 Tage Zeit gehabt hätte,
meinen Artikel * zurückzuziehen oder
zumindest zu korrigieren. Ich wußte, warum ich es nicht tat.
Zunächst einmal und
vor allem bleibe ich dabei, daß der Angriff des Imperialismus auf den
Sozialismus das Erste und Grundlegende und der klassenverräterische
Rechtsopportunismus in unserer Führung, der die SED beherrschte und mit dem sie
hoffentlich einmal fertig wird, das Zweite war, was zu unserer Niederlage
geführt hat. Die BRD hat seit 19 Jahren gewußt, welche Politik Honecker trieb,
aber sie hat ihn 17 Jahre lang - niemand kann ihr das verübeln, nahm sie doch
nichts als das Interesse der in ihr herrschenden Klasse wahr - gelobt und auch
unserer Bevölkerung wissentlich Sand in die Augen gestreut, bis die DDR
sturmreif gewirtschaftet war. Oder meinen Sie etwa, das
"Staatsgeheimnis" unserer Valuta-Verschuldung sei den westdeutschen
Banken nicht auf Heller und Pfennig bekannt? Seit Jahren haben wir uns
gewundert, daß die BRD gegen die zunehmenden Versorgungsmängel unserer
Wirtschaft in ihren Medien nicht polemisiert, sondern sie mindestens so
verdeckt hat wie Günter Mittag.
Und wenn ich
"BRD" sage, könnte ich im Blick auf das, was repräsentativ in
Erscheinung trat, ebensogut "Kirche" sagen. Oder meinen Sie, eine
Institution, die so tief in das "deutsch-deutsche" Finanzgefüge
eingebunden ist, wäre innerlich so frei gewesen, wie es der Kirche geziemt?
Aber, werden Sie
einwenden, die Kirche hat doch wirklich Mißstände benannt: Die unsägliche
Informationspolitik, die Fälschung der Wahlergebnisse, das patriarchalische
Gehabe. Mußte man da nicht miteinstimmen?
Nein, man mußte nicht!
Zwar durfte nicht gerechtfertigt werden, was der Sozialismus an schweren
Fehlern beging - und Sie werden in den WBl von seiten der W<eißenseer>A<rbeits>
K<reis>-Autoren keine einzige Zeile finden, in der eine solche
Rechtfertigung stattfand! -, aber wer wußte, wozu die Kirche kritisierte, konnte in diese Kritik nicht einstimmen. Denn es war hinsichtlich der
bestimmenden Kräfte die Kritik einer systemfeindlichen, nicht einer regierungskritischen
politischen Opposition. Gewiß, niemand kann es einer politischen Partei verübeln,
wenn sie Schwächen und Fehler des Gegners ausnutzt, um ihn zu bezwingen, wie
z.B. die BRD-Monopole die Skandale um die "Neue Heimat" und
"co-op" rücksichtslos ausbeuteten, um die Gewerkschaften zu
desavouieren.
Aber - das war unser
entscheidender Grund - durfte die Kirche überhaupt zur politischen Partei
werden? Das haben wir wieder und wieder gefragt, und dabei haben wir nur das
wiederholt, was Barmen V und die Sieben Weißenseer Sätze dazu gesagt haben.
Sekundär war etwas
anderes: die Kritik kam von einer Kirche, die in ihrer überwältigenden Mehrheit
den Sozialismus in Deutschland seit seinem Entstehen gehaßt und bekämpft und
dafür auch nach 1945 nur mit einer verschwindenden Minderheit im Darmstädter
Wort Buße getan hatte, während die Mehrheit auf ihrem Antikommunismus beharrte.
Das ist unbestreitbare Wirklichkeit, auch wenn die DDR-CDU in dem von ihr
propagierten Geschichtsbild den Versuch machte, die Kirche gesundzubeten, und
auch wenn der Staat schließlich spätestens seit dem 6. März 1978 gute Miene zum
bösen Spiel machte und so tat, als merkte er nichts.
Die kirchlichen
Kräfte, deren Kritik auch - keineswegs
nur! - Kritisierenswertes traf, wollte im besseren Fall ihre klerikale Macht
durch Kirchenfüllung stärken, indem sie für politische Opponenten jeder Art
attraktiv wurden, und im schlechteren Falle wollten sie den Sozialismus
aufweichen und schließlich beseitigen. Es ist doch von geradezu symbolischer
Bedeutung, wie die Demonstrationen in Leipzig, bei denen die SED in den Sarg
gelegt wird und Skinheads bereits formiert auftreten dürfen, nach wie vor ihren
Ausgang von "Friedensgebeten" aus Kirchen nehmen und daß die Freiheit
der Kirchenpresse in der Rezeption Heideggers kulminierte. Viele unserer
Kirchen sind der Schoß, aus dem das kriecht, und wer denkt da nicht an
Matth.21,13? ("Es steht geschrieben: 'mein Haus soll ein Bethaus heißen',
ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht") Und nun hat Manfred Stolpe
anläßlich seiner heutigen Ehrenpromotion durch die A<ktuelle> K<amera>
verkündigen dürfen, er wolle den "...ismus" beim Sozialismus
weghaben. Endlich redet der Dramaturg unserer Kirchenpolitik und Schirmherr der
Gruppen Klartext: nicht "sozialistisch", sondern "sozial" -
so eben nennt sich die Marktwirtschaft der BRD. "Sozial" heißt ja
bestenfalls - das heißt, wenn nicht nur Mildtätigkeit durch Almosen für die
Armen gemeint ist, - nicht mehr, als daß zur Erhaltung des "sozialen
Friedens" inmitten einer von Ausbeutung bestimmten Welt wenn möglich
jeder, der nahe bei den Zentren des Reichtums arbeitet und lebt, ein paar
Brocken von der umfänglichen Beute abbekommen kann, die insbesondere auch aus
der Dritten Welt kommt, und daß er, wenn er zur Reservearmee der Arbeitslosen
einberufen wird, in verschämter Vereinzelung noch "Fürsorge"
empfangen darf, damit keine "soziale Unruhe" aufkommt. Grundlegende
Voraussetzung solcher Konkurrenzgesellschaft aber bleibt, daß sich an ihren
Rändern innen und vor allem außen das Elend der Verhungernden ausbreitet.
Und nun habe ich Ihren
Satz vor Augen: "der Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus".
Ich gestehe Ihnen gerne zu, daß Sie das ehrlich so meinen und wollen. Aber
wissen Sie und wissen die besseren Vertreter des "Neuen Forum", die
sich inzwischen anschicken, die SED links zu überholen, wissen Sie eigentlich,
was Sie angerichtet haben? Ich wünschte nichts sehnlicher, als daß ich mich
irrte. Aber ich fürchte, daß Sie alle einer furchtbaren Illusion erlegen sind
und noch erliegen, nämlich als ginge es um eine "Verbesserung" des
Sozialismus und nicht um seine Liquidierung nach ungarischem Modell, nur noch
viel rasanter. Daß inzwischen auch SED-Mitglieder und -Zeitungen das Wort
"Erneuerung" ohne Richtungsangabe benutzen wie anfänglich
BRD-Politiker das Wort "Reform", wird vielleicht auch Ihnen zu denken
geben ebenso wie die Tatsache, daß unsere Medien immer noch Fundamentales verschweigen
wie z.B., daß Gerassimow erklärt hat, die DDR brauche nicht
"kommunistisch" zu sein, Hauptsache, sie bliebe im Warschauer Pakt.
Noch ein weiteres: Es
ist schlimm genug, daß kirchliche Gruppen systematisch die sozialistische
Staatsmacht untergraben und desavouiert haben. Daß dann schließlich als
"Bullen" Provozierte sich provozieren ließen, hätte nicht geschehen
dürfen. Und daß offenbar in Haftanstalten schwere Vergehen im Amt vorgekommen
sind, ist für mich ein himmelschreiender Skandal - warum aber auch für Leute,
die überall nur Bullen sahen? Konnten sie
denn von Ochsen mehr als Rindfleisch erwarten? Und wo bleibt rechtliches
Denken derer, die - mit Recht! - Gleichheit vor dem Gesetz für jedermann so
laut fordern (als wäre das hierzulande ein ganz neuer Gedanke), wenn sie (wie
wir alle) hören, daß ein in Berlin eingesetzter Untersuchungsausschuß
"betroffene" Polizeioffiziere ausschließt, aber
"betroffene" Demonstranten nicht als befangen ansieht? Müßten nicht beide als Richter in eigener Sache
ausscheiden, und müßten nicht beide als
Zeugen in eigener Sache gehört und also vor dem Gesetz rechtlich gleich
behandelt werden? Warum kommt keiner auf diese Frage? Ist man allerseits so
selbstverständlich in die Kampagne gegen alle Sicherheits- und Staatsorgane
integriert, daß hier das Rechtsbewußtsein endet, zum Beispiel die
Unschuldsvermutung bis zum Urteil?
Ich konzediere vielen,
vielen Demonstranten, daß sie dem Sozialismus keine Absage erteilen, sondern
ihn - mutmaßlich ahnend, was sich jetzt beim Kassensturz als bittere Wahrheit
herausstellt - verbessern wollten. Aber weil sie fahrlässig oder wissentlich
seine Macht überhaupt problematisierten, werden sie bald selbst von ganz, ganz
anderen Mächtigen überrollt werden, und wenn die Dinge so weiterlaufen, werden
wir uns in vielleicht gar nicht so ferner Zukunft zusammen mit vielen, die
subjektiv ehrlich das Beste wollten, auf der Seite der Unterlegenen - und dann
hoffentlich trotzdem noch kämpfend! - wiederfinden. Dann wird Ihnen vielleicht "Reue"
naheliegen, aber auch dann wird es wichtiger sein, zu widerstehen und sich um
vergangene Fehler nur unter dem Gesichtspunkt zu kümmern, daß man durch sie
klüger wird, um sie nicht noch einmal zu begehen, und im übrigen nach vorn und
nicht zurück zu sehen.
Schließlich noch zur
Öffnung der Grenzen: Haben Sie gewollt, daß Reagans Forderung "Die Mauer
muß weg!" nicht nur erfüllt, sondern auch noch als Heldentat unsererseits
deklariert würde? Ich nicht. Haben Sie gewollt, daß der Bundespräsident, so
ganz aus Versehen, über unsere Grenze gerät (welch symbolischer Akt!), daß am
nächsten Tag unsere Grenzer ihm auch noch die Hand schütteln müssen, als ob es
kein West-Berlin-Abkommen gäbe, nach dem er dort höchstens als Tourist etwas zu
suchen hat, und daß unsere Zeitungen ihn auch noch dafür loben? Ich nicht.
Haben Sie gewollt, daß DDR-Bürger sich würdelos - Menschenwürde wurde doch so
groß geschrieben! - um Schokoladentafeln balgen und Kaufhäuser leerkaufen (aber
wer hat ihnen das "am Westgeld hängt, nach Westgeld drängt doch alles -
ach wir Armen" eigentlich vorgemacht)? Ich nicht, und Sie sicher auch
nicht. Und haben Sie gewollt, daß nun zwar nicht eine NATO-Armee mit klingendem
Spiel, aber EG-Monopolisten mit klingendem Geldbeutel durchs Brandenburger Tor
marschieren? Und daß unsere Vierzehnjährigen nach der Schule von ihrer
"Reisefreiheit" (es war ja bekanntlich die Kirche, die sie für Kinder
gefordert hat, und jetzt könnte es schrecklich wahr werden) Gebrauch machen und
mit Drogen zurückkommen können, wovon - so hoffnungslos wie im Westen - ihre
Eltern sie abhalten sollen?
Was an den Grenzen
passiert, ist symbolisch für die jetzt einbrechende Anarchie, die von Naiven
noch als "Demokratisierung" begrüßt wird und ihre tragikomischen
Reize haben mag. Zugegeben: ein politischer Demokratismus ohne
sozial-ökonomische Basis ist vor allem für jüngere Intellektuelle bezaubernd.
Meine Generation hat nach der Befreiung so etwas erlebt. Aber er ist nur ein
flüchtiger Durchgangspunkt während einer Revolution oder während einer Konterrevolution.
Nach der zukunftsträchtigen Entscheidung über die ökonomische Macht wird dabei
keiner gefragt - davon ist in den Medien so wenig die Rede wie in Hermanns
Zeiten*,
darüber wird auch in den "freiesten Wahlen" nicht abgestimmt, darüber
entscheiden Kräfteverhältnisse, die den Verlauf von Meetings bestimmen, aber
nicht von ihnen bestimmt werden.
Einspruch (1/1990)
von Rosemarie
Müller-Streisand
Antikommunismus ist
nicht neu. Expansion des Kapitals ist nicht neu. Kapitulation vor einem
übermächtigen Gegner ist nicht neu. Neu aber ist die Art und Weise, wie uns das
alles durch Presse, Funk und Fernsehen in beiden
deutschen Staaten akzeptabel gemacht werden soll.
Analysiert man das
Vokabelheft, das Wender und Gewendete jetzt auf dem Schreibtisch haben, wenn
sie für die gleichgeschalteten Medien formulieren, dann stellt man fest, daß es
- abgesehen von der grundsätzlichen Suggestion, es handele sich um einen Sieg
und nicht um eine Niederlage, um Revolution und nicht um ihre Gegenteil - zwei
Varianten der Irreführung gibt.
Die eine besteht
darin, daß man, was mit Recht diskreditiert wird, pauschalisiert und auf
Legitimes ausdehnt.
So bezeichnet
"Stalinismus" nicht nur die Verbrechen der Stalinzeit und bestimmte
strukturelle Nachwirkungen, die zwar keine Menschenleben kosteten, jedoch zu
politischer Paralyse führten (Aufhebung innerparteilicher Demokratie, Trennung
von den Volksmassen und absolutistischer Führungsstil), sondern soll zugleich
die revolutionären Elemente leninistischer Politik treffen: den Kampf gegen den
Imperialismus, die Entwicklung des Sozialismus als erste Phase des Kommunismus,
die Macht der Arbeiterklasse, den Zusammenschluß von Kommunisten. Und von Marx
weiß man nicht mehr als den nur noch zitierten Satz über die "Assoziation,
worin die freie Entwicklung..." (natürlich ohne alle die unangenehmen
Dinge zu erwähnen, die im vorangehenden Text des Kommunistischen Manifestes
überhaupt erst zu der damit beschriebenen klassenlosen Gesellschaft führen
sollen).
Eher komisch ist es,
wenn nicht nur den WBl "stalinistische Theologie" vorgeworfen wird,
wie jüngst in einer Abbestellung geschehen, sondern (ohne jeglichen
Zusammenhang mit den WBl) kürzlich ein BRD-Pfarrer den gleichen Vorwurf hören
mußte, weil es für ihn noch assertorische Aussagen in der Theologie gibt. Dann
wäre "Stalinismus" in der Theologie der Streit gegen ihre
Verlotterung in Historismus und Psychologismus.
"Administrativ-bürokratische
Kommandowirtschaft" ist ein weiterer Horrorbegriff. Er dient nicht nur
dazu, mit Recht die Aufhebung des demokratischen Elementes im demokratischen
Zentralismus und den Mangel an dialektischer Wechselbeziehung zwischen
"oben" und "unten" zu kritisieren, sondern mit ihm wirft
man zugleich Planung und Lenkung der Wirtschaft überhaupt zugunsten
vermeintlich spontan wirkender Marktmechanismen auf den Müllhaufen der
Geschichte (als ob diese Mechanismen nicht ihrerseits sorgfältig geplant und
gelenkt würden, fragt sich nur von wem, für wen und wozu?).
Mit
"Monopolanspruch auf Wahrheit" wird nicht nur der fehlende
Meinungsstreit, der Verzicht auf Offenheit der Propaganda, auf Argumentation
und Diskussion bezeichnet, sondern zugleich das Festhalten an methodischem
Verständnis der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen, an der Bedeutung
der Eigentumsverhältnisse und ihrer Veränderung auch für geistig-kulturelle
Prozesse und an der - weder deterministisch noch nurökonomistisch mißzuverstehenden
- Erkenntnis historischer Gesetzmäßigkeiten. Daß Rosa Luxemburg das alles
vertreten hat, ist völlig belanglos angesichts der Fußnote über die
"Andersdenkenden" als einzig von ihr noch zitierbarer Erkenntnis.
Sollten sich eines Tages die Reps auf diesen Satz berufen dürfen?
Die andere Variante
der Irreführung besteht darin, positiv besetzte Begriffe auszuweiten und mit
sinnwidrigem Inhalt zu füllen. "Demokratisierung der Wirtschaft"
meint heute nicht etwa: "Herrschaft des Volkes in der Wirtschaft",
sondern das Gegenteil: Aufgabe von Volkseigentum zugunsten von Privateigentum. "Eigentümerbewußtsein
entwickeln" soll mitnichten zu bewußtem und pfleglichen Umgang mit
gemeinsamem Volkseigentum führen, sondern bezeichnet die Ermöglichung,
Privateigentum zu erwerben, zu erhalten und zu mehren (von der Eigentumswohnung
bis zur Aktie). "Internationale Kooperation" meint nicht etwa
Förderung von friedlicher Koexistenz durch Ausbau von Handelsbeziehungen und
schon gar nicht internationale Solidarität etwa mit Befreiungs- und anderen
progressiven Bewegungen (man ist doch kein Schalck!), sondern die Vereinnahmung
durch (meist nicht einmal internationales, sondern westdeutsches)
Finanzkapital, wobei die Lüsternheit auf mehr und modernere PKW geschickt dazu
benutzt wird, um Fusionen überhaupt als "Gemeinschaftsunternehmen" am
Beispiel Volkswagenwerk/Zwickau salonfähig zu machen. Daß die besonders
interessierten Konzerne Siemens/AEG oder Daimler-Benz/MBB ausgerechnet
besonders rüstungsorientiert sind (mehr als Schalck im schlimmsten Falle),
stört dann nicht mehr, wenn es überhaupt bemerkt wird. Es verwundert auch nicht,
daß der begehrliche Blick von BRD-Managern insbesondere auf Elektronik und
Sportler fällt: angesichts der bisherigen Erfolge bei diesen und der Investitionen
bei jener bekommt natürlich jeder Kapitalist glänzende Augen. Und so wird, was
von Anfang an "Wirtschaftsreform" hieß, nun inzwischen offen
zugegeben als Übergang zum Kapitalismus: BRD- und DDR-Regierung meinen das
Gleiche, wenn sie "Reform" sagen.
Positiv besetzt ist
auch das Wort "sozial". Von wem stammt wohl das folgende Programm?:
"Aus dem
Zusammenbruch der ...Wirtschaft hat sich ein Zustand ergeben, der die wirtschaftlichen
Energien gelähmt, sie in eine dem Gemeinwohl schädliche Richtung gelenkt und zu
großen sozialen Ungerechtigkeiten geführt hat. Die Geldreform soll diese
unheilvolle Entwicklung überwinden helfen, indem sie die natürliche Beziehung
zwischen Leistung und Gegenleistung wiederherstellt, damit den Bezieher von
Arbeitseinkommen zum bevorzugten Käufer macht und so die Voraussetzung für eine
Steigerung der Arbeitsleistung und der Produktion schafft... Das aus der
Vergangenheit stammende... Zwangssystem kann daher... aufgelockert, der Markt
stärker zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit in Erzeugung und Verteilung
eingesetzt werden. Die wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeiten gehen
somit Hand in Hand, da eine bessere Versorgung der breiten Massen nicht ohne
Anspannung aller produktiven Kräfte, eine vollständige Ausnutzung aller
produktiven Kräfte nicht ohne bessere Versorgung der breiten Massen möglich
ist. Daraus folgt, daß die Wirtschaftspolitik wirtschaftliche und soziale
Gesichtspunkte in gleicher Weise in Betracht zu ziehen hat."
"Erneuerung"
der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" nach der
"Wende"? Nein, das ist nicht - zumindest nicht offiziell - die
Formulierung eines Programms der großen Koalitionsregierung Modrow, sondern das
sind die "Leitsätze" in der Präambel zu dem Gesetz, mit dem der
Bizonen-Wirtschaftsrat im Juni 1948 die "Soziale Marktwirtschaft"
nach den Plänen von Ludwig Erhard einführte. (Nachzulesen in den Erinnerungen
von Franz Joseph Strauß, Berlin 1989, S. 89! - Lediglich das fünfte Wort des
Textes ist in meinem Zitat verkürzt, es heißt dort original: "Kriegswirtschaft".)
*
Nun nehme ich zwei
Einwände gegen meine Kritik zur Kenntnis:
Der erste Einwand: Die
DDR ist, weil Sozialismus nicht geht, so heruntergewirtschaftet, daß ihr gar
nichts anderes übrig bleibt, als zum Kapitalismus zurückzukehren und dafür
wenigstens noch, wenn auch Schritt für Schritt zurückweichend, die besten
Bedingungen auszuhandeln.
Ich würde das
bereitwilliger glauben, wenn ich nicht zum einen sähe, wie wenig genau man es
heute - bei aller vorgeblichen Glasnost - mit der Wahrheit nimmt, zumal in der
grundlegenden Frage der Ökonomie zwar allerlei über das Wie, aber gar nichts
über das Was (nämlich die Produktionsverhältnisse und die Klassenfrage) gesagt
wird. Und ich wäre zum anderen weniger mißtrauisch, wenn ich nicht gesehen
hätte, wie Ökonomen der DDR - sei es vom IPW, von der AdW oder von der
Hochschule für Planökonomie - seit Jahr und Tag bei Weiterbildungsveranstaltungen
vor allem vor der Intelligenz und dem Vernehmen nach auch in Parteilehrjahren
bereits vor der Krise den "ungarischen", also den Weg der
Rekapitalisierung angepriesen haben, nicht weil er unumgänglich, sondern weil
er ihnen verlockend erschien. Auf dessen fatale Folgen hingewiesen, pflegten
sie in aller deutschen Überheblichkeit zu behaupten, ihnen könne so etwas, wie z.B. den Polen, nicht passieren, dazu
sei die DDR-Wirtschaft viel zu stark und sie, deutsche Ökonomen, viel zu
clever. Und ich habe erlebt, wie zu einer Zeit, als von Verschuldung der DDR
noch gar keine Rede sein konnte, von ihnen bereits Bernsteins Konzeption als
neueste Erkenntnis ausgegeben wurde. So
neu ist also die "Erneuerung" der SED zum "demokratischen
Sozialismus" alias Sozialdemokratismus auch wieder nicht. Ich würde
jedenfalls die Rede von "Sachzwängen" bereitwilliger hinnehmen, wenn
mir deutlicher wäre, daß die DDR-Ökonomen sich wirklich um die Erkenntnis
sozialistischer ökonomischer Gesetze bemüht hätten und nicht das, was sie jetzt
daherwursteln, nur die Prolongation des Mittag- und Honecker-Pragmatismus wäre,
nur mit leicht abgewandelter Devise: "Den Kapitalismus in seinem Lauf
halten weder Luft noch Nickel* auf." Wenn sich
nämlich die Ökonomen um solche Erkenntnis bemüht hätten, hätten ihnen ziemlich
bald bestimmte politische und ideologische Fehlerquellen der Wettbewerbspolitik
der DDR mit der BRD nach dem Kinderwunsch "ich auch!" auffallen
müssen; und sie auszusprechen wäre nicht riskanter gewesen als die Empfehlung
des "ungarischen" Weges. Ich habe aber nie dergleichen von ihnen
gehört - außer der Warnung von Kolloch vor den Fängen des Internationalen
Währungsfonds in WBl 5/88.
Wenn es aber - was ja
sein mag - nun wirtschaftlich wirklich nicht anders gehen sollte, als daß wir,
unsere Wunden leckend, vorab zum Kapitalismus zurückkehren müssen, stellt sich
eine andere Frage: seit wann sieht es eigentlich eine sich sozialistisch
nennende Partei als ihre Aufgabe an, den Kapitalismus einzuführen? Wäre es
nicht - vor allem im Blick auf Zukunftsentwicklungen und -aufgaben - richtiger
und ehrlicher, jetzt in die Opposition zu gehen, wenn man wirklich in der
Minorität ist? Warum hat der Ministerpräsident nicht zumindest die Vertrauensfrage
an die Gesamtwählerschaft gestellt, um die Kräfteverhältnisse zu offenbaren?
Warum macht man lieber aus der SED eine sozialdemokratische - nicht mehr
sozialistische, sondern eine (im Unterschied zu bürgerlich-konservativen
Parteien) bürgerlich-liberale - Partei, anstatt für später glaubwürdig zu
bleiben?
Möglicherweise gibt es
eine - dann allerdings beängstigende - Antwort auch auf diese Frage: Die
Regierung Modrow müsse im Amt bleiben, um ein antikommunistisches Chaos mit
Pogromen und anarchischer Lynchjustiz zu verhindern. Wird ihr das jedoch bei
weiterem Zurückweichen gelingen? Mit Schrecken habe ich gehört, wie der
Innenminister am "Runden Tisch" am 15.1. von der "Bekämpfung
rechts- und linksextremistischer... Aktivitäten" gesprochen hat (ND,
16.1.90. S.3). Was ist mit "linksextremistisch" gemeint? In der BRD
richtet sich bekanntlich der "Extremistenerlaß" - das Berufsverbot -
auch gegen "Rechts- und Linksextremismus", läßt aber Reps im Amt und
macht keineswegs nur Kommunisten brotlos, sondern zum Beispiel auch einige
Christen. Stehen uns in Zukunft etwa auch noch Gesetze zum Berufsverbot für
"Linke" ins Haus?
Auszuschließen ist das
nicht. Nicht nur wegen der gegenwärtigen Massenhysterie, in der Zukunftsangst
in antikommunistische Aggressionen umschlägt. Sondern vor allem darum, weil man
vom BDI-Chef in der BRD in der AK hören konnte: "Das Kapital geht nur
dahin, wo es sich wohlfühlt." Wird sich Kapital in einem Lande wohlfühlen,
in dem es Freiheit für seine Kritiker gibt? Hat es vielleicht sein Kommen davon
abhängig gemacht, daß es keine Kommunisten mehr geben darf, daß höchstens noch
Sozialdemokraten auftreten dürfen, schlimmstenfalls in zwei Parteien, von denen
die eine bereits suspekt genug ist, weil sie sich von der anderen - immerhin
noch - dadurch unterscheidet, daß sie "nicht antikommunistisch" sei.*
- Nichts hoffe ich mehr, als daß mich die Zukunft widerlegt.
Erschrockene Fragen im Dezember 1989 / -n.
Wie kommt es, daß es
fast über Nacht anscheinend keine Kommunisten mehr gibt in der DDR - nach den
Papieren der SED-PDS bestimmt nicht mehr und außerhalb dieser Partei auch
nicht?
Merkt das keiner, oder
ist das allen nun so recht?
Wie kommt es, daß
Konterrevolution nicht mehr Konterrevolution heißen darf, obwohl doch, wie nun
deutlich ersichtlich, das Endergebnis der Wende sein wird, daß alles dem
Kapital in den Schoß fallen wird?
Merkt das keiner, oder
ist es ihnen egal?
Wie kommt es, daß die
SED-PDS die "Oktoberrevolution '89" genauso begeistert begrüßt wie
auch Waigel, Wörner, Schönhuber und die dahinter stehenden noch Schlimmeren?
Merkt das keiner, oder
stört sie das wirklich nicht?
Wie kommt es, daß alle
sich pauschal vom "Stalinismus" lossagen, obwohl die einen damit den
Kommunismus selbst, die anderen eine Abweichung von ihm meinen?
Merkt das keiner, oder
ist das nun schon dasselbe?
Wie kommt es, daß alle
sich von den Kommandostrukturen lossagen, obwohl doch anderswo in hart
geführten Konzernen vermutlich nur gescheitere Kommandos recht erfolgreich gegeben und ausgeführt werden?
Merkt das keiner, oder
tun sie bloß so?
Wie kommt es, daß
viele so reden, als meinten sie, die Zugverspätungen lägen am ach so starren
Plan und wären durch Abschaffung des Fahrplans am besten zu beheben?
Merkt das keiner, oder
hält man das für kreativ?
Wie kommt es, daß
viele meinen, Honecker, Mittag und Hermann hätten nicht zu wenig, sondern zu
viel marxistisch-leninistische Ideologie in der Seele gehabt?
Merkt das keiner, daß
es genau umgekehrt war, oder wollen sie
das nicht merken?
Wie kommt es, daß die
christlichen Kirchen, als sie tausend korrupte Pfaffen, Bischöfe und Päpste
hatten, deshalb nie ihre Dogmatik und Bekenntnisse wegwarfen, während die SED,
ein paar Dutzend korrupter Mitglieder wegen, ihre Ideale einstampft?
Merkt keiner, was da
getan wird, oder ist nun schon alles egal?
Von der anderen Seite der Mauer -
als die Mauer aufhörte, eine Mauer zu sein (1990)
von Horsta Krum
Als die ständig neuen
Rüstungsvorhaben der NATO die Welt dem Abgrund näher brachten und Unsicherheit
und Empörung im Lande zunahmen,
haben wir gewußt:
Auf der anderen Seite
der Mauer wird eine zuverlässige Abrüstungspolitik betrieben.
Als wir ohnmächtig vor
der Deutschen Bank standen und die feinen Herren der Chefetagen sich aus den
Diskussionen zuvorkommend herauswanden,
haben wir gewußt:
Auf der anderen Seite
der Mauer ist die Deutsche Bank nicht allmächtig.
Als die Obdachlosen
vor unserer Tür standen und wir den Behörden einen finanziellen Zuschuß zu
einer Wärmestube abzuringen versuchten,
haben wir gewußt:
Die Gesellschaft auf
der anderen Seite der Mauer ist keine Zweidrittelgesellschaft.
Als wir traurig vor
dem südafrikanischen Konsulat Mahnwache hielten und eine Kerze für jeden zum
Tode Verurteilten anzündeten,
haben wir gewußt:
Die Regierung, die
sich auf der anderen Seite der Mauer befindet, unterstützt Südafrika nicht.
Als wir zornig gegen
den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank demonstrierten und ihre
Machenschaften beim Namen nannten,
haben wir gewußt:
Die natürlichen
Verbündeten ihrer Opfer leben auf der anderen Seite der Mauer.
Als der Staat die
Kirche unterstützte und die Kirche dem Staat ihren Segen gab,
haben wir gewußt:
Auf der anderen Seite
der Mauer sind Staat und Kirche getrennt.
Als die Neonazis frech
ihre Flugblätter verteilten und ungehindert andere zusammenschlugen,
haben wir gewußt:
Auf der anderen Seite
der Mauer wagen sie das nicht.
Als sie jüdische
Friedhöfe schändeten und die Synagoge von zwei Polizisten geschützt wurde,
haben wir gewußt:
Alte und neue Nazis
haben auf der anderen Seite der Mauer
keine Chance.
Als sie die Namen von
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht beschmierten und wir ihre geballten Fäuste
sahen,
haben wir gewußt: Auf
der anderen Seite der Mauer ist die Machtfrage geklärt.
Das alles haben wir
gewußt -
und wir haben uns
darauf verlassen.
Haben wir uns geirrt?
Der Mammonismus meuchelt den Sozialismus (1990)
von Winfried Maechler
Der Präsident der
Christlichen Friedenskonferenz hat auch mich gebeten, meine Meinung über die
gegenwärtige Weltlage zu sagen. Dazu bemerke ich folgendes:
1. Ich war als jugendlicher Delegierter
dabei, als Dietrich Bonhoeffer auf der Weltkirchenkonferenz in Fanö die
"Heilige Christliche Kirche" beschwor, sich den Kriegsplänen Hitlers
entgegenzustellen. Heute bedroht uns nicht der Rassismus, sondern der Mammonismus,
der uns alle verseucht, auch mich.
2. Wenn Jesus bei Matthäus sagt: "Ihr
könnt nicht Gott dienen und dem Mammon", so ist dementsprechend der
Sozialismus von Karl Marx und seinen Nachfolgern ein Versuch, an Stelle einer
dem Mammon verfallenen Profit- und Konkurrenzgesellschaft eine brüderliche
Gesellschaft aufzubauen. Trotz aller Fehler des real existierenden Sozialismus
sollten Christen es nicht aufgeben, am Bau dieser brüderlichen sozialistischen
Gesellschaft mitzuhelfen, nachdem wir jahrhundertelang dem Motto "Thron
und Altar" gefolgt sind.
3. Es ist unheilvoll, daß ausgerechnet in
dem Augenblick, in dem Michail Gorbatschow an einem Sozialismus mit
menschlichem Antlitz experimentiert, die Westler versuchen, den Sozialismus in
Ost-Europa zu erdrosseln. Diesem Versuch müssen wir widerstehen.
4. Ein Haupt-Leidtragender des
Ost-West-Gegensatzes ist die dritte Welt, der Sparmaßnahmen bei der Rüstung der
Großen zugute kommen sollten. Für Strukturreformen der dritten Welt wäre ich
bereit, sofort meinen Lebensstandard um fünfzig Prozent zu senken. Wäre ich
fünfzig Jahre jünger, so würde ich morgen in die dritte Welt gehen, um etwas davon
gutzumachen, was wir Westler dort angerichtet haben.
5. In der gegenwärtigen Situation hat die
Christliche Friedenskonferenz meiner Ansicht nach die Aufgabe, im Sinne ihres
Gründers Josef Hromádka gegenüber John Foster Dulles für Frieden und
Gerechtigkeit die Fahne des Sozialismus hochzuhalten
Deutschland, wie heißen deine Götter? (1990)
von Wolfgang Scherffig
(...) mit Interesse
und Freude habe ich ... die Weißenseer Blätter 4/89 gelesen. Was kann man wohl
sagen in einer Zeit, in der jeder Tag die Rede von gestern schon in den
Hintergrund drängt? Doch ich gehöre nicht zu denen, die den Sensationen (den
wirklichen und den vermeintlichen) des Tages nachlaufen. Es geht darum, so
etwas wie einen roten Faden zu erkennen, der sich durch alles hindurchzieht. Je
länger und intensiver ich an meiner eigenen historischen Arbeit sitze, um so
mehr wird mir bewußt, wie sehr die geschichtlichen Bedingungen von gestern und
ehegestern den Lauf der Gegenwart bestimmen. (...)
Das ungleich größere
Problem ist unser Volk, das von seiner bürgerlich-romantischen Vergangenheit
her bis heute nicht gelernt hat, politisches Denken von politischen Emotionen
zu trennen. Hinzu kommt der anti-sozialistische Komplex, der uns seit den Tagen
der ersten mißglückten deutschen Revolution 1848/49 anhängt und der bis heute
das Blickfeld der deutschen Mehrheit auf beiden Seiten der bisherigen Mauer
bestimmt. Nur so läßt sich das hemmungslose Goldgräber-Fieber erklären, das an
allen sachlichen Überlegungen vorbei kein anderes Ziel sehen will als das
Glitzerland Bundesrepublik. Dies geht bis ins Theologisch-Kirchliche hinein:
was man hier "Erfolg" nennt, verdrängt die Einsicht, daß es für den
gesellschaftlichen Bereich eine politische Ethik gibt, für die Christen
unbedingt Zeuge sein sollten.
Das politische Proton
pseudos unserer hiesigen Politik war wohl von Anfang an die Nicht-Anerkennung
der DDR. Wahrscheinlich haben wir sie dadurch zu allerlei törichten Anstrengungen
getrieben, wie zum Beispiel auf dem Gebiet des Sports, die für die Entwicklung
eines anderen politischen Bewußtseins überhaupt nichts eingetragen haben.
Ich las das
Spiegel-Gespräch mit Dr. Gysi und war entsetzt über die Arroganz der
Journalisten. Ich habe mir erlaubt, einige Zeilen an den Spiegel zu schreiben,
den ich normalerweise nicht gern lese (Boulevardpresse höherer Ordnung). Mit
erheblichem Pathos insistieren die Befrager auf den Exzessen des Sozialismus
(wobei sie nach bekanntem Vorbild Sozialismus, Kommunismus, Marxismus,
Stalinismus in denselben Topf werfen) und erklären deshalb jeden Versuch, die
verlorene Sache auf die Beine zu stellen, für "Traumtänzerei". Ich
habe mein Erstaunen bekundet, weil die schlimmsten Exzesse und Greuel des 20.
Jahrhunderts wohl von uns Deutschen (auf beiden Seiten!) begangen worden sind.
Mit welcher Eleganz das in einem solchen Augenblick verdrängt wird, ist
umwerfend. Es ist fast so, als ob der Himmel (oder der Teufel?) diese Chance
geschickt hat, endlich aus dem bösen Schatten der Vergangenheit herauszutreten.
Wie leicht gehen uns jetzt die Worte "Freiheit" und "Gerechtigkeit"
von den Lippen. Und wie gut wird sich das alles einmal bezahlt machen, wenn wir
auf den sozialistischen Trümmern das Reich von Mercedes-MBB und der Deutschen
Bank plus Consorten aufbauen können!
Es ist "bitterer
Reis", der uns jetzt vorgesetzt wird. Selbst Journalisten, von denen man
einiges Gute erwartete, gebärden sich jetzt als Hüter der deutschen Nation. Daß
Mannesmann bei überbordenden Gewinnen seinen Rentnern die Weihnachtsgratifikationen
1989 streicht, verdient keine Schlagzeile. Deutschland, wie heißen deine
Götter? Einst war es Mars, und jetzt sind es Merkur und Venus! Mit wieviel
subtileren Mitteln erreichen wir, was brutales Dreinschlagen nicht geschafft
hat.
Einen Augenblick
könnte man denken, daß Weihnachten in diesem Nebel von Schein, Lüge und
Täuschung versinken müsse; oder ist es nicht vielleicht gerade die Zeit, in der
sich das VERBUM CARO FACTUM EST* unwiderstehlich Bahn
schafft durch alle Planungen unserer Menschen-Klugheit hindurch und auf Wegen,
über die wir vielleicht noch mehr staunen werden, als es in diesen Wochen der
Fall war?
Zu wachen mit dem
Wort, das uns anvertraut ist: dies ist sicher das erste Gebot für ein Neues
Jahr 1990.
"Wo haben Sie gestanden?"
Ein Briefwechsel mit Robert Kern (1990)
Robert Kern an die
"Weissenser Blätter" (9.2.1990):
Nach der letzten
Ausgabe der WBl habe ich mich entschlossen, Ihnen einen längeren Brief zu
schreiben. Meine Meinung möchte ich einmal offen darlegen, und ich hoffe, daß
Sie sich nicht nur über diese Zeilen ärgern und sich angegriffen fühlen. Möge
es nützen!
Die WBl lese ich seit
einigen Jahren regelmäßig. Ein Hauptgrund dürfte dabei gewesen sein, daß ich
mich möglichst allseitig informieren wollte über das Geschehen in unserem
Lande. Die offizielle Medienlandschaft war ja so einseitig: In den
DDR-Zeitungen immer dieselbe (rote) Soße - und im Westen nichts Neues. Durch
die WBl konnte man in manchen Dingen immerhin einen kleinen Eindruck von
innerkirchlichen Auseinandersetzungen gewinnen, wenn auch die Darstellung in
der Regel zu einseitig und unsachlich war.
Ich bin Christ, von
daher ist für mich das Neue Testament und speziell Leben und Werk Jesu ein
Maßstab des Glaubens. Die Gretchenfrage für mich in Bezug auf Christentum und
Kirche ist dabei: Wo stehe ich, wo stehen die Christen, wo steht die Kirche
innerhalb der Welt und innerhalb der Gesellschaft? Stehen die Christen auf der
Seite der Mächtigen, der Regierung, der herrschenden Ideologie - oder stehen
sie auf der Seite der Armen, Benachteiligten, Entmündigten und Sprachlosen? Im
Leben und Werk Christi kann ich hier eine klare Stellungnahme zugunsten der
zweiten Möglichkeit konstatieren.
Und so ist mir auch
die Frage in Bezug auf die WBl - wo haben Sie bisher gestanden?
Ein ehrliches Bemühen
möchte ich Ihnen gern zugestehen: Es ist wichtig, miteinander ins Gespräch zu
kommen, besonders auch Christen mit Kommunisten. Dieses Gespräch haben Sie
stets gesucht. Aber haben Sie denn auch immer ehrlich das Gespräch mit der
anderen Seite gesucht? Ich denke in erster Linie an die sogenannte Basis - an
Arbeiter in den Betrieben, an Ausreisekandidaten, Basisgruppen und sonstige
Leute in der DDR? Und während Sie auf der einen Seite das Gespräch mit
Vertretern der ehemaligen Mächtigen betrieben haben, sind Sie vielleicht gegenüber
der anderen Seite in die üblichen Klischees und Feindbilder verfallen, die den
Gesprächspartner von vornherein abqualifizieren: Klassenfeind, Feinde des
Sozialismus, Konterrevolutionäre, vom Westen beeinflußt, Antikommunisten,
Revanchisten, verkappte Nazis, Rechtsextremisten usw. usw. - alles nach dem
stalinistischen Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.
Das ist das typische
Freund-Feind-Denken, die Schwarz-Weiß-Malerei, die meiner Meinung nach dem
Neuen Testament konträr entgegensteht: In der Person Jesu sehe ich das Neue
Denken, welches derartige Engführungen überwinden kann.
Um auf meine anfangs
gestellte Frage zurückzukommen: Wo haben Sie als Redaktion der WBl in den
vergangenen Jahren gestanden? Gegen wen haben Sie sich gewendet?
Ich vermute, daß Sie
zum großen Teil in Stellungen waren (und sind), wo man relativ leicht über
sozialistische Theorien philosophieren konnte. Ein Indiz dafür scheint mir zu
sein, daß die WBl stets mit offizieller Genehmigung und in relativ großer
Auflage erscheinen konnten. Sie konnten im Ernstfall wahrscheinlich auch
jederzeit auf einige Freunde in der SED verweisen. Sind Sie denn jemals in die
"Mühle" der Stasi gekommen? Haben Sie Aussprachen beim Kaderleiter
gehabt? Haben Sie denn jemals Angst um Ihre berufliche Existenz gehabt? Haben
Sie jemals erwogen, eventuell gezwungenermaßen dieses Land zu verlassen? Ich
vermute, daß Ihnen diese Dimensionen des Christseins in der DDR relativ fremd
geblieben sind.
Ich denke dabei an die
vielen, die unter viel schwierigeren Umständen die 'Perestroika' vorbereitet
haben: Sie haben damals schon um ihres Glaubens willen gekämpft: Für Umweltschutz,
als in der DDR noch gar nicht daran zu denken war; für eine atomwaffenfreie
Zone, als auch noch im Sozialismus die Doktrin der atomaren Stärke
vorherrschend war; für Menschenrechte und Ausreiseleute, als diese in einer
beispiellosen Hetzkampagne verleumdet wurden und als "Verräter"
jahrelang auf die Ausreise warten mußten; für Meinungs- und Informationsfreiheit
und -Vielfalt, als das Vokabular in den Medien immer öder wurde. Sie haben
gegen Ceaucescu genauso protestiert wie gegen den chinesischen Terror. Usw.
usw.
Und was haben Sie zu
den beschriebenen Ereignissen gesagt und getan? Ich kann Ihnen den Vorwurf
nicht ersparen, daß Sie mit den WBl den Kurs der Regierung bewußt oder unbewußt
mit unterstützt haben. Die SED hat die DDR in eine tiefe wirtschaftliche,
ökologische und soziale Krise geführt. Diejenigen, welche mit Wort und Schrift
diese Politik noch offiziell legitimiert haben, die geschwiegen haben wider
besseres Wissen (bzw. die Mißstände nicht sehen wollten, sie nicht zur Kenntnis
nahmen) - sie sind mitschuldig geworden! Ich möchte mich nicht zum Richter
aufspielen; es gibt nicht die Schuldigen und die Unschuldigen - so einfach ist
es nie. Ich möchte aber nachdrücklich an die "Opfer" des Sozialismus
erinnern: Das KZ Buchenwald erlebte nach 1945 einen neuen Massenmord; wie viele
wurden aus den Grenzgebieten zwangsumgesiedelt; kleine Bauern und Handwerker
enteignet; Christen in den Schulen benachteiligt usw. usw. - Viele Leute sind
ja förmlich zur Ausreise gezwungen worden durch die Umstände!
Was für Zeitungen
lesen Sie eigentlich? Und welche Sender hören und sehen Sie? Mich machen die
vielen Leserzuschriften und Einsendungen betroffen, wo Leute erst jetzt über
ihnen zugefügtes Unrecht berichten. Wie viele haben immer noch Angst?
Ich möchte es dabei
belassen - meine Frage noch erweitern: Leben wir eigentlich in derselben Welt,
der DDR? Oder reden und schreiben wir völlig aneinander vorbei? Sind wir
Christen unter dem einen Herrn Jesus Christus?
Symptomatisch scheint
mir dabei zu sein, wie Menschen die sogenannte 'Wende' erlebt haben. Auch hier
wird meiner Ansicht nach das grundsätzlich andere Erleben von Herrschern und Beherrschten
deutlich: Auf der einen Seite Erschrecken, Angst, Panik, Bestürzung und
Kopflosigkeit - die anderen erleben es als Befreiung und Neuaufbruch!
(Erschrockene Fragen auf S.21 / 22 z.B.* - können Sie sich
über die Wende auch etwas freuen - oder sehen Sie nur schwarz bzw. braun?)
(...)
Die Gerechtigkeit
liegt bei Gott allein. Ich erinnere mich an eine der Lieblingsstellen Thomas
Müntzers aus dem Magnificat: Die Mächtigen stößt er vom Thron und die Niedrigen
erhebt er; die Reichen läßt er leer ausgehen - und die Hungrigen macht er satt.
Von Gottes Handeln ist hier die Rede, nicht vom Volkszorn und nicht von Rache!
Ich kann Ihnen nur
sagen, daß ich diese Tage als ungeheure Befreiung erleben konnte. (Sorge um die
Zukunft habe ich natürlich auch.) Aber was es heißt, ohne Angst zu telefonieren
und Briefe schreiben zu können; ohne ständige Angst vor einer Haussuchung leben
zu dürfen; ohne die ständige Frage: Wie lange halten wir das noch durch?; was
das bedeutet, das versteht nur derjenige, der in ähnlicher Situation gelebt
hat! Ich denke an Freunde, die wegen ihres Engagements in Sachen Ökologie
bespitzelt wurden, an das seit 1985 "flächendeckende System der
Bespitzelung" - und die völlig verfassungswidrige Staatssicherheit, die
nach eigenem Ermessen die Leute bespitzelt, gemaßregelt und teilweise ins
Unglück gestürzt hat!
Ich weiß nicht, ob Sie
es so sehen: Die Wende muß Ihnen doch denkbar ungelegen gekommen sein. Können
Sie denn auch ein paar positive Aspekte dabei sehen? In der letzten Ausgabe der
WBl kann ich davon eigentlich nichts entdecken! Polemisch und aggressiv wie
immer beginnen Sie einen neuen 'Kreuzzug' gegen Antikommunismus, BRD und
Rechte. Ihre eigene Unsicherheit versuchen Sie teilweise durch lange polemische
Beiträge zu überbrücken. Ich würde mir wünschen, daß auch mal die weitergehende
Resonanz ein paar mehr Seiten eingeräumt bekommt, welche ganz kurz am Schluß
erwähnt wird. Im wesentlichen veröffentlichen Sie doch nur Zuschriften und
Beiträge, die einigermaßen auf Ihrer Linie liegen, die Ihrer Ansicht nach
"konstruktiv und sachlich" sind - der Rest wird aussortiert. Wenn Sie
wollen, können Sie gern diese meine Zuschrift veröffentlichen. Es wäre mir aber
sehr lieb, wenn dies bei auszugsweiser Zitierung nicht entstellend geschieht.
Über eine Gegenantwort/Erwiderung würde ich mich auch freuen.
Damit möchte ich
schließen. Die Sorge um die Zukunft unseres Landes teilen wir gemeinsam, wenn
vielleicht auch der Blickwinkel etwas unterschiedlich sein dürfte
Hanfried Müller an
Robert Kern: (6. 3. 1990)
Natürlich fühle ich
mich durch Ihren Brief "angegriffen". Das bin ich ja wohl auch. Denn
er enthält ja eine ganze Reihe ernster Vorwürfe, sowohl gegen mich als Autor
wie auch gegen mich als Herausgeber der "Weißenseer Blätter". Aber ich
habe mich darüber keineswegs geärgert, sondern gefreut. Solch
"Angriff" führt in ein nötiges Streitgespräch - und dazu nehme ich
gern Ihr Wort auf: "Möge es nützen!"
Sie haben Ihren Brief
an die Redaktion der WBl gerichtet. Aber eine ganze Reihe Fragen kann ich nur
für meine Person beantworten, nicht kollektiv für die Redaktion. Zum Beispiel
solche wie die, ob ich "jemals in die 'Mühle' der Stasi gekommen",
eine "Aussprache beim Kaderleiter" oder "Angst um <meine>
berufliche Existenz gehabt" habe. Ich kann ganz kurz antworten: Ob ich
einmal in "die Mühle der Stasi" gekommen bin, weiß ich zumindest
nicht, unterlag aber sicherlich manchen Sicherheitsüberprüfungen; Aussprachen
beim Kaderleiter gehörten im allgemeinen zu meinem Berufsleben und waren
zuweilen erfreulich, zuweilen ärgerlich, nie dramatisch; Angst um meine
berufliche Existenz kenne ich auch nicht: ich war eines der ersten - damals
nannte man das noch nicht so - "Berufsverbotsopfer" in der BRD: Weil
ich als Göttinger Student für eine Volksbefragung gegen die Remilitarisierung
Deutschlands demonstriert hatte (das war in der BRD verboten), wurde ich nicht
zum Examen und zur Promotion zugelassen. Ich mußte darum eine zweite
Dissertation schreiben und in die DDR übersiedeln, um zu promovieren - bis
heute bedauere ich beides nicht: weder, daß mich das Berufsverbot veranlaßte,
mein "Land zu verlassen", noch daß es mich zwang, meine
Bonhoefferarbeit "Von der Kirche zur Welt" zu schreiben, die für
meinen weiteren theologischen Weg wichtiger wurde, als es jene aus politischen
Gründen nicht zur Promotion führende erste Arbeit sein konnte. Wenn mir die von
Ihnen gemeinten "Dimensionen des Christseins in der DDR" relativ
fremd geblieben sein sollten, kenne ich zumindest "Dimensionen des
Christseins in der BRD", die wiederum anderen fremd sind, einschließlich
Paßverweigerung, Haussuchung, zeitweiligen Festnahmen und Ermittlungsverfahren
nach Staatsschutzparagraphen. Aber wir hatten damals wenig Zeit, uns darum zu
grämen, der Kampf gegen die Remilitarisierung war uns wichtiger.
Was die vielen
Pastorinnen und Pastoren betrifft, die in den WBl verantwortlich mitarbeiten,
sind Ihre Fragen eigentlich absurd. Neben der Last einer gewissen
gesellschaftlichen Zweitklassigkeit - Sie wissen, daß wir den Verlust mancher
kirchlichen Privilegien nicht als "Kirchenverfolgung", sondern als
Ausgleich von viel kirchlicher Schuld stets verstanden haben und verstehen -
hatten sie, weil keine Antikommunisten, zusätzlich in ihrer Kirche die Last
politisch-moralischer Ächtung zu tragen.
Aber: Was sagt all das
denn über die Wahrheitsfrage aus? Eine Entscheidung wird doch nicht dadurch
wahrer oder unwahrer, daß sie dem, der sie trifft, Vor- oder Nachteile bringt.
Wenn dies das Motiv der Entscheidung ist, mag es für oder gegen die Redlichkeit
des Entscheidenden sprechen, aber doch nicht für oder gegen deren Inhalt.
Gewiß, wo Menschen etwas tun, um durch ihre Taten als gut und redlich zu
erscheinen, spricht die Bibel von Heuchelei. Die aber vermögen nicht Menschen
zu richten, sondern nur der, der die Herzen kennt.
Im folgenden Absatz
Ihres Briefes bringen Sie ein mir zu buntes Sammelsurium. "Für eine
atomwaffenfreie Zone" und "für (zivilisierte!) Meinungs- und
Informationsfreiheit" (im Rahmen der Brecht'schen Toleranzgrenze) sind die
WBl stets auch gewesen und haben übrigens so manchem in aller Legalität das
Wort gegeben - ihm allerdings gegebenenfalls auch widersprochen -, der so
leicht anderswo nicht gedruckt worden wäre, von Lutz Rathenow (WBl 4/85, S. 49)
bis zu Reinhard Schult (WBl 4/88, S. 36). Allerdings gehen "Menschenrecht
und Ausreiseleute" für uns nicht so einfach zusammen. Warum nicht, haben
wir übrigens ausführlich begründet. Und daß das uneingeschränkte "Recht
auf Ausreise" unter anderem das Ende der Realisierung des Rechtes auf Arbeit
und in Kürze eine sehr allgemeine Verelendung zur Folge haben wird, ist ja nun
vor aller Augen. Wir haben das vorhergesehen und darum - wissend, wie unpopulär
das war - pflichtgemäß gewarnt.
Ein Aufsatz von mir
zur "Reisefrage" war übrigens wohl der einzige Beitrag, den wir
einmal nicht drucken konnten - er widersprach zu sehr der Publikationspolitik,
die damals in ihrer Weise ja ebenso opportunistisch-populistisch war wie heute
und wie seit je in den verbreiteten Westmedien. Davon abgesehen haben Sie allerdings
recht mit Ihrer Vermutung, wir hätten "im Ernstfall wahrscheinlich auch
jederzeit auf einige Freunde in der SED" zurückgreifen können. Ich möchte
dies Phänomen nur ganz anders deuten: Tatsächlich haben Kommunisten für die
Druckgenehmigungen der "Weißenseer Blätter" eine Verantwortung
übernommen, die für sie einen existentiellen Einsatz bedeutete. Ihr Risiko war
stets größer als das Risiko der Herausgeber - und der Anstand gebietet, diesen
geschuldeten Dank auch einmal öffentlich auszusprechen.
Nun können Sie uns
"den Vorwurf nicht ersparen, daß <wir> mit den WBl den Kurs der
Regierung bewußt oder unbewußt unterstützt" haben.
So einfach ist das
nicht. Sie können ja die WBl der letzten Jahre noch einmal nachlesen. Ich halte
es für möglich, daß Ihnen gar nicht auffällt, daß wir völlig eindeutig in
Opposition zur Regierung
Honecker/Mittag/Hermann gestanden haben, aber ebenso eindeutig hinter dem
sozialistischen System. Aber der
allzu verbreitete Antikommunismus außerhalb wie innerhalb der Grenzen der DDR
führte in eine üble Alternative: die Regierung Honecker*
zu entfernen, die uns darum als schlecht erschien, weil sie die DDR immer
abhängiger von der imperialistischen BRD werden ließ (erinnert sei an den
"Straußkredit", an den Honeckerschen Staatsbesuch in Bonn und
Privatbesuch in Wiebelskirchen, an die Bereitschaft, für Westgeld fast jedes
politische Prinzip zu verkaufen usw.), konnte einen hohen Preis kosten: die
Gefährdung solcher Errungenschaften wie Volkseigentum, soziale Sicherheit,
Recht auf Arbeit, Fähigkeit zur Solidarität mit der 'Dritten Welt'. In dieser
Alternative hielten wir eine schlechte Regierung eines guten Staates für das
geringere Übel als einen schlechten Staat mit einer möglicherweise - nun gewiß
nicht guten, aber - cleveren Regierung. Und (leider!) hatten wir ja Recht! Nun
haben wir einen schlechten Staat und eine
schlechte Regierung, die, was zu Honeckers Zeiten drohte, realisiert: die
Kapitulation der DDR vor dem westdeutschen Kapital.
Das ist der Grund,
warum wir uns wahrlich über die "Wende" nicht freuen. Sie bezeichnet
eben nicht von ferne so etwas wie eine Verbesserung des Sozialismus, sondern
den Rückfall in den Kapitalismus samt der erheblichen Zukunftsgefahr einer
ungeheuren Stärkung des deutschen Imperialismus. Gewiß, wahrscheinlich ist die
Periode dessen, was ich "frühsozialistischen Absolutismus" nennen
würde (der viel benutzte Begriff "Stalinismus" ist so demagogisch
besetzt, daß er mir für historische Analysen unverwendbar erscheint), objektiv
zu Ende. Es könnte sich noch einmal als Tragödie erweisen, daß sie nicht in
einen reifen Sozialismus, sondern in den Rückfall fast der ganzen Welt in das
global imperialistische System mündete. Dieses aber ist allen Globalproblemen
nicht nur (wie leider auch der Sozialismus) praktisch
nicht gewachsen, es ist nicht einmal theoretisch
erkennbar, wie es sie lösen könnte. Wenn ich diese Entwicklung nicht, wie eben
angedeutet, vor allem als einen historischen Prozeß sähe, wäre ich in
Versuchung, Ihnen gegenüber Retourkutsche zu fahren und zu sagen: diejenigen,
die, ohne sich zu überlegen, daß sie, gewiß oft ungewollt, eine
nationalistische und antikommunistische Lawine lostraten, die sogar leicht zum
Faschismus zurückführen kann, um eine schlechte sozialistische Regierung wegzudemonstrieren,
und die dabei einen guten sozialistischen Staat beseitigten, "sind
mitschuldig geworden".
Die Rechtfertigung
dessen, was man - ich denke, weitgehend unbesonnen - angerichtet hat, wird nun
in einer Verteufelung des Sozialismus gesucht. Dabei werden bittere Realitäten
(zum Beispiel der Stalinsche Terror) mit antikommunistischen Legenden pauschal
verwoben bis dahin, daß Sie beispielsweise von "Massenmorden" nach
1945 schreiben und eine ganze Liste zusammenstellen von Angst beim Telefonieren,
vor Haussuchungen und Bespitzelungen et cetera. Gewiß ist das alles nicht gut.
Aber jeder, der in der BRD in Verdacht gerät, gegen die sogenannte
"freiheitlich-demokratische Grundordnung" zu sein (und dazu konnte
eine Demonstration gegen Berufsverbote oder Raketen und Giftgasbasen
ausreichen), ist dortzulande auch nicht besser dran, ohne gleich
"Terrorsystem" zu schreien und die BRD ganz und gar abschaffen zu
wollen. Sie werden auch diese Sätze als "'Kreuzzug' gegen Antikommunismus,
BRD und Rechte" apostrophieren. Aber auch das ist nicht so einfach. Um
einen 'Kreuzzug' geht es schon mal gar nicht. Meine politischen Ziele decke ich
nicht ab, indem ich mich hinter theologischen Gründen verkrieche. Allerdings
halte ich mehr denn jeden Antikommunismus für tödliches Gift, insbesondere für
das deutsche Volk; und mehr denn je scheint mir heute der Satz des
Zentrumpolitikers Joseph Wirth zu gelten: "der Feind steht rechts!"
Was die BRD angeht, sehe ich das viel differenzierter. Heute ist die wirkliche
faschistische Gefahr meines Erachtens auf dem Territorium der DDR, unter den
Bedingungen der Auflösung aller Gesetzlichkeit und allen Rechtsbewußtseins und
wahrscheinlicher Deklassierung vieler Menschen, viel größer als auf dem
Territorium der BRD, auf dem es eine Linke gibt, die, wenn auch vielerlei
Repressionen ausgesetzt, doch gewöhnt ist, Zivilcourage zu zeigen und mit einem
verinnerlichten Rechtsstaatsbewußtsein und einem Gespür für die Gefährlichkeit
deutschnationaler Ambitionen gegen die in der "Heldenstadt" Leipzig
um sich greifenden Gefühle zumindest relativ immunisierter ist.
Als ich Ihren Brief
las, war ich zuerst geneigt, die Antwort mit dem Hinweis auf einen Konsens zu
beginnen, nämlich darauf, daß für uns beide Leben und Werk Jesu Christi Maßstab
des Glaubens seien. Aber so einseitig, wie Sie diesen Gedanken fortführen,
kommen mir Zweifel, wie weit der Konsens trägt. Gewiß: In der Nachfolge dessen,
der sich erniedrigt hat bis zur Schande des Todes am Kreuz, werden die Seinen
nicht nach oben, sondern nach unten geführt. Aber damit wird doch das
"oben-" und "unten-"Sein, die Frage, ob Christen in ihren
politischen Entscheidungen eine Regierung oder eine Opposition unterstützen,
nicht einfach zum Wahrheitskriterium. Auch ich denke, daß Christen faktisch auf
der Seite der Armen und Schwachen zu finden sein sollten. Aber wer sind die
Armen und Schwachen? Sie werden protestieren, aber ich habe immer auch darum
für den Kommunismus und gegen den Antikommunismus votiert, weil ich ihn sowohl
gegenüber seinen Gegnern im Recht als auch gegenüber seinen Gegnern stets in
der Position des Angeklagten, Erniedrigten und Beleidigten und weltweit
Schwächeren und des Anwalts der "Verdammten dieser Erde" sah. Heute
gilt das meines Erachtens erst recht. Und gewiß gilt dann auch das andere: so
wie der Arme immer teurer lebt als der Reiche, so setzt sich auch der
Schwächere stets leichter ins Unrecht als der Starke. Wer seine Kartoffeln im
Sommer zum Zentnerpreis bezahlen kann, braucht sie nicht im Winter zum
Pfundpreis zu kaufen. Und wer den Schwachen fesseln kann, braucht nicht wie der
Schwache zu schlagen, um sich zu befreien. Vieles, was Sie für illegitime
Nachsicht der WBl und für ihre Einseitigkeit halten, hat hier seine Wurzel. Zum
Beispiel hat man den Sozialisten systematisch das "Feindbild" des
Imperialismus ausgeredet, ihnen alle Wachsamkeit genommen bis dahin, daß manche
von ihnen der Illusion eines für sozialistische Länder hilfswilligen
Imperialismus verfielen, während der Imperialismus selbst wenig von seinem
Feindbild gesprochen hat, es, nämlich den Antikommunismus, aber so tief den
Massen verinnerlichte, daß sie glaubten, keineswegs ein Feindbild zu haben,
sondern nur für "Menschenrechte" zu sein, wenn sie Kommunisten das
Existenzrecht absprachen. Nur daraus erklärt es sich ja, daß viele Vorkämpfer
für "Menschenrechte" deren Verletzung gar nicht bemerken, wenn die
Betroffenen für sie keine normalen Menschen, sondern etwas ganz anderes, zum
Beispiel Kommunisten, sind, für die von jeher keine Unschulds-, sondern eine
Schuldvermutung gilt, die sie nur widerlegen können, indem sie ihre
"Identität" aufgeben und "abschwören".
Ich empfinde es als
sonderbar bibelfremd, wenn Sie den Satz schreiben können, "...alles nach
dem stalinistischen Muster: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." Haben
Sie gar nicht im Ohr, daß Sie damit die beiden Jesusworte: "Wer nicht mit
mir ist, der ist wider mich" (Matth. 12, 30) und: "Wer nicht wider
uns ist, ist für uns" (Mark. 9, 40) ineinanderziehen mit dem Ergebnis, daß
man fragen möchte: Jesus der erste Stalinist? Soll wirklich jede
Entschiedenheit des "Stalinismus" verdächtigt werden, so daß nur
Skeptiker diesem Vorwurf entgehen? Soll Luthers Satz gar nicht mehr gelten:
"Hebe die Assertionen auf, und du hast das Christentum aufgehoben?"
Wo kommen wir hin mit solchen verschwommenen Feindbildern?
Ich hoffe, zumindest
mittelbar auf die Gesamtheit Ihrer Einwände eingegangen zu sein; jede Ihrer
Fragen im Einzelnen aufzunehmen ist aus Raumgründen unmöglich; ich habe das mir
gesetzte Limit mit diesem Brief ohnehin überschritten. Nur eines möchte ich zum
Schluß noch anmerken: Lesen Sie bitte noch einmal ein paar Jahrgänge der WBl
und urteilen Sie selbst, ob wir in unserer "Resonanz"-Spalte wirklich
"im wesentlichen veröffentlichen", was "einigermaßen auf unserer
Linie liegt". Allerdings: von unserer Position aus setzen wir uns mit dem,
was man uns schreibt, auseinander und geben unsere Meinung nicht darum auf,
weil sie nicht die Meinung der Mehrheit ist. Was "alle" sagen, haben
wir weder vor der "Wende" gesagt, noch sind wir geneigt, es nach der
"Wende" zu sagen - es sei denn, wir hielten einmal eine herrschende
Meinung für die richtige Meinung. Das tun wir allerdings nie darum, weil sie
herrscht.
WBl und "Stasi"
Ein Briefwechsel mit Klaus Brosig (1990)
Klaus Brosig an die
Redaktion der Weissenseer Blätter:
Die "Wende"
hat ein Rätsel gelöst: auch die WBl standen in Opposition zur Regierung
Honecker! Ein einziges Mal (!) durften die WBl einen Beitrag nicht drucken, er "widersprach zu
sehr der Publikationspolitik"* - ja, so erging es
eben der Opposition in der DDR!
Was nun die WBl über
die andere Opposition (die für die Redaktion ja stets die Vorhut der Reaktion
war) dachten und schrieben - der Leser konnte es Nummer für Nummer verfolgen.
Es ließe sich
vielleicht so zusammenfassen:
"Es ist
einzuschätzen, daß die politischen, ideologischen und subversiven gegnerischen
Einwirkungen sowie die von der aktuellen Lageentwicklung in einigen
sozialistischen Ländern ausgehenden Einflüsse unter Teilen der Bevölkerung der
DDR gewisse Wirkungen erzielen. Sie zeigen sich insbesondere im Vorhandensein
personeller Zusammenschlüsse, entsprechender Gruppierungen und Gruppen, die in
Übereinstimmung beziehungsweise im Zusammenwirken mit reaktionären kirchlichen
Personen und gemeinsam mit äußeren Feinden im Sinne dieser gegnerischen
Strategie wirksam zu werden versuchen."
Gewiß, sprachlich hat
man es immer besser formuliert, aber in der Sache müßte die Redaktion dieser
Einschätzung wohl zustimmen.
Diese Einschätzung
findet sich nicht in den WBl, sondern in einer Akte des MfS <Ministerium für
Staatssicherheit>. Sie ist jetzt nachzulesen in "Befehle und
Lageberichte des MfS", Basis Druck, Berlin 1990, S. 46.
In der gleichen Akte
werden Vorschläge gemacht, wie die "Maßnahmen der Sicherheitsorgane zur
Zersetzung und Auflösung dieser antisozialistischen Aktivitäten differenziert
wirkungsvoll unterstützt werden können" (ebd. S.54).
So wird u.a.
vorgeschlagen, den "Weißenseer Arbeitskreis ... noch stärker in den Prozeß
der politischen Auseinandersetzung mit feindlichen oppositionellen Kräften
einzubeziehen" (ebd.).
Der Weißenseer
Arbeitskreis - damit sind ja wohl zuerst die "Weißenseer Blätter"
gemeint.
Die WBl - in
Opposition zur Regierung Honecker; und doch freiwillig/unfreiwillig mit einbezogen
in die Arbeit des MfS der Regierung Honecker?
Mißverständnisse,
Verdächtigungen?
1974 schrieb eine
wichtige Autorin* der
WBl im "Standpunkt" 9/74 Beiheft: "Die Theologie der Hoffnung
erweist sich als Hoffnung auf die Konterrevolution." Dieser Satz hätte so
auch in den WBl stehen können. Wo unsere Medien sich noch des Wortes
"Konterrevolution" oder "konterrevolutionär" enthielten -
in den WBl fiel es, die Herausgeber der WBl sahen den "Feind" schon
immer früher und deutlicher.
Dieser eben zitierte
Satz kennzeichnet den Umgang der WBl mit politisch Andersdenkenden.
Aber nun müssen die
WBl sich auch die Antwort von Günter Jacob aus dem Jahre 1976 auf diesen Satz
gefallen lassen:
"Auf die These,
daß sich die Theologie der Hoffnung als Hoffnung auf die Konterrevolution
erweist, kann nur noch in aller Schlichtheit geantwortet werden, daß ein
Theologe, der eine durch den Begriff 'Konterrevolution' markierte politische
Verdächtigung von äußerster Schärfe in das theologische Gespräch einführt,
seinerseits mit diesem dem Staatssicherheitsdienst zugespielten Stichwort das
Gespräch praktisch abgebrochen hat."
(G. Jacob, "Wider
eine falsche Zweireichelehre", Fürstenwalde/Spree, im Februar 1976,
hektogr.)
Mißverständnisse?
Verdächtigungen?
Weil die WBl
"eindeutig hinter dem sozialistischen System" standen, haben sie auch
die dieses System bestimmenden Strukturen unterstützt, haben ihm gedient.
Nachdenken der
Herausgeber der WBl über ihre eigene objektive Funktion in diesem "frühsozialistischen
Absolutismus" wäre jetzt angesagt. Aber darauf werden die Leser der WBl
weiter warten müssen.
Nachdenken im Sinne
von "nachdenklich sein" war noch nie Sache der WBl. Vor jedem Nachdenken
stand die staatssicherheitsdienende Frage des Herrn Mielke: "Wer ist
wer" (Lageberichte ... S. 202) und: "Ist es so, daß morgen der 17.
Juni ausbricht?" (ebd. S. 125).
Statt Nachdenken ist
der neue cantus firmus angestimmt: "Keine Reue! Keine Buße! Keine
Schuldbekenntnisse!" - der Herausgeber hat es seinen Freunden in der SED
nachgerufen.
Aber während jene sich
nicht so gewissenlos ins Gewissen reden lassen und ehrlich einen neuen Weg zu
gehen versuchen, den Weg zu einem demokratischen Sozialismus (welch ein
Schreckgespenst für die WBl!), bleiben die WBl ungetrübt von jeder
Nachdenklichkeit zurück, in Wahrheit rufen sie es sich selbst zu: "keine
Buße! Keine Reue!..."
Der cantus firmus
eines Abgesangs?
Hanfried Müller an
Klaus Brosig:
Ihre Replik zu
"Hanfried Müller antwortet" * veröffentlichen wir
schon darum gern, weil sie pfiffig geschrieben ist. Überdies machten Sie uns
auf eine Resonanz (wenn auch nicht die WBl genannt werden, sondern der WAK <Weißenseer
Arbeitskreis>) aufmerksam, die wir übersehen hatten: Die
MfS-Aktenpublikation.
Nun veröffentlicht der
Sieger in der Geschichte ja oft die Akten des Besiegten, die er in seinem
Interesse selber auswählt, nicht aber seine eigenen Dossiers. Was also die
Geheimnisse des Siegers betrifft, bleibt man auf Vermutungen angewiesen.
Aber halten Sie es für
ganz abwegig, anzunehmen, daß, erblickten einmal die Akten aus Pullach **
das Licht der Öffentlichkeit, alles, was wir nun aus den Akten der
Normannenstraße *** kennen, darin auch
vorkäme - nur seitenverkehrt gesehen und gegenteilig gewertet? Da würde dann
wohl die Rede davon sein, was die Bundesregierung tun solle, um im politischen
Interesse der BRD Kirchen und Gruppen wirksamer werden zu lassen; und es würden
sich mutmaßlich Hinweise finden, wie man die Block-CDU, die CFK und Kirchliche
Bruderschaften in ihrer Wirksamkeit hindern könne ... Und meinen Sie wirklich,
wenn der Bundesverfassungsschutz dortzulande beispielsweise die CFK observiert,
riete er nicht zugleich der Regierung, ihre systemtreue Opposition in den
Staatsschutz einzubeziehen, das heißt in den Schutz des eigenen Systems, dort
also der sogenannten freiheitlich-demokratischen (wie hier der bisher
sozialistischen) Grundordnung? Täte er das nicht, dann funktionierte er nicht
als Staatsschutzinstitution, sondern als Regierungsinstrument gegen
systemimmanente Alternativen (was ja zum Schaden des betroffenen Staates
zuweilen vorkommt).
Bei der Lektüre der
Dokumentation, auf die Sie mich aufmerksam gemacht haben, hat es mich
überrascht, wie sehr immerhin das MfS als Staatsschutzbehörde funktioniert hat:
ich hätte gedacht, sein Verhältnis zur Regierung wäre lakaienhafter gewesen.
Die Regierungskritik (z. B. S. 204) hat sich ja gewaschen: "... daß die
Partei- und Staatsführung nicht mehr in der Lage und fähig sei, die Situation
real einzuschätzen und entsprechende Maßnahmen für dringend erforderliche
Veränderungen durchzusetzen." Von "Mißtrauen der politischen Führung
der DDR gegenüber dem Volk" ist da die Rede und davon, daß die
"Informationspolitik der Partei ... nichts mehr mit Leninscher
Informationspolitk zu tun habe". Tatsächlich: Das hätte man auch in den
WBl lesen können - allerdings nicht erst am 8. 10. 1989.
Aber noch etwas anders
hat mich überrascht: daß der doch angeblich "allmächtige" "Staatssicherheitsdienst" zwar alles kommen
sah und nach politischer Lösung der politischen Probleme rief (wenn auch wohl
zu spät), der erkannten Gefährdung der Republik aber offenbar ohnmächtig gegenüberstand.
*
Anscheinend meinen
Sie, Ihre süffisanten Anmerkungen zu dem Thema "Stasi und Kirchliche
Bruderschaften" wären für uns furchtbar peinlich. Warum? Würde etwa die
SPD in der BRD schamhaft erröten, wenn sich beim Bundesverfassungsschutzamt
eine Aktennotiz fände, in der die Bundesregierung ermuntert würde,
sozialdemokratische oder andere Kreise der systemimmanenten Opposition
"noch stärker in den Prozeß der politischen Auseinandersetzung" mit
verfassungsfeindlichen Kräften oder außenpolitischen Gegnern einzubeziehen? Ist
es eine Schande, der Treue zum eigenen Land und seiner Verfassung verdächtig zu
sein?
Ich habe doch nicht
deshalb darauf hingewiesen, daß die WBl zur Regierung Honecker/Mittag/Hermann
überwiegend in Opposition gestanden hätten, um unsere Ehre zu retten. Sie
scheinen das nur so verstehen zu können: als einen Akt der Rechtfertigung. Aber
das zeigt meines Erachtens ein Defizit an demokratischem Bewußtsein. Es ist
doch weder an und für sich verwerflich, für eine Regierung zu sein (Sie selbst
scheinen es ja gegenwärtig zu sein!), noch an und für sich honorig, ihr
Opposition zu machen. In beiden Fällen kommt es doch darauf an, welche
Interessen diese Regierung oder diese Opposition vertritt und ob sie das
jeweils gut oder schlecht tut.
So bezeichnet denn
auch viel mehr das Stichwort "Konterrevolution" den ernsthaften
politischen Streitpunkt zwischen uns.
In der Tat: Die Linie
der WBl war (und ist) dadurch bestimmt, daß sie zwar nicht einfach in dem Sinne
"für den Sozialismus" waren (und sind) wie eine politische Partei,
daß sie jedoch ganz entschieden gegen die Einbeziehung der Kirche in die weltweite
antikommunistische Front waren (und sind) und darum auch gegen den
konterrevolutionären Weltprozeß, der sich seit Jahren vollzieht. In Anlehnung
daran, wie Sie Ihre Frage an die WBl formuliert haben, könnte ich geradezu
fragen: 'Die evangelischen Kirchen und ihre Gruppen freiwillig / unfreiwillig
einbezogen in die (offene oder gar geheimdienstliche) Aktivität
imperialistischer Weltpolitik und bundesdeutscher Annexionspolitik?' Und ich
könnte wörtlich wie Sie hinzufügen: "Mißverständnisse,
Verdächtigungen?"
*
Die WBl haben nie
behauptet, ihre politisch-ideologischen oder gar ihre theologischen Gegner
seien allesamt "Konterrevolutionäre". (...) Die WBl haben lediglich
gesagt, manche ihrer Gegner könnten mit ihrer Unbesonnenheit eine
Konterrevolution auslösen. Sie haben gerade diejenigen, die wirklich den
Sozialismus verbessern wollten, davor gewarnt, ihn bei diesem Versuch etwa
"aus Versehen" zu beseitigen. Die Warnung schien uns geboten. Denn
wir wußten, daß es vor unseren Grenzen eine annexionslüsterne BRD und innerhalb
unserer Grenzen allzu viel fanatischen Antikommunismus gab, beide mit dem Ziel,
Sozialismus und DDR zu liquidieren, beide getarnt als solche, denen es nur um
"sozialistische Reformen" ginge. (Daß eine kapitalistische Reform
gemeint war, steht inzwischen ganz offen im "Staatsvertrag", der
Kapitulationsurkunde der sozialistischen DDR.) Es war von Anfang an zu
befürchten, daß diese Antikommunisten und nicht die ersten Akteure bei
sogenannten "sozialistischen Reformen" die Gewinner wären.
War diese Warnung
Unsinn? Wird diese Befürchtung nicht erschreckend bestätigt, wenn Stephan Heym
vom "Aschermittwoch" spricht und viele andere ähnliche Gefühle
artikulieren? Was sagen Sie dazu, daß nun an die Stelle einer Wahlfälschung (die unentschuldbar war und
überdies sinnlos, zumal sie am Ergebnis der Wahl gar nichts wesentlich änderte)
der Wahlbetrug getreten ist, der nun
allerdings wesentlich das Wahlergebnis bestimmte, mehr noch, als das für vom
Kapital dominierte Wahlen immer typisch ist, weil er in diesem Fall auf in
solchen Wahlraffinessen unerfahrene Wähler stieß? Was ist es anderes als die Revision
einer sozialistischen Umwälzung (und also erfolgreiche Gegenrevolution), wenn
das Ergebnis der "schönen", "friedlichen", ja "getauften"
"Revolution" zur "Erneuerung des Sozialismus" darin
besteht, daß nahezu alle (immer mehr besorgt und immer weniger begeistert)
sagen: dagegen, daß der Kapitalismus zurückkehrt, kann man nichts mehr machen,
allenfalls kann man versuchen, was ohnehin kommt, "sozial
abzufedern"? Wo bleibt da das "Volk", das seine Geschicke selbst
bestimmt? Was kann es noch tun, wenn statt der SED die DM alles beherrscht? Die
Proteste in Sachen "Umtausch 1:1" haben keine einheimische Adresse
mehr - einmal ganz abgesehen davon, daß das kaum die Frage ist, auf die es
sozialökonomisch vor allem ankommt; man kann sich ja auch mit Hochzinspolitik
oder Inflation schadlos halten; wir haben es ja schließlich nicht mit
Taschendieben, sondern mit Bankräubern zu tun.
Gegen wirkliche (und
vermeintliche) Fehler sozialistischer Wirtschaftspolitik konnte man auf die
Straße gehen. Welche Erfolgsaussicht hat es aber, gegen "Sachzwänge"
"freier Marktwirtschaft" zu demonstrieren? Kann man das
internationale Kapital damit von seinem Selbstverwertungsinteresse abbringen?
Wieviel DM ist den westdeutschen Banken der "soziale Frieden" in den
ostelbischen Kolonialgebieten wert, bis diese Kolonie so entwickelt und dem
Imperialismus integriert ist, daß sie zum Sprungbrett für den nächsten Schritt
zur "deutschen Einheit" wird - Schlesien, Pommern, Sudeten?
Gegen die Überwachung
von Telefonen durch die "Staatssicherheit" ließ sich in den Fürbittgottesdiensten
protestieren, und die Westmedien gaben dem Protest Weltwirkung. Gegen das
Abhören unserer Telefone durch den BND samt westalliierten "Diensten"
hat meines Wissens noch keine entsprechend wirksame Versammlung am Rande der
Kirche stattgefunden - sie wäre nämlich (abgesehen von aller Fragwürdigkeit
solcher politischen Manifestationen in Gebetsform) ergebnislos. Und die Medien,
die bis gestern nicht genug jubeln konnten über "ein Volk" in
"freier Selbstbestimmung", reden nun von diesem Volk, das sich mit
Glasperlen bezaubern und mit "Pressevielfalt" berauschen ließ, wie
seit je Kolonialherren von Eingeborenen.
*
Sollen wir nun
deshalb, weil wir ohnmächtig geworden oder gemacht worden sind, sagen, wir
wären im Unrecht? Unsere Gegner erklärten Macht für "böse an sich".
Wir haben ihnen widersprochen und darauf insistiert, das Fehlen und die
Preisgabe von Macht könne Schuld sein, darum nämlich, weil menschliches Recht
der Macht bedarf. Denken nun unsere Gegner von damals, was sie nie gesagt und
wir nie gemeint haben, nämlich: Macht könne darüber entscheiden, was Recht sei?
Weil der Imperialismus stärker gewesen sei als der Sozialismus in seiner
bisherigen Form, darum sei er auch besser? Weil er gesiegt habe, dürfe und
müsse man sich ihm anpassen?
Das heißt allerdings
keineswegs, daß für uns die Frage, wer "recht gehabt hat" jetzt noch
entscheidend wäre. Es geht um die Frage, wer im Blick auf die Zukunft recht
hat. Im Blick auf die Vergangenheit sind wir nicht an Schuldzuweisungen interessiert.
Wir haben stets gesagt und sagen weiterhin: Nicht, wo jemand herkommt, sondern
wo er hingeht, ist wichtig.
Wenn uns neulich ein
prominenter Kirchenmanager, den wir zuweilen in den WBl attackiert haben,
sagte, bisher habe die Kirche sich vor allem für die "individuellen"
Menschenrechte engagiert, nun müsse sie sich für die "sozialen"
Menschenrechte stark machen (Recht auf Arbeit, Kündigungsschutz,
Kinderversorgung, Schutz der Kranken, Alten, Mieter etc.), dann werden wir
künftig auf der gleichen Seite stehen.
Unsere Meinung, es sei
viel leichter, die individuellen Menschenrechte zu vervollkommnen, wenn man die
sozialen erst einmal erstritten habe, als umgekehrt, ist sicher noch wichtig,
wenn es darum geht, aus der Geschichte für die Zukunft zu lernen. Aber hier und
heute wäre ein Meinungsstreit darüber akademisch. Während wir im Begriff sind,
die "sozialen" Menschenrechte einzubüßen, gilt es aktuell
zusammenzustehen, um so viel wie möglich davon zu retten oder zurückzugewinnen.
*
Die Einladung zu
solcher Kooperation aller Linken ohne Berührungsängste voreinander gilt auch
Ihnen, lieber Herr Brosig!
Zum Gubener Wort linker Christen (1990)
Entwurf
von Michael Domke
1.
a Wir haben nicht
geirrt, als wir im Kommunismus eine weltliche Entsprechung zum Reich Gottes
gesehen haben.
b.Wir sind in die Irre
gegangen, als wir nach der Befreiung vom Faschismus mit Gewalt die
kommunistische Gesellschaft aufbauen wollten.
c Wir haben nicht
gesehen: Die Zeit muß reif sein. Die Entwicklung der Produktivkräfte braucht
Zeit, um einen friedlichen Übergang zu gerechteren Produktionsverhältnissen zu
ermöglichen.
2.
a Wir haben nicht
geirrt, als wir in der Befreiung der Menschen der Zwei-Drittel-Welt von
ökonomischer Ausplünderung, politischer und kultureller Bevormundung, eine
Entsprechung zum Befreiungshandeln Gottes, wie es uns in der Bibel bezeugt
wird, gesehen haben.
b Wir sind in die Irre
gegangen, als wir unsere Kritik am Bestehenden für einen demokratischen
Sozialismus zurückgehalten haben, um die erste bewußte und umfassende Gestaltung
einer gerechteren Gesellschaft nicht zu gefährden.
c Wir haben nicht gesehen:
Kritik und Veränderung hätten den Sozialismus stabilisiert.
3.
a Wir haben nicht
geirrt,als wir die Gestaltung einer gerechteren Gesellschaft auf der Grundlage
des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln unterstützt haben.
b Wir
sind in die Irre gegangen, als wir meinten, die menschliche
Gesellschaft müsse gegen ihre Feinde auch mit unmenschlichen Mitteln erkämpft
und verteidigt werden.
c Wir haben nicht
gesehen: kein noch so humaner Zweck heiligt inhumane Mittel.
4.
a Wir haben nicht
geirrt,als wir den Sozialismus für die gerechtere und menschlichere Weise des
Miteinanderlebens angesehen haben.
b Wir sind in die Irre
gegangen. als wir meinten, die Einschränkungen persönlicher Freiheit um der
ökonomischen Freiheit vom Kapital willen in Kauf nehmen zu müssen.
c Wir haben nicht
gesehen: Ein Volk läßt sich nicht gegen seinen Willen zu seinem Glück zwingen.
Der Zwangsapparat des Staatssicherheitsdienstes schadet der Umgestaltung zum
Reich der Freiheit erheblich.
Ein Diskussionsbeitrag
von Hanfried Müller
Lieber Herr Domke,
mit großem Interesse
und Sympathie habe ich Ihren Entwurf für "Das Gubener Wort linker
Christen" gelesen. Daß Sie ihn den WBl zugeschickt haben, werte ich als
eine Aufforderung zur Diskussion und beginne damit.
Die Grundstruktur,
sich zu fragen, worin wir recht hatten, worin wir irrten und was der Grund
unseres Irrtums war ("Wir haben nicht gesehen..." - vielleicht sollte
es besser heißen: "Wir haben nicht erkannt"?), scheint mir zur
Selbstklärung im Blick auf den Weg, den wir unter Vermeidung erkannter Fehler
künftig zu gehen haben, dienlich zu sein.
Wie Sie sich denken
können, habe ich zum theologischen Grundansatz der Leitsätze 1a und 2a alle die Anfragen, die ich an Karl Barths
politische Analogielehre habe. Gewiß: Wir beten, daß Sein Wille wie im Himmel, so auch auf Erden geschehen möge. Da geht es zweifellos um eine
"Entsprechung", darum, daß, was auf Erden geschieht, und also auch
unser politisches Tun, Gottes Willen ent-sprechen
und nicht widersprechen möge. Aber wo
steht denn, daß Er auf Erden alles so haben will wie im Himmel? Die
Unterscheidung von Himmel und Erde steht ja schon über Genesis 1,1.*
Ich denke schon, daß
es dem Willen Gottes entspricht, auf Erden nach menschlicher Einsicht für Recht
und Frieden zu sorgen, und nach meiner menschlichen Einsicht bedarf es dazu
einer Gesellschaftsordnung, in der Menschen keine Menschen ausbeuten können. Aber
mein entschiedenes Ja zu dieser Ordnung und also meine Bereitschaft, sie, wenn
und wo es geht, nach menschlichem Vermögen durchzusetzen, ist nur mittelbar im
verheißungsvollen Gebot Gottes begründet. Ich kann nicht "im Namen
Gottes", sondern nur im Namen menschlicher Vernunft - und zu vernünftigem
Gottesdienst sind wir berufen - für eine sozialistische Entwicklung
menschlicher Gesellschaftsordnung kämpfen. Darum kann ich nicht wie Sie im
"Kommunismus eine weltliche Entsprechung zum Reiche Gottes" sehen.
Das war der Grund, warum ich leider weder je einen vollen theologischen Konsens
mit Emil Fuchs noch mit den meisten Befreiungstheologen habe finden können. Ob
die Gesellschaftsordnungen, die wir realisieren, "Entsprechungen zum
Reiche Gottes" sind, das - denke ich - unterliegt niemals unserem, sei es
theologischen oder politischen, Urteil, sondern allein dem Urteil Gottes, dem
wir entgegenleben, ohne es vorwegnehmen zu können und zu dürfen.
Ich denke auf Grund
der Schrift, daß die gesellschaftliche Gerechtigkeit (das, was die Reformatoren
die 'iustitia civilis' nannten) einerseits immer sehr unvollkommen ist, weil
sie nur äußerlich Selbstsucht und Selbstgerechtigkeit der Menschen dämpfen kann
(deshalb habe ich auch den Sozialismus nie am Ideal einer vollkommenen
Gesellschaft gemessen, beweihräuchert oder diskreditiert), daß sie aber
andererseits eine gute Gabe Gottes zum Schutze des Rechtes der Schwachen gegen
den Anspruch des "Rechtes des Stärkeren" ist. Von daher verstehe ich
sowohl Römer 13* (darum: "nicht
nur der Strafe wegen, sondern um des Gewissens willen" weltlicher Macht
untergeordnet) wie auch den 1. Petrusbrief und - für beides grundlegend - die
Haltung Jesu zu Pilatus, wie Barth sie zu Beginn von "Rechtfertigung und
Recht" beschreibt: "Du hättest keine Gewalt über mich, wenn sie dir
nicht von oben gegeben wäre."**
Wir können und müssen
darüber streiten, wie wir die
Gerechtigkeit Gottes, die gesellschaftliche Gerechtigkeit unter den Menschen
(die 'iustitia civilis') und die Selbstgerechtigkeit (das Recht, das wir
jeweils für uns selber haben wollen) recht zu unterscheiden haben; aber daß wir hier zu unterscheiden und weder zu trennen noch zu vermischen haben, halte
ich für eine unverzichtbare Bedingung evangelischer Theologie.
Mit meinem
theologischen Grundbedenken hängt (wohl unterschieden!) mein politisches
Grundbedenken zusammen:
Der Gemeinde Jesu,
nicht der weltlichen Macht gilt der Satz 'non vi, sed verbo'! <nicht mit
Gewalt, sondern durchs Wort!> Es bedarf zwischen uns keiner Erörterung, daß
"Macht an sich" böse ist, aber Macht ist nicht "böse an
sich". Sie unterliegt dem Kriterium, ob sie das Recht - nicht einfach das
der "anderen", sondern das der Schwachen - schützt. Nur weil Macht
nicht "böse an sich" ist, kann ja sinnvoller Weise von ihrem Mißbrauch gesprochen werden.
Und nun habe ich bei
Ihrem Punkt 1 b (und ein bißchen auch bei 3 b) den Eindruck, daß Sie den
Gedanken nahelegen, Machtausübung sei sozusagen eo ipso Verunreinigung der
reinen Idee. Da kommen Sie mir den masochistischen Neigungen in der PDS zu
nahe. Da wird die Sache allzu idealistisch. Wer hätte denn etwas von einer nicht
realisierten Gerechtigkeit? Und wie wäre denn gesellschaftliche Gerechtigkeit
anders zu realisieren als unter "Androhung und Ausübung von Gewalt"
gegen die, die das Recht brechen? Ganz zweifellos darf auch das Recht nicht mit
unmenschlichen Mitteln durchgesetzt werden (3 b). Aber wer hat das denn
behauptet und gesagt, daß humane Ziele inhumane Mittel rechtfertigen? Sie,
lieber Herr Domke, nach meiner Erinnerung jedenfalls nicht! Auch
Schuldbekenntnisse und Selbstkritik müssen der Wahrheit verpflichtet bleiben.
In Wirklichkeit geht es aber, wenn ich recht verstehe, um etwas anderes:
nämlich darum, daß Sie anscheinend meinen, Gewalt sei überhaupt unmenschlich
beziehungsweise eine menschliche Gewalt
sei gar nicht denkbar. Da bin ich allerdings - ich denke in Übereinstimmung mit
der ganzen Schrift! - anderer Meinung. Mit alledem will ich nicht leugnen, daß
beim Versuch, den Sozialismus zu realisieren, auch Verbrechen geschehen sind.
Der real existierende Sozialismus war gewiß, weil eine menschliche, keine vollkommene
Gesellschaftsordnung - auch darum würde ich nicht gerne sagen: eine
Entsprechung zum Reiche Gottes. Darum übrigens würde ich auch die dringende,
und durch die Niederlage des Sozialismus so unendlich viel schwieriger
gewordene, Befreiung der Zwei-Drittel-Welt nicht gern interpretieren als
"Entsprechung zum Befreiungshandeln Gottes". Denn auch sie ist
unvollkommen. Ich erinnere nur an Klaus Matthes' Aufsatz in den WBl 1/90 zu
"Namibia - zerstörende und befreiende Gewalt". Aber diese
Unvollkommenheit menschlicher Befreiung und Gerechtigkeit hindert nicht die
politische Solidarität mit den Befreiungsbewegungen wie mit der sozialistischen
Bewegung.
Ich habe Sorge, einige
Ihrer Formulierungen könnten verführen zu einer Umkehr auf dem Wege des
Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. Diese Kehrtwendung, die ja auch
manche Kommunisten, die den Sieg des Imperialismus seelisch nicht verkraften,
vollziehen, hielte ich für grundfalsch. Soweit ich sehe, liegen die Ursachen
der subjektiven Fehler, die zur Niederlage des Sozialismus beigetragen haben,
nicht darin, daß die Verantwortlichen zu sehr, sondern zu wenig
historisch-dialektisch-materialistisch gedacht haben. Das zeigte sich zum
Beispiel darin, daß sie mit dem Imperialismus nicht in einen Wettbewerb um
soziale Gerechtigkeit, sondern um ökonomische "Effektivität" traten
und damit die Normen, die das Selbstverwertungsinteresse des Kapitals der
bürgerlichen Gesellschaft setzt, zu ihren eigenen Normen machten. Das zeigte
sich zum Beispiel darin, daß sie mangels ideologischer Klarheit einer
Führungsschwäche verfielen und es meist vergeblich unternahmen, erst auf
populistischen Wegen den Massen nachzulaufen, statt sie zu leiten, um dann,
wenn ihnen die Massen irritiert wegliefen, darauf verkrampft repressiv zu
reagieren.
Wie wenig Anlaß es
gibt, angesichts der in der Tat historischen Niederlage die Theorie preiszugeben
und sich wieder dem utopischen Sozialismus - Sozialismus als Traum oder Vision
- zuzuwenden, zeigt sich doch vor allem darin, daß sich der viele so
überraschende Sieg des Imperialismus und die viele so überraschende Niederlage
des Sozialismus überzeugend eigentlich nur
historisch-dialektisch-materialistisch erklären lassen. Darum sind ja in der
Analyse Dialektiker wie zum Beispiel Hans Heinz Holz den so hilflos
selbstkritischen Träumern und Dogmatikern so weit voraus.
Ich frage mich, ob man
die Frage, worin wir nicht geirrt, worin wir geirrt und was wir zum Schaden der
Sache unzureichend berücksichtigt haben, nicht historisch großzügiger stellen
sollte? Gewiß beginnt die Eule der Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug,
und mit zeitlich wachsendem Abstand wird das Wesen einer Epoche überschaubarer.
Immerhin, Marx hat viel gelernt, indem er seine eigene Epoche analysierte.
Sollten wir es nicht auch versuchen?
Dann treten an die
Stelle kleinlicher Mängelanzeigen die großen historischen selbstkritischen
Fragen: Konnte der Widerspruch überhaupt gelöst werden, daß der Sozialismus nur
dort begonnen werden konnte (am
schwächsten Glied der Kette), wo er kaum vollendet
werden konnte (mangels gesellschaftlichen Reichtums und
Akkumulationsmöglichkeiten, mangels demokratischer Tradition und mangels
zivilisatorischer Reife)? Vom Tage seiner Entstehung an wurde der Sozialismus
von den ökonomisch, politisch, militärisch stärksten Mächten der Welt
eingekreist und in eine Festung gedrängt. Konnte er - permanent belagert und
angegriffen - den Widerspruch lösen , sich trotz der von außen gesetzten
Unfreiheit seiner Entwicklung im Innern so frei zu entfalten, wie es nötig
gewesen wäre, um auch unter seinen ursprünglichen Kritikern im eigenen Land
Akzeptanz zu finden? Ließ es sich verhindern, daß auf die Dauer die
Arbeiterklasse selbst in den Bann der Attraktivität einer benachbarten
Gesellschaftsordnung geriet, die den Ausgebeuteten im eigenen Lande dank
weltweiter Ausbeutung ein korrumpierendes Konsumangebot unterbreiten konnte, so
daß zunehmend das revolutionäre Subjekt der sozialistischen Bewegung erlahmte?
Welche Waffen blieben den vom Kapital Verelendeten, die nicht einmal mehr den
Verkauf ihrer Arbeitskraft verweigern, streiken oder den kapitalistischen Markt
boykottieren können, weil das Kapital ihrer Arbeitskraft und Produkte gar nicht
mehr bedarf, sondern beides massenhaft vernichtet? Sind die "Verdammten
dieser Erde" (in den imperialistischen Zentralländern desozialisiert und
in den neokolonialistisch unterdrückten Ländern fern von den Zentren
kapitalistischer Macht "draußen vor der Tür") noch eine ernstliche
Bedrohung auch nur der Ruhe der Kapitaleigner?
Sie fassen das alles -
und noch viel mehr wäre zu nennen - zusammen in den einen Satz 1 c: "Die
Zeit muß reif sein."
Sie war es nicht im
Blick auf die Realisierungsmöglichkeit
des Sozialismus. Lenins frühe Befürchtung, die von Stalin nur Trotzki
zugeschriebene These von der Unmöglichkeit für den Sozialismus, sich in nur
einem Lande zu behaupten, scheint sich zu bewahrheiten.
Die Zeit aber ist
überreif im Blick auf die Realisierungsnotwendigkeit
des Sozialismus. Das Elend der verelendeten überwältigenden Mehrheit der
Menschen schreit zum Himmel, und die Zeit ist überreif, diese Not zu wenden.
Darin werden wir uns
einig sein. Es muß also geschehen,
was soeben mißlungen ist: die
sozialistische Umgestaltung der Gesellschaftsordnung. Die Widersprüche sind ja
nicht gelöst. Die Spontaneität, mit der das Kapital in seinem
Wachstumsinteresse alle zwingt, mitzuwirken bei der Verelendung der Armen, bei
der Zerstörung der zukünftigen menschlichen Lebensmöglichkeiten und (bei Gefahr
des Untergangs der Menschheit durch unmenschliche Lösung ihrer Konflikte) in
imperialistischen Kriegen, hat nur dazu geführt, daß diejenigen diffamiert
werden und resignieren, die (trotz all ihrer Fehler) berufen waren und sind, das Subjekt der Lösung dieser
Widersprüche zu sein. Weil die Widersprüche härter denn je fortbestehen - die
Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, bis selbst die Reichen an
der Armut der Armen sterben werden -, besteht auch die Aufgabe ihrer Lösung
weiter.
Ich nenne die Epoche,
die hinter uns liegt, "frühsozialistischen Absolutismus". Die sie
tragende Klasse war noch nicht reif genug, als Klasse demokratisch den
Sozialismus zu organisieren. Sie schwankte zwischen dem Rückfall in bürgerliche
Klassendemokratie und der Delegation ihrer Macht an eine Elite und ihren
Apparat. Als die Bedingungen in der belagerten Festung immer schwieriger
wurden, kam es zum Aufstand gegen die ihrer Aufgabe nicht gewachsenen
Festungskommandanten - und die Festung fiel.
Trotzdem - meine ich -
ist diese Epoche so wenig eine für den Sozialismus verlorene Epoche, wie es die
Epoche eines Henri IV. und einer Elisabeth I. für die Frühgeschichte
bürgerlicher Revolution war. So wenig, wie man trotz Gegenreformation je das
Toleranzedikt von Nantes vergessen konnte, so wenig wird man je wieder
vergessen können, daß das Recht auf Arbeit einmal einklagbar war, daß die
Leistungsstarken einmal mit Akzisen auf Luxus Mieten, Kleidung, Heizung und
Nahrung der Leistungsschwachen subventionierten, daß man eine Gesellschaft ohne
anonymen ökonomischen Zwang organisieren kann, mag auch administrativer Zwang
dabei oft desto härter empfunden worden und leider oft überdies überflüssig
gewesen sein.
Das Scheitern des
frühsozialistischen Absolutismus ist nicht die Widerlegung des sozialistischen
Ziels. Der Weg zum Ziel muß noch einmal angetreten werden. Was hinter uns
liegt, war eine Weg-Erkundung. In unbekannter Landschaft war sie unvermeidlich
und nötig; sie muß helfen, nunmehr den Weg genauer zu bestimmen und zu gehen.
Darum halte ich Ihr Frageschema für ausgezeichnet und hoffe, daß Sie daran
weiterarbeiten und zu einem uns alle weiterführenden Ergebnis kommen. Mit
meinen kritischen Fragen möchte ich nur helfen, sachgemäß weiterzudenken.
Dabei wünschte ich mir
an einigen Stellen mehr Differenzierung:
Zum Beispiel 1 c: Wie
lange reicht die Zeit der Menschheit noch, um diejenige Entwicklung der
Produktivkräfte abzuwarten, die gerechtere Produktionsverhältnisse (das heißt
bitte konkret: solche, in denen Menschen nicht massenhaft verhungern und
physisch wie moralisch verkommen müssen) ermöglichen? Können Menschen auch
etwas tun, um die Entwicklung der
Produktivkräfte so zu lenken, daß die Zeit schneller "reif" wird?
Oder zu 2 b: Der Satz
2 c ist sicher richtig: "Kritik und Veränderung hätten den Sozialismus
stabilisiert." Aber haben wir denn diese "Kritik am
Bestehenden", die stabilisierend gewirkt hätte, zurückgehalten? Haben Sie,
lieber Herr Domke, das getan? Daran erinnere ich mich nicht. Allerdings
erinnere ich mich, daß die WBl gemeinsam mit Ihnen versucht haben, so zu
kritisieren, daß wir den Sozialismus dabei stabilisierten und nicht
destabilisierten (was ja manche Leute eingestandener Maßen mit ihrer Kritik
bezweckten). Mit diesem Versuch hatten wir keinen Erfolg. Von unserem Mißerfolg
müßten wir aber differenzierter sprechen, nicht so, als ob die Alternative
"Kritik - ja oder nein" unser Problem gewesen wäre. Unser Problem war
doch: "Kritik - aber wie? ohne der Sache zu schaden".
Zu 4b und 4c: Steht
nicht auch hier - bei den "Einschränkungen persönlicher Freiheit", um
sich vom Kapital zu befreien - mehr das "Wie" als das "Ob"
zur Debatte? Was wäre das sonst für ein Freiheitsverständnis? Wir sind doch
darin einig: Freiheit ist ihrem Wesen nach Freiheit für...; sie hat die
Freiheit von... nur zu ihrer negativen Bedingung. Wollen wir frei für andere
sein, müssen wir frei von uns selbst werden. Wollen wir frei für eine
solidarische Gesellschaft werden, müssen wir frei von einer Gesellschaft sein,
in der das Recht des Stärkeren gilt. Dazu bedarf es nun einmal der
"Einschränkung der persönlichen Freiheit" des Stärkeren;
"niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch
Zucht", hat Bonhoeffer - im Gefängnis - gedichtet.
Von allen Marx-Worten
ist mir das Wort vom "Reich der Freiheit" immer besonders fragwürdig
gewesen. Auf die Realitäten dieser Welt angewandt, behält es einen religiösen
Akzent, auch wenn das nicht Marx' Meinung war. Zuletzt ist denn doch das
"Reich der Freiheit" nur Gottes eigenes Reich. Lassen Sie uns doch
mit Paulus dessen "durch Geduld warten", daß "auch die Kreatur
frei werden wird von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen
Freiheit der Kinder Gottes" und daraus keinen Maßstab machen, an dem wir
die notwendigen Bemühungen in dieser Welt messen, das Recht der Schwächeren
gegen die Stärkeren zu schützen und Menschen etwas freier zu machen von dem
Schicksal, gekauft und verkauft zu werden. Darum halte ich Recht und Gesetz,
aber nicht das "Reich der Freiheit" für ein geeignetes Kriterium, um
Staatsorgane - auch um die Legitimität und Legalität von Staatsschutzorganen -
zu beurteilen. Sie haben es in aller Welt schon schwer genug, auch nur diesem
bescheidenen Maßstab zu entsprechen.
In der Hoffnung, daß
Sie meine Fragen und Einwände verstehen, wie sie gemeint sind, nämlich als
Ermutigung für Ihr Bemühen, ein verbindendes "Gubener Wort linker
Christen" zu erarbeiten, grüße ich Sie mit allen guten Wünschen für den
Fortgang dieser Arbeit.
Fruchtbare Meinungsunterschiede
von Michael Domke
Zur Frage der
"Entsprechung" von Reich Gottes und Kommunismus, von
Befreiungshandeln Gottes und der Befreiung der Zwei-Drittel-Welt von
ökonomischer Ausplünderung können wir uns vielleicht darauf einigen, daß wir
hier "weder zu trennen noch zu vermischen haben", wie Sie schreiben.
Wenn ich mich aus Einsicht in ökonomische Zusammenhänge für ein Miteinander
ohne Ausplünderung der einen durch die anderen einsetze, dann hat das für mich
etwas zu tun mit dem verkündigten Reich Gottes, wo "die Letzten die
Ersten" sein werden. Wenn ich mich für die gerechte
Weltwirtschaftsordnung, für die Befreiung der Zwei-Drittel-Welt von
ökonomischer Ausplünderung und politischer Bevormundung einsetze, hat das für
mich zu tun mit dem Gott, der Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreite.
Es hat deshalb damit
"etwas zu tun" weil es dieser befreiende Gott und dieser Jesus
Christus ist, der das Reich Gottes verkündigt, auf den ich im Leben und im
Sterben, also auch in meinem politischen Leben vertraue.
Zur Frage der Macht:
Das Kriterium für die Beurteilung von Macht ist nicht nur, ob die Macht für das
Recht der Schwachen eingesetzt wird, sondern Kriterium ist auch, wie diese
Macht zustandekommt und wer sie kontrolliert.
Macht, die auf
Waffengewalt basiert und nicht auf freien Wahlen und die nicht durch immer
wieder frei gewählte Körperschaften kontrolliert wird, schützt bald nicht mehr
das Recht der Schwachen, sondern nur noch das Recht der Mächtigen, auch wenn
sie sich als "Vorhut" der Schwachen ansehen.
Ich meine in 1b) mit
dem Ausdruck "mit Gewalt ausbauen", daß wir die kommunistische
Gesellschaft übers Knie brechen wollten, weil sowjetische Panzer im Land
standen. Spätestens als 1952 der Aufbau des Sozialismus beschlossen wurde,
hätte er eben nicht nur von der Parteikonferenz der SED beschlossen werden
dürfen, sondern man hätte sich mit dem Programm dem Bürgervotum in einer freien
Wahl stellen müssen.
Zur Frage der
inhumanen Mittel: Lieber Herr Müller, ich habe leider tatsächlich so gedacht.
Und jeder sollte sich genau überlegen, ob er nicht wenigstens auch in diese
Richtung gedacht hat: Wenn wir den Sozialismus real aufbauen wollen, werden wir
auch real schuldig. Brecht hat diese Tragik, glaube ich, einmal so ausgedrückt:
"Wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten
selber nicht freundlich sein."
Ich habe gedacht: So
lange es Gegner der menschlichen Gesellschaft gibt, müssen diese auch mit unmenschlichen Mitteln (z.B.
Gefängnis) daran gehindert werden, die Umgestaltung zu bekämpfen. So habe ich
für mich um des menschlichen Zieles willen die Presse- und Buchzensur
gerechtfertigt, auch wenn ich gesagt habe, wir sollen diese Einschränkung der
Meinungsfreiheit auch als Mangel benennen und an ihrem Abbau arbeiten. Ich habe
die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes nicht nur zum Schutz vor äußeren
Feinden, sondern auch vor inneren Feinden für ein notwendiges Übel gehalten;
zwar für ein Übel, aber eben für ein notwendiges. Das humane Ziel schien mir
wichtiger zu sein als der inhumane Weg. Und das war verkehrt! Über den Weg der
Angst und der Einschüchterung, wie ihn der Staatssicherheitsdienst z.B. mit
bewußt schlecht getarnten heimlichen Hausdurchsuchungen, mit Diebstählen
persönlicher Unterlagen, die einem dann unversehrt, nur etwas durchsucht,
wieder zugespielt wurden, praktiziert hat, sind Menschen nicht für den Weg zu
einer gerechten Gesellschaft zu gewinnen.
Man kann nur ohne
Druck Menschen für das Recht der Schwachen gewinnen und über demokratische
Mitbestimmungsformen gesellschaftliches Eigentum sichern.
Lieber Herr Müller!
Ich stimme Ihnen zu, daß die Notwendigkeit einer gerechteren Gesellschaft als
der, in der das Kapital regiert, angesichts der Verelendung des größten Teils
der Weltbevölkerung und angesichts der ökologischen Krise immer größer wird.
Sie fragen, ob das Reifen der Produktivkräfte nicht von Menschen beschleunigt
werden kann. Menschen mit ihrem Erfindergeist sind ja die wichtigsten
Produktivkräfte. Menschen warten ja nicht einfach ab, was da reift, sondern sie
sind daran beteiligt, die Produktivkräfte reifen zu lassen, die die Welt so
umgestalten können, daß sich Mensch und Natur in allen Gebieten der Erde
entfalten können.
Die gerechtere
Gesellschaft ist ohne Krieg (und der bedeutete Untergang) nicht gegen, sondern mit allen Menschen, auch den Menschen,
die vom Kapital profitieren, zu entwickeln. Dabei kommt es auf solche
Beteiligungsstrukturen an, die es ermöglichen, daß alle Menschen vom Reichtum und den geschaffenen Werten profitieren
und daß dabei die Natur erhalten wird. Der Sozialismus ist keine Gesellschaft,
die Menschen bestraft, weil sie Kapitalisten sind oder gern welche wären,
sondern es sind solche Strukturen, die die Lasten und die Früchte der Arbeit
weltweit immer gerechter verteilen. Dazu brauchen wir ökonomische Analysen. Die
Zeit von Gesamtentwürfen und Fahrplänen, nach denen man sich nur zu richten
braucht, scheint nicht zu sein. Aber wir können möglichst viele große und
kleine Gewinner und Verlierer des Kapitals für den Weg der Gerechtigkeit für
die Schwachen und die Bewahrung der Natur gewinnen.
Also, nochmals
herzlichen Dank für Ihre Anregungen. Die Tatsache, daß wir nicht in allem einer
Meinung sind, halte ich für fruchtbar. Ich hoffe, daß viele Menschen in Ost und
West in den nächsten Jahren gemeinsam an diesen Fragen dranbleiben.
Wir haben uns nicht geirrt in unserem Einsatz für den
Sozialismus
von Dieter
Frielinghaus
Zu dem Entwurf des
"Gubener Wortes linker Christen" wollte ich mich wohl melden. Dann
kam ich nicht dazu. Doch die Redaktion der WBl hat es nicht vergessen und
erinnert mich nun durch Zusendung einer Abschrift der vorstehenden Äußerung von
Michael Domke daran. So wende ich mich nun unmittelbar an Sie, lieber Michael
Domke.
In Ihrem Brief suchen
Sie unseren Weg in die Zukunft: Es ist nicht der Weg des Kapitalismus; es ist
der Weg der "Gerechtigkeit für die Schwachen" und der "Bewahrung
der Natur"; die Aufgabe verlangt, daß wir viele, eigentlich alle für
diesen Weg gewinnen.
Nach der
"Wende" muß man viele Menschen neu kennenlernen. Da freut einen
bestätigte Einigkeit selbst mit denen, von denen man es nicht anders erwartet
hatte.
Bei ermunternder
Einigkeit im Großen mag es erlaubt oder gar "fruchtbar" sein, daß wir
"nicht in allem einer Meinung" sind. Die angewachsene Schwierigkeit
der Aufgabe verpflichtet uns dennoch zu genauerer Einigkeit. Ich lese Ihren Brief
in Verbundenheit, weil er von Ihnen kommt. Plötzlich merke ich, daß einige
Wendungen genauso von anderen gebraucht werden könnten, mit denen Sie und ich
leider nicht einig gehen können.
"Beteiligungsstrukturen"
oder Gesellschaftsordnung?
"Beteiligungsstrukturen",
die "alle Menschen" einbeziehen. Nun höre und lese ich täglich, daß
wir solche Strukturen endlich hätten beziehungsweise noch viel bessere bekämen.
Dabei habe ich mich noch nie derart von jeglicher Beteiligung ausgeschlossen
gefühlt und teile dies Gefühl mit den Menschen, unter denen ich lebe.
Die
"Strukturen" werden doch von denen bestimmt, die die Macht haben. Die
Verfechter der jetzt eingeführten Strukturen versichern sich und uns unermüdlich,
die Gerechtigkeit sei in Gang gekommen, die Zerstörung der Natur gestoppt. Mit
Ihnen muß ich nicht darüber rechten, daß das nicht wahr ist. Bei Rückgang
ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit für wahrscheinlich mehr Menschen bei
uns als das in Westdeutschland durchschnittliche Drittel der Bevölkerung werden
wir die wenigen mächtigen Länder noch verstärken, die der Mehrheit aller Völker
das Leben zur Qual machen. Schon tragen wir dazu bei, die Zahl der davon
betroffenen Länder zu vermehren. Ich nenne nur Nicaragua und Kuba. Dafür haben
wir die spätbürgerliche parlamentarische Demokratie bekommen. Ihren Nutzen
enthalten die ökonomisch und politisch Mächtigen dieser Strukturen der Mehrheit
der Völker mit aller Gewalt vor, gegebenenfalls und ohne zu zögern durch
terroristische Diktatur. Versuche mit anderen Strukturen dulden sie keineswegs.
So soll ihnen und allen anderen ihre Demokratie die einzig wahre bleiben. Auch
bei der Täuschung und Frechheit, die sie uns mit ihr alsbald haben erleben
lassen, erröten sie keinen Augenblick. Und eben an dieser Stelle haben sie uns
nun erwischt. In der gegenwärtigen Verwirrung rufen fast alle sozialistischen
Demokraten oder die es sein sollten, allein die Demokratie ihrer Feinde
verdiene den Namen. Sie rufen es bald noch inniger als diese.
An derselben Stelle
würde ich mit Ihnen, lieber Bruder Domke, gerne noch etwas einiger werden.
Vermutlich billigen Sie der "Beteiligungsstruktur" des Kapitalismus
gar nicht zu, daß sie eine sei. Aber Sie erwähnen es nicht, obwohl gerade sie
uns nun beherrscht. Sie sprechen nur davon, daß unser Sozialismus eine solche
Struktur nicht oder zu wenig hatte. Gewiß hatte er sie zu wenig. Aber bei allen
Leiden und aller leider nicht geäußerten oder unterdrückten Kritik, dies war
noch immer ein relativ geringer Mangel gegenüber jenem zum Himmel schreienden
Skandal. Zwar skandalisiere ich mich mit dieser Äußerung unter obwaltenden Umständen
selber. Tatsache ist dennoch, daß die "freie Welt" und nun wir in
ihrem Chorus die Leiden und die Machtverhältnisse im Sozialismus beklagen und
anklagen, als ob mit ihrer Beseitigung die Welt fast in Ordnung käme, in
selbstgefälligen amerikanischen Augen sogar ganz. Dabei ist sie nur noch mehr
aus den Fugen durch unvergleichlich Schlimmeres: Abrichten von Menschen zum
Foltern; horrender Reichtum auf Kosten von Müttern, die ihren Kindern nichts zu
essen geben können, obwohl sie sich krank- und totschuften, auf Kosten von
Arbeitern, Bauern und Priestern, ja bürgerlichen Politikern, Juristen und
Journalisten, die jeden Augenblick auf ihre Ermordung durch staatlich
kontrollierte Kommandos gefaßt sein müssen; Ingangsetzung, Unterhaltung und
militärische Absicherung dieses ganzen Unwesens durch die reichen Länder, die
sich der individuellen Menschenrechte rühmen. Überdies ist dieser weltweite
Skandal die letzte Ursache der Mangelhaftigkeit und des Unrechtes, die dem
Sozialismus anhafteten.
Das ist es, was ich
kaum fasse: Nahezu jede, auch Ihre Kritik und Selbstkritik der vorerst hinter
uns liegenden Entwicklung blendet den entscheidenden Umstand aus, unter dem
jeder bisherige Sozialismus real existieren mußte, den Antikommunismus des
ökonomisch, politisch, militärisch und propagandistisch-psychologisch
Stärkeren. Als ob zum Beispiel 1952, 1953, 1961 rücksichtslos Regierende
jeweils nach Laune Dummes oder Böses über uns beschlossen hätten. Als ob wir
uns nicht hätten mühsam aufrichten müssen nicht allein aus den Folgen des
zweiten Weltkrieges, sondern auch gegen den sozialen Anschlag auf die Völker
Osteuropas unter der Drohung des dritten Weltkrieges.
Da komme ich mit den
Varianten des Begriffes "Strukturen" nicht weiter. Der Begriff ist,
glaube ich, irgendwo unter uns linken oder halblinken Christen erfunden worden
vor dreißig oder mehr Jahren, um in einer bürgerlich verhafteten Kirche, ohne
sie gleich zu schrecken, von Gesellschaftsordnung reden zu können. Mit seiner
Unschärfe hat man aber sich selbst die Lizenz erteilt, den Gegensatz zwischen
Kapitalismus und Sozialismus nicht mehr namhaft zu machen. Das nützte und nützt
dem Kapitalismus und Imperialismus, die übrigens ehemals keine Hemmung kannten,
sich selber so zu nennen: es handelt sich um eine Feststellung. Für den
Sozialismus beklage und bekenne ich, daß er nicht gut genug war. Aber deswegen
vergesse ich niemals, daß der mächtige antikommunistische Imperialismus einen
schlechten Kommunismus braucht, will und mindest mitverursacht. Die Verbrechen
im Sozialismus kommen aus dem grauenvollen Mißtrauen, das dann auch weit
hergeholt wurde. Aber erdichtet war es nun wirklich nicht, es hatte
grauenvolle, zahlreiche und bei weitem nicht nur in ideologischer Verhetzung
bestehende, von dem Imperialismus fort und fort seit 1917 gelegte Ursachen.
"Wir rüsten sie
tot", hatte noch Reagan gesagt. Dies scheint nun gelungen. Doch Furcht und
Haß des Kapitalismus sind geblieben. Darum muß man aus Verbrechen des
Sozialismus den verbrecherischen Sozialismus machen. Auch mit dem Christentum
ließe sich dergleichen anstellen, sogar mit größerem Scheinrecht. Wäre es nicht
so domestiziert, ginge man auch ihm jetzt an den Kragen. Denn eine so große
Offensive des Kapitals wie die gegenwärtige bedarf auch besonders großer
Absicherung, Tarnung und Ablenkung.
Warum die Offensive
gegen den totgerüsteten Sozialismus jetzt?
Warum diese Offensive
jetzt? Die Abrüstungspolitik der sozialistischen Länder und die Friedensbewegung
in den kapitalistischen Ländern sind vor nun bald drei Jahren zum erstenmal an
den Rand eines nachhaltigen Erfolges getreten. Der INF-Vertrag und zumal die
sowjetischen Schritte dahin haben in Abermillionen bisher resignierter oder
gleichgültiger Menschen die Hoffnung auf Frieden und friedliche Koexistenz
geschürt und die Wirkung der Lüge von der Bedrohung aus dem Osten geschwächt.
Eine sich schon abzeichnende substantielle Abrüstung würde dem Sozialismus
einen nie gekannten Spielraum zu eigener Entfaltung gegeben haben. Seine
Ökonomie würde sich haben freimachen können, er würde sich selber
demokratisiert und verschönert haben (nicht geschönt). Er wußte und wollte es.
Die ersehnte Möglichkeit zu ergreifen ist eine Absicht, die sich bis in die
Reden von Politikern verfolgen läßt, die heute so verfemt sind, daß sie positiv
zu erwähnen hieße, sich selber noch unmöglicher zu machen. Mit der Abrüstung
tauchte für den Kapitalismus die Gefahr eines Sozialismus ohne oder mit viel
weniger Kanten auf. Gefahr? Dem chilenischen Sozialismus eignete die bisher
engste Verbindung mit den Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft. Da
haben sie ihn keine drei Jahre sein Leben fristen lassen.
War die Abrüstung
nicht mehr ganz zu verhindern, mußte die friedliche Koexistenz aufgehoben
werden durch Ausschaltung der Charakteristika des Koexistenzpartners. Auch darf
die Abrüstung selber ja nicht zu weit gehen. Während kein westlicher
Militärexperte mehr Anzeichen einer sowjetischen Gefahr ausmacht, wollen nicht
einmal die eifrigsten Abrüstungspolitiker in der NATO auf die atomare Rüstung
verzichten. Dies ist nicht meine Einschätzung, sondern ihre wiederholte
Beteuerung. Ich meine, der Erfolg des Kapitals über Osteuropa macht nur klarer,
daß seine Massenvernichtungsmittel sich nicht gegen einen verhaßten Staat
richten, sondern gegen die Völker.
Warum nur geben heute
nicht einmal Sozialisten zu, daß all die Jahrzehnte die Abrüstungspolitik der
sozialistischen Staaten aufrichtig, wegweisend und nützlich für alle war? Und
nicht nur das, sie stand ihnen stets an erster Stelle. Nicht zuletzt die
Politik der DDR hat sich hier bis zum Oktober vorigen Jahres unermüdlich
eingesetzt. Sie wurde endlich anerkannt auch von bürgerlichen Politikern, die
das heute vergessen machen müssen, indem sie haßerfüllt einschlagen sowohl auf
geschlagene Politiker, deren Partnerschaft sie einmal gesucht haben, als auch
auf Sozialisten, die ihnen näherstehen als jene Partner, bevor sie geschlagen
waren.
Gewiß wollen alle
Linken ihre Sache friedlich und für den Frieden im umfassenden Sinne so
gestalten und durchsetzen, daß alle Menschen einbezogen sind. Sie müssen es,
und das besser als bisher. Aber dazu müssen sie nicht nur ihre Fehler, sondern
auch ihren Feind genauer erkennen. Dieser hat einen großen Sieg errungen. Ihre
Aufgabe sieht, wieder einmal, schier unlösbar aus. Trotzdem wollen und sollen
sie bedenken, daß kein Mensch ihr Feind ist, sondern der Kapitalismus. Aber der
hat die Macht und gibt nicht nach wegen wachsender Überzeugung oder auch einmal
einer eindrücklichen Wahlbekundung der Schwachen. Die brauchen schon politische
Macht. Die Linken werden alles tun, um auf dem Wege dahin und einmal bei ihrer
Ausübung menschlich zu sein und immer menschlicher zu werden.
Auch um dieser
Menschlichkeit willen ist es also notwendig, immer mehr Menschen für den linken
Weg zu gewinnen. Auch "Menschen, die vom Kapital profitieren",
schreiben Sie, denn
die gerechtere Gesellschaft hat sich nicht gegen Menschen, sondern "mit allen Menschen" zu entwickeln.
Ja, nur leider nicht
ohne weiteres. Zu der Einigkeit, die ich mir in diesem Betracht mit Ihnen
wünsche und wahrscheinlich habe, gehören so viele Erwägungen über Menschen, die
keineswegs von jenem Profit lassen wollen und denen wir keineswegs zum Willen
reden oder tun dürfen, daß es über den Rahmen dieser Zeilen hinausginge. Ihrer
bleiben noch zu viele, wenn ich nun eingrenze auf "uns Christen". So
geziemt es sich ja auch für mich und Sie und unsere Freunde.
Kein prominenter
Christ, kein kirchliches Gremium, keine einschlägige Verlautbarung, die heute
die Versicherung unterließe, wir seien nun erst recht der Gerechtigkeit für die
dritte Welt und der Erhaltung der uns gegebenen Natur verpflichtet. Aber es
klingt matt und wie pflichtschuldiger Anhang zu den doch
"eigentlichen" Dingen.
Zu reden ist da von
einer kirchlichen Besserwisserei, hinter der mit Selbstverständlichkeit die
kaum je von Zweifel gestreifte Überzeugung steht, die bürgerliche Ordnung sei
richtig und jedenfalls normal, die sozialistische falsch und vor allem abnorm
und die Kirche stehe schon immer auf der richtigen Seite. Man müßte diese
Selbstverständlichkeit unverschämt nennen, wenn sie nicht bei den meisten ihrer
Nutzer so völlig unreflektiert bliebe. Sie ist aber unverschämt in ihrer
Betätigung.
Rechte und falsche
Busse
Heute leitet sie die
allgemeine Buße an. Ich wollte, 1945 und in den Jahren danach hätten wir in
unserer Kirche, unter Christen und Bürgerlichen auch nur halbsoviel Eifer
bewährt bei moralischem Gericht und Selbstgericht. Das heutige Mehr an Eifer
unterstützt die gewünschte, aber nun wirklich verfälschende und verheerende
Ansicht, daß es "diesmal" erst richtig schlimm gewesen sei. Damals
würde jede Aufforderung zur Buße unmittelbar uns selber getroffen haben. Daher
wollten wir auch nicht "befreit" sein, sondern lieber die
"Katastrophe" erlitten haben. Wieviele auch nur von linken Pfarrern
haben jemals vor ihrer Gemeinde ohne Wenn und Aber von der Befreiung vom
Faschismus gesprochen? Die von oben immer neu gespeiste bürgerliche
Grundstimmung ließ das einfach nicht zu. Die Klassenfrage ist in unserer Kirche
uneingestanden lebhaft. Wie sonst könnte man, angesichts der kaltherzigen
Gefährdung so vieler Existenzen hier und der sicheren Vertiefung des Elends der
dritten Welt, Gott und sich selber für die Befreiung loben und die Bußübungen
der anderen fordern, zählen und bewerten.
Gewiß, es bleibt noch
Raum für eigene Buße. Aber auch sie wird sofort festgelegt. Zwar gab es - ich
weiß, auch dies auszusprechen ist nicht mehr stubenrein - demokratische
Möglichkeiten, wenn man zugeben wollte, daß eine anders konzipierte Demokratie
noch nicht gleich Nichtdemokratie sein muß. Aber wir sollen nun einmal nicht
Buße tun dafür, daß wir unsere Demokratie zu wenig oder meist gar nicht genutzt
und entwickelt haben, sondern dafür, daß wir überhaupt dabei waren, noch dazu,
obwohl wir nicht einmal den Ton angeben konnten. Buße für "Anpassung"
also. Das pejorative Wort will den Gedanken nicht aufkommen lassen, als könne
jemals irgendeiner von uns sich etwa ehrenhafterweise beteiligt haben mit
eigenem Willen, eigener Überzeugung und aus eigenem Antrieb. Ohne Unterbrechung
gewispert und regelmäßig laut gepredigt hatte stets die Formel gegolten:
Ablehnung vor Anerkennung oder auch nur dem Versuch dazu. Nach dem Neuen
Testament ist das Gebet für die Obrigkeit die erste staatsbürgerliche
Betätigung des Christen und der Kirche. Dazu muß sie allerdings, und sei es für
einen Augenblick, erst einmal als Obrigkeit akzeptiert sein, ich sage nicht:
anerkannt nach dem Wert ihrer Absichten und deren Verwirklichung, obwohl ja
auch das einen Versuch wert wäre und Christen anstünde. Ich denke, unsere
Obrigkeit war anderswo, ersehnt in der Ferne, im Herzen nah, aber nicht etwa im
Himmel.
Wie und auf welcher
Stufe Kirchenmenschen mit Staatsmenschen reden durften, mußte protokollarisch
geregelt sein - von der Kirche, und der Staat folgte dem, wenn das heute auch
kein Mensch mehr glaubt. Wo solches Reden freundlich geschah, und selbst dies kam
vor, konnten wir uns kaum lassen vor Rührung über unseren Mut oder unsere -
Herablassung. Es sind kirchenoffizielle und persönliche Äußerungen getan
worden, die von den Sozialisten so verstanden wurden und verstanden werden
sollten, daß wir gesellschaftlich mit ihnen solidarisch seien. Mindestens
nachträglich erweisen sie sich als unwahr. Dafür, finde ich, müßten wir Buße
tun.
So hoch die Hürde vor
jedem Gespräch mit Sozialisten aufs neue war, so löste sie sich schlechterdings
in Wohlgefallen auf, wenn es eine Begegnung mit Vertretern
"westlicher" Parteien, Regierungen, Banken oder Medien galt. Dieser
Begegnungen wurden es immer mehr. Sie waren keinerlei moralischer oder gar
geordneter Rechenschaftspflicht unterworfen. Aber als ich Mitglied der
Kirchenleitung war, wagte ich fast keinen Verkehr mit marxistischen Freunden.
Wie denn hätte ich mit ihnen nicht sprechen sollen über das, was uns gemeinsam
bewegt? Aber ich wußte, daß es in der Kirche als Verrat angesehen werden könnte
und im Zweifelsfall würde. Ich wollte auch nicht durch den Schein die
Lauterkeit dessen in Frage stellen, was ich in der Kirche oftmals gegen die
große Mehrheit meinte anmerken zu müssen. Trotzdem kam ich aus dem Vorwurf und
Geruch der Angepaßtheit nicht heraus.
Obrigkeit? Regierung?
Wie altmodisch oder modern wir es nennen, die Anerkennung schien nur nach
außen, der Verrat nur nach innen möglich. Bei so verkehrter Welt lag die
tatsächliche Option klar. Die Medien des Westens sind fuderweise aus unserer
Kirche beliefert worden. Wie immer es gemeint war, wir wußten, was sie daraus
machen würden und gemacht haben. Ihre Aufgabe und erklärter Wille war
schließlich die Bekämpfung des Sozialismus. Wer soll glauben, daß es dennoch um
Förderung, Entfaltung und also Leben des Sozialismus ging? Diese Freundschaft
mit den Medien der Gegenseite reichte bis in Kreise der linken Christen. Auch
darum habe ich vorstehend immer "wir" gesagt, vor allem aber als
Glied meiner Kirche.
Es darf alles nur böse
gewesen sein
Lieber Bruder Domke,
an dieser Stelle dürfte die Ursache dafür liegen, daß wir im Sozialismus nicht
oder nicht richtig kritisiert haben. Wir waren von der Haltung unserer Kirche
her nicht frei dazu. Wir waren von daher vor allem nicht frei, ihn von Herzen
zu fördern. Wir lebten und leben nun erst recht mit und von "Menschen, die
vom Kapital profitieren". Hierüber hoffe ich mit Ihnen ganz einig zu sein.
Jede Kritik im
Sozialismus wurde von den Mächtigen als Kritik am Sozialismus verübelt, klagte
und klagt man. Jede - das stimmt zwar nicht, aber da wir wissen, was gemeint
ist, lasse ich mich darauf ein. Hier lag eins unserer wirklichen Probleme, für
viele eine wahre Not. Nur ist zu erinnern: Jede Kritik im Sozialismus wurde in
unserer Kirche freudig-begierig als Kritik am Sozialismus aufgegriffen und
verbreitet. Muß ich dieser Feststellung hinzufügen, oder hätte ich es vorher
sagen sollen, daß jede Kritik im Sozialismus als Kritik am Sozialismus
aufgegriffen, lautverstärkt, generalisiert, vergröbert und verfälscht wurde
durch die imperialistischen Medien? Damals genügte ihnen eine Kritik im
einzelnen, um das Erforderliche daraus zu machen. Heute allerdings verlangen
sie, daß es wirklich eine pauschale Verwerfung gewesen sein muß. Christa Wolf
nun hat nach der Wende einigemale klargemacht, daß wir das Reich des Bösen nun
doch nicht hatten und daß es der Sozialismus nicht war, wogegen sie gekämpft
hat - und aus ist es mit ihrer künstlerischen Reputation bei der führenden
westdeutschen Literaturkritik.
Entsprechend heute bei
uns im Inneren. Es darf alles nur böse gewesen sein, alle haben dauernd
gelitten, es gab keine Freuden. Zwar weiß jeder, daß dies nicht wahr ist, aber
wehe dem, der es anders sagt. Dabei ist es so gewesen: Wir hatten, wie Menschen
in anderen Ländern auch, unsere Probleme, und manche davon waren sogar lösbar.
Aber wir haben jedes Problem mit der Lupe hervorgeholt, die nichts weiter
erkennen läßt, haben jedes Problem als Ausgeburt des Bösen genommen, also
nichts zu seiner Lösung getan und es so wirklich unlösbar gemacht. Nun möchte
ich es aus Gründen der Nüchternheit und der Fairneß mit der alten, ehemaligen
Landarbeiterin in unserem Dorfe halten, die am 18. März krakeelte: "Mögen
sie uns beschissen haben, es ging uns doch gut!" und hinging und PDS
wählte. Viele werden es nach ihr, aber mit ihr wissen, daß wir mit allen
Flecken und Runzeln den Sozialismus schon einmal hatten und - fortan dürftiger
leben werden (mit Ausnahme, weil sie zu den Siegern gerechnet werden,
wahrscheinlich der kirchlichen Mitarbeiter).
Wo ertönt aus der
Kirche ein Wort der Empörung gegen die Manipulation aus dem Westen? Das stets
geschmähte "Neue Deutschland" hat noch immer Denken verlangt.
"Bild" kämpft mittels eines wahren Apparates der Raffinesse
erfolgreich gegen das Denken überhaupt, der Übertölpelte hält sich noch für
originell, und die Kirche hat nichts gesehen. Schweinigeleien in fast jeder
Zeitung, ernster gesprochen Erniedrigung der Frauen. Aber dafür nun auch
Horoskop und Andacht am Wochenende. Die Freiheit hat ihren Preis. Dabei habe
ich Neofaschismus und Jagd auf Ausländer noch nicht einmal erwähnt, man weiß
ja, daß auch daran die SED schuld ist.
Und was soll das
Dulden und Mittun der Kirche bei dem Versand von immer mehr, immer kostbarerem
und immer umweltschädlicherem Papier, sinnlos und wichtigtuerisch bedruckt? Wer
wird noch ein Buch lesen?
Dies alles und noch
viel mehr müssen wir wohl erwägen, wenn wir uns für die gerechtere Gesellschaft
abermals aufmachen wollen und auch mit "Menschen, die vom Kapital
profitieren". Wir müssen wissen, wie unsäglich schwer es ist. Vor allen
Dingen müssen wir von uns selber mehr verlangen an Mut und Geduld, an
Entschiedenheit und Ungeduld und an der Bereitschaft, Verunglimpfung zu
ertragen. Aber wir werden ja nicht so bald aufhören können, uns zu schämen, daß
wir die Welt mit den Problemen eines wohlgenährten Volkes beschäftigen, das
zahllose Leckereien gewohnt ist, es nun aber noch besser haben soll, während
viele Europäer in West und Ost wiederum Angst bekommen vor deutscher Macht und
die Not der Hungernden noch nachhaltiger aus dem Bewußtsein der Satten
verdrängt wird.
Linke Selbstkritik
Die noch nach ihrer
Ermordung in unseren christlichen Kreisen einfach nur verächtlich gemachte Rosa
Luxemburg hat in denselben Kreisen späte Anerkennung gefunden für einen
einzigen Satz, der zu allem möglichen und jedenfalls gegen den realen
Sozialismus nützlich schien. Ich möchte dem zwei oder drei weitere Sätze von
ihr hinzufügen. Als 1914 die Sozialdemokraten für die Kriegskredite votiert
hatten, nannte sie dies einen epochalen Niedergang, die selbstverschuldete
Niederlage nach über vierzigjährigem Kampf, der sich nach Zerschlagung der
Pariser Commune seitens der unterdrückten Klasse für ihre Befreiung erhoben
hatte: "die Kapitulation der internationalen Sozialdemokratie. Sich
darüber zu täuschen, sie zu verschleiern, wäre das Törichtste, das
Verhängnisvollste, was dem Proletariat passieren könnte." Hier führt sie
im Vorbeigehen auch einen Hieb auf unsereinen: Der revolutionäre Kleinbürger
gehe "ebenso makellos aus der schmählichsten Niederlage heraus, wie er
unschuldig in sie hineingegangen ist, mit der neugewonnenen Überzeugung, daß er
siegen muß, nicht daß er selbst und seine Partei den alten Standpunkt aufzugeben,
sondern umgekehrt, daß die Verhältnisse ihm entgegenzureifen haben". Damit
hat sie Karl Marx zitiert und fährt fort: "Das moderne Proletariat geht
anders aus geschichtlichen Proben hervor. Gigantisch wie seine Aufgaben sind
auch seine Irrtümer. Kein vorgezeichnetes, ein für allemal gültiges Schema,
kein unfehlbarer Führer zeigt ihm die Pfade, die es zu wandeln hat. Die
geschichtliche Erfahrung ist seine einzige Lehrmeisterin, sein Dornenweg der
Selbstbefreiung ist nicht bloß mit unermeßlichen Leiden, sondern auch mit
unzähligen Irrtümern gepflastert. Das Ziel seiner Reise, seine Befreiung hängt
davon ab, ob das Proletariat versteht, aus den eigenen Irrtümern zu lernen.
Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik
ist Lebenskraft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung. Der Fall des
sozialistischen Proletariats im gegenwärtigen Weltkrieg ist beispiellos, ist
ein Unglück für die Menschheit. Verloren wäre der Sozialismus nur dann, wenn
das internationale Proletariat die Tiefe dieses Falls nicht ermessen, aus ihm
nicht lernen wollte."
Die Andersartigkeit
der damaligen Ereignisse ist bis in den Duktus der Darlegung spürbar. Als
Ursache des jetzigen Falls sehe ich die Schuld aus dem inneren Gang des
Sozialismus weder so übergroß noch so ausschließlich. Dagegen sehe ich die
Bedingungen für ein erneutes Aufstehen in Europa fast noch verzweifelter. Aber
wer darf denn sagen, daß es auf die Dinge in Europa noch zuerst ankommt, noch,
daß die europäische Linke sich nicht kräftigen werde! Mutatis mutandis möchte
man die Schrift "Die Krise der Sozialdemokratie" (Juniusbroschüre)
allen Marxisten neu empfehlen, aber auch uns linken Christen und allen Linken.
In ihrem Anhang, den
"Leitsätzen über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie",
bezeichnet Rosa Luxemburg als die "Hauptaufgabe des Sozialismus
heute", in internationaler Weite "die breiten Massen zur politischen
Aktionsfähigkeit" zu führen, als die "nächste Aufgabe des
Sozialismus" die "geistige Befreiung des Proletariats von der
Vormundschaft der Bourgeoisie".
*
Notwendig
zurückhaltender möchte ich eine Formulierung für Ihren Entwurf versuchen:
Wir haben nicht geirrt
in unserem Einsatz für den Sozialismus als der gerechteren Gesellschaftsordnung.
Wir sind in die Irre
gegangen dadurch, daß wir die Möglichkeit schwerer äußerer wie innerer
Niederlagen bei dem Aufbau und der Verteidigung des Sozialismus zumal unter den
materiellen und geistigen Schlägen und Verführungen des Antikommunismus nicht
ernst genug als Sache unserer Mitverantwortung genommen haben, die wir uns von
keiner Seite streitig machen lassen durften.
Wir haben nicht
erfüllt und auch nicht erkannt das in der gegebenen Lage erforderte Maß an
Wissen, Hingabe und Gemeinsamkeit für die bessere Gerechtigkeit noch an der
unverzichtbaren Kritik des Imperialismus, unserer bürgerlichen Vorurteile, der
falschen Bindungen unserer Kirche und des Unrechts, das bei der Ausübung der
dem Sozialismus noch so nötigen Macht geschah.
Mit herzlichem Dank für
Ihre Initiative und vielen guten Wünschen
Bergholz, 22. Juli
1990 Ihr Dieter Frielinghaus
Annexion und Widerstand (seit 1990)
Über die Wehrlosigkeit von Antinazis -
wenn sie nicht verbündet sind... (1990)
Erfahrungen aus eigener Vergangenheit für Gegenwart und
Zukunft*
von Ulrich Heilmann
(...) Ich möchte
beginnen mit meiner persönlichen Erinnerung an den 30. Januar 1933. Da hat
meine Mutter den ganzen Tag - ich sag' nicht: geweint, sondern geheult. Und ich
war neun Jahre. Meine Schwester war drei Jahre älter und mein Bruder
zweieinhalb Jahr jünger. Und wir standen um meine Mutter 'rum und fragten:
"Mutti, was ist denn bloß?" Und sie sagte: "Kinder, das versteht
ihr noch nicht, aber ihr werdet's ja leider erleben müssen." Das ist mir
durch und durch gegangen. Ich sehe die Szene vor Augen, und im Gespräch mit
meiner Schwester erlebe ich, daß sie auch sagt: "Das war einer der
wichtigsten Augenblicke unseres Lebens: als Kinder, als kleine Kinder zu
wissen: es kommt ein entsetzliches Unheil auf uns zu, und wir sind noch zu
klein und zu dumm, um ganz zu begreifen, wie schlimm es ist." Zugleich
natürlich auch der Trost, der darin liegt: du hast einen Vater und eine Mutter,
die nicht so naiv sind wie die allerdümmsten Kälber, die ihre Metzger selber
wählen, sondern sie haben wenigstens gewußt, was geschah, und du kannst mit
ihnen zusammen durch das Leben gehen.
Ich war seit dem 30.
Januar 1933 immunisiert gegen alle nationalsozialistischen Reden, denn ich
liebte und verehrte meine Eltern; das kann man hinterher einfach nur mit
Dankbarkeit sagen: Ich habe nicht eine Sekunde meines Lebens an Adolf Hitler
geglaubt - nicht weil ich so gescheit war, sondern weil ich solche Eltern habe.
Und das gehört ja wohl auch mit dazu, wenn man von der Vergangenheit und dem
eigenen Leben redet: zu erwähnen, von wem man das hat, was man hat...
Anders als, wie ich
vermute, die meisten von Ihnen, waren meine Eltern überhaupt nicht kommunistisch,
sondern bürgerliche Leute. Und wenn ich jetzt hier darüber reden will: 'was ist
unter den Antinazis damals gedacht und erlebt worden?', dann hat das eben auch
diese Bedeutung: Es gab nicht nur Kommunisten und Sozialdemokraten, die in
einem tiefen Sinne, aus tiefster Seele Antinazis waren, sondern es gab eben die
anderen auch.
*
Wenn ich
"Wehrlosigkeit" an den Anfang meines Themas setze, dann, wissen Sie
ja, kann das Ganze nicht in irgendeinem Sinne so vorgetragen werden, als wollte
man angeben. Im Grund genommen stehe ich hier wie einer, der von seiner eigenen
Wehrlosigkeit in der Vergangenheit und Gegenwart Zeugnis geben muß. Stolz kann
man da schlecht drauf sein. Als Ihr Kreis mich anrufen und fragen ließ, ob ich
bereit wäre, hier etwas zu sagen, da kam mir dieses Thema spontan in dem Sinn.
Innerhalb weniger Sekunden fiel mir das Wort "Wehrlosigkeit" ein.
Wenn ich
nachträglich überlege, wieso willst du über Wehrlosigkeit reden, dann kann ich
selber nur sagen: Seit dem Oktober 1989 und seit dem November 1989 und
zunehmend seit dem 18. März 1989 und nachdem ich die Aktuelle Kamera und das
Neue Deutschland bis heute sehe und lese, drängt sich mir das Wort
"Wehrlosigkeit" auf. (...) Ich könnte mir vorstellen, daß die Vokabel
"Wehrlosigkeit" eine ganz wichtige Vokabel in den Diskussionen des
nächsten Jahres sein wird: Wie kommt es, daß Menschen, die aufgefordert sind,
tapfer ihren Mann zu stehen, die geschult sind, die gebildet sind, viel mehr:
die auch durchs Leben geschult sind, auf einmal so wehrlos dastehen?
Sie kennen die
Definition von Kant über die Aufklärung: Das Heraustreten aus selbstverschuldeter
Unmündigkeit. Wie wär's denn mit dem Heraustreten aus der selbstverschuldeten
Wehrlosigkeit? Daß da eine Situation ist, und man kann nur noch wie am 30.
Januar '33 heulen und den eigenen Kindern seine Wehrlosigkeit offenbaren und
muß dann fragen: war ich schuld? Durfte ich so wehrlos sein? Werde ich schuldig
vor meinen Kindern und Enkeln, wenn ich wehrlos bin? Das, was da passiert ist
am 30. Januar '33 - oder setzen Sie einen der anderen Termine ein, die ich eben
genannt habe - das ist ja nicht wie ein Gewitter über uns gekommen. Kriege
werden von Menschen gemacht und können von Menschen verhindert werden. Aber es
gibt ja auch im Frieden Ereignisse, die fast so schlimm sind wie ein verlorener
Krieg. Und die werden auch von Menschen gemacht und können von Menschen
verhindert werden. Wenn ich nicht Pfarrer wäre, würde ich sagen: Zum
Donnerwetter nochmal, warum sind wir so wehrlos?
Ich kann nur
Gedankensplitter dazu sagen - wo ich vermute, daß da Gründe liegen, warum Menschen,
die mir sympathisch sind und die ich bewundere, im Entscheidenden so wehrlos
sind. Ich muß es von mir selber auch gestehen...
*
Ich habe, als
wir das Thema vereinbarten, "Antinazis" gesagt. Und das ist bewußt
geschehen nach kurzer Überlegung. Ich hatte nicht "Antifaschisten"
gesagt. Nicht, daß ich etwas dagegen hätte! Wenn Sie sich selber diesen Namen
geben, dann hat das ja seinen guten Grund. Es ging mir so, daß ich, der ich nun wirklich von neun Jahren an bis 1945
mich als Antinazi begriffen habe, das Wort "Antifaschist" überhaupt
zum ersten Mal in meinem Leben 1945 gehört habe. Faschist war für mich
Mussolini. Und ich hatte immer den Eindruck, der Hitler ist noch viel schlimmer
als Mussolini und Franco... Daß man die alle so zusammenfassen soll, hat mich
bis heute nicht so ganz überzeugt. Aber ich hab' auch nichts dagegen und will
nicht dagegen polemisieren... Lassen wir's doch erstmal so, eben weil ich nie
in meinem ganzen Leben "Antifaschist" gewesen bin, sondern mich mit
Entschlossenheit als "Antinazi" verstand.
Was ist damit
gemeint, mit Antinazi? (...)
Antinazis -
damit meine ich Menschen, die wenigstens am 30. Januar 1933 geheult haben und
dann noch - und das war für mich als Neunjährigen Erlebnis - gesehen haben, daß
auf den Straßen die Menschen getanzt haben und gejubelt haben, als sei was
Großartiges geschehen. Und ich weiß, wie viele Menschen in der Kirche damals,
Bürgerliche, viel erwartet haben, weil sie so deutsch-national waren und
antikommunistisch bis in die Knochen. Doch auch Leute, die nachher in der
Bekennenden Kirche durchaus tapfer und gut gestanden haben, haben ja oft zuerst
das begrüßt, was da kam - Menschen, die selber betroffen waren.
Da ist ganz
Schlimmes passiert. Ich erinnere mich, daß ich über den Schulhof ging. Eine Meute
jagte hinter einem her, den sie zusammenprügelte. Und ich fragte, was das da
ist mit dem? "Sein Vater ist Kommunist, der ist im KZ." Der Junge
wurde dafür verprügelt. Ich weiß noch, wie ich als Neunjähriger - so was erlebt
man ja in tiefster Seele - auf der einen Seite die Tränen meiner Mutter sah und
auf der anderen Seite - feige, wie ich war - den Gedanken hatte: "Wie gut,
daß dein Vater nicht Kommunist ist; das kann dir wenigstens nicht
passieren." Einem Neunjährigen verzeiht man so etwas ja wohl. - Wäre es
jetzt nicht das Wichtigste, mitten in unserer gemeinsamen Wehrlosigkeit, daß
wir möglichst ganz und gar ehrlich sind? Daß wir hinterher nicht irgendwelche
Heldengeschichten aufbauen, sondern daß wir unsere primitiven Ängste und unsere
primitiven Egoismen mitten drin im verantwortlichen politischen Denken, so wie
sie waren, weiterreichen...?
Antinazis - das
sind Leute, die so entschlossen und dagegen waren, daß das gar kein Problem
war. Ich erinnere mich, daß bei uns zu Hause natürlich auch gesagt wurde, wer
Hitler wählt, wählt Krieg. Dazu brauchte es ja nicht allzu viel Phantasie. Man
mußte nicht unbedingt ein Führer der Kommunistischen Partei sein, uns das zu
sagen, wo die Lieder alle so waren: "Ein junges Volk steht auf, zum Sturm
bereit, reißt die Fahnen höher, Kameraden, die Zeit der jungen
Soldaten..." usw. Das alles kannte man ja auswendig. Daß man da sagte,
dieser Hitler macht auch Krieg, war ja so überraschend nicht. Kein Wunder, daß
das Ganze einen dazu bringen konnte, zu sagen: "Wir werden nie ein
Hitlerbild aufhängen; wir werden, wenn es irgend geht, nichts mitmachen."
Eines der
schönsten Erlebnisse in meinem Elternhaus war 1938 nach dem Debakel in München.
Da gingen meine Eltern - und sie hatten nicht viel Geld, sie mußten ziemlich
dafür sparen - würdig und entschlossen in den Radioladen und kauften das
zweitbeste Radio mit der Begründung: "Jetzt müssen wir aber jeden Tag
Straßburg hören, sonst sind wir aufgeschmissen. Wer weiß...?" Und dann
kamen sie nach Hause mit dem Radio, und dann sagten sie: "Straßburg - wer
weiß, ob die deutschen Truppen das nicht erobern? Wir müssen auch einen gutem
Empfang von London haben", trugen den Apparat wieder zurück, kratzten noch
150 Mark zusammen und kauften den teuersten Apparat - und hatten guten Empfang
von London bis zum Mai 1945. Da brauchten wir das Gerät nicht mehr, und da
wurde es auch von der Sowjetarmee zerschlagen. - Erinnerungen. - Ich darf auch
Bilder erzählen: Das ist der Antinazi.
Er gibt den letzten Pfennig dafür aus im Wissen: ich kann mich nicht nur und
allein dieser Propaganda der Nazis unterstellen. Ich muß mich innerlich wehren.
Wehrlosigkeit.
Ja, wie ist es nun? Was war denn da mit den Nazis, wie man's erlebt hat? Ich
hab' die Nazis nicht erlebt vor 1933. Als Berliner, wir wohnten in Kreuzberg,
auf Tempelhof zu, als ein bißchen heller Berliner Junge erlebte man ja, was los
ist, und hat auch die aufregende Zeit vor '33 mit den vielen Wahlen erlebt, die
Schlägereien, wo es jeden Tag mit Kommunisten, Polizei und SA Prügeleien gab.
Die Sorge, die Welt könnte kaputt gehen, weil es nicht gelingt, politisch
Ordnung rein zu bringen, also die Antinazis miteinander zu verbünden, Bürgerliche
und Sozis und Kommunisten so miteinander zu verbünden, daß sie das Schlimmste
verhindern - diese Sorge war ja in der Luft. Die spürte man ja...
Noch so eine
Szene für mich als Kind: Hitler hatte mal Kirchenwahlen angeordnet.(...) Ich
fand also auf dem Schreibtisch meines Vaters ein solches Programm:
"Deutsche Christen". Ich muß mir den Text jetzt ausdenken, aber er
war etwa so: Du bist doch ein Deutscher von ganzem Herzen und von ganzer Seele,
verwurzelt in deinem Vaterland. Deshalb empfindest du wie ein Deutscher. Du
bist auch Christ von ganzem Herzen und von ganzer Seele und stehst zu deinem
Herrn Christus. darum wählst du auch am Sonntag Deutsche Christen!
Ich las das als
Neunjähriger: "Deutsche Christen" - und habe dann dummerweise oder
vielleicht auch gescheiterweise meine Eltern beim Abendbrotstisch gefragt:
"Wählt ihr am Sonntag Deutsche Christen"? Und da hat meine ältere
Schwester losgeprustet und gesagt: "Bist du blöd? Die ollen Nazis wählen
wir doch nicht!" Ich schäme mich heute noch. Gut, ich war neun Jahre. Mit
neun Jahren darf man vielleicht noch dumm sein. 70% der evangelischen Christen
waren so dämlich wie ich als Neunjähriger und haben die Deutschen Christen
gewählt. Sie haben's nicht gemerkt. Das ist es ja eigentlich, was einen so
wehrlos macht, daß man da mitten unter denen steht. Und die Nazis sind so
brutal und zeigen sich mit dem Sturmriemen unter dem Kopf und vor den
Judenläden mit geballten Fäusten und schlagen jeden ins Gesicht, der da
reingehen will. Und Menschen wählen deutsche Christen; sie beten zu Gott, gehen
zur Kirche - und merken es nicht.
Ich sage das
alles auch, um Ihnen zu sagen: auch wenn man da nicht organisiert war - und wir
zu Hause waren ja nicht organisiert -, wenn man eigentlich nur mit ein bißchen
Intelligenz bürgerlich wach denken konnte, dann zeigte sich, worauf man achten
mußte. Es war die beispiellose Brutalität der Nazis, die eigentlich Menschen
hätte aufmerksam machen müssen. Sie werden sich erinnern - 1938 - bei der
sogenannten Kristallnacht -, daß da so offenbar vor aller Augen richtig
gefoltert wurde... Ich wußte schon mit neun Jahren, daß es Konzentrationslager
gab. ich versteh nicht recht, daß einer nach 1945 ernsthaft behaupten wollte,
er hätte davon nichts gewußt... (...)
Wehrlosigkeit
der Antinazis...
1938 fand diese
Volksabstimmung nach dem Anschluß Österreichs statt. Natürlich konnte kein
ernsthafter Antinazi dazu ja sagen. Und ich weiß, wie meine Mutter sich selber
angeklagt hat: sie hatte fest damit gerechnet, daß die Wahlzettel gezinkt
wären, und hat deshalb zum ersten und einzigen Mal Kotau gemacht vor diesem
Adolf Hitler. Und mitsamt den Tränen von '`33 habe ich da die Frage erlebt: Wer
bin ich, daß ich, der ich das alles sehe und erkenne und nicht einen Augenblick
in Gefahr war, für den "Führer" zu schwärmen, daß ich dem jemals mein
Ja gebe? Aus Angst? Ist das nichts? Ist das eine Begründung? Wehrlos zu sein?
Wobei ja dann herauskommt, daß die Angst aus Wehrlosigkeit einen wieder wehrlos
macht, und weil alle ringsum auch so wehrlos sind aus Angst und die Angst
wieder wehrlos macht, darum eskaliert das immer weiter. Und keiner kann was machen.
Ich habe nicht
nur erlebt, daß damals, 1938, die überwiegende Mehrheit für Hitler war, sondern
ich fand es eigentlich am schlimmsten 1940, nachdem Paris erobert war. Da hatte
man den Eindruck, wenn man als einziger in der Klasse mit diesen Nazilehrern
nicht harmonierte, als ob man von einem anderen Stern wäre. Da hatte Hitler am
meisten, am allermeisten die Herzen der Deutschen.
Es ist mir
nachträglich immer mehr klar geworden, wie die Leute vom 20. Juli gezögert
haben, Jahr um Jahr unter diesem Gesichtspunkt: was ist mit diesem Volk und
dieser Generalität und diesen Leuten los, die doch das alles miterlebt haben?
Wenn wir diesen Hitler in die Luft gesprengt haben, was ist denn dann
eigentlich erreicht? Ob dieses Volk dann nicht immer noch so
nationalsozialistisch ist, obgleich es diesen Führer gar nicht mehr hat? Sie
sind doch so gern dabei!
*
Was kann man
tun? Natürlich, wenn man das alles begriffen hat und nicht total unanständig
sein will, dann versucht man, an irgendeiner Stelle wenigstens, nicht seine
Hand dazu zu geben und das Ganze nicht noch mit zu unterstützen... Und es
ging!... Die Geschwister Scholl, was die gedacht haben: es muß doch etwas
geschehen! Wer soll es denn machen, wenn nicht ich? Es muß doch irgend etwas an
Widerstand geschehen!
Ich möchte ganz
ehrlich sein. Ich wurde eingezogen zur Armee und war vorher, das kann ich schon
sagen, zum festen christlichen Glauben gekommen, ich war mit sechzehn Jahren
ein gestandener Christ und wollte Pfarrer werden... Ich ging zu meinem Pfarrer, von dem ich wußte, daß er keiner von
den Braunen war. Ich fragte ihn: Ich müßte eigentlich doch den Wehrdienst
verweigern, ich kann doch nicht im Ernst den Eid leisten: "ich schwöre bei
Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer und Obersten Befehlshaber der
Wehrmacht...". Ich kann doch nicht. - Und ich bin mit dem Gedanken zu dem
Pfarrer gegangen: er wird mir doch hoffentlich ein gutes Gewissen verschaffen,
daß ich nicht in irgendeinem Gestapokeller unter grauenhaften Foltern umkomme.
Ich wollte natürlich nicht sterben... Die Wehrlosigkeit der Antinazis...
Er, der
Pfarrer, war ganz lieb und sagte: ja, ja, Ulrich. es gibt so viele Leute, die
Offiziere werden und so weiter; es müssen welche übrig bleiben, wenn der ganze
Rummel vorbei ist. (Was ja auch nicht überzeugend ist.) Aber ich wüßte nicht...
- ich würde heute wieder so hingehen und würde sagen: eigentlich weiß ich
genau, ich dürfte nicht. - Aber jetzt kommt es, deshalb auch dieses Thema
"...wenn man nicht verbündet ist": Wenn man nur irgendjemanden neben
oder hinter sich hätte mit der geringsten Chance für... ja, nicht irgendein
Held zu sein, aber zu einer solchen Vorbildwirkung wie die Geschwister Scholl;
wenn man nicht mit neunundneunzig-Komma-soundsoviel Prozent damit rechnen
müßte, daß man einfach anonym zerquetscht wird wie 'ne Motte, bloß
schmerzhafter noch, und es weiß keiner, wie man da verreckt ist... Und noch
eins: die gescheite politische Frage: wem nützt das? Es hat mir ganz groß
eingeleuchtet, daß Spionageorganisationen etwa die Sowjetunion warnen wollten
vor dem Hitler-Überfall. Da wird man sagen, großartig, daß da einer Kopf und
Kragen riskiert hat. Aber das andere?! Wenn's nur darum geht, vor dir selber
ein bißchen anständig dazustehen? Wer hat dann die Kraft, das durchzuhalten?...
Es fehlte doch
die Verbindung nach links und rechts... Kommunisten gab's nicht; sie spielten
keine Rolle. Juden natürlich, aber Kommunisten nicht. Oder so unter dem
Gesichtspunkt: naja, die müssen selber sehen - aber das ist nicht unser Thema.
Die kannte man gar nicht. Nicht, daß man feindlich gewesen wäre, und den
querköpfigen Antibolschewismus, der sonst überall gemacht wurde, den hat man
nicht geteilt. Aber es gab in diesem kleinen Kreis von Christen, die nicht für
Hitler schwärmten, fast keine Verbindung zur Seite hin. (...)
Ich habe
manchmal mit jungen Leuten in der Kirche diskutiert, die mir gesagt haben:
Schämt ihr euch gar nicht, ihr als Generation? Warum habt ihr nicht das alles
verhindert?
Und ich hab'
gesagt: Ich erzähl dir alles ehrlich, wie's war. Aber dann guck ich dir tief in
die Augen und frage: hättest du's anders gemacht? Kann man wirklich dann noch
ein Held sein, wenn keiner neben einem steht und einem sagt: von dir wird das
jetzt verlangt? Kann man's denn, nur weil man's für anständig hält? Ich hab's
nicht gekonnt. Wir werden in Zukunft drüber nachdenken müssen, was uns das
angeht.
Ich weiß sehr
wohl, daß am 30. Januar 1933 was anderes passiert ist als am 9. November 1989.
Aber ich hätte heulen können wie meine Mutter. Und ich habe die Leute tanzen
und jubeln sehen - wie sie damals gejubelt haben. Und der Spruch: "Nur die
allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber" war damals richtig und
ist heute noch richtig. Und der Schrecken über die Wehrlosigkeit, daß man sich nicht
organisieren und verbünden kann, daß das Ganze wie ein Verhängnis über uns
kommt (Gott sei Dank nicht der dritte Weltkrieg, den würden wir nicht
überleben), ist derselbe.
Es ist nicht
ganz so schlimm. Es ist schlimm genug. Und deshalb habe ich mich getraut, das hier zu sagen. Wir werden es brauchen:
ein sehr ruhiges und konzentriertes Nachdenken über die selbstverschuldete
Wehrlosigkeit.
Wir wären viel
mehr, wenn wir, die einen und die anderen, die in der PDS und die draußen sind
oder mit ihrer Meinung nach guten Gründen anders denken, wir Bürgerlichen und
wir Pfarrer, viel mehr zusammengingen und uns gegenseitig bestätigten, uns aber
vielleicht auch gegenseitig ermahnten und uns gegenseitig eine Möglichkeit
schafften, nicht als Einzelne, Anonyme zugrunde zu gehen.
Was können wir
tun, daß wir nicht ein paar Jahrzehnte später auch so hilflos über unsere
Wehrlosigkeit reden müssen?
Wider die Resignation der Linken (1990)
Offener Brief an die Mitglieder der PDS und die, die ihr
nahestehen1
von Renate Schönfeld
In großer Sorge um die
Linke wende ich mich mit diesen Zeilen an Euch, Genossinnen und Genossen der
PDS, und an diejenigen, die wie ich in Eurer Partei die wichtigste Kraft der
Opposition in der noch existierenden DDR sehen.
Es mag manchen
verwundern, daß ausgerechnet eine Pfarrerin einen solchen Brief für notwendig
hält. Jedoch ist für mich eine wichtige Konsequenz aus meinen theologischen
Erkenntnissen, im politischen Bereich Verantwortung wahrzunehmen und links zu
stehen. Dabei geht es nicht primär um die Frage einer Parteizugehörigkeit - ich
bin und war parteilos -, sondern darum, Erkanntes in die Tat umzusetzen und im
Bündnis mit allen Realisten öffentlich zu vertreten.
In diesen Wochen
erleben wir den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus. Das äußere Bild ist
bunter, reichhaltiger und verlockender geworden. Sofern man über das nötige
Geld verfügt, besteht nun die Möglichkeit, sich bislang geheime Wünsche zu
erfüllen. Auffallend war für mich bereits in den letzten Monaten, daß sich
viele Gespräche um das Geld drehten, von dem man vorher bei uns nicht zu reden
pflegte.
Seitdem sich dieser
Systemwechsel abzeichnet, beschäftigen uns zunehmend Probleme, die wir nicht
mehr kannten: Freie Preise, Betriebsschließungen, Massenentlassungen, Ansprüche
von ehemaligen Eigentümern an Grund und Boden, Schließung von
Kindereinrichtungen und Polikliniken, Drogen, zunehmende und verstärkte
Kriminalität und nicht zuletzt Neofaschismus, um nur einige zu nennen. Immer
mehr Menschen haben berechtigte Existenzängste.
All das hatten die
meisten mit ihren Oktoberprotesten und der D-Mark-Wahl nicht gemeint.
Angesichts dieser Lage
beunruhigt es mich außerordentlich, daß in die Reihen der Linken - unter ihnen
auch in die PDS - Resignation einzieht. Das Vorhalten tatsächlicher und vermeintlicher
Fehler der Vergangenheit und damit verbunden die Frage nach dem Sinn der 40
Jahre und die Vehemenz, mit der das Kapital in der DDR Einzug hält, haben eine
lähmende Wirkung.
Hinzu kommt die
Propaganda in einem Großteil der Medien, daß jeder, der es einstmals für
richtig gehalten hatte, sich für den Sozialismus als die bessere
gesellschaftliche Variante für die Menschen im eigenen Land, in der Welt und
besonders in der dritten Welt einzusetzen, nun dem Kreis der
"Verbrecher" zugeordnet wird. Und wenn dieser Vorwurf partout nicht
zutrifft, es doch um eine "schwere Mitverantwortung" geht.
Berufsverbote stehen ins Haus.
Die Frage nach dem
Sinn der 40 Jahre stellt sich für die meisten in der einstmaligen DDR. Ist aber
der Sozialismus, der sich weltweit den Gesetzen des Kapitals beugen mußte,
damit ein für allemal zur Utopie verdammt? Ich bin sicher, daß er eines Tages
Realität werden wird.
Trotz der Niederlage
haben sich für mich drei wesentliche Erkenntnisse aus den 70 Jahren unserer
Epoche herauskristallisiert:
1. Es ist zu einem
großen Teil der Existenz und der Politik der sozialistischen Staaten zu
verdanken, daß Europa 45 Jahre im Frieden leben konnte.
2. Der Versuch, eine
sozialistische Gesellschaft aufzubauen, war bereits ein Menschenalter lang
Realität. Mit zeitlichem Abstand wird man wieder einen Blick dafür bekommen,
worin sein tatsächlicher Fortschritt bestand. Trotz der innen- und zum Teil
auch außenpolitischen Fehleinschätzungen und -entscheidungen der SED-Führung
bin ich der Meinung, daß unsere 40 Jahre mehr waren als
"Nichtkapitalismus". Es wurden nicht nur Abgrenzungen getroffen, es
wurde aufgebaut - auf antifaschistischer und antiimperialistischer Grundlage.
3. Daß der Sozialismus
eine ernstzunehmende Alternative zum Kapitalismus war und sein wird, beweist
der Antikommunismus. Einen Gipfel erreichte er während des kalten Krieges,
wurde aber während der Zeit der Entspannungspolitik nicht aufgegeben. Massiver denn
je dient er jetzt als ideologische Waffe, um alles, was an Bewußtsein vorhanden
ist, zu zerschlagen, in Menschen das Selbstbewußtsein zu zerstören und sie
mürbe zu machen.
Doch nun möchte ich
mich besonders an Euch Genossen in der PDS wenden, die Ihr überwiegend in der
führenden Partei wart und mit deren Niedergang nicht fertig werdet. Ich teile
Eure Trauer um das, was wir verloren haben. Ebenso sehe ich wie Ihr, daß wir in
der Gesellschaft die demokratischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft haben.
Manches, was "von oben" kam, fand ich ganz einfach dumm und unüberlegt.
Angesichts der Tatsache, daß die Fehler der Linken immer schwerer wiegen als
die der anderen, tut das zuweilen auch sehr weh.
Jedoch dürfen uns all
diese Erwägungen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Hauptursache für die
weltweite Niederlage des Sozialismus im Bereich der Ökonomie zu suchen ist. Wir
waren die wirtschaftlich Unterlegenen, und das nicht primär durch eigene Schuld,
sondern auf Grund objektiver Fakten - durch schlechte Startbedingungen, hohe
Weltmarktpreise, Totrüsten, COCOM-Liste (die inzwischen fallengelassen wurde,
weil sie ihren Zweck erfüllt hat), durch die Diffamierung unserer Währung.
Wenn ich über etwas
verbittert bin, dann darüber, wie man es uns unmöglich gemacht hat, uns in Ruhe
zu entwickeln, indem man seitens des Kapitals zielstrebig darauf hingearbeitet
hat, uns eines Tages sturmreif zu schlagen. Da es im Atomzeitalter einem Selbstmord
geglichen hätte, kriegerische Mittel einzusetzen, wählte man den ökonomischen
Weg. In diesem Zusammenhang sehe ich einen Hauptfehler der Honeckerherrschaft
darin, daß sie meinte, sich mit dem System arrangieren zu sollen, das unseren
Untergang wollte.
Die kapitalistische
Gesellschaft ist nun für uns Realität geworden. Aber viele von Euch Genossen
verkriechen sich in die Geschichte, ziehen sich die Jacke an, die ihnen nicht
paßt, und lassen sich Schuldkomplexe einreden, die mit einer echten
Verarbeitung der Vergangenheit nichts zu tun haben. Damit werdet Ihr zu Opfern
und auch die Menschen, die schon lange darauf warten, daß Ihr klar Stellung
bezieht und der Frage nach dem eigenen Versagen den ihr angemessenen Platz
einräumt.
In diesem Kontext war
es mir Freude und Erleichterung, die Ausführungen von Gregor Gysi auf der
Tagung des Parteivorstandes Ende Juni zu lesen. Dagegen ist die Resonanz darauf
von Michael Brie trotz allem Antikapitalismus ein Kniefall vor dem Kapital.
Als linke Christin,
die sich mit Euch verbunden weiß, bitte ich Euch dringend und fordere Euch auf:
Bewahrt Euch das
Selbstbewußtsein, daß wir trotz allem auf der richtigen Seite gestanden haben
und stehen!
Laßt Euch nicht durch
Vorwürfe und Druck von außen kaputtmachen und zermartert Euch nicht selbst!
Gebt jetzt nicht auf!
Stellt Euch den aktuellen Herausforderungen und unterwerft Euch nicht dem
Kapital, das ohne jeden Widerstand frei schalten und walten kann!
Bildet gemeinsam mit
uns allen eine starke und aktive Opposition!
Rücktritt aus Protest (1991)
An die Mitglieder des Akademischen Senats der
Humboldt-Universität
von Dieter Kraft
Magnifizenz, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, liebe Studentinnen und Studenten!
Nachdem durch das
Berliner Verwaltungsgericht am 20. Februar 1991 fast 1000 Kolleginnen und
Kollegen unserer Universität zur "Abwicklung" freigegeben wurden,
sehe ich mich - auch aus moralischen Gründen - nicht mehr in der Lage, mein
Senatorenamt weiterzuführen.
Ich möchte Sie bitten,
meinen Rücktritt als ein Zeichen des Protestes gegen eine politische
Entscheidung zu verstehen, die - mutatis mutandis - unheimliche Analogien zu
den dunkelsten Zeiten unserer Universitätsgeschichte nahelegt.
Wenn es nach dem
Urteil des Verwaltungsgerichtes nunmehr deutsches Recht sein soll, daß
Vertreter des Marxismus nicht nur aus Strukturgründen, sondern prinzipiell und
also selbst dann zu entfernen sind, wenn sie nach Auflösung der Sektion M/L
verwaltungstechnische Aufgaben übernommen haben, dann erinnert mich dieser
Vorgang auf fatalste Weise an Säuberungsaktionen, die einstmals darauf zielten,
die Universität "judenrein" melden zu können.
Als Theologe bin ich
seit Jahren Mitglied der Fakultät, an der der Dialog zwischen Christen und
Marxisten zur Signatur der akademischen Arbeit gehörte. Diesem Dialog verdanke
ich wertvolle wissenschaftliche Einsichten und menschliche Erfahrungen. Und so
möchte ich meinen Rücktritt auch als einen bescheidenen Akt der Solidarität
verstanden wissen.
Eine Universität, die
am Ende des 20. Jahrhunderts angewiesen wird, Marxisten auszugrenzen, wird
faktisch dazu verurteilt, den Gedanken einer universitas litterarum preiszugeben.
Dieser typisch deutsche Radikalismus dürfte unter den Gebildeten
westeuropäischer Universitäten kaum auf Verständnis stoßen.
Wäre ich nicht für den
Existenzunterhalt einer nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten viel zu
großen Familie verantwortlich, würde ich unter den gegebenen Umständen meine
Kündigung einreichen. So bleibt mir nur der Protest in der Gestalt meines
Rücktritts von meinem Senatorenamt.
In der Hoffnung, mit
dieser zweifellos inkonsequenten Haltung nicht zu der wieder einmal erstaunlich
großen Schar von Opportunisten gerechnet zu werden, grüße ich Sie sehr
freundlich
Ihr gez.: Dieter Kraft (Berlin, den 23. 2. 1991)
Rückblick auf den Rückschlag
Hatte der Sozialismus nach 1945 keine Chance? (1991)
von Kurt Gossweiler
Die Fragestellung der
Überschrift mag befremden: wieso nur nach 1945? Wieso nicht die Frage: Hatte
der Sozialismus nach dem Sieg der Oktoberrevolution eine Chance? Gibt es doch
heute nicht wenige Stimmen auf der Linken, die nachträglich Kautskys Dictum von
1918 zustimmen, der Sozialismus habe in einem so rückständigen Lande wie
Rußland keine Chance, und die folglich im Untergang des Sozialismus in unseren
Tagen die Erfüllung des Kautsky'schen Dictums sehen.
Indessen kann keine
vorurteilsfreie Betrachtung der Geschichte des Sozialismus zwischen 1917 und
1990 an der Tatsache vorbeigehen, daß das 1917 in Rußland begonnene
'Experiment' bis 1945 trotz massiver Einwirkungen einer feindlichen Umwelt und
trotz der Stalin'schen Repressionspolitik eine Lebenskraft, Behauptungs- und
Modernisierungsfähigkeit entfaltet hat, die es fertig brachten, für unmöglich
Gehaltenes Wirklichkeit werden zu lassen: aus einem 1917-1920 durch Krieg und
Bürgerkrieg verwüsteten und zerrütteten Land ein Land zu machen, das als
einziges auf dem europäischen Kontinent die wirtschaftliche, militärische und
moralische Kraft aufbrachte, dem Überfall der zweitstärksten Industriemacht des
Kapitalismus und der stärksten und bestgerüsteten kapitalistischen Armee nicht
nur standzuhalten, sondern sie - und zwar im wesentlichen aus eigener Kraft -
zu zerschmettern.
Ich kenne aus der
Geschichte kein Beispiel, daß ein Staat und ein Gesellschaftssystem einer
härteren Prüfung unterworfen gewesen wäre und sie so überzeugend bestanden
hätte. Als daher das Fazit dieser Prüfung mit den Worten gezogen wurde, der
Sieg bedeute, daß die sowjetische Gesellschafts- und sowjetische Staatsordnung
gesiegt und ihre Lebensfähigkeit bewiesen habe, da konnten dieser Feststellung
einer vor aller Augen liegenden Tatsache auch nicht die erbittertsten Feinde
der Sowjetunion widersprechen. Was immer an der Sowjetgesellschaft in dieser
Zeit auszusetzen und korrekturbedürftig war - es hat diese Gesellschaft nicht
daran gehindert, unermeßliche Kräfte zu entfalten und Leistungen zu
vollbringen, wie sie bisher kein Land der bürgerlichen Gesellschaft zu
vollbringen vermocht hatte.
Daraus folgt für mich
die Notwendigkeit zu fragen, ob nicht nach 1945 neue Momente auftraten, die
ebenfalls berücksichtigt werden müssen, wenn wir nach den Ursachen des Scheiterns
des 'sozialistischen Experimentes' fragen.
Ich möchte im
folgenden drei solcher Momente benennen, die mir ganz wesentlich zu sein
scheinen, die sich zusammenfassen lassen als falsche Weichenstellungen in
Grundfragen des Aufbaus des Sozialismus, als Abgehen von Grundsätzen, deren
Befolgung nach marxistischem Verständnis lebensnotwendig für eine Gesellschaft
ist, die den Sozialismus errichten will, nämlich
1) Die Preisgabe des Internationalismus im
Verhältnis der kommunistischen Parteien und der sozialistischen Länder
zueinander;
2) die Preisgabe der Gestaltung der
sozialistischen Gesellschaft als einer neuen, dem Kapitalismus
entgegengesetzten Gesellschaft mit eigenen Zielen und Wegen und
3) die Preisgabe einer wissenschaftlich
fundierten Wirtschaftspolitik.
1. Zur Preisgabe des
Internationalismus
Der Internationalismus
ist das Lebensprinzip des wissenschaftlichen Sozialismus. Die Losung:
'Proletarier aller Länder, vereinigt euch!' muß die Handlungsmaxime aller
Sozialisten, aller sozialistischen Parteien und aller sozialistischen Länder im
Verhältnis zueinander sein.
Das bedeutet für alle
marxistischen Parteien, daß sie eine Gemeinschaft bilden, in der jedes einzelne
Glied dem Ganzen gegenüber verantwortlich ist, gleichgültig, ob dies auch noch
einen organisatorischen Ausdruck findet im Zusammenschluß zu einer Internationale
oder einem anderen internationalen Koordinierungsorgan oder nicht. Sie alle
müssen ständig um die Übereinstimmung in den Grundfragen der internationalen Politik,
in der Beurteilung der Weltsituation und der daraus notwendigen Strategie und
Taktik der gesamten Bewegung und jeder einzelnen Partei ringen. (...)
Für die
sozialistischen Länder bedeutet die Marx'sche Losung des Zusammenschlusses der
Proletarier aller Länder, daß sie alle eine Staatengemeinschaft bilden müssen,
die allmählich und stetig immer mehr zu einem einheitlichen politischen und
wirtschaftlichen Organismus zusammenwächst.
Um diesen Prozeß zu
lenken und zu fördern, wurde 1949 der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe
(RGW) gegründet. Auf vielen Ratstagungen wurden von verschiedenen Mitgliedern
Vorstöße unternommen, den RGW in diesem Sinne weiterzuentwickeln. So hieß es
zum Beispiel in einem Memorandum der DDR-Delegation für eine Ratstagung 19561
: "Wir erwarten, daß diese Beratung zu einem Beschluß führt, der eine enge
systematische Zusammenarbeit der Sowjetunion und der Länder der Volksdemokratie
sichert: (Es) ist notwendig, den gegenwärtigen Rat zu einem Organ zu
entwickeln, das in engstem Zusammenhang mit dem Gos-Plan der UdSSR die großen
Aufgaben der Volkswirtschaft in den volksdemokratischen Ländern
richtungsweisend lenkt."
Das war umso
notwendiger, als die in der EWG vereinten Länder unter dem Druck der stärksten
Führungsmächte BRD und Frankreich verstärkte Bemühungen unternahmen, ein
einheitliches Wirtschaftsgebiet von der Elbe bis zum Atlantik und von der
Ostsee bis zum Mittelmeer zu schaffen.
Während die
kapitalistischen Staaten Westeuropas immer näher aneinanderrückten und nun sogar
die Schaffung eines einheitlichen Marktes in greifbare Nähe gerückt ist, fand
innerhalb des RGW an Stelle von Integration - so viel darüber geredet und
geschrieben wurde - in Wirklichkeit eine je länger desto rascher vor sich
gehende Desintegration statt.
Die Ursachen für eine
solche Entwicklung im ökonomischen Bereich zu suchen, führt meines Erachtens in
die Irre, denn es ist komplizierter und schwieriger, die aus dem
kapitalistischen Eigentum hervorgehenden Konkurrenzgegensätze zu überwinden,
als auf der Grundlage gleichgearteten gesellschaftlichen Eigentums zur
wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu gelangen, noch dazu bei gleicher politischer
Zielsetzung - sofern diese wirklich vorhanden.
Die Desintegration
sozialistischer Staaten widerspricht deren ökonomischer Natur und kann nur die
Folge politischer Fehlentscheidungen sein. Eine solche gravierende
Fehlentscheidung fand in der Mitte des Jahres 1955 statt. Mit ihr wurde der
Internationalismus als Grundprinzip der Beziehungen zwischen den kommunistischen
Parteien und den sozialistischen Ländern verabschiedet und durch die Prinzipien
des sogenannten "Nationalkommunismus" ersetzt. Als Chrustschow im
Sommer 1955 nach Belgrad zur Aussöhnung mit Tito und dem Bund der Kommunisten
Jugoslawiens fuhr, wurde von beiden ein Dokument, das als 'Belgrader Deklaration'
vom 2. Juni 1955 bekannt wurde, unterzeichnet, in dem es heißt:
"Fragen der
inneren Einrichtung und ... des Unterschiedes in den konkreten Formen der
Entwicklung sind ausschließlich Sache der einzelnen Länder."2
Das bedeutet die
Absage an das Prinzip, das bislang für die Parteien gültig war, die dem
Informationsbüro der kommunistischen und Arbeiterparteien angehörten, und das
besagte: "daß jede Partei vor dem Informationsbüro rechenschaftspflichtig
ist, genau so, wie jede Partei das Recht der Kritik an den anderen Parteien
besitzt."3
Eine solche Kritik
wurde jetzt zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten erklärt, die gegen
das Prinzip der Nichteinmischung verstoße, ein Prinzip, das in der Belgrader
Deklaration ausdrücklich festgeschrieben wurde.(...)
Das bedeutete einen
radikalen Bruch mit dem Marxismus-Leninismus, denn für Marx galt, daß alles,
was eine Partei der Internationale betraf, auch alle anderen Parteien anging,
und dementsprechend galt für Lenin das Prinzip, daß alles, was in der
Sowjetunion geschah, die Arbeiterklasse aller Länder, der ganzen Welt anging
und die regierende kommunistische Partei rechenschaftspflichtig ist vor den
Arbeitern aller Länder. Für Marx und Engels war der Internationalismus die
Lebensader der sozialistischen Bewegung, ein Abgehen von ihm gleichbedeutend
mit der Durchschneidung dieser Lebensader.
Das gilt erst recht,
nachdem eine Gemeinschaft sozialistischer Länder entstanden ist, die einem
ökonomisch weit überlegenen imperialistischen Lager gegenübersteht, dessen Ziel
in der Austilgung des Sozialismus von dieser Erde besteht.
Einem solchen Gegner
konnten die sozialistischen Länder auf Dauer nur dann erfolgreich widerstehen,
wenn sie noch besser und effektiver als er das Zusammenwachsen ihrer nationalen
Volkswirtschaften zu einem sich immer mehr vereinheitlichenden Wirtschaftsorganismus
gestalteten. Das war aber ganz unmöglich bei Aufrechterhaltung eines solchen
Prinzips der nationalen Borniertheit, wie es in der Belgrader Deklaration
festgeschrieben wurde. Da dieses Prinzip in den folgenden Jahren nicht
widerrufen wurde, (...) war die Desintegration und der schließliche Verfall des
RGW nur eine Frage der Zeit. (Im Grunde war der RGW in seiner Wirksamkeit schon
stark beeinträchtigt, als Anfang 1958 das RGW-Mitglied Polen entgegen dem
bislang für alle sozialistischen Staaten gültigen Prinzip, den kapitalistischen
Staaten keine Möglichkeit zu geben, über die Währung Einflußmöglichkeit auf
oder gar Kontrolle über die Wirtschaft sozialistischer Länder zu erlangen, mit
den USA ein Handelsabkommen schloß, das vorsah, die Importe aus den USA mit der
polnischen Landeswährung zu bezahlen.4 )
Den Grundsatz, daß
kein sozialistisches Land das Recht habe, sich in die Angelegenheiten eines
anderen sozialistischen Landes 'einzumischen', beanspruchte Jugoslawien nicht
nur für die Innen-, sondern auch für die Außenpolitik: es bezeichnete sich zwar
als 'blockfrei', bildete aber gemeinsam mit den NATO-Staaten Türkei und Griechenland
am 28. Februar 1953 den sogenannten Balkanpakt, der auch militärische
Zusammenarbeit vorsah.(...) So war also das 'paktfreie' Jugoslawien mehrfach in
die imperialistischen Bündnissysteme integriert und dadurch würdig geworden,
von den USA mit Waffen beliefert zu werden.(...)
2. Zum Verzicht auf die
Gestaltung einer eigenständigen sozialistischen Gesellschaft
Ein Vorwurf, den die
DDR-Sozialisten schon lange vor der sogenannten Wende von Freunden des
'Sozialistischen Experimentes' aus West und Ost häufig zu hören bekamen,
lautete etwa so: 'Ihr habt mal so gut angefangen, als ihr im Osten eine
Gesellschaft aufbauen wolltet, die eine wirkliche Alternative zur
kapitalistischen Wohlstands- und Wegwerfgesellschaft darstellt. Inzwischen aber
habt ihr das ja wohl aufgegeben, denn wohin wir auch sehen - ob auf die
Zielsetzungen eurer Führung oder auf das persönliche Streben der Mehrzahl eurer
Menschen - wir stoßen überall darauf, daß als Maßstab für zu erreichende
Erfolge die westlichen Standards gelten, vom Konsum bis zur Kultur, vom Auto
bis zur Disko.'
Mag eine solche
Feststellung in derartiger Absolutheit übertrieben und auch etwas ungerecht
gewesen sein - im Kern traf sie doch den bedrückenden Tatbestand, daß die
Meßlatte für die Höhe, die wir erreichen wollten, vom Westen aufgelegt war.
Wie war es dazu
gekommen? Eine entscheidende Rolle spielte, daß die revolutionären Umwälzungen,
durch die in der DDR die Ausbeutung beseitigt und soziale Gerechtigkeit und
Existenzsicherheit für jedermann hergestellt werden sollten - Bodenreform und
Bildung von Produktionsgenossenschaften in Landwirtschaft und Handwerk und
Kleinindustrie, Enteignung des großen Kapitals und Überführung der Banken, der
Industrie, von Handel und Versorgung in Volkseigentum -, ihre Überzeugungskraft
als Argumente für den Sozialismus in dem Maße einbüßten, wie der Lebensstandard
im kapitalistischen Westeuropa sich über den in den sozialistischen Ländern
erhob. Denn von jeher war im Bewußtsein der Sozialisten der Kampf um den
Sozialismus gleichbedeutend mit jenem Ziel, das die Arbeiterhymne mit den
Worten ausdrückt: 'Uns aus dem Elend zu erlösen', also nicht nur ein
menschenwürdiges, sondern auch ein materiell besseres Leben als im Kapitalismus
zu erkämpfen. Aber niemals haben wirkliche Marxisten diese Aufgabe so
betrachtet, als könne und dürfe sie in einem einzigen Lande oder in mehreren
Ländern isoliert von der revolutionären Bewegung der übrigen Welt in Angriff
genommen werden. Auf dem Dritten Gesamtrussischen Sowjetkongreß führte Lenin in
seinem Referat (11.1.1918) aus, Marx und Engels hätten klar gesehen, "daß
der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus lange Geburtswehen, eine lange
Periode der Diktatur des Proletariats, das Zerschlagen alles Alten, die
erbarmungslose Vernichtung aller Formen des Kapitalismus, das Zusammenwirken
der Arbeiter aller Länder erfordert"...[5]
Die sich daraus für die Sowjetmacht (und somit für alle sozialistischen
Staaten) ergebenden Pflichten goß er in einer Resolution im März 1918 in die
programmatische Aufgabenstellung, alles in den eigenen Kräften Stehende zu tun,
"um die internationale sozialistische Bewegung zu unterstützen, den
Vormarsch zu sichern und zu beschleunigen, der die Menschheit zur Befreiung vom
Joch des Kapitals und von der Lohnsklaverei, zur Schaffung der sozialistischen
Gesellschaft und eines dauerhaften, gerechten Friedens unter den Völkern
führt."[6]
Die Aufgabe jeden
sozialistischen Staates und erst recht einer sozialistischen Staatengemeinschaft
hat demnach zwei Seiten - eine innere und eine äußere: die innere (Hebung des
Lebensstandards der Bevölkerung) jedoch nur in dem Maße, daß die äußere Aufgabe
(die Erfüllung der internationalistischen Verpflichtungen) dadurch nicht
unmöglich gemacht wird. Diese zweiseitige Aufgabe ist nicht nur von Bedeutung
für die Wirtschaftspolitik; sie hat auch Konsequenzen für alle Gebiete des
gesellschaftlichen Lebens und darüber hinaus bis in die 'private' Sphäre jeden
einzelnen Bürgers hinein; denn sie verlangt die konsequente Erziehung aller
Staatsbürger zu einer moralischen Haltung, die sich grundsätzlich von der
Haltung solcher Menschen unterscheidet, die 'erfolgreich' die Schule des
'western way of life' absolviert haben, in der die Devise gilt: Jeder ist sich
selbst der Nächste! Wer keinen Erfolg hat, ist selber schuld! Benutzt eure
Ellenbogen dafür, wofür sie da sind!
Die Lösung der
zweiseitigen Aufgabe sozialistischer Staaten verlangt Menschen, denen die
Arbeit für die äußere Aufgabe - die Unterstützung der revolutionären Bewegung
außerhalb der Landesgrenzen - genau so wichtig, wenn nicht noch wichtiger ist
als die rasche Mehrung des eigenen Wohlstandes; Menschen, deren Motivation für
den Stolz auf das eigene Land nicht in dessen Größe, Macht und Reichtum liegt,
sondern darin, daß dieses Land - ob groß oder klein, reich oder arm - in der
Reihe der Länder steht, die für soziale Gerechtigkeit für die ganze Menschheit,
nicht nur innerhalb der eigenen Landesgrenzen, kämpfen; Menschen also,
durchdrungen vom Geiste internationaler Solidarität und der Opferbereitschaft
für alle, die ihrer bedürfen. Eine solche Entwicklung entwickelt sich natürlich
nicht automatisch nur dadurch, daß kapitalistisches Eigentum in
gesellschaftliches verwandelt wird. Sie kann entstehen, wachsen und zu einer
gesellschaftlich vorherrschenden Haltung nur werden, wenn zur
Überzeugung von ihrer Notwendigkeit ihre alltägliche Verwirklichung durch die
Führung der Gesellschaft tritt, wenn sie also zur alltäglich erlebbaren Praxis
wird.
Eine Erziehung zu eben
dieser Haltung war in der Sowjetunion und in den meisten der europäischen
sozialistischen Länder bis etwa Ende der fünfziger Jahre vorherrschend. Die
Abkehr von ihr vollzog sich allmählich. Sie erreichte aber 1959 auf dem XXI.
Parteitag der KPdSU einen Punkt, von dem ab, wie mir scheint, die zweiseitige
Aufgabe nur noch verbal als zweiseitig anerkannt, in Wirklichkeit aber die
eine, die innere Aufgabe der Wohlstandssteigerung, zur eigentlichen und
wesentlichen erklärt wurde, der alles andere unterzuordnen sei. Die
Zielsetzungen für den Wirtschaftsplan wurden nicht mehr davon abgeleitet, das
Land nach Maßgabe seiner Möglichkeiten und der Komplexität seiner inneren und äußeren
Aufgaben organisatorisch so zu entwickeln und zu stärken, daß alle diese
Aufgaben berücksichtigt wurden, sondern es wurde ein einziger
Orientierungspunkt anvisiert: Erreichen und Überschreiten des Lebensstandards
der entwickelten kapitalistischen Länder in kürzester Frist. Und begründet
wurde diese einseitige Orientierung mit der Behauptung, nur auf diesem Wege
könne der Sozialismus seine Überlegenheit über den Kapitalismus unter Beweis
stellen und die Arbeiter der entwickelten kapitalistischen Länder veranlassen,
sich für den Sozialismus zu entscheiden.
In Chrustschows
Referat auf dem XXI. Parteitag wurde diese Linie so begründet:
"Der Sozialismus
hat seine völlige Überlegenheit über den Kapitalismus, was das Entwicklungstempo
der Produktion anbelangt, voll und ganz bewiesen. Jetzt treten wir in eine neue
Etappe des wirtschaftlichen Wettbewerbs mit dem Kapitalismus ein.
Gegenwärtig besteht
die Aufgabe darin, ein Übergewicht des sozialistischen Systems über das
kapitalistische System in der Weltproduktion zu erreichen, die entwickeltsten
kapitalistischen Länder in der Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit, in der
Produktion pro Kopf der Bevölkerung zu übertreffen und den höchsten
Lebensstandard der Welt zu sichern.
In dieser Etappe des
Wettbewerbs beabsichtigt die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten von Amerika
in wirtschaftlicher Hinsicht zu überholen. Der Produktionsstand in den USA ist
der Gipfel, bis zu dem sich die Wirtschaft des Kapitalismus aufschwingen konnte...
Den Stand der USA zu übertreffen bedeutet, die höchsten Kennziffern des
Kapitalismus zu übertreffen.
Der Umstand, daß wir
jetzt eine solche Aufgabe stellen, zeigt, wie sehr unsere Kräfte, unsere
Möglichkeiten gewachsen sind...
Je Kopf der
Bevölkerung gerechnet, werden ... nach Erfüllung des Siebenjahresplanes noch
fünf Jahre notwendig sein, um die Vereinigten Staaten in der
Industrieproduktion einzuholen und zu überflügeln. Daraus folgt, daß zu diesem
Zeitpunkt, möglicherweise aber auch früher, die Sowjetunion sowohl dem
absoluten Produktionsumfang nach als auch in der Pro-Kopf-Quote auf den ersten
Platz in der Welt rücken wird. Dies wird ein welthistorischer Sieg des
Sozialismus im friedlichen Wettbewerb mit dem Kapitalismus im internationalen
Maßstab sein."[7]
Auf dem XXII.
Parteitag der KPdSU (Oktober 1961) wurde diese Aufgabenstellung in das auf dem
Parteitag verabschiedete Parteiprogramm übernommen. Die entsprechende Passage
lautet:
"Die Aufgaben des
kommunistischen Aufbaus werden in aufeinanderfolgenden Etappen gelöst werden.
Im nächsten Jahrzehnt
(1961-1970) wird die Sowjetunion beim Aufbau der materiell-technischen Basis
des Kommunismus die USA - das mächtigste und reichste Land des Kapitalismus -
in der Pro-Kopf-Produktion überflügeln; der Wohlstand, das Kulturniveau und das
technische Entwicklungsniveau werden bedeutend steigen; alle Kolchosen und
Sowchosen werden sich in hochproduktive Betriebe mit hohen Einkünften
verwandeln: der Bedarf der Sowjetbürger an komfortablen Wohnungen wird im
wesentlichen gedeckt werden; die schwere körperliche Arbeit wird verschwinden;
die UdSSR wird zum Land mit dem kürzesten Arbeitstag.
Als Ergebnis des
zweiten Jahrzehnts (1971-1980) wird die materiell-technische Basis des
Kommunismus errichtet, die einen Überfluß an materiellen und kulturellen Gütern
für die gesamte Bevölkerung sichert; die Sowjetgesellschaft wird soweit sein,
das Prinzip der Verteilung nach den Bedürfnissen zu verwirklichen, es wird sich
der allmähliche Übergang zum einheitlichen Volkseigentum vollziehen. Somit wird
in der UdSSR die kommunistische Gesellschaft im wesentlichen aufgebaut sein.
Vollendet wird der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft in der nachfolgenden
Periode. ... Dann wird die UdSSR über beispiellose mächtige Produktivkräfte
verfügen, die höchstentwickelten Länder technisch überflügeln und in bezug auf
die Pro-Kopf-Produktion an die erste Stelle in der Welt vorrücken."8
Über die
Realitätsferne dieser Zielstellung wird noch zu reden sein. Hier, in diesem
Abschnitt, geht es aber nicht um Ziffern und Fristen, sondern um die
Grundorientierung, die hier deutlich wurde: Zum entscheidenden Prüfstein für
die Bejahung des Sozialismus, für dessen Überlegenheit wird nur noch die höhere
Pro-Kopf-Produktion im Vergleich zum höchstentwickelten kapitalistischen Land
gemacht. Allein davon, ob es ihm gelänge, den Kapitalismus darin zu überholen,
hänge - so wird indirekt gesagt - der Sieg des Sozialismus über den
Kapitalismus ab. Die Frage der moralischen Überlegenheit und der revolutionären
Wirkung des Kampfes für eine sozial gerechte Ordnung verschwindet aus dem
Blickfeld. Der Wettbewerb mit dem Kapitalismus wird einseitig und ausschließlich
verlagert auf das Feld, auf dem der Sozialismus für längere Zeit noch schwächer
und weniger leistungsfähig sein mußte als der Kapitalismus (schon allein
deshalb, weil er mit diesem nicht in 'Wettbewerb' treten konnte bei der
Ausplünderung der Dritte-Welt-Länder; allgemein gesprochen, weil noch für eine
längere Zeit seine Akkumulationsquellen viel dünner fließen, sein
Investitionsbedarf aber viel größer sein würde als auf Seiten der entwickelten
kapitalistischen Länder): auf dem Gebiet des Massenkonsums.
Auch in seiner
Ansprache auf dem VI. Parteitag der SED im Januar 1963 gab Chrustschow diese
Orientierung, als er sagte:
"Der Fritz, der
in der Deutschen Demokratischen Republik arbeitet, bekommt soviel. Und der
Hans, der im Westen arbeitet, bekommt soviel. Auf diese Weise stellt er fest,
wo es besser und wo es schlechter ist."9
Analog zu der
Zielstellung der UdSSR, die USA in der Pro-Kopf-Produktion in kürzester Zeit
einzuholen und zu überholen, wurde folglich für die DDR die Aufgabe gestellt,
Westdeutschland auf diesem Gebiet zu erreichen und zu übertreffen. Ähnliche
Zielstellungen wurden seitens der sowjetischen Führung allen RGW-Ländern
empfohlen und von ihnen bekanntlich auch übernommen.
Diese Umorientierung
bewirkte - was kaum bemerkt wurde, weil sie nicht proklamiert wurde - eine
schleichende Umwertung der Werte: Die Solidarität mit dem kämpfenden
Proletariat in der kapitalistischen Welt und mit den nationalen und kolonialen
Befreiungsbewegungen traten in ihrer Bedeutung zurück hinter der Aufgabe,
"in kürzester Frist" das Lebensniveau der entwickeltsten
kapitalistischen Staaten zu erreichen. Und je deutlicher es wurde, wie
schwierig, ja in den vorgegebenen Fristen sogar unlösbar diese Aufgabe war,
umso mehr wurden die internationalen Pflichten und Verpflichtungen als
Belastung und Behinderung bei der Lösung der 'Hauptaufgabe' empfunden. Dies zum
einen.
Zum anderen: Durch die
Proklamation des friedlichen ökonomischen Wettbewerbs zur Hauptform, wenn nicht
gar zu der allein noch anzuwendenden Form des Kampfes gegen den Imperialismus,
den man einholen müsse, der also zum erstrebenswerten Vorbild zumindest auf dem
Gebiet der Pro-Kopf-Produktion erklärt wurde (einer Produktion, die nicht
irgendwie auf bestimmte Bedürfnisse begrenzt wurde, sondern pauschal die
gesamte Produktion, mithin auch gänzlich unnütze und schädliche, die Umwelt
zerstörende westliche Produktionen einschloß), wurde aus dem Feind der
Menschheit unmerklich immer mehr ein bewunderter Lehrmeister. Und ohne daß dies
Wort je geprägt worden wäre, wurde zur inneren Losung für viele die Abwandlung
einer längst verblaßten früheren Losung, nämlich: 'Von den USA lernen, heißt
siegen lernen!' und auch: 'Vom Westen lernen, heißt angenehm leben lernen!'
(...)
Diese Strömung
entstand keineswegs als eine Art 'Subkultur'. Nein, die Bewunderung für die
westliche Lebensart - deren Kehrseite darin bestand, darauf zu verzichten, sich
weiterhin um die Herausbildung einer eigenen sozialistischen Lebensart zu
bemühen - erhielt keine geringen Impulse 'von oben'. Das Bild des
Imperialismus, das von dort kam, verlor immer mehr die Züge des 'häßlichen
Amerikaners', des Weltausbeuters und Weltgendarmen, und nahm immer mehr die
Züge des Partners, wenn nicht sogar eines Freundes an.(...)
Das Schwergewicht des
Kampfes um den Frieden verlagerte sich vom Massenkampf der Völker auf die
diplomatische Ebene. Im gleichen Maße, wie Erfolge im Kampf um die friedliche
Koexistenz in erster Linie von den Begegnungen der Führer der USA und der
Sowjetunion, von deren persönlichen Begegnungen auf Gipfeltreffen, erhofft und
erwartet wurden, blieb für die Völker nur die passive Rolle der Beifall
spendenden oder ihr Mißfallen äußernden Zuschauer bei den Aktionen der
Staatenlenker auf der politischen Bühne. Mit einer solchen Entwicklung
unvermeidlich verbunden war die Verbreitung einer Ideologie, nach der Erfolge
in der Entspannungspolitik eine Sache des persönlichen Einsatzes und Geschicks
der Spitzenpolitiker sind, und die Verflüchtigung des Wissens darum, daß die Spannungen
zwischen imperialistischen und sozialistischen Staaten ihre tiefste Ursache in
objektiv gegebenen antagonistischen Gegensätzen haben, die auch durch noch so
großes diplomatisches Geschick nicht aus der Welt geschafft werden können.
Ihren auffälligsten,
aber doch kaum beachteten Niederschlag fand dieser Wandel in der Neu-
definition der Generallinie der sowjetischen Außenpolitik in der Ära der
Chrustschowschen Gipfeldiplomatie.
War bislang die
friedliche Koexistenz immer definiert worden als die Politik, die gegenüber den
Ländern der kapitalistischen Welt, also den Ländern mit einer anderen als der
sozialistischen Gesellschaftsordnung zu befolgen sei, während die Politik
gegenüber den sozialistischen Bruderländern und den jungen Nationalstaaten von
den Prinzipien der freundschaftlichen Zusammenarbeit und der gegenseitigen
Unterstützung getragen sein müsse, wurde nun auf einmal seitens der Sowjetunion
erklärt, friedliche Koexistenz sei "die Generallinie der sowjetischen
Außenpolitik".10
Damit war, obwohl
offiziell abgestritten, das Prinzip zum Ausdruck gebracht worden, daß die
sowjetische Außenpolitik nunmehr in ihren Beziehungen zu den sozialistischen
Ländern und zu den jungen Nationalstaaten sich von keinen anderen Grundsätzen
leiten lassen werde als in ihren Beziehungen zu den kapitalistischen Ländern.
Diese Neuorientierung stieß jedoch auf erheblichen Widerstand in der
internationalen kommunistischen Bewegung und wurde nach der Entfernung
Chrustschows von der Parteispitze (Oktober 1964) wieder rückgängig gemacht,
wurde dann allerdings nach 1985 wieder verkündet.
Die Veränderungen in
der Politik der Sowjetunion, die wir in diesem Abschnitt betrachtet haben,
bedeuteten - meiner Meinung nach - einen Bruch mit marxistischen und
Lenin'schen Prinzipien in mehrfacher Hinsicht:
1. Durch die Preisgabe des Zieles der
Herausbildung einer sozialistischen Gesellschaft mit einer eigenen, dem
kapitalistischen 'way of life' diametral entgegengesetzten, an den Grundsätzen
der sozialen Gerechtigkeit und des sozialistischen Internationalismus
orientierten Lebensweise;
2. Sie stellen auch einen Bruch dar mit
der Marx'schen und Lenin'schen Revolutionstheorie durch Orientierung auf eine
Strategie, die zur Niederlage führen mußte.
Als Marx und Engels
über den Gang der Revolution in der Mitte des vorigen Jahrhunderts nachdachten,
gab es Kapitalismus und Proletariat nur in Westeuropa in einigermaßen entwickelter
Form. Daraus folgte, daß proletarische Revolutionen nur in diesem Teil der Welt
erwartet werden konnten, also dort, wo der Kapitalismus am stärksten entwickelt
war. Mit der Ausbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse über den
ganzen Erdball und dem Hinüberwachsen des Kapitalismus in sein monopolistisches
Stadium ging eine grundlegende Veränderung der Voraussetzungen für die
Perspektive der sozialistischen Revolution einher. Diese Veränderung warf ihre
Schatten voraus, indem das Land der fortgeschrittensten kapitalistischen
Entwicklung, England, einige Züge, die für den kommenden Monopolkapitalismus charakteristisch
werden sollten, schon vorwegnahm. Am 7. Oktober 1858 brachte Friedrich Engels
in einem Brief an Marx die Beobachtung zu Papier, "daß das englische
Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so daß diese bürgerlichste aller
Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche
Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben
der Bourgeoisie zu besitzen. Bei einer Nation, die die ganze Welt exploitiert,
ist das allerdings gewissermaßen gerechtfertigt."11
Zu Beginn unseres
Jahrhunderts zog Lenin aus den stattgefundenen Veränderungen den Schluß, daß
die Vorstellung korrigiert werden müsse, nach der die proletarische Revolution
zuerst und gleichzeitig in den höchstentwickelten kapitalistischen Ländern
Europas zum Erfolg kommen müsse; vielmehr sei zu erwarten, daß die Kette der
Herrschaft des Imperialismus zuerst dort durchbrochen werde, wo die von der
Entfaltung des Kapitalismus hervorgerufenen Widersprüche ihre stärkste
Sprengkraft entwickelten, und das seien nicht die fortgeschrittensten
kapitalistischen Länder, sondern diejenigen Länder, in denen sich die
kapitalistische Ausbeutung mit Resten vorkapitalistischer Ausbeutung verquicke
und dadurch die Stoßkraft des revolutionären Proletariats verstärkt werde durch
die sozialrevolutionären Bestrebungen nichtproletarischer Ausgebeuteter.
Der Gang der
Geschichte hat diese Lenin'sche Voraussicht bestätigt. Aus eigener Kraft
siegten sozialistische und antiimperialistische Revolutionen, die in
sozialistische Revolutionen hinüberwuchsen, in China und in Ländern der
'Dritten Welt', während zugleich immer deutlicher wurde, daß an siegreiche
sozialistische Revolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern auf
absehbare Zeit nicht zu denken war. Bevor für das Proletariat dieser Länder
Marxens Ausspruch wieder Geltung haben wird: "Das Proletariat hat nichts
zu verlieren als seine Ketten!", muß der Bourgeoisie dieser Länder die
Möglichkeit genommen werden, aus dem Blut und Schweiß der Völker der 'Dritten
Welt' den Reichtum zu gewinnen, der es ihr erlaubt, "ein bürgerliches
Proletariat zu besitzen".
Was bedeutete
angesichts einer solchen Situation und angesichts der Kapitalarmut der
RGW-Staaten im Vergleich zu den USA und den Ländern der EG eine Zielstellung,
wie sie der XXII. Parteitag der KPdSU beschlossen hat, nämlich das
Produktionsniveau der entwickeltsten kapitalistischen Staaten 'in kürzester
Frist' einzuholen, um auf diese Weise die Arbeiter des Westens zu
revolutionieren und zum Sturze des Kapitalismus zu bewegen?
Sie kommt dem
dilettantischen Versuch gleich, eine Festung, die nur durch Einkreisung und
langwierige Belagerung zu nehmen ist, mit unterlegenen Kräften im
Frontalangriff stürmen zu wollen.
Mit anderen Worten:
Eine derartige Zielstellung bedeutete, die ohnehin geringen Mittel auf eine
unlösbare Aufgabe zu konzentrieren, statt diese Mittel für die komplexe
Stärkung der eigenen Wirtschaft und für die wirkungsvolle Unterstützung jener
revolutionären Kräfte einzusetzen, ohne welche die Einkreisung und erfolgreiche
Belagerung der Festung nicht gelingen kann.
Das Ergebnis dieser
auch von den Nachfolgern Chrustschows nicht prinzipiell verworfenen
strategischen Fehlorientierung war zum einen statt einer Verringerung des
Rückstandes gegenüber dem Westen ein stetiges Anwachsen dieses Rückstandes,
statt Verbesserung der Versorgung im eigenen Land deren zunehmende
Verschlechterung und schließlich eine immer schwächer und unwirksamer werdende
Unterstützung der revolutionären Bewegungen und der Nationalstaaten mit sozialistischer
Orientierung wie Äthiopien, Angola, Moçambique und andere.
Dies allerdings war
auch und immer mehr dem Umstand geschuldet, daß die sowjetische Führung in die
imperialistische Falle des Totrüstens tappte. Statt sich auf ein Rüstungsniveau
zu beschränken, das die unbedingt notwendige Fähigkeit zu einem atomaren Gegenschlag
im Falle einer imperialistischen Aggression gewährleistete, aber die
Anforderungen an die Wirtschaftskraft nicht überspannte, ließ sie sich auf
einen Rüstungswettlauf ein, der umso sinnloser war, als zur gleichen Zeit der
Warschauer Pakt immer mehr ausgehöhlt wurde.
Das Ziel, die USA in
der Pro-Kopf-Produktion einzuholen und zu überholen, wurde, wenn irgendwo, dann
auf dem Gebiet der Rüstung, der Zahl der Panzer, Flugzeuge, Granaten und
Raketen 'pro Kopf' erreicht. Auch hierin sehe ich einen eindeutigen Bruch mit
Lenin'schen Grundsätzen. Folgt man ihnen, darf man zwar die materielle
Sicherung der Verteidigung der revolutionären Errungenschaften niemals
geringschätzen, muß aber die entscheidende Kraft zu deren Verteidigung immer in
den Menschen sehen, die bereit sind, sie zu verteidigen. Deren Zahl nahm jedoch
- wie sich jetzt in bestürzender Weise gezeigt hat - im gleichen Maße ab, wie
sich die Rüstungsarsenale füllten und aufblähten.
Preisgabe einer
wissenschaftlich fundierten Wirtschaftsplanung
Die tiefe Krise des
Sozialismus und sein Zusammenbruch in Europa haben bei vielen Sozialisten eine
ähnliche Reaktion ausgelöst wie seinerzeit der Zusammenbruch der
kapitalistischen Wirtschaft in der Weltwirtschaftskrise von 1929/33 bei vielen
damaligen Verfechtern der Marktwirtschaft. Diese sahen eine Überlebenschance
für den Kapitalismus nur, wenn er - dem Vorbild der Sowjetunion folgend - zur
Planwirtschaft übergehe, aber natürlich zu einer kapitalistischen
Planwirtschaft. 'Planwirtschaft', 'geplante Wirtschaft', 'Wirtschaftsplanung',
- das war damals das gängige Heil-Rezept für den siechenden Kapitalismus, wie
'Marktwirtschaft', 'sozialistische Marktwirtschaft' in den letzten Jahren als
Heilmittel für den stagnierenden Sozialismus gepriesen wurde.
(In beiden Fällen
scheinen diejenigen recht behalten zu haben, die der Meinung waren, daß
'kapitalistische Planwirtschaft' ebenso unrealisierbar ist wie 'sozialistische
Marktwirtschaft': die 'kapitalistische Planwirtschaft' hat nur als Planung zur
Kriegsvorbereitung funktioniert, die 'sozialistische Marktwirtschaft' führte
und führt überall, wo sie versucht wurde und wird, in die 'echte'
Marktwirtschaft, in den Kapitalismus.)
Auch in der Presse des
Demokratischen Sozialismus ist es längst üblich, nicht mehr von Planwirtschaft
zu sprechen, wenn von den sozialistischen Ländern die Rede ist, sondern man hat
die schon jahrzehntelang übliche Terminologie der Kapitalismusverteidiger
übernommen und spricht nur noch pejorativ von "staatlicher
Kommandowirtschaft" als Synonym für Planwirtschaft.
Merkwürdigerweise wird
nirgends auch nur erwogen, ob vielleicht gar nicht das Prinzip der
Planwirtschaft - das doch eindrucksvolle Proben seiner Brauchbarkeit geliefert
hat - versagt hat, sondern 'nur' die konkrete Planung, also die Planer, die
falsche, unbrauchbare Pläne produziert haben. Das ist deshalb merkwürdig, weil
doch eigentlich nichts leichter zu begreifen ist als dies: ebenso, wie eine
Brücke nur dann die gewünschte Tragfähigkeit einbringt, wenn in der Planung die
Gesetze der Statik exakt berücksichtigt werden, ebenso kann ein Wirtschaftsplan
nur dann funktionieren, wenn er die ökonomischen Gesetze exakt in Rechnung
stellt.
Um nicht schon wieder
Lenin als Kronzeugen anzurufen, der ja ohnehin schon verdächtig ist, an allem
schuld zu sein, weil er quasi der Erzvater des Stalinismus sei, lasse ich
Bucharin zu diesem Punkte zu Wort kommen, der den allen Marxisten geläufigen
Unterschied zwischen der Entwicklung des Kapitalismus und dem Aufbau des
Sozialismus folgendermaßen veranschaulicht:
"Die Bourgeoisie
hat den Kapitalismus nicht geschaffen, er hat sich selbst geschaffen. Das
Proletariat wird als ein organisiertes, kollektives Subjekt den Sozialismus als
ein organisiertes System errichten. Während der Prozeß der Entstehung des
Kapitalismus ein spontaner Prozeß war, ist der Prozeß der Errichtung des
Sozialismus ganz entscheidend ein bewußter, das heißt organisierter Prozeß ...
Die Epoche des kommunistischen Aufbaus wird darum unvermeidlich eine Epoche
geplanter und organisierter Arbeit sein."12
Daraus folgt, daß alle
Versuche, den Sozialismus so zu konstruieren, daß er ein "sich selbst
regulierendes System" wird, dem Versuch gleichkommen, das perpetuum mobile
zu bauen.
Gerade weil der
Sozialismus bewußt und geplant errichtet werden muß und nur so errichtet werden
kann, ist er so schwer zu machen, weil abhängig von der Reife des Bewußtseins
und des Niveaus des wissenschaftlichen Denkens sowie der Beherrschung der
marxistischen politischen Ökonomie durch die Planer und Erbauer. Darum ist auch
der Kampf um den richtigen Plan so wichtig, notwendig und zuweilen auch so
erbittert gewesen, ging es doch dabei - wie wir besser verstehen müßten als
jede Generation vor uns - um Sein oder Nichtsein des Sozialismus, also darum,
ob die Oktoberrevolution die große Wende in der Menschheitsgeschichte bleibt
oder ob alle Opfer, die seitdem gebracht wurden, umsonst waren und der
Sozialismus noch einmal ganz von vorn anfangen muß.
Der Sozialismus
gedeiht und ist dem Kapitalismus überlegen, wenn die Pläne des sozialistischen
Aufbaus stimmen; er muß zugrunde gehen, wenn an die Stelle wissenschaftlicher
Planung dilettantische Fehlplanung, Wunschdenken, Abenteurertum und pragmatische
Stümperei treten.
Zu fragen ist, ob es
in den letzten dreißig Jahren im Rahmen des RGW und in den einzelnen
Mitgliedsländern eine Planwirtschaft gab, die diesen Namen wirklich verdient.
Ich glaube, es ist in
diesem Falle gar nicht notwendig, sehr umfangreiche Daten zusammenzutragen; man
muß auch keine jahrelangen Forschungen betrieben haben, um das Nein als Antwort
auf diese Frage begründen zu können. Ich meine, mit dem bisher Gesagten
eigentlich dieses Nein schon begründet zu haben:
Es gab keine und
konnte keine echte Planwirtschaft geben,
erstens, weil auf der
Grundlage des "nationalkommunistischen" Prinzips: "Jeder macht
das Seine und duldet keine Einmischung", eine sozialistische
internationale Arbeitsteilung, die diesen Namen verdient, nicht möglich ist;
weil die im Rahmen des RGW getroffenen Planungen und Abmachungen keine
zuverlässige Grundlage für die eigene Planung waren; weil im RGW zwar
gegenseitige Abhängigkeiten geschaffen wurden, diese aber je länger desto mehr
aus Quellen gegenseitiger Hilfe zu Störquellen der eigenen Entwicklung wurden;
zweitens, weil in der
Sowjetunion, dem sozialistischen Land, von dessen wirtschaftlicher Entwicklung
alle anderen europäischen sozialistischen Ländern abhingen, seit Mitte der fünfziger
Jahre anstelle wissenschaftlicher Wirtschaftsplanung unberechenbare
Sprunghaftigkeit und hochgradiger Subjektivismus vorherrschend waren, von denen
alle sozialistischen Länder in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Dafür seien nur einige
wenige Beispiele kurz skizziert: (...)
Die
Landwirtschaftspolitik. In der Chrustschow-Ära (der Name Chrustschow steht hier
stets nicht nur für den einen Mann, sondern für die Strömung in der KPdSU,
deren Exponent er ist) wurde der Landwirtschaft mehr Aufmerksamkeit gewidmet
als je zuvor. Die Lösung des Getreideproblems, also die Sicherung solcher
Ernten, die nicht nur die Versorgung der eigenen Bevölkerung gewährleisteten,
sondern darüber hinaus Überschüsse für den Export und zur Hilfeleistung an
befreundete Länder ermöglichen würden, war in der Tat eine Angelegenheit von
eminenter ökonomischer und politischer Bedeutung. Zwei Hauptwege wurden vorgeschlagen,
um dieses Ziel zu erreichen:
Der eine Weg bestand
darin, die Bodenbearbeitung in den alten Landwirtschaftsgebieten zu
intensivieren und die relativ niedrigen Hektarerträge auf diese Weise an das
mitteleuropäische Niveau heranzuführen. Damit wäre ohne allzu große
Aufwendungen eine sichere stetige Steigerung der Ernteerträge gewährleistet
worden. Der andere Weg war der von Chrustschow, Breshnew und anderen
propagierte Weg der Urbarmachung von 30 Millionen Hektar Neuland in
Mittelasien. Viele Fachleute rieten von diesem Weg ab, weil er ungeheure Summen
verschlingen würde, ohne eine Gewähr für sichere Ernten im Neuland zu geben,
weil dessen klimatische Bedingungen die Saat durch scharfe Fröste und das
reifende Getreide durch häufig auftretende Dürre gefährdeten. Zudem mußte man
buchstäblich eine kleine Völkerwanderung in Gang setzen und Wohnsiedlungen aus
dem Boden stampfen, ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit, in kurzer Zeit die
für die Bearbeitung solch riesiger Flächen notwendigen Landmaschinen
bereitzustellen. Trotz dieser nur allzu begründeten Einwände setzten Chrustschow
und seine Parteigänger die Neulandaktion durch mit der Versicherung, daß
dadurch das Getreideproblem ein für allemal gelöst werde. Das Gegenteil aber
trat ein: von Jahr zu Jahr mußte die Sowjetunion immer größere Mengen Getreide
einführen, um das wachsende Defizit im eigenen Aufkommen auszugleichen. Die Neulandaktion
war ganz gewiß eine große Leistung, aber sie war ein gewaltsamer Kraftakt, der
das Land ungeheuren Aufwand an Menschen, Material und Finanzkraft kostete, ohne
daß auch nur annähernd das erreicht wurde, was man auf dem sehr viel
sparsameren Weg der Intensivierung der Landwirtschaft mit einem Bruchteil der
Aufwendungen hätte erreichen können. Die Neulandaktion war eine gigantische
Fehlinvestition und ganz gewiß eine der Ursachen für die Dauerkrise der
sowjetischen Landwirtschaft. Sie hat mit wissenschaftlicher Planwirtschaft
nicht das Geringste zu tun.
Aber die Neulandaktion
war durchaus nicht die einzige Aktion, die eine stabile Entwicklung der
Landwirtschaft behinderte. Wie auf allen Gebieten, so zeichnete sich der
Führungsstil Chrustschows auch auf dem der Landwirtschaft dadurch aus, daß die
Menschen von einer Kampagne in die andere gejagt wurden. War es gestern die
Maiskampagne, so heute die Kampagne für die Offenställe, dann eine Kampagne für
das Quadratnestverfahren, usw. usf. Das Ergebnis war aber jeweils nicht der
versprochene Sprung nach vorn, sondern am Ende blieb gewöhnlich die Aufgabe,
den angerichteten Schaden so klein wie möglich zu halten.
Ein weiteres Beispiel
für die Sprunghaftigkeit und Willkürlichkeit des Umgangs mit der Wirtschaft:
Auf dem XX. Parteitag der KPdSU waren noch die Richtlinien für den 6.
Fünfjahrplan 1956-1960 beschlossen worden, ein Zahlen- und Planwerk, das auch
für alle RGW-Staaten die Grundlage ihrer eigenen Planung war. Aber mitten in
der Planung befand Chrustschow, daß der Fünfjahrplan von einem Siebenjahrplan
abzulösen sei, und so wurde festgelegt, daß ab 1959 bis 1965 ein Siebenjahrplan
in Kraft tritt, womit nicht nur die Planungsbehörden der Sowjetunion, sondern
die aller RGW-Länder mit einer ebenso kraft- wie zeitaufwendigen wie
überflüssigen und nutzlosen Stoßarbeit beschäftigt und von wirklich nützlicher
Arbeit abgehalten wurden.
Das Ergebnis der
Arbeit am Siebenjahrplan waren die Festlegungen, die ich schon oben anführte,
über das Einholen der USA bis 1970 und den Übergang zum Kommunismus bis 1980.
Ich denke, daß es nicht erforderlich ist, im einzelnen nachzuweisen, daß diese
Zielstellung mit wissenschaftlicher Planung nichts zu tun hatte, umso mehr aber
mit Wunschdenken und Abenteurertum. Die unbegreifliche Absurdität dieser
'Plan'ziele tritt noch um vieles deutlicher hervor, wenn man sich daran
erinnert, daß auf dem gleichen XXII. Parteitag, der beschloß, diese Ziele in
das neue Parteiprogramm aufzunehmen, die bittere Auseinandersetzung mit der KP
Chinas begann, die durch die Einstellung aller vertraglich vereinbarten
Lieferungen der Sowjetunion von Industrieausrüstungen und durch die
Zurückziehung aller sowjetischen Spezialisten aus der Volksrepublik China aufs
Äußerste zugespitzt wurde und schließlich zum vollständigen Bruch zwischen
diesen beiden größten sozialistischen Staaten führte, deren Zusammenarbeit eine
der wichtigsten Garantien für die Behauptung des Sozialismus gegenüber den
imperialistischen Erdrosselungsversuchen gewesen wäre.
All dies
zusammengenommen hatte zum Ergebnis, daß auch in keinem RGW-Land eine solide
Wirtschaftsplanung möglich war, je länger, desto weniger.
Das hatte zur Folge,
daß die einen - wie Ungarn und Polen - sich immer mehr auf den kapitalistischen
Weltmarkt orientierten und dort, bei der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds,
Anlehnung suchten, mit dem Ergebnis einer schleichenden, verdeckten Aushöhlung
der Prinzipien sozialistischer Wirtschaft; jeder, der in der zweiten Hälfte der
fünfziger Jahre und danach in Polen und Ungarn war, wird sich noch daran
erinnern, wie ihn das reichhaltige Warenangebot überraschte, aber auch die
deutlich stärkeren sozialen Kontraste, die dort eine Atmosphäre schufen, die
eine so merkwürdige Mischung aus beiden Welten - der sozialistischen und der
kapitalistischen - darstellte.
Die Führungen anderer
sozialistischer Länder - wie auch der DDR - versuchten trotz aller
Schwierigkeiten, sozialistische Wirtschaftsprinzipien - wie etwa in der Formel
"Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" zum Ausdruck gebracht,
oder in dem Bemühen, die Lebenshaltungskosten nicht steigen zu lassen - in die
Praxis umzusetzen und eine sozialistische Planwirtschaft aufrechtzuerhalten.
Das aber war unmöglich.
Zwar suchte die
sowjetische Führung nach der Entfernung Chrustschows aus der Leitung wieder zu
einer gesunden und normalen Planung zurückzukehren; dennoch geriet das Land
immer tiefer in krisenhafte Verhältnisse. Am Anfang seiner Amtsführung gab
Gorbatschow dafür eine treffende Erklärung: er sagte nämlich, die Beschlüsse,
die die Partei damals auf ihren Tagungen gefaßt habe, seien wohl richtig
gewesen, aber sie wären auf dem Papier geblieben. (Die Frage, warum das so war,
ist zwar von größter Wichtigkeit, gehört aber nicht zu unserem Thema.)
So geriet die
Wirtschaft des Sowjetlandes immer tiefer in die Krise und damit unvermeidlich
auch alle mit ihr auf Gedeih und Verderb verbundenen sozialistischen Länder.
Deshalb waren auch
alle Versuche, die z.B. in der DDR unternommen wurden, dennoch eine
funktionierende sozialistische Planwirtschaft in Gang zu halten, vergeblich.
Zwar errechnete man, wie groß die Wachstumsrate der Volkswirtschaft sein müsse,
um sowohl die Hebung des Lebensstandards als auch die Sicherung der notwendigen
Akkumulation gewährleisten zu können; aber erreicht wurde diese Wachstumsrate
von Jahr zu Jahr weniger, und mehr und mehr nur noch mit Hilfe der Statistik.
Ferner: Da innerhalb des RGW die gemeinsame Arbeit an der Entwicklung der
modernsten Technik, etwa der Mikroelektronik, nicht zustande kam, die DDR aber
ohne deren Entwicklung ihre Exportfähigkeit auf dem kapitalistischen Weltmarkt
nicht aufrecht erhalten konnte, unternahm sie den zugleich bewundernswerten wie
mitleiderregenden Versuch, durch Eigenentwicklungen mit solchen Riesen wie IBM,
Siemens und den japanischen Firmen mitzuhalten - ein Versuch, der natürlich
jede ausgewogene Proportionalität der Wirtschaftsentwicklung illusorisch
machte. Schließlich: Die Führung der DDR hatte versprochen, das Preisniveau für
lebensnotwendige Güter nicht zu erhöhen; aber die ökonomischen Gesetze können
auch durch die besten Absichten nicht außer Kraft gesetzt werden. Steigende
Weltmarktpreise und sinkende Exporterlöse, sprunghaft wachsende Subventionen
auf Kosten einer ständig sinkenden Akkumulationsrate, dadurch immer teurere Produktion
- all das schlug sich nieder in einer schleichenden Preiserhöhung auf nahezu
allen Gebieten, die, weil offiziell nicht zugegeben, das Vertrauen in die
unglaubwürdig gewordene Führung untergrub. (Ich weiß natürlich, daß ich damit
nur einen der Gründe genannt habe, die zur Untergrabung des Vertrauens geführt
haben.)
*
Wie lautet am Schluß
die Antwort auf die Frage nach der Chance des Sozialismus? Meine Antwort ist:
diese Chance war nach 1945 nicht geringer als nach 1917.
Aber: Der Sozialismus
ist in Theorie und Praxis eine Wissenschaft. Die Theorie des Marxismus-Leninismus
ist nicht eine Verzierung im Reiche der Ideen oder eine Sache nur für die
Hörsäle, sondern sie ist zuerst und vor allem für die Praxis da, sie muß Kompaß
für das praktische Handeln sein - andernfalls muß das Schiff Sozialismus
stranden.
Ich hoffe, gezeigt zu
haben, daß dieser Kompaß in der Tat über
Bord geworfen wurde. Danach kam es, wie es kommen mußte. Statt daß die
Sowjetunion und die sozialistischen Länder den Rückstand zu den entwickelten
kapitalistischen Ländern allmählich, aber stetig verringerten, wuchs er von
einem bestimmten Zeitpunkt an stetig an, verschlechterte sich die Lage der
Menschen von Jahr zu Jahr, statt sich zu verbessern, verlor infolgedessen der
Sozialismus immer mehr an Attraktivität und Legitimität, bröckelte die
Massenbasis der sozialistischen Staatsmacht - im letzten Stadium bis in die
Partei hinein - ab, verlagerte sich infolgedessen die Abstützung der
Staatsmacht immer mehr von der Unterstützung durch die Massen auf die
Absicherung durch die Sicherheitsorgane, die auf diese Weise aus Organen zum
Schutz der Volksmacht zu Organen zum Schutz der Staatsmacht vor der Explosion
der Unzufriedenheit im Volk wurden - was eines der krassesten Symptome für die
Denaturierung der sozialistischen Ordnung darstellt, dafür, daß sie volksfremd
geworden war, so daß ein Anstoß genügte, sie zu Fall zu bringen.
Durch diesen Gang der
Entwicklung ist der Marxismus-Leninismus nicht widerlegt, sondern - wenn auch
negativ - vollkommen bestätigt. Dieser Gang der Entwicklung offenbart zum anderen
die Verlogenheit all derer, die da schreien: "vierzig Jahre sozialistische
Mißwirtschaft!", so wie die Braunen nach ihrem Triumph am 3o. Januar nicht
müde wurden, anklagend zu schreien: "Vierzehn Jahre Marxismus!"
Der Anfang - die
Verjagung der Junker und Konzernherren, die Umwälzung der Jahre 1945 bis zur
II. Parteikonferenz der SED 1952 mit dem Beschluß zum Aufbau des Sozialismus -
war und bleibt die radikalste und längst fällig gewesene revolutionäre
Umwälzung, die Deutschland bis dahin erlebt hat.
Man kann nur fragen:
Selbst wenn das alles richtig ist, was hilft uns das heute, in unserer
Situation?
Ich denke: ohne zu
wissen, wie wir zum Heute gekommen sind, werden wir den Weg nicht finden zu dem
Ziel, das wir anstreben. Denn nur, wenn wir dies wissen, werden wir vor falschen,
übereilten, von Stimmungen diktierten Schlußfolgerungen bewahrt und davor, beim
Korrigieren von Fehlern neue, vielleicht noch schlimmere, Fehler zu begehen.
Den schlimmsten, heute
aber zugleich am weitesten verbreiteten Fehler sehe ich in der Absage an die
Erkenntnis von Marx und Engels, daß die Geschichte der Menschheit die
Geschichte von Klassenkämpfen ist. Sie ist das auch und gerade in unserer Zeit.
Wir sind doch
schließlich nicht Opfer dessen geworden, daß wir zu heftig gegen den Imperialismus
- der sein wahres Gesicht, kaum daß er den Sozialismus niedergeworfen hat, am
Golf in ganzer Abscheulichkeit zeigt - gekämpft hätten; nein, wir sind
untergegangen erst dann, als und weil gar zu viele von uns aufgehört haben,
gegen ihn zu kämpfen, und angefangen haben, auf seine 'Vernunft' und auf seine
Bereitschaft zu bauen, mit dem Sozialismus friedlich koexistieren zu wollen.
Wir werden nie zu
richtigen Schlußfolgerungen kommen, wenn wir nicht begreifen, daß der
Imperialismus zu keinem Zeitpunkt sein Ziel aufgegeben hatte und hat, den
Sozialismus aus der Welt zu schaffen. Bush hat es doch unverblümt
ausgesprochen. Wem und warum haben wir bloß geglaubt, daß aus dem Raubtier ein
Vegetarier geworden ist, daß sich der Imperialismus von nun an mit uns
gemeinsam in seinem Handeln von den "allgemein menschlichen
Interessen" leiten lassen würde!
Nachdem wir erlebt
haben und am Beispiel der imperialistischen Tollheit am Golf erleben, daß wir
nicht den geringsten Grund haben, die Lehren eines Karl Marx, Friedrich Engels
und Lenin als veraltet und ins Museum gehörig zu behandeln, sollten wir allen
Tendenzen entgegentreten, die darauf hinauslaufen, die glücklich vollbrachte
Leistung der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft
umzukehren und die Rückentwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur
Utopie zu propagieren.
Es kann nicht Sache der
Sozialisten sein, sich nach einer Niederlage - auch wenn sie so aufwühlend und
erschütternd ist wie die, die wir durchleben - von den Siegern auch geistig
überwältigen zu lassen, indem sie zu deren Konfession konvertieren, sondern sie
müssen ihre Erkenntnisse erweitern und bereichern durch die verarbeiteten
Erfahrungen der Niederlage in der Gewißheit, daß der Kapitalismus nicht das
letzte Wort der Geschichte ist und nicht das letzte Wort der Geschichte sein
darf, wenn die Geschichte der Menschheit weitergehen soll.
An den Stasibeauftragten Pfarrer Joachim Gauck
Brief eines Pfarrers aus dem Ruhestand
von Heinrich
Grißhammer
Sehr geehrter Herr
Kollege,
13. Februar 1992
ob es Ihnen nicht
schon selber in Augenblicken der Besinnung vor der Schauerlichkeit Ihrer
Funktion graut? Was wird der vom Friedensbeter in Rostock zum Aktencerberus im
Auftrag der Bundesregierung Aufgestiegene anrichten?
Ihre ganze Tätigkeit
läuft auf die Drohung hinaus: Ich ziehe deine Akte! Nach der Vernichtung der
Akten der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der
DDR sind Sie im Besitz der zweitrangigen Papiersammlung und dürfen als quasi
Kleininquisitor freilich noch genug Furcht und Schrecken unter geängsteten
Zeitgenossen verbreiten.
Mit Wollust erwähnen
Sie die Ihnen bekannten "Beispiele von Verrat" im Bonner Bereich und
genießen es, in Ost- und Westdeutschland die Menschen verketzern zu können.
Es ist eine mißliche
Sache, wenn deutsche Untertanen genießen, Politiker zu werden. Vierzig Jahre lang
lebten Sie unter dem Ihnen lästigen Regiment, bis Sie die Gelegenheit bekamen
und ergriffen, Ihre angestaute Unlust abzureagieren. In Ihrem Kirchenraum in
Rostock pflegten Sie die Instinkte Ihrer zahlreichen Zuhörer beim sogenannten
Friedensgebet. Sie waren einer jener Pastoren, denen es zwar angeblich um das
Reich Gottes, in Wirklichkeit aber um die Option für die deutsche Westrepublik
ging, einer derjenigen, die an ihren Früchten zu erkennen sind, wie sie
inzwischen reichlich geerntet werden.
Das deutsche Volk und
Sie selber werden die aufgetischte Suppe auslöffeln müssen. Wie bestellt, so
gegessen, weil schlimme Entscheidungen fortzeugend Schlimmeres gebären, bis das
Maß voll ist für eine Gesellschaft, die nicht erkennt, was zu ihrem Frieden
dient.
Mit freundlichen
Grüßen Ihr gez.:
Heinrich Grißhammer
"...und ihr habt mich nicht besucht."
Eine betrübliche Tatsache und ein Vorwurf an uns alle (1992)
von Christian
Stappenbeck
Es ist vielleicht
nicht verwunderlich und doch beschämend:
Da sitzt ein Gegner
des herrschenden Systems, ehemaliger Ministerpräsident, Ende siebzig, seit Jahr
und Tag ohne Anklage hinter Gittern. Von der berühmten "öffentlichen
Meinung" (das heißt der Presse) ist er vergessen! Und es fragt nicht
einmal eine kirchliche Stimme, wie es
um ihn steht, wie lange man ihn ohne die geringste Flucht- oder
Verdunklungsgefahr noch zu arretieren gedenkt, ohne Verurteilung (und das heißt
bislang unschuldig) - ein eklatanter Rechtsbruch. Aber es trifft ja wohl einen
einstigen "Feind".
Daß sich die Kirche im
ganzen nicht besonders stark an das Jesuswort vom Besuch der Gefangenen
erinnert, ist seit langem eine betrübliche Tatsache und ein Vorwurf an uns
alle.
Bemerkenswert sind
jedoch einige Ausnahmen in der neueren Geschichte, als sich die Groß-
kirchen - über die institutionalisierte Gefängnisseelsorge hinaus - sehr
nachdrücklich um Beschuldigte und Verurteilte in Haftanstalten kümmerten.
Das eine Mal geschah
es nach Hitlers Ende. Am 20. Juli 1945 verfaßten Kardinal Faulhaber und Landesbischof
Meiser (München) eine gemeinsame Eingabe an die US-amerikanische
Militärregierung mit der dringlichen Bitte, jede Pauschalisierung bei der
Beschuldigung von NS-Tätern zu vermeiden und besonders die inhaftierten
Bankiers und Industriellen freizulassen. Im Namen der Humanität wiesen sie
darauf hin, "wie schwer diese Industriellen, zum Teil höheren Alters,
unter den Entbehrungen der Gefängnisse und ihre Familien unter der Trennung
litten".
Dies und weitere
Fürsorge der beiden Großkirchen für die Gefangenen nach 1945 schildert Ernst
Klee in dem kürzlich erschienenen Buch "Persilscheine und falsche
Pässe" (Fischer-Verlag 1991).
Der
EKD-Ratsvorsitzende Wurm besuchte mehrmals die Kriegsverbrechergefängnisse. Am
5. August 1949 ist er in Landsberg und spricht unter anderen mit
Ex-Staatssekretär von Weizsäcker und dem ehemaligen Minister Graf von
Schwerin-Krosigk. "Vom Landsberger Gottesdienstraum haben die Häftlinge
einen Blick auf das Tor zur Freiheit draußen", schreibt Klee (S.78).
"Ein symbolisches Bild: Die Fürsprache der Kirchen verheißt Begnadigung
und Entlassung. Beide Kirchen entwickeln 1949 ein gut funktionierendes
Hilfskartell." Wie dieses im einzelnen funktionierte, ist bei Klee
nachzulesen.
Beim Nachdenken über
getane und unterlassene Gefangenenbesuche drängt sich der Verdacht unabweislich
auf, daß nicht nur humanitäre Gesichtspunkte, sondern Sympathien im Spiele sind
bei so manchem kirchlichen Engagement. Und umgekehrt: Antipathien.
Erinnern wir uns an
die Inhaftierten kommunistischer Provenienz nach 1933 und nach 1956
(KPD-Verbot) und nach 1990. War da irgendwann die Rede von den Haft-Beschwerden
im höheren Lebensalter, war da die Rede von der Würde des Menschen, der von
Groschenblatt-Journalisten schlafend in der Zelle abgelichtet wird, gab es da
nur einen Versuch kirchlicher Zuwendung und Fürsprache?
Immerhin, doch, der
spätere Bischof Otto Dibelius konnte sich auf einen Besuch beim eingesperrten
Vorsitzenden der KPD Thälmann berufen. In den siebziger Jahren gab es auch noch
ein weiteres Zeichen, das Bischof Scharf mit seinem Besuch bei Ulrike Meinhof
setzte und das ihm eine böse Presse einbrachte.
Ich habe nichts davon
gehört, daß sich ein Nachfolger von Kurt Scharf um die verhafteten Kommunisten
Stoph, Keßler, Mielke gekümmert hätte. Vielleicht wird ein Bischof, vielleicht
werden wir einmal danach gefragt werden.
Anmerkung der Redaktion der WBl: Nicht zum Abdruck dieses
Artikels waren bereit: eine "Sozialistische Tageszeitung" in
Ostdeutschland, ein linkes Magazin für "Politik & Kultur" in
Westdeutschland und auch nicht eine "Evangelische Wochenzeitung" in
Berlin - auch eine "betrübliche Tatsache".
Marxismus und Opportunismus
Kämpfe in der sozialistischen Arbeiterbewegung gestern und
heute
(1992)
von Sahra Wagenknecht
I. Kontinuität oder
Diskontinuität in der Geschichte
des ersten realen
Sozialismus
Soll aus dem
Zusammenbruch des ersten sozialistischen Weltsystems das Scheitern der
marxistisch-leninistischen Theorie und des entsprechenden
"Sozialismusmodells" abzuleiten sein, dann muß von einer Kontinuität in der Geschichte des
vergangenen Sozialismus ausgegangen werden. Nur unter dieser Prämisse hätten
die Ereignisse der Jahre 1989/90 auch die Leninsche Lehre (die kommunistische
Parteitheorie, Revolutionstheorie etc.) widerlegt. Die
"Stalinismus"-These zielt bekanntlich auf eine solche Kontinuität und
leitet daraus die Notwendigkeit einer ideologischen 1
Umorientierung auf sozialdemokratische ("moderne" genannt) Denkmuster
ab. Diese Folgerung ist logisch schlüssig, sofern die genannte Prämisse sich
nicht widerlegen läßt. Dann hätte Kautsky in der Tat post festum über Lenin
gesiegt; die Bernstein-Linie erwiese sich gegenüber der kommunistischen als die
überlegene.
Mißtrauisch gegen eine
solche Annahme stimmt es, daß sämtliche Gegenentwürfe zur Leninschen Konzeption
sich eigentlich bereits in den Jahren 1917 bis 1920 als nicht besonders
zweckdienlich erwiesen hatten. Die Bernsteinschen Ideen wurden praktiziert -
und widerlegt - in der Politik des 4. August und in der Politik der Scheidemann
und Noske während und nach der Novemberrevolution. (Diese Widerlegung betraf
die Grundsätze Kautskys und seiner Anhängerschaft gleich mit; denn sie
unterschieden sich ja nur in der Terminologie, nicht aber in der Tat von denen
der Rechtsopportunisten, wie die Jahre 1918-1920 und die gesamte weitere
Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie beweisen.) Auch über den Streit
zwischen der bolschewistischen und der menschewistischen Partei - in
programmatischen und taktischen, ebenso in organisatorischen Fragen - hat die
Geschichte ein Urteil gesprochen. Vor allem die Ereignisse zwischen Februar und
Herbst 1917 zeigten sehr deutlich, auf wessen Seite Konsequenz, Zielstrebigkeit
und letztlich Erfolg zu finden waren und wer nach der erbärmlichsten Politik
des Schwankens und Zurückweichens - bis hin zum offenen Verrat - letztlich
ruhmlos die politische Bühne verlassen mußte. Die Geschehnisse jenes
Zeitabschnitts gaben Lenin und den Bolschewiki das unzweifelhafte historische
Recht, ihr politisches Konzept als das einzig gangbare zu betrachten. Heute nun
sollten ihre damaligen Gegner Recht erhalten?
Nicht zu leugnen ist,
daß Stalins Politik - in ihrer Ausrichtung, ihren Zielen und wohl auch in ihrer
Herangehensweise - als prinzipientreue Fortführung der Leninschen gelten kann.
(Der "stalinistische" Staatsaufbau existierte in seinen Grundzügen
ohnehin bereits vor Stalins Machtantritt.) Welche Handlungsspielräume die
Situation im damaligen Rußland bot, muß angesichts der konkret historischen
Bedingungen untersucht werden. Eine solche Analyse wird vermutlich zu dem
Schluß gelangen, daß weder in Bucharins Lösungsansatz noch in dem Trotzkis (um
nur zwei prägnante Beispiele zu nennen) eine realisierbare Alternative zur
Stalinschen Linie vorlag.
Und was immer man -
berechtigt oder unberechtigt - gegen die Stalin-Zeit vorbringen mag, ihre
Ergebnisse waren jedenfalls nicht Niedergang und Verwesung, sondern die
Entwicklung eines um Jahrhunderte zurückgebliebenen Landes in eine moderne
Großmacht während eines weltgeschichtlich einzigartigen Zeitraums; damit die
Überwindung von Elend, Hunger, Analphabetismus, halbfeudalen Abhängigkeiten und
schärfster kapitalistischer Ausbeutung; schließlich der Sieg über Hitlers
Heere, die Zerschlagung des deutschen und europäischen Faschismus sowie die
Ausweitung sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse über den halben
europäischen Kontinent. Dagegen entstellt keines von jenen Krisensymptomen, an
denen der Sozialismus in seiner Endphase krankte, bereits in den zwanziger bis
fünfziger Jahren das Bild der sowjetischen Gesellschaft. Wir finden keine
wirtschaftliche Stagnation, keine zunehmende Differenz gegenüber dem vom
Kapitalismus erreichten technischen Stand, keine produktionshemmenden
Leitungsstrukturen, keine Außerkraftsetzung des Leistungsprinzips, keine Vernachlässigung
der Wissenschaften und der Kultur; erst recht keine Konzeptions- und Ziellosigkeit
des Handelns, kein hilfloses Schwanken und auf allernächste Zwecke beschränktes
Lavieren. Auch ein Verschwinden sozialistischer Ziele und Ideen aus dem
öffentlichen Bewußtsein oder eine zunehmende Entfremdung der Bevölkerung
gegenüber ihrem Staat sind nicht wahrnehmbar. Eher das Gegenteil. Die
beeindruckenden Leistungen bei der Industrialisierung des Landes wären ohne
Stützung und Bejahung dieser Politik seitens größerer Teile des Volkes nie
erreichbar gewesen. (Es ist lächerlich und dumm, diese im Nachhinein als bloße
Auswirkungen der Diktatur, der Angst und der Arbeitslager darstellen zu
wollen.)
Ähnliches gilt von der
DDR-Geschichte, die ebenfalls bereits auf der Erscheinungsebene in zwei
deutlich unterscheidbare Phasen zerfällt. Die sozialistische Planwirtschaft
erwies sich zunächst als außerordentlich produktiv. Vergleichen wir die
entsetzlichen Anfangsbedingungen (Kriegsfolgen, Reparationen, Teilung des
deutschen Wirtschaftsraumes und westliche Blockade, offene westliche
Einwirkungsmöglichkeiten usw.) mit dem bis zum Ende der sechziger Jahre
Erreichten, dann ist die Legende von der ineffizienten, unbeholfenen und unbeweglichen
Gesellschaft nicht zu halten.
Die DDR der sechziger
Jahre bot das Bild eines hoffnungsvollen Staates von enormer Produktivität und
Stabilität, von wachsender Ausstrahlungskraft, ungebrochener Zukunftsgewißheit
und scheinbar grenzenloser Entwicklungsmöglichkeit. Es läßt sich nicht leugnen,
daß die DDR der späten achtziger Jahre einen minder ermutigenden Anblick bot.
Zur Erklärung dieses Widerspruchs ist unter anderem folgende Argumentation im
Schwange: der stalinistische Gesellschaftstyp - wird ausgeführt - sei zwar
fähig, die rein extensive Ausweitung der Produktion voranzutreiben, also in den
Aufbaujahren gewisse Erfolge zu sichern. Beim Übergang zur intensiven
Wachstumsphase, und erst recht mit dem Anrollen der
wissenschaftlich-technischen Revolution, müsse er indes notwendig versagen und
sich, weil prinzipiell reformunfähig, hemmend der weiteren Entwicklung
entgegenstellen.
Richtig ist: Das in
der Sowjetunion während der Stalinzeit entstandene und später von den
osteuropäischen Ländern in den Grundzügen übernommene Gesellschaftsmodell ist
die auf der Grundlage unterentwickelter beziehungsweise zerstörter
Produktivkräfte, allgemeiner Not und existentieller Gefährdung der Grundfesten
des neuen Systems historisch notwendige und - soll eine bürgerliche
Gegenrevolution wirksam verhindert werden - einzig mögliche Form eines
realisierten Sozialismus. Richtig ist auch: Mit der Verringerung der Gefährdung
- durch wirtschaftliches Vorankommen, innere Konsolidierung und wachsende
Stützung des Systems im öffentlichen Bewußtsein - schwindet allmählich die
Notwendigkeit allbeherrschender ausgefeilter Sicherheitsmechanismen, ja können
sie in ein Hemmnis weiterer Entwicklung umschlagen. Vor allem ein Umbau des
alten Wirtschaftsmechanismus steht mit dem Einsatz der wissenschaftlich-technischen
Revolution auf der Tagesordnung. (An dieser Einsicht ist nichts Neues; sie
findet sich in allen Schriften Ulbrichts seit Anfang der sechziger Jahre.)
Falsch und unbeweisbar
ist hingegen die Behauptung der "Reformunfähigkeit". Was war das Neue
Ökonomische System (NÖS) anderes als die Anpassung des Wirtschaftsorganismus an
die Ansprüche moderner Produktivkräfte? Die Entwicklung der DDR-Wirtschaft in
der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zeigt den Erfolg dieser Bemühungen,
obgleich das NÖS (später ÖSS) noch keineswegs vollständig eingerichtet war.
(Die Einführung bestimmter Momente eines Funktionsmechanismus wurde erst für
den Planungszeitraum 1971-1975 vorgesehen.) Es darf sogar angenommen werden,
daß mit dem Neuen Ökonomischen System in der DDR die zukunftsträchtige Form
gefunden wurde, wie Volkseigentum und gesamtgesellschaftliche Planung mit
flexibler Entscheidungsfindung und dem Eigeninteresse der Leiter und der
Kollektive zu verbinden sind. Die SED hatte folglich nicht unrecht, als sie
ihren damaligen Bemühungen Modellfunktion für die Gestaltung sozialistischer
Gesellschaftsverhältnisse in hochentwickelten Industriestaaten zuschrieb. (Eine
wesentliche Ergänzung zur ursprünglichen NÖS-Konzeption war die Einführung der
strukturkonkreten Planung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Weitere
Modifikationen, die sich aus der inzwischen fortgeschrittenen
Produktivkraftentwicklung ergeben, vorausgesetzt, werden die Grundgedanken und
Erfahrungen des NÖS die Erbauer des künftigen Sozialismus zu interessieren
haben.) Mit "Reformunfähigkeit" läßt sich demnach der Niedergang des
vergangenen Sozialismus nicht erklären.
Der Begriff
"Reform" ist allerdings mißverständlich. Denn andererseits ist klar,
daß die Veränderungen der sechziger Jahre nicht
als inhaltlicher Wendepunkt der SED-Politik - im Sinne der Abkehr von bisher
gepflegten Traditionen - bestimmt werden dürfen. Genau besehen war der
Reformkurs die einzig konsequente
Fortsetzung der alten Linie unter neuen Bedingungen. Die maßgebende
politische Zielstellung der SED -
Aufbau einer dem westdeutschen Kapitalismus in wirtschaftlicher Hinsicht
sichtbar überlegenen Gesellschaftsordnung - erfuhr im Umfeld der Jahrzehntwende
keine Veränderung; geändert hatten sich nur die historischen Bedingungen ihrer Realisierung. So wurde
es nötig, andere gesellschaftliche und politische Hebel anzusetzen. (Bekannt
ist spätesten seit Hegel, daß nicht die abstrakte Analyse einzelner
Erscheinungen - einzelner Richtlinien, Maßnahmen, Entscheidungen - das Wesen gesellschaftlicher
Sachverhalte erfaßt; entscheidend ist die Berücksichtigung der konkret
historischen Umstände ihres Auftretens.)
Auch bedeutete der
Ulbrichtsche Reformkurs kein Zugeständnis an das - seit Gorbatschow und dem konterrevolutionären
Herbst '89 sattsam bekannte - "Sozialismus"-Bild des modernen Revisionismus.
Ökonomisch etwa sollte die Wirksamkeit des Plans mitnichten zugunsten freigelassener
Marktmechanismen eingeschränkt werden. Der Sinn der Maßnahmen bestand darin,
vermittels jener eine erhöhte Planmäßigkeit (die von einer überzentralisierten
Wirtschaft gar nicht erreicht werden kann) zu realisieren. Der Befreiung der
Wirtschaft vom direkten Zugriff der zentralisierten Apparate stand die
Befestigung der politisch führenden Rolle der Partei gegenüber. Die enorme
Förderung und erhöhte Selbständigkeit der naturwissenschaftlich-technischen
Intelligenz wurde begleitet von einem verstärkten Kampf gegen sämtliche
Spielarten des Revisionismus und der bürgerlichen Ideologie in den
Geisteswissenschaften und den Künsten. Diese Entwicklung zeigte sich
insbesondere in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, parallel zur
Beschleunigung des wirtschaftlichen Umbaus und der ökonomischen Wachstumsraten.
Dieser zweiten, der politische Seite der NÖS wurde nicht selten vorgeworfen,
sie stehe im Widerspruch zu den ökonomischen Veränderungen. Genau besehen waren
diese Maßnahmen jedoch vorerst unumgänglich, um das gesellschaftliche
Gleichgewicht zu halten. Und ohne Sicherung dessen hätte die Politik einer
Reformierung des Sozialismus sehr schnell zur Politik seiner Untergrabung
werden können, wie 1968 in der CSSR und ab 1986 in der Sowjetunion.
Bis in die sechziger
Jahre stellt sich also die Geschichte des DDR-Sozialismus als einheitlicher,
folgerichtiger Prozeß dar. Die wesentlichen Fragen, die beantwortet werden
müssen, um den Gründen seines letztlichen Unterganges auf die Spur zu kommen,
lauten demnach: Wann erfolgte der Abbruch dieser Kontinuität? Was veranlaßte
die SED, jene hoffnungsvolle, erfolgreiche und vielversprechende Politik zu
einem bestimmten Zeitpunkt aufzugeben? Und worin besteht das Wesen dieses neuen
Kurses?
II. Die
opportunistische Wende und der Neue Kurs des VIII. Parteitages
Relativ leicht
festzulegen ist der Zeitpunkt des Wandels: die gründlichste Umkrempelung der
politischen Linie in der gesamten DDR-Geschichte folgte Ulbrichts Sturz im
Jahre 1971. Sämtliche späteren Niedergangserscheinungen lassen sich unschwer
auf die in jenem Zeitraum eingeleiteten Veränderungen zurückführen.
Minder offenkundig
sind Wesen und Gründe des Wandels. Die zuweilen vorgetragene Annahme, mit
Beginn der siebziger Jahre hätten sich die Kräfte des "Alten", die
"ewigen Reformgegner", wieder durchgesetzt, entfällt. Denn die
SED-Politik der fünfziger Jahre fand, wie dargelegt wurde, eben in den Reformen
der sechziger ihre Aufhebung und konsequente Fortsetzung. Wer letztere
anfeindete (und das tat eine sich im Politbüro herausbildende Fraktion - mit
Unterstützung Moskaus - möglicherweise bereits seit 1965), hatte demnach auch
mit ersterer nichts zu schaffen, sondern verfolgte ein grundsätzlich anderes
und vom bisherigen abweichendes Prinzip.
Wesentliche Änderungen
konnten bereits vor dem VIII. Parteitag eingeleitet werden, nachdem der Druck
aus Moskau und das Überlaufen Mittags und anderer Politbüromitglieder die
Mehrheitsverhältnisse im höchsten Gremium zuungunsten Ulbrichts verändert
hatten. Aber erst mit den Beschlüssen des VIII. Parteitages wurde der Neue Kurs
zur offiziellen Linie. Er manifestierte sich einerseits auf innenpolitischem,
insbesondere ökonomischem Gebiet. Schon vor dem Jahreswechsel 1970/71 erfolgten
Neuerungen, die eine Abkehr von den Zielen (Erreichen und Mitbestimmen des
Welthöchststandes, Überholen Westdeutschlands) und dem Inhalt (erhöhte
Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der sozialistischen
Warenproduzenten, Regulierung des Wirtschaftsgeschehens durch ein System
ökonomischer Hebel) des NÖS erkennen ließen. Zu nennen wäre hier der, in
Ulbrichts Abwesenheit gefaßte, Politbürobeschluß vom September 1970 sowie das
im folgenden veröffentlichte Kommuniqué des Ministerrates "Für höhere
Effektivität in der Volkswirtschaft". Auf der 14. Tagung wurde die Kritik
an Ulbrichts Wirtschaftskurs erstmals öffentlich ausgesprochen. Der Angriff
richtete sich gegen die hochgesteckten Ziele seiner Wirtschaftspolitik, aber
auch schon gegen den neuen ökonomischen Mechanismus selbst. Die Umverteilung
des Nationaleinkommens zugunsten der Konsumption - bei unverantwortlicher
Minderung der Akkumulationsrate - deutete sich hier bereits an. Ebenso die
Verschiebung in der Klassenbasis der SED auf die untersten Schichten der
Arbeiterklasse. Zur Folge hatte das die Abkehr vom Leistungsprinzip und eine
Politik der Gleichmacherei, die sich nach dem VIII. Parteitag in fast allen
gesellschaftlichen Bereichen durchsetzen konnte. Die perspektivorientierte
Seite Ulbrichtschen Wirtschaftsplanens verfiel nicht minder der Kritik. Die
neue Führungsgruppe löste schon vor dem VIII. Parteitag verschiedene zentrale
Projektgruppen zur Ausarbeitung von Prognosen für die siebziger und achtziger
Jahre auf; die übrigen wurden in der Folgezeit auf die eine oder andere Art
auseinandergejagt. An die Stelle langfristiger wissenschaftlicher Planung und
zielbestimmter Arbeit trat entsprechend seit den siebziger Jahren eine Politik
des Sichdurchwindens. Die Probleme des Wirtschaftsmechanismus wurden kaum noch
als solche reflektiert; davon zeugte unter anderem die Einstellung der
wirtschaftstheoretischen Zeitschrift "Effekt". Auch in der
öffentlichen Diskussion spielten sie keine Rolle mehr. Tatsächlich jedoch wurde
mit dem VIII. Parteitag ein grundlegender wirtschaftlicher Umbau eingeleitet.
Er äußerte sich unter anderem in einer beachtlichen Erhöhung der zentral festgelegten
Plankennziffern und einer deutlichen Kompetenzerweiterung der Staatlichen
Plankommission. Seine Folge waren: steigender Verwaltungsaufwand,
überzentralisierte Entscheidungsfindung, völlige Verzerrung der Preisstruktur.
(Letztere hatte das NÖS eben erst durch eine Industriepreisreform und weitere
Maßnahmen zu ordnen begonnen.) Die vormals zentrale Größe Gewinn verlor
spätestens seit 1973 jede Bedeutung im wirtschaftlichen Regelwerk. Auch an den
politischen Zielen des NÖS wurde nicht länger festgehalten; anders sind die
bescheidenen Planvorgaben für den Zeitraum 1971 bis 1975ff. nicht zu verstehen.
Interessant unter diesem Gesichtspunkt ist ein Vergleich zwischen dem im
Frühjahr 1971 (als Ulbricht im Umfeld der 15. Tagung ein letztes Mal die Zügel
in die Hand bekam) vorgelegten Planentwurf zum Zeitraum 1971-1975 mit dessen
schließlicher und auf dem VIII. Parteitag bestätigter Fassung. Während ersterer
in seinen Grundlinien dem Konzept der Jahre 1969/70 folgte - so sollte ein
wachsender Anteil des Nationaleinkommens für die Akkumulation eingesetzt
werden, und Hauptziel des Plans war eine deutliche Verringerung des
ökonomischen Rückstandes gegenüber der BRD - zeigt letzterer die erfolgte
Umwendung in der Politik: die Ziele wurden in jeder Hinsicht drastisch reduziert,
eine Abschwächung des Wirtschaftswachstums und der Produktivitätsentwicklung
wurden vorhergesehen und festgeschrieben. Der Niedergang der DDR-Wirtschaft
erfolgte also geradezu planmäßig.
Die in der
SED-Geschichtsschreibung übliche Erklärung dieser Entwicklung läuft darauf
hinaus, daß die im Jahre 1970 aufgetretenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten
und "Disproportionen", so besonders die angespannte Lage im Energie-
und Brennstoffbereich, ein Abgehen von nichtrealisierbaren
"Wunschvorstellungen" und die Beachtung der "realen
Möglichkeiten" der DDR gefordert hätten. Entsprechende Folge sei die
Rücknahme der Ulbrichtschen Zielsetzungen gewesen. Dieses Erklärungsmuster hält
allerdings einer historischen Prüfung nicht stand. Zum einen, weil das
"Entspannen" des Plans nicht die Notwendigkeit eines grundlegenden
Umbaus des gesamten Wirtschaftsmechanismus und dessen
administrativ-bürokratische Entstellung begründen kann. Zum zweiten, da man
sich ohnehin hüten sollte, der "Krise" von 1970 übermäßige Bedeutung
beizulegen. Tatsächlich war der außerordentlich anspruchsvolle Perspektivplan
1966-1970 nicht allein erfüllt, sondern in wesentlichen Positionen übererfüllt
worden; die "Disproportionen" im Verhältnis der Energie- und
Brennstoffindustrie zu den übrigen Zweigen, die insbesondere durch den sehr
langen und harten Winter 1969/70 verschärft worden waren, hätten sich durch
geringfügige Umstellungen in der Investitionsverteilung ausräumen lassen.
Schwierigkeiten in der Bilanzierung ergaben sich lediglich bei einigen der
vielen außerplanmäßig in Angriff
genommenen Investitionsprojekte. So war der Wachstumspfad der DDR-Wirtschaft im
Jahr 1970 keineswegs erschüttert. (Überdies äußern kompetente Zeitzeugen die
Vermutung, daß die provokant überzogene Zahl sogenannter strukturbestimmender
Objekte, die Mittag zusätzlich zum sehr hohen Plan 1969/70 durchgedrückt hatte,
bereits dem Ziel diente, das NÖS zu diskreditieren und die Abschaffung des
neuen Wirtschaftsmechanismus vorzubereiten. Denn es war vorhersehbar, daß sie
in dieser Anzahl trotz der damals bedeutenden DDR-Wirtschaftskraft nicht
gleichzeitig realisiert werden konnten.)
Zu den Folgen des
VIII. Parteitags gehörten ökonomisch weiterhin die Auflösung der von Ulbricht
konzipierten und teilweise bereits errichteten Großforschungszentren und das
Ende seiner Intelligenzpolitik. Automatisierung und Mikroelektronik verloren
ihre zentrale Stellung. Zeitweilig wurde sogar die Tatsache einer
wissenschaftlich-technischen Revolution geleugnet. Weitere innenpolitische
Änderungen lassen sich, wie erwähnt, in der Sozialpolitik feststellen; ferner
in der Ideologie und in der Kulturpolitik (in beiden Bereichen zugunsten
bürgerlicher Einflüsse). Auch die Gestaltung der Außenwirtschaftsbeziehungn
ging man neu an. Hatte Ulbricht - unter der Losung der
"Störfreimachung" - die Wirtschaft der DDR bis zum Ende der sechziger
Jahre weitgehend von den unmittelbarsten Einflußmöglichkeiten des westlichen,
vor allem westdeutschen, Monopolkapitals befreit, wurde nach 1971 die
Zusammenarbeit mit dem kapitalistischen Ausland deutlich intensiviert. Und dies
in einer Form, deren Resultat die fortschreitende Abhängigkeit der DDR von
westlichen Kapitaleinflüssen sein mußte. Beispielsweise wurden hohe Kredite
aufgenommen, die zum Teil lediglich der Einführung bestimmter Konsumgüter,
nicht etwa der produktiven Akkumulation dienten. Techniktransfer war auf Grund
der westlichen Embargolisten ohnehin ausgeschlossen.
Diese Vorgänge sind
nicht aus inneren Ursachen der DDR erklärbar. Denn eine ähnliche Entwicklung
vollzog sich in allen anderen sozialistischen Ländern. Zudem beinhaltete der
Neue Kurs eben nicht allein innen-, sondern auch und insbesondere
außenpolitische Veränderungen. Den direkten Anlaß für Ulbrichts Sturz bildeten
außenpolitische Differenzen zwischen Moskau und Berlin. (Nämlich Ulbrichts
Weigerung, Breshnews Kapitulationskurs im Rahmen der Vier-Mächte-Verhandlungen
über den Status von West-Berlin mitzutragen.) Es ging aber in der
Auseinandersetzung zwischen Ulbricht und Breshnew nicht nur um Berlin. Es ging
nicht einmal nur um die neue Deutschlandpolitik, auf die Moskau sich seit der
Brandt-Scheel-Regierung verstand und die Ulbricht mit allen ihm zur Verfügung
stehenden Mitteln unterlief. Nein, es ging um die grundlegenden Prinzipien der
Taktik, die es dem Weltimperialismus gegenüber zu verfolgen galt, seit dieser
eine neue außenpolitische Strategie - die
Entspannungspolitik - entwickelt hatte.
III. Die
Entspannungspolitik als imperialistische Strategie
Über Weg und Ziel der
Entspannungspolitik handelt mit lobenswerter Offenheit Brzezinskis
"Alternative zur Teilung" Das Buch, 1965 in den USA erschienen, endet
unter anderem mit der Empfehlung, eine regelmäßig zusammentretende
gesamteuropäische Konferenz mit amerikanischer Beteiligung einzurichten, zu dem
Zweck, über wirtschaftliche Zusammenarbeit, kulturellen Austausch etc. zunächst
ideologische und später politische Einflußmöglichkeiten im sozialistischen
Weltsystem zu erwerben. Daß dieser Einfluß nicht zur Beförderung der sozialistischen
Entwicklung genutzt werden sollte, versteht sich. Ein Jahr später, im Juli
1966, unterbreiten die sozialistischen Staaten auf ihrer Bukarester Tagung den
Vorschlag, eine gesamteuropäische Konferenz zu Fragen der Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa einzuberufen.
Das heißt nun nicht,
daß Brzezinski in jener Zeit zum Kreml-Berater avancierte. Die sowjetische
KSZE-Konzeption unterschied sich schon von der seinen. Insbesondere durch die
ausgesprochene Betonung des Moments der Sicherheit gegenüber dem der
Zusammenarbeit. (Dadurch wird im übrigen bewiesen, daß es nicht ökonomische
Gründe waren, die die sozialistischen Länder zu einem Eingehen auf die
Entspannungsstrategie bewogen haben.) Andererseits aber war es kein Zufall, daß
die Konferenz, die später tatsächlich in Helsinki zusammenkam, aufs Haar dem
von Brzezinski entworfenen Szenario glich und die entsprechenden Folgen hatte.
Diese Entwicklung war nicht unvorhersehbar. Ulbricht, der sie vorhersah,
versagte dem sich anbahnenden europäischen Entspannungsprozeß folgerichtig jede
Zustimmung und Unterstützung. Hier liegt die Quelle des latenten Konflikts, der
seit Mitte der sechziger Jahre zwischen SED-Spitze und KPdSU schwelte. Die
Auseinandersetzungen zwischen Walter Ulbricht und Breshnew beziehungsweise
zwischen Ulbricht und der im Politbüro auf Moskauer Linie sich formierenden
Fraktion waren also keine Meinungsverschiedenheiten zu Einzelfragen und auch
keine internen Machtkämpfe zwischen Personen. Diesen Auseinandersetzungen lag
der Gegensatz zweier grundsätzlich unterschiedener, in der Beantwortung aller
wesentlichen Fragen differierender Konzepte zugrunde. Der Neue Kurs, gegen
dessen Einführung Ulbricht sich fünf Jahre lang unter Aufwendung all seines
politischen Geschicks zur Wehr setzte, ist nur vermittels des
Opportunismusbegriffs als einheitliches Konzept zu begreifen.
Auf Grund der
gegenwärtigen Verlotterung der sozialistischen Begrifflichkeit scheint eine Begriffserläuterung
an dieser Stelle nicht unangebracht. Folgen wir Lenin, ist Opportunismus: die
Aufgabe des Klassenkampfes und seine Ersetzung durch die Idee einer
Zusammenarbeit der Klassen, und zwar einer Zusammenarbeit derart, daß die
grundlegenden sozialistischen Interessen geopfert werden um der Erlangung
zeitweiliger partieller Vorteile und Augenblickserfolge willen. Dieses
grundlegende sozialistische Interesse ist in der vorrevolutionären Epoche: das
Endziel einer Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der
Verzicht hierauf tritt am deutlichsten zutage im sogenannten Reformismus, das
heißt im Setzen einer falschen Alternative zwischen Reform und Revolution,
wobei letztere verworfen wird. Allerdings ist dies nur die offenste, keineswegs
die einzige Form des vorrevolutionären Opportunismus; dieser kommt nicht minder
zum Ausdruck in jedem theoretischen Grundsatz, in jedem politischen Prinzip und
in jeder praktischen Maßnahme, die in ihrer Konsequenz die betreffende Partei
der Fähigkeit berauben, einen revolutionären Bruch mit dem Imperialismus vor-zubereiten,
zu propagieren und schließlich zu erkämpfen, die also objektiv Anpassung an
diese Gesellschaft bedeuten.
Ist die Revolution
bereits erledigt, kann das Absehen von ihr nicht mehr als Kriterium opportunistischer
Politik fungieren. Unter den Bedingungen des Bestehens beider Gesellschaftssysteme
bedeutet Opportunismus zwangsläufig: Verzicht auf das Endziel Weltsozialismus,
Anerkennung des internationalen Status quo und Intensivierung der
Zusammenarbeit mit den imperialistischen Staaten - mit der Folge einer
zunehmenden Abhängigkeit der sozialistischen Länder vom Weltfinanzkapital. Die
innenpolitische Entsprechung dafür ist: Abkehr von dem anstrengenden Kurs, den
Kapitalismus zu "überholen". Auch im Inneren beschränkt sich opportunistische
Politik auf den Erhalt des Status quo, das heißt auf die Verwaltung und
Sicherung des bestehenden Zustandes. Und eine solche Umorientierung muß
weitreichende Konsequenzen für die gesamte unmittelbar praktische Politik
haben.
IV. Politik der
Abgrenzung und "nationale Mission der DDR"
Allgemein bekannt ist
Honeckers ideologische Wende in der nationalen Frage. Sie kam deutlich zum
Ausdruck in der 74er Verfassungsänderung, zeigte sich indes bereits in den
Papieren des VIII. Parteitages.
Für Ulbricht blieb das
sozialistische Deutschland (wie perspektivisch der Weltsozialismus) Endziel und
Maßstab seiner Tätigkeit. Der Zweck seiner Innenpolitik bestand nicht zuletzt
darin, die nötigen Voraussetzungen für diese Ziele zu schaffen. Der
Zusammenhang zwischen der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung in
der DDR, ihrer demzufolge wachsenden Ausstrahlungskraft und der sozialistischen
Perspektive Gesamtdeutschlands wurde tausendmale formuliert und ist in allen
maßgeblichen Dokumenten jener Epoche enthalten. Die These der "nationalen
Mission der Deutschen Demokratischen Republik" ist die offizielle Ideologie
des Ulbricht-Zeitalters. Diese nationale Zielbestimmung war jedoch mit einer
Politik der realen Abgrenzung der DDR gegenüber der westdeutschen
Bundesrepublik nicht nur vereinbar; sie setzte sie voraus. Die angestrebte
Entwicklung in der DDR konnte überhaupt nur gewährleistet werden bei
weitestmöglicher Verringerung der imperialistischen Einflüsse, sowohl in
wirtschaftlicher und politischer als auch in ideologischer Hinsicht (letzteres
war auf Grund der direkten Einwirkung durch die Funk- und Fernseh-Medien nur
bedingt möglich). Jede Annäherung zwischen der DDR und der westdeutschen
Bundesrepublik unter den Kräfteverhältnissen der sechziger Jahre mußte sich
zuungunsten des Sozialismus auswirken. Daher Ulbrichts Politik der
"Störfreimachung". (Daß Ulbricht in regelmäßigen Abständen den Konföderationsgedanken aus dem
Portefeuille zog, ist nur scheinbar ein Widerspruch zu dieser Politik. Denn das
Ulbrichtsche Konföderations-Konzept beinhaltete stets Maßnahmen wie die
Neutralisierung beider deutscher Staaten, setzte im allgemeinen sogar bestimmte
Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen Westdeutschlands voraus. Es war
also Verlaß darauf, daß der Westen dieses Angebot niemals annehmen würde. Die
Konföderations-Vorschläge brachten Ulbricht so gleich zwei Vorteile: er behielt
einmal die deutschlandpolitische Initiative in der Hand und konnte verhindern,
durch westliches Einheitsgerede in die Defensive gedrängt zu werden; und er
konnte zweitens unangenehme westdeutsche oder eben auch Moskauer Wünsche nach
einer Öffnung zwischen den deutschen Staaten durch das Anerbieten einer
weitergehenden Lösung, die für beide Seiten nicht annehmbar war, erledigen -
ohne zur direkten Absage gezwungen zu sein. Mehr steckte hinter der
Konföderationspolitik von Beginn an nicht.)
Honecker trat mit der
Losung der Abgrenzung und der Zwei-Nationen-Theorie an. Der Verzicht auf die
Perspektive eines einheitlichen Deutschland bedeutete den Verzicht auf eine
sozialistische Perspektive für Westdeutschland. Man wird fortan von der
SED-Spitze - sehen wir von einer einzelnen Äußerung aus dem Jahr 1981 ab -
nichts dahingehendes mehr zu hören bekommen. Mit der "nationalen
Mission" fiel die Zielstellung des "Überholens"; auch sie wurde
nicht mehr propagiert und noch weniger in der Praxis angestrebt.
Verwirrenderweise vollzog sich dieser politische Richtungswechsel unter der
Losung der "Abgrenzung".
Von Abgrenzung kann jedoch bestenfalls in einer Hinsicht und in einer Richtung
gesprochen werden: in Hinsicht auf den ideologischen Klassenkampf, und in
Richtung von Ost nach West. Der ideologische Klassenkampf wurde tatsächlich
nahezu vollständig eingestellt; eine offensive sozialistische Propaganda in
Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie und zur Offenlegung übler
Machenschaften des westdeutschen Imperialismus konnte sich die DDR ganz einfach
nicht mehr leisten, da sie mit den westdeutschen Staats- und Wirtschaftsspitzen
immer enger liiert war. (An die Fernsehleute soll der Hinweis ausgegangen sein:
"Achtet mehr auf Westnachrichten und Westkommentare!... Dann wißt ihr,
worüber ihr berichten und worüber ihr schweigen müßt.") Auf allen anderen
Gebieten vollzog sich eine der Abgrenzung genau entgegengesetzte Entwicklung.
Sowohl Berlin-Abkommen als auch Grundlagenvertrag (und erst recht der spätere
KSZE-Prozeß) hatten die Mauer nicht dichter, sondern sehr viel durchlässiger
gemacht. Durchlässiger für bürgerliche Ideen, durchlässiger für westdeutsches Kapital,
nicht zuletzt durchlässiger für westliche Agenten ("Journalisten").
Die üppigen Sozialleistungen auf der einen, Mielke auf der anderen Seite hatten
nun die Aufgabe, bei derart verunsicherter Lage den Erhalt der inneren
Stabilität zu gewährleisten. (Auf einem größeren Führungsseminar des MfS im
März 1971 wurde die neue Linie in der Staatssicherheitspolitik eingeleitet. Ihr
Wesen bildete eine massive Intensivierung der Arbeit der
Staatssicherheitsorgane in allen gesellschaftlichen Bereichen. Ausdrücklich
begründete Mielke diese Veränderungen mit der "Friedensoffensive der
sozialistischen Länder" und der nunmehrigen "Weltoffenheit" der DDR.) Durch die Zersetzung und
Verbürgerlichung der offiziellen Ideologie schwand natürlich in der Bevölkerung
zunehmend das Bewußtsein des gesellschaftlichen Ziels, dem die Arbeit hier und
heute dienen sollte. Weil zudem vermittels Sozialpolitik das Leistungsprinzip
außer Kraft gesetzt war, mußte der Arbeitswille sinken; Gammelei, Schlamperei
und Klüngelwirtschaft waren die Folge. Und je weniger die DDR aufgrund dieser
Bedingungen die Bedürfnisse der Menschen befriedigen konnte, je mehr wuchs die
Entfremdung zwischen dem Volk und seinem Staat.
Es hat allerdings
wenig Sinn, diese Politik ausschließlich der SED-Führung unter Erich Honecker
anzulasten. Denn die außenpolitische Öffnung der DDR hatte sie - auch nach
Ulbrichts Sturz - nur widerwillig und auf sowjetischen Druck hin vollzogen. Sie
war das Ergebnis und der Preis der sowjetischen Entspannungspolitik. Bei den Verhandlungen
zum Berlin-Abkommen saß die DDR nicht am Tisch; und auch in den Absprachen zum
Grundlagenvertrag hatte Moskau mehrfach zugunsten größerer
Kompromißbereitschaft auf SED-Seite eingegriffen. Den Helsinki-Prozeß mit
seinen verheerenden Folgen zu verhindern, stand nicht in der Macht der DDR. Die
innenpolitischen Veränderungen jedoch, die Honecker durchsetzte und die die
Krise und den Niedergang des DDR-Sozialismus einleiteten und bewirkten, ergaben
sich großenteils direkt aus den genannten neuen außenpolitischen Konditionen.
Ulbrichts Wirtschaftspolitik wäre unter solchen Bedingungen tatsächlich nicht
fortführbar gewesen. Daß die SED-Führung dann Anfang der achtziger Jahre
begann, aus der Not eine Tugend zu machen und durch allzu heftige Kungelei mit
dem westdeutschen Imperialismus ihrerseits Moskau verstimmte, kann ihr auf
Grund dessen kaum allzusehr verübelt werden.
V. Folgen und Ursachen
des sowjetischen Eingehens auf die westliche Entspannungsstrategie
Richteten sich die
Absichten Breshnews in der deutschen Frage auf das Aufgeben gesamtdeutscher
Zielsetzungen und den Verzicht auf ideologische Auseinandersetzung, so ist die
internationale Entsprechung hierzu: das Streben nach Bewahrung des Status quo
und die Abkehr von allen weitergehenden sozialistischen Aufgaben; folglich also
die Akzeptanz der Endgültigkeit des Kapitalismus innerhalb der ihm verbliebenen
Besitzungen. Eben diese Umorientierung in
den Zielen (nicht allgemein das
Streben nach Zusammenarbeit und Friedenserhalt) ist der wesentliche Inhalt der
östlichen "Entspannungspolitik".
Ferner ist klar, daß
es sich bei dem Streit um die Ziele - Weltsozialismus oder status quo,
beziehungsweise sozialistisches Einheitsdeutschland oder Verewigung der
deutschen Zweistaatlichkeit - keineswegs um bloße Deklarationen für eine ferne
Zukunftswelt handelte, sondern um sehr reale und konkrete Aufgaben, die es in
der Gegenwart zu erfüllen galt. Eben in diesem Punkt schlug der außenpolitische
Gegensatz zwischen Ulbricht und den Entspannungspolitikern in den
innenpolitischen um. Denn der Verzicht auf die Propagierung des sozialistischen
Endziels war keinesfalls das einzige und als solches auch nicht das wichtigste
Zugeständnis, das die UdSSR im Rahmen der Entspannungspolitik einzugehen bereit
war. Sehr viel wesentlicher waren jene die innere Politik der sozialistischen
Länder unmittelbar beeinflussenden (und überdies einseitigen) Kompromisse, mit
denen das Helsinki-Abkommen erkauft wurde, - und deren konsequente Folge war
es, daß dem Sozialismus fortan ein Sieg im Systemwettbewerb unmöglich werden mußte. Diese
Kompromisse betrafen in erster Linie die sozialistische Ideologie, in zweiter
Linie die Wirtschaftspolitik. Damit genau jene beiden Gebiete, auf die sich die
internationale Klassenauseinandersetzung seit Herstellung des militärstrategischen
Gleichgewichtes konzentrierte. Sie erwiesen sich auf Dauer als tödlich.
Es ergibt sich die
Frage, was den Sozialismus jener Tage veranlaßt hat, eine derartige Abkehr von
seinen ursprünglichen Zielen und Aufgaben vorzunehmen. Zugrunde lag
offensichtlich die Absicht, der neuen imperialistischen Entspannungsstrategie
entgegenzukommen und durch Verzicht auf höher gesteckte Ziele sowie Anerkennung
des kapitalistischen Lagers letzteres gleichfalls zur Akzeptanz des Status quo
zu veranlassen. Es ging, könnte man sagen, darum, durch einen international
verabredeten Burgfrieden (mit allen ideologischen etc. Konsequenzen) der Gefahr
eines dritten Weltkrieges entgegenzuwirken.
Nun läßt sich ja nicht
leugnen, daß angesichts moderner, insbesondere atomarer, Waffentechnik die
sozialistischen Staaten jener Zeit verpflichtet waren, sich um die Bewahrung
des Weltfriedens mit höchster Kraftanstrengung zu bemühen. Die Frage ist nur, ob die opportunistische Entspannungspolitik
tatsächlich ein dienliches, ja, auch nur ein mögliches Mittel zur Erreichung
dieses Zwecks gewesen ist.
Die Entspannung hat,
wie wir heute wissen, die Welt um keinen Deut sicherer, im Gegenteil, um sehr
vieles gefährdeter gemacht. Ihre erste Phase endete mit dem Wiederaufleben des
kalten Krieges und der forcierten Hochrüstung zu Beginn der achtziger Jahre; in
diesen neuerlichen Wettlauf trat der Sozialismus bereits geschwächt ein. Ihre
zweite Phase (denn das Neue Denken war in Wirklichkeit nicht neu, sondern die
konsequente Fortsetzung der Prinzipien des KSZE-Prozesses) führte zum Untergang
des sozialistischen Weltsystems, damit zur Zerstörung des internationalen
Kräftegleichgewichtes; sie zeitigte bereits in einem größeren Krieg und vielen
drohenden oder schon im Gange befindlichen Bürgerkriegen erste Resultate.
Genau genommen lief
das entspannungspolitische Konzept darauf hinaus, statt durch eine selbstbewußte, offensive Politik dem
Weltimperialismus Zugeständnisse abzuringen, dessen Einlenken durch Zahmheit,
durch Vorzeigen eigener Schwäche, durch
eine Politik des Zurückweichens und der Annäherung an die Interessen des
internationalen Finanzkapitals zu erreichen. Wie die Resultate zeigen, ist
das auf der ganzen Linie gescheitert. Und dies nicht zufällig. Denn die Taktik
war nicht neu, und Burgfriedens-Angebote haben die sozialistische Bewegung
bisher noch nie besonders weit gebracht. Wird die bernsteinsche Prämisse
akzeptiert: "Um etwas zu erreichen, bedürfen wir des Bündnisses mit der Bourgeoisie", muß auch sein Schluß
nachvollzogen werden: Dieses Bündnis ist nur zu haben, wenn wir uns von der
"revolutionären Phraseologie", lies: den sozialistischen Zielen,
verabschieden. Ist diese Bahn der Zugeständnisse erst betreten, bleiben
zwangsläufig immer mehr Positionen auf der Strecke.; am Ende steht die
Kapitulation. Die Breshnew-Linie führte mit derselben Konsequenz zu Gorbatschow
und zur Unterstützung des Golfkrieges wie einst die Bernstein-Linie zur Politik
des 4. August 1914 und zu Noske geführt hatte.
Wenn eine theoretische
These von der Geschichte nach Helsinki mit Nachdruck widerlegt wurde, dann die
These vom Primat des Globalen gegenüber dem Klassenmäßigen. Denn die östlichen
Entspannungspolitiker der siebziger Jahre
folgten implizit bereits der Gorbatschowschen Annahme, friedliche
Koexistenz ließe sich von den Fragen des Klassenkampfes trennen, ja müsse von
ihnen getrennt werden. In der Tat ist der Friedenskampf keine spezifisch proletarische
Aufgabe. Weil jedoch die Gesetze der Kapitalverwertung und der Kapitalakkumulation
- unmittelbarer oder vermittelter - sowohl die außenpolitische Aggressivität
des Imperialismus als beispielsweise auch die Unterdrückung und Ausbeutung der
Dritten Welt oder die Zerstörung der natürlichen Umwelt bewirken, ist die
Lösung der sogenannten "globalen Probleme" - so auch der Frage des
Weltfriedens - nur im politischen Klassenkampf möglich. Es ist nicht einmal
eine besonders neue Erkenntnis, daß bestimmte Aufgaben, die ihrem abstrakten
Inhalt nach keine sozialistischen sind, sich dennoch nur im Kampf der
sozialistischen Kräfte verwirklichen lassen. Auf eine solche Beziehung hat
bekanntlich bereits Lenin verwiesen hinsichtlich der bürgerlichen Revolution im
zaristischen Rußland; später dann im Blick auf die Losungen Frieden, Land und
Brot. Sowohl Frieden als auch Land waren keine spezifisch proletarischen
Forderungen; aber sie konnten nur im Kampf gegen, nicht durch Zugeständnisse an
die kapitalistische Klasse erreicht werden; denn der kapitalistische
Funktionsmechanismus, an den die Bourgeoisie bei Strafe ihres Unterganges
gebunden ist, mußte ihre Realisierung verhindern. Wirklich dauerhafter Frieden
ist nur unter Voraussetzung des Weltsozialismus zu sichern; jeder Friedenskampf
unter imperialistischen Bedingungen, der diese Perspektive aus dem Auge
verliert, wird zwangsläufig inkonsequent.
Ulbrichts Gegenkonzept
zu dem der Entspannung bestand einmal darin, durch eine glänzende
wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der DDR, zudem durch
geschickte Propaganda, auch im Westen bestimmte Teile der Bevölkerung
anzusprechen; zweitens durch umsichtiges internationales Agieren vor allem bei
Staaten Afrikas und Asiens, aber auch bei europäischen blockfreien Ländern
einen gewissen Rückhalt zu gewinnen. Bei zudem striktem Einhalt des
militärischen Gleichgewichts seitens der sozialistischen Staaten konnte so eine
Position eigener Stärke aufgebaut werden, die den Westen zur Einhaltung
gewisser Regeln der friedlichen Koexistenz zwingen mußte. Ulbrichts
Außenpolitik hatte diesbezüglich beachtliche Erfolge errungen. (Es war ja nicht
die Entspannungspolitik, die die Bonner Regierung zur Aufgabe der
Hallstein-Doktrin* veranlaßte, sondern
der Umstand, daß die internationale Anerkennung der DDR insbesondere 1969/70 rasante
Fortschritte machte.) Daß Ulbricht mit seinen anstrengenden und ehrgeizigen
Maßnahmen auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik nicht zuletzt politische Ziele
verfolgte, wußte er oft genug zu erwähnen. Hier liegt auch der Grund, weshalb
Moskau auf seinen immer selbstbewußter vorgetragenen Anspruch, die DDR-Gesellschaft
den anderen osteuropäischen Parteien und den Werktätigen Westeuropas als
Vorbild und Modell zu empfehlen, mit wachsender Gereiztheit reagierte. So
seltsam es klingen mag, aber ein blühender
und über seine Grenzen hinaus anziehender Sozialismus - und die DDR war auf dem
besten Wege, sich zu einem solchen zu entwickeln - mußte als Gefährdung der
internationalen Burgfriedens-Politik erscheinen. Denn es ist klar, daß ein
solcher Sozialismus zwar geeignet sein konnte, das Weltfinanzkapital zur
Mäßigung und zeitweiligen Akzeptanz des Status quo zu zwingen; über kurz oder
lang mußte er jedoch einen Rückschlag der westlichen Politik in den Kalten Krieg
mit allen seinen Auswirkungen hervorrufen. (Die imperialistische Entspannungspolitik
verfolgte eben ganz andere als friedenspolitische Ziele.)
Breshnew hatte die
wissenschaftlich-technische Revolution also keineswegs mißkannt oder in ihrer
Bedeutsamkeit unterschätzt - er sah keinen
Grund, sie höher zu schätzen. Zur Konservierung der bestehenden Weltlage,
so ging die Rechnung, ist nicht eine ökonomische oder wie immer geartete
Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus vonnöten; was nötig und
unabdingbar ist, ist die militärische Gleichstellung
zwischen beiden Systemen. Um diese trug er denn auch geflissentlich Sorge. Der
Sozialismus hat in den folgenden Jahren unterbrechungslos vermocht, mit dem
Imperialismus auf militärischem Gebiet gleichzuziehen; wenn aber eine
Gesellschaft in einem Bereich zu technischen Höchstleistungen fähig ist und
dennoch den Rest ihrer Wirtschaft verkommen läßt, dann nicht, weil sie es nicht
besser kann, sondern weil sie es nicht besser können will.
Die Ursachen für die
Annahme der Entspannungslüge durch die sozialistischen Staaten sind vielfältig.
An erster Stelle ist ohne Frage der Sicherheitsaspekt zu nennen. Die
Außenpolitik des sozialistischen Weltsystems in der Nachkriegszeit stand
zunächst lange Zeit unter der Erwartung, über kurz oder lang müsse das
Aufbrechen innerimperialistischer Widersprüche den antisozialistischen Block
sprengen und dem Sozialismus damit eine günstige Ausgangslage zum Verfolg
seiner außenpolitischen Ziele schaffen. Denn eine derartige Konstellation, die
man entsprechend zu fördern suchte, hätte die Position des Weltimperialismus
erheblich geschwächt und den sozialistischen Staaten insbesondere erlaubt,
zwischen den imperialistischen Fronten zu agieren. Diese Hoffnungen erhielten
Nahrung durch die europäisch-amerikanischen Spannungen Mitte der sechziger
Jahre. Nicht zufällig rückte das Frankreich de Gaulles eine Zeitlang in den
zentralen Blickpunkt sowjetischer Außenpolitik. Auch die verschiedenen Ansätze
der sowjetischen Führung, das Westberlin-Problem progressiv zu entschärfen,
stützten sich auf die Annahme, den westdeutschen Imperialismus isolieren und an
dieser Stelle ständiger Konfliktgefahren die Westmächte zum Einlenken bewegen
zu können.
Alle diese Versuche
waren letztlich fehlgeschlagen, ja schlimmer noch: während das imperialistische
Weltsystem sich befähigt zeigte, eine stabile antisozialistische Koalition zu
bilden, hatte die sozialistische Staatengemeinschaft ein wesentliches und
maßgebliches Glied verloren: China. Die Auswirkungen des
chinesisch-sowjetischen Konflikts auf die Außenpolitik der Sowjetunion können
kaum überschätzt werden. Besonders unangenehm wurde die Situation für das
Sowjetland, als China begann, seine äußere Isolierung zu überwinden und auf der
internationalen Bühne offensiv zu agieren. Dadurch gewannen die Nordamerikaner
genau jene Möglichkeit, um die sich die sowjetische Führung so angestrengt
bemüht hatte: die Möglichkeit, die verfeindeten Blöcke im gegnerischen Lager
gegeneinander auszuspielen. Und die nutzten sie weidlich. Termingerecht zu den
Verhandlungen übers Berlin-Abkommen knüpfte Kissinger nähere Verbindungen zu
Peking an.
Neben dem
sicherheitspolitischen Aspekt, und diesem untergeordnet, mögen wirtschaftliche
Fragen eine Rolle gespielt haben. Das sozialistische Weltsystem hatte das
Rennen um die wissenschaftlich-technische Revolution in außerordentlich
benachteiligter Stellung beginnen müssen. Selbstverständlich wäre der Rückstand
bei entsprechender Kraftanstrengung und enger Kooperation im gesamten
sozialistischen Wirtschaftsgebiet (sowie einer dem NÖS ähnlichen ökonomischen
Struktur auch in den anderen sozialistischen Ländern) aufzuholen gewesen. Aber
eine solche Kraftanstrengung auf sich zu nehmen, war gerade die sowjetische
Führung immer weniger gewillt. (Das hatte bereits der XX. Parteitag der KPdSU
deutlich gemacht.) Auch mag die unerwartete Anpassungs- und
Entwicklungsfähigkeit des Imperialismus Zweifel hinsichtlich der Möglichkeiten
seiner Überwindung überhaupt geschürt haben. Überdies wurde die Entwicklung
einer effizienten Arbeitsteilung innerhalb des RGW immer wieder durch das
Ausscheren einzelner sozialistischer Staaten, die dem Werben des westlichen
Kapitals mit Kredit und Wirtschaftshilfe aufsaßen, behindert. Nicht zuletzt
barg ein hochgespannter Wirtschaftskurs, wie der Ulbrichtsche, gewisse
innenpolitische Risiken. Die westliche Entspannungspolitik dagegen ließ die
Hoffnung auf Kapital- und vor allem Technologietransfer größeren Ausmaßes
keimen. Ein solcher Weg der Wirtschaftsmodernisierung lockte und wäre auch
unstrittig der bequemere gewesen. Nur lag es eben in der Logik der imperialistischen
Ziele, daß er sich nicht als gangbar erweisen konnte.
Drittens schließlich
haben stark bürokratisierte Staaten ohnehin eine gewisse Neigung, sich mehr und
mehr auf die Konservierung des Bestehenden zu konzentrieren und die Zukunft
dabei aus dem Auge zu verlieren. Eine solche Umorientierung erfolgt nicht zwangsläufig,
wird jedoch durch die Existenz eines machtvollen und ausgedehnten Apparates -
und einen solchen hatte sich die Sowjetunion auf Grund ihrer Geschichte in
ungleich größerem Maße zulegen müssen als etwa die DDR - begünstigt.
VI. Resümee zur
Geschichte des ersten sozialistischen Weltsystems
Mit der
Entspannungspolitik wurde die Krise des Sozialismus eingeleitet, sein Untergang
vorbereitet. Aber auch während der Niedergangsperiode - und obwohl sich die
Krise insbesondere in den achtziger Jahren mehr und mehr verschärfte - blieben
nicht unwesentliche Grundmomente einer sozialistischen Gesellschaft erhalten.
Dies betraf insbesondere den Bereich der sozialen Sicherheit, aber nicht nur
diesen. So war zum Beispiel das Bildungssystem der DDR auch in den letzten
Jahren immer noch erheblich besser als etwa das westdeutsche. Andere
gesellschaftliche Bereiche, in denen sich der Sozialismus sogar noch in seinem
Niedergang dem Imperialismus überlegen zeigte, ließen sich nennen. Gerade in
der DDR konnte trotz allem ein relativ hoher Lebensstandard gehalten werden.
Der erzeugte gesellschaftliche Reichtum war zwar nicht üppig - und sehr viel geringer,
als er bei einer anderen Politik hätte sein können -, aber er wurde in solcher
Weise verteilt, daß in der DDR niemand so leben mußte wie das untere
Bevölkerungsdrittel in den imperialistischen Metropolen. Die entscheidende
Grundlage sozialistischer Politik, das Volkseigentum, bestand fort. Trotz
vorherigem Niedergang war die Konterrevolution des Herbstes 1989 also ein
gravierender, ein qualitativer gesellschaftlicher Rückschlag.
Zwei Grundthesen
ergeben sich aus der Analyse der Entwicklung des vergangenen Sozialismus:
Erstens: Die Geschichte des ersten
sozialistischen Weltsystems war in sich diskontinuierlich, das heißt am Ende
brach nicht das zusammen, was im Beginn angelegt war; ähnlich der Geschichte
der II. Internationale gab es einen inneren Wandlungsprozeß, der die Ursachen
des letztlichen Niedergangs erst hervorgebracht hat.
Zweitens: Ebenfalls ähnlich der
II. Internationale ist der vergangene Sozialismus nicht an einer Links-,
sondern an einer Rechtsabweichung zugrunde gegangen. Der Zusammenbruch des
sozialistischen Weltsystems geht zurück auf den wachsenden Einfluß und das
letztliche Überhandnehmen opportunistischer Grundsätze in seiner Politik; eine
Kontinuität verbindet nicht Stalin und Breshnew, sondern Breshnew und
Gorbatschow.
Nicht der
"Stalinismus" - der Opportunismus erweist sich als tödlich für die
gewesene sozialistische Gesellschaftsordnung; nicht die
marxistisch-leninistische Traditionslinie scheiterte, sondern wiederum und zum
unzähligen Male die des alten Trade-Unionismus, die Bernsteins und Kautskys,
die der reformistischen Sozialdemokratie.
VII. Der
Gegenstalinismus und das Ringen der PDS um ihre programmatische Selbstfindung
Seit ihrem Entstehen
auf dem Sonderparteitag im Dezember 1989 ist sich die PDS bestenfalls darüber
einig, was sie nicht will. Nicht will sie sein wie ihre
Vorgängerin, die SED, und nicht erstrebt
sie einen Sozialismus, der mit dem in der DDR realisierten Gesellschaftssystem
nähere Ähnlichkeiten aufweisen würde. Die Absage an die DDR-Tradition begann
als Kampf gegen den "Stalinismus" und endete - nicht ohne Konsequenz
- mit der Absage an den Sozialismus in der Hinwendung zur
sozialdemokratisch-reformerischen Ideologie. Letztere trat zutage im
berüchtigten Ja zur "deutschen Einheit", später dann in verschiedenen
programmatischen Dokumenten: im Thesenentwurf der Grundsatzkommission vom
Frühsommer 91 etwa, und nicht minder im derzeit diskutierten sogenannten
Mehrheitsentwurf <des künftigen PDS-Programms - WBl>. Sollte letzterer
(mit partiellen Änderungen) auf dem Programmparteitag im Januar 93 angenommen
werden, hätte die PDS ihr Godesberg hinter sich.
Daß der Zusammenbruch
des ersten realisierten Sozialismus auch die sozialistische Ideologie
erschüttern mußte, ist an sich nicht verwunderlich. Insbesondere, da der
Niedergang des wissenschaftlichen Sozialismus eben nicht erst mit dem Szenario
der direkten Konterrevolution im Herbst 1989 begonnen hatte. Gorbatschows Kampf
gegen das "alte Denken", der ja ein Kampf gegen die sozialistische
Ideologie war, hat nicht wenig zur Zersetzung der letzteren beigetragen. Und
der Boden für den offenen Revisionismus Gorbatschowscher Prägung war bereitet
worden durch jenen verdeckten, der die offizielle Theorieauslegung der
Breshnew- und Honecker-Zeit beherrscht hatte. Will man streng verfahren, ist
der Beginn einer Revision marxistischer Grundsätze bereits in der Ideologie des
XX. Parteitages der KPdSU nachzuweisen. Zunehmender Revisionismus mußte jedoch
zur Folge haben, daß auf die tatsächliche Weiterentwicklung des wissenschaftlichen
Sozialismus, entsprechend den sich verändernden Weltverhältnissen, fortan
verzichtet wurde. Aus diesem Grund besteht gegenwärtig in der Tat ein
deutlicher Erklärungsnotstand der sozialistischen Theorie in Bezug auf die
neuen Erscheinungen im Imperialismus der zweiten Jahrhunderthälfte; erst recht
in Bezug auf die Analyse des vergangenen Sozialismus, seiner Geschichte, der
Gründe seines Untergangs. Das bedeutet nicht, daß die sozialistische Theorie
diese Phänomene nicht auf den Begriff bringen könnte, es bedeutet lediglich, daß sie diese Inbegriffnahme bisher
aus den genannten Gründen nicht geleistet hat. Solche Defizite aber bewirken
naturgemäß, daß die Überzeugungskraft einer Ideologie schwindet. Andere,
bürgerliche Erklärungsmuster erhalten die Möglichkeit, sich in die Lücken zu
drängen - und nutzen sie. Befördert wurde die Aufnahme solcher Denkmuster durch
die noch gegenwärtige Erinnerung an das erstarrte, von Verfallstendenzen
gekennzeichnete Endstadium des vergangenen Sozialismus, ebenso durch das
frische Bewußtsein seines hilflosen, geschwinden, scheinbar unaufhaltsamen
Untergangs. Denn offiziell hatte sich diese Gesellschaft fast bis zu ihrem Ende
auf die marxistisch-leninistische Weltanschauung als ihre geistige Basis
berufen. Die Annahme, daß mit jener auch diese gescheitert sei, drängte sich
auf.
Der Gegenstalinismus
war in diesem Kontext lediglich eine Übergangsideologie, notwendig, um die
vollständige Abkehr von den Grundlagen und der Begrifflichkeit des Marxismus
vorzubereiten und einzuleiten. In den geschaffenen Freiraum trat - jetzt voll
durchgesetzt und offen - dieselbe reformistische Ideologie, deren praktische
Umsetzung die sozialistische Gesellschaft eben erst unter die Erde gebracht
hatte. Und sie gab sich nun dreist als neuer, den veränderten Weltbedingungen
angepaßter Lösungsansatz aus. Den Tiefpunkt dieser Entwicklung hatte die PDS
vermutlich im Herbst 90/Frühjahr 91 erreicht. Seither hat die schlichte
alltägliche Erfahrung des innen- und außenpolitischen Gebarens des deutschen
Imperialismus manchen Zweifel an marxistischen Positionen bereits wieder
ausgeräumt. Auch die Gebrechen des vergangenen Sozialismus in seinem
Niedergangsstadium werden durch das Erlebnis der kapitalistischen Restauration
und ihrer sozialen Folgen mindestens relativiert. Unverhüllter Reformismus
kommt heute kaum mehr an; ebensowenig eine hämisch pauschale Verwünschung des
untergegangenen Sozialismus. Zweifellos kein anderer Grund als dieser hat
bewirkt, daß das jetzt vorliegende "Mehrheitsprogramm" sich gegenüber
dem vorherigen Thesenentwurf der Grundsatzkommission durch eine deutliche
Zunahme antikapitalistischer Rhetorik auszeichnet. Aber es ist eben nur
Rhetorik; an den sozialreformistischen Grundthesen hat sich nichts geändert.
Und diese Thesen
werden sich mutmaßlich solange einer gewissen - begrenzten - Akzeptanz
erfreuen, solange die erwähnten Erklärungsdefizite der sozialistischen Theorie
nicht behoben sind, solange der Marxismus-Leninismus nicht durch
wissenschaftliche Weiterentwicklung in die Lage versetzt ist, überzeugende
Analysen der Entwicklungsvorgänge im Imperialismus und im Sozialismus seit den
fünfziger Jahren vorzulegen. (Es gibt heute bereits Ansätze dafür; eine
geschlossene Theorie existiert aber bisher nicht, und ihre Erarbeitung wird
einen Zeitraum von wenigstens drei bis fünf Jahren erfordern.)
Gegenwärtig wäre es -
trotz gemeinsamer antikapitalistischer Grundüberzeugung - für die Mehrheit der
PDS-Mitgliedschaft kaum möglich, sich auf eine gemeinsame ideologische Grundlage
zu einigen. Das bestätigt der bisherige Verlauf der Programmdebatte. 2
Gerade die oft formulierte Forderung, das anzunehmende Programm auf einen engen
Zeitraum zu beschränken, sich dabei auf ein konsensfähiges Minimum an
politischen Inhalten für den Kampf hier und heute zu konzentrieren, - das heißt
aber, statt eines Partei- vorerst ein Aktionsprogramm zu beschließen - spricht
dafür. Ebenso die gleichzeitige Annahme dreier, in vielen Punkten einander
ausschließender Thesenentwürfe auf der 2. Tagung des II. Parteitags. Solange
dieser Zustand fortdauert - in so gravierenden Formen wie gegenwärtig
fortdauert -, sollte kein programmatischer Richtungsentscheid in der PDS
durchgesetzt werden. Das Durchpeitschen der Programmdiskussion in einem
dreiviertel Jahr - ein Zeitraum, in dem ein wirklicher theoretischer
Klärungsprozeß unmöglich ist - birgt die Gefahr, daß der entscheidende Vorteil,
über den die PDS augenblicklich im Gegensatz zu allen anderen linken Kräften in
Deutschland verfügt - ihre mitgliedermäßige Stärke -, aufs Spiel gesetzt wird.
Denn wer sich mit dem Programm seiner Partei nicht mehr identifizieren kann,
wird sehr wahrscheinlich über kurz oder lang die entsprechende Konsequenz
ziehen. Vernünftiger wäre es daher, der programmatischen Diskussion längere
Zeit einzuräumen und sich vorerst auf einige Grundsätze für den politischen
Kampf hier und heute zu einigen. Die Verfechter sozialdemokratischer Positionen
haben freilich ihrerseits Ursache, auf einen baldigen Abschluß der
Programmdebatte zu drängen. Denn die Chance reformistischer Ideen, sich in der
Diskussion durchzusetzen, entwickelt sich umgekehrt proportional zur
Gründlichkeit des theoretisch-programmatischen Verständigungsprozesses. Daher
die Eile.
Andererseits ist klar,
daß, wenn gegenwärtig ein Richtungsentscheid im allgemeinen als verfrüht
anzusehen ist, ein Richtungsentscheid zugunsten einer endgültigen
Sozialdemokratisierung der PDS im besonderen verheerende Folgen nach sich zöge.
Denn dadurch würde der Bestand dieser Partei selbst - nicht nur ihre
mitgliedermäßige Stärke - in Frage gestellt. Eine zweite Sozialdemokratie in
Deutschland - auch eine mit etwas oppositionellerem Anstrich - ist überflüssig
und wird sich nicht als maßgebliche politische Kraft profilieren können. Die
sich anbahnenden sozialen und politischen Kämpfe vor allem im Osten
Deutschlands, der aggressive Großangriff des Monopolkapitals seit dem Wegfall
des sozialistischen Gegengewichts, nicht zuletzt die außenpolitischen
Ambitionen des deutschen Imperialismus fordern dringend eine politische Kraft,
die fähig und willens wäre, gegen
diese Entwicklung wirklichen gesellschaftlichen Widerstand zu organisieren.
(Daß weder Sozialdemokratie noch Gewerkschaften sich dieser Aufgabe annehmen
werden, dürfte spätestens im letzten halben Jahr jedermann begriffen haben.)
Auch perspektivisch bedarf es einer revolutionären Partei, weil nur sie in der
Lage ist, die sozialistische Überwindung des Imperialismus zu propagieren,
vorzubereiten und schließlich zu erkämpfen. Diesen im gesellschaftlichen System
Ostdeutschlands nach wie vor unbesetzten Platz könnte - und müßte ihrem
Anspruch nach - die PDS einnehmen. Sie kann ihn aber auch verspielen.
VIII. Der Reformismus
und das pluralistische Parteikonzept
Der Verzicht auf
programmatische Festlegung kann allerdings für eine sozialistische Partei nur
eine Übergangs- und keine Endlösung sein. Das muß betont werden, denn neben
jenen reformistischen Theoretikern, die beabsichtigen, ihre Ideologie möglichst
geschwind zur Parteiprogrammatik zu erheben, gibt es solche, die einen Verzicht
auf Ideologie überhaupt, eine Entideologisierung
der Politik einfordern. Letztere Auffassung ist vom Standpunkt des
pluralistischen Parteikonzepts eigentlich die einzig konsequente. Der
Mehrheitsentwurf, was immer er sei, pluralistisch ist er nicht. Angetreten war
die PDS mit dem Anspruch, ein Sammelbecken für die verschiedenen linken
Richtungen - von der kommunistischen bis zur sozialdemokratischen - zu werden
und damit einen Ausweg aus der unerfreulichen Zersplitterung der linken Kräfte
in Deutschland anzubieten. Dieses pluralistische Parteiverständnis gehört
gegenwärtig wahrscheinlich zu den wenigen in der PDS von breiter Mehrheit
akzeptierten Grundsätzen. Man könnte es sich leicht machen und gegen die Annahme
des vorliegenden Mehrheitsentwurfes im Namen des Pluralismus fechten.
Der Streit für eine
richtige Sache mit falschen Argumenten (weil die richtigen unpopulär sind)
pflegt sich allerdings zu rächen. Irgendwann gerät der Streiter in
Argumentationsnot. Deshalb sei gleich vorweg betont: das pluralistische
Parteikonzept ist selbstverständlich mit einer konsequent sozialistischen
Politik ebenso unvereinbar wie das sozialdemokratische, es ist ja genau besehen
nur eine Spielart desselben.
Denn eine Politik, die
darauf gerichtet ist, nicht allein innerhalb der bestehenden, als gegeben
vorausgesetzten Verhältnisse zu wirken, sondern sie, das heißt die
kapitalistische Ordnung, überwinden soll, bedarf zwangsläufig der theoretischen
Einsicht in die realen Bewegungsgesetze dieser Gesellschaft. Weil die
gesellschaftliche Realität aber als in sich zusammenhängende Totalität
funktioniert, ist sie auch nur durch ein in sich geschlossenes, ganzheitliches
Weltbild adäquat erfaßbar, nicht durch das abstrakte Nebeneinander
verschiedener Weltbilder. Die Wahrheit ist in sich konkret, das heißt eine
Einheit unterschiedener, ja einander
entgegengesetzter Bestimmungen, - aber es ist eine Wahrheit, das heißt die gegensätzlichen Bestimmungen stehen im
Zusammenhang, sie sind auseinander ableitbar; (hier liegt der entscheidende
Unterschied zum Eklektizismus und dessen willkürlicher Einheit des abstrakten
"Sowohl-als-Auch"). Der Marxismus kommt nicht umsonst aus der
Hegelschule. Dialektik und der Anspruch ganzheitlicher Weltsicht, das heißt
aber: einer wissenschaftlichen Weltanschauung, gehören untrennbar zusammen.
Außerdem bedarf es bereits zur Propagierung, erst recht zur Durchsetzung eines
revolutionären Bruchs mit dem Kapitalismus einer relativ klaren Vorstellung von
der Beschaffenheit der sozialistischen Alternative. Ohne sie wird sozialistische
Politik nicht überzeugend sein.
Hingegen ist eine
lediglich auf partielle Verbesserungen im Rahmen vorausgesetzter gesellschaftlicher
Mechanismen gerichtete Politik durchaus auf der Basis nur sehr beschränkter
Einsicht in die Funktionsweise dieser Mechanismen, also mit falschem
Bewußtsein, möglich. Der Verzicht auf Theorie bei der Festlegung der aktuellen
Politik, die Entideologisierung der Politik, bedeuten daher: Verzicht auf die Erarbeitung
einer langfristigen, realistischen Strategie, Verlust jeder Verbindung zwischen
den Tageskämpfen hier und heute und der Zielstellung einer sozialistischen
Gesellschaft - folglich implizite Umorientierung der Partei auf Kapitalismus-immanenten
Reformismus.
Nun wird die Absage an
Reformismus gern als Absage an Reformen verstanden. Insofern scheint ein Exkurs
über das Verhältnis von Reform und Revolution nicht unnötig. Unstrittig ist
oder sollte sein: ohne vorherigen systemimmanenten Kampf, der die kämpfende
Klasse schult und die Herausbildung von Klassenbewußtsein erst ermöglicht, kann
auch eine revolutionäre Lage, so sie denn eintritt, nicht erfolgversprechend
genutzt werden. Was den Revolutionär vom Reformisten unterscheidet, ist, daß
ersterer den Reformkampf nicht als Selbstzweck begreift, sondern eben als
Vorbedingung und Vorbereitung des schließlichen Systemwechsels. Diese
Vorbereitungs-Funktion bezieht sich vor allem auf den subjektiven Faktor. Nur
der politische Kampf auf dem Boden des Kapitalismus vermag die nötigen
organisatorischen und ideellen Bindungen zwischen der Arbeiterklasse und ihrer
politischen Organisation herauszubilden.
Eine Beziehung
zwischen Reform und Revolution existiert aber auch noch im umgekehrten, im
rückwirkenden Sinne. Nicht nur ist die Revolution undurchführbar ohne
vorherigen systemimmanenten Kampf; ein konsequenter, kompromißloser Kampf
innerhalb des Kapitalismus ist ebensowenig möglich, wenn das letztendliche
Ziel, die Überwindung dieser Gesellschaftsordnung, aus den Augen verloren wird.
Denn eine Partei, die ihren Handlungsspielraum auf die kapitalistische Ordnung
beschränkt, neigt dazu, sich über kurz oder lang - in der Tat meist schon über
kurz - den Spielregeln und Bewegungsgesetzen dieser Gesellschaft, damit aber
auch dem Wünschen und Wollen der in ihr herrschenden Klasse, anzupassen. Auf
diesen Zusammenhang hat bekanntlich schon Rosa Luxemburg verwiesen. Er wird
durch die Geschichte der sozialdemokratischen Parteien nachdrücklich bestätigt.
Es gibt eben eine immanente Entwicklungslogik, der jeder Reformismus
unterliegt.
Der wissenschaftliche
Sozialismus (in entsprechender zeitgemäßer Weiterentwicklung) ist eine der
größten Stärken, über die die sozialistische Bewegung im Kampf gegen die sonst
in vieler Hinsicht überlegenen bürgerlichen Kräfte verfügt. Die Rückkehr von der
Wissenschaft zur Utopie, die die Verfechter des Pluralismus empfehlen, ist
daher der Weg in die selbsterwählte Ohnmacht und freiwillige
Handlungsunfähigkeit. Dem real existierenden Kapitalismus muß schon ein realer,
das heißt wissenschaftlich ableitbarer Sozialismus entgegengestellt werden. Die
Reduktion des sozialistischen Ziels auf bloße Ideale und Visionen bedeutet
nichts anderes als die verschämte Anerkennung der Unerschütterlichkeit
kapitalistischer Verhältnisse in der Realität. Daher war und ist
programmatischer Pluralismus immer die Basis einer reformistischen, nie einer
revolutionären Politik. Auch die Position der Entideologisierung erweist sich so als eine Ideologie, und nicht als
eine fortschrittliche. (Insofern ist es nicht inkonsequent, daß ausgerechnet
das Godesberg-nahe Mehrheitsprogramm den Pluralismus auf seine Fahnen
schreibt.)
IX. Ausblick
Da eine reformistische
und opportunistische Politik nachweislich die Ursache für den Verfall und
letztlichen Untergang des ersten realen Sozialismus darstellt, scheint es
grotesk, wenn maßgebliche Kreise der PDS-Führung ausgerechnet in der
Wiederbelebung sozialdemokratischer Ideen einen Ausweg aus der gegenwärtigen
Krise der sozialistischen Bewegung sehen. Der Ausweg aus einer Sackgasse läßt
sich gemeinhin nicht dadurch finden, daß man den Lauf in die ausweglose
Richtung mit beschleunigtem Tempo fortsetzt. Nichts anderes tut indes, wer
heute reformistische Theorie und Politik verficht. Wer sich unterscheiden will
von der SED des VIII. Parteitages, von der SED der siebziger und achtziger
Jahre, erst recht von jener SED, die im Herbst 89 die Gegenrevolution durch
eigene Handlungen einleitete und tatkräftig unterstützte (bis ihre Stützung
nicht mehr vonnöten war), der sollte dies durch Marxismus, nicht durch
Opportunismus tun. Denn mit letzterem steht mancher gerade in der Tradition,
die er so gern verleugnet.
"Zusammenbruch" und / oder
"Konterrevolution" (1992)
von Hanfried Müller
I. Zu den Wörtern
"Zusammenbruch" und "Konterrevolution"
Das Wort
"Zusammenbruch" ist neutral. Ein Schwerkranker kann zusammenbrechen,
aber auch eine Intrige, der Sozialismus oder der Faschismus, ein Kulturdenkmal
oder eine Bauruine, ein Held oder ein Ungeheuer.
Das Wort
"Zusammenbruch" weckt zuerst den Gedanken an innere Gründe: An den
Kollaps eines Invaliden oder an das In-sich-Zusammenfallen eines Gebäudes, sei
es, daß es falsch konstruiert ist (dann spricht man gern vom
"Scheitern" - aber dies Wort gehört nicht in mein Thema), auf Sand
oder schludrig gebaut oder von seinen Eigentümern und Nutzern nicht hinreichend
erhalten worden ist. "Schuld" sind dann die Architekten, Baumeister,
Maurer, Besitzer oder Bewohner.
Ist jemand umgebracht
worden (und sei es auch ein Kranker), spricht man nicht von einem
"Kollaps". Und wenn etwas gesprengt worden ist, nennt man das keinen
"Zusammenbruch".
Nicht zuletzt darum
wirkt das Wort "Zusammenbruch", bezieht man es auf den Sozialismus,
auf viele (auch auf mich) als Reizwort. Denn man hört aus diesem Wort heraus:
Der Sozialismus ist nicht umgebracht worden, sondern zusammengebrochen. Das war
Verhängnis oder Selbstverschulden, jedenfalls kein Fremdverschulden!
"Todfeinde" des Sozialismus gab und gibt es nicht. Zumindest waren
nicht sie für sein Ende ursächlich und verantwortlich. Allenfalls gab es eine
"andere Seite", eigentlich wohl gar nur "Partner", die das
Unternehmen Sozialismus für verfehlt und gefährlich hielten, es darum
kritisierten und ablehnten. Und sie hatten schließlich recht. Denn der
Sozialismus erwies sich als "ineffektiv", also als nicht lebens-fähig
und -fördernd, sondern schädlich. Schlimmstenfalls waren "die auf der
anderen Seite" Totengräber des Sozialismus (vielleicht sogar
Leichenfledderer), nachdem er zusammengebrochen war, nicht aber seine Mörder,
die ihn konterrevolutionär beseitigten.
Anders das Wort
"Konterrevolution"! Es ist parteilich. Aber auch im Sprachgebrauch
der Gegner der Revolution ist es negativ besetzt. Das enthüllt, daß wir nicht
nur in einer revolutionären Epoche gelebt haben, sondern noch leben - natürlich
gegenwärtig keineswegs in einer revolutionären Situation!
Noch in jüngere Zeit
hinein galt umgekehrt das Wort "Revolution" als Schimpfwort. Es lag
bereits Trotz darin, sich revolutionär zu nennen. In diesem Jahrhundert galt
das von dem Wort "konterrevolutionär". Konterrevolutionäre schämen
sich dessen, was sie sind, und geben sich "revolutionär".
Erst dann triumphierte
1933 die Gegenrevolution gegen die halbherzige Revolution von 1918 (damals
gegen die "Novemberverbrecher" wie heute gegen die
"Regierungskriminalität"), als sie sich nicht als reaktionäre
Gegenrevolution, sondern als "nationale Revolution" ausgab. Und so
siegte auch in unseren Tagen die Gegenrevolution nicht im Gewand der
"Konterrevolution", sondern als "sanfte Revolution". Sie
schrieb keineswegs die Abwicklung des Sozialismus zugunsten der Deutschen Bank
auf ihre Fahnen (obwohl der Adler im Schwarz-Rot-Gold fast alles sagte, was
einst das Hakenkreuz im Schwarz-Weiß-Rot), sondern rief: "Verbesserung des
Sozialismus" durch "mehr Demokratie".
Auch anders als das
Wort "Zusammenbruch" schließt das Wort "Konterrevolution"
den Gedanken an Kampf und Feinde, ja an Klassenkampf und Klassenfeinde, ein.
Das Wort "Konterrevolution" meint bewußten und gewollten Angriff
gegen die Revolution. Darum stellt sich hier auch die "Schuldfrage"
anders: Aus dem Feind wird kein partnerschaftlicher Kritiker, der sogar recht
gehabt hat, sondern er ist der vorläufige Sieger. Und ihm gegenüber geht es
nicht um Selbstkritik, sondern um Revanche, um Erhebung gegen die Unterwerfung.
Ihm gegenüber steht nicht selbstkritisch das eigene Recht zur Debatte, sondern
die eigene Kraft. Nicht ob man etwas Falsches gewollt oder gemacht habe, ist
die Frage, sondern ob man das Richtige falsch gemacht hat, ob man zu schwach
oder zu töricht, zu träge oder zu feige, zu bequem oder zu selbstsicher war, um
es durchzusetzen. Wenn man sich in einer Konterrevolution geschlagen sieht,
findet man eigene Schuld gerade nicht darin, daß man Macht ausgeübt, sondern
darin, daß man sie verspielt hat. Der Ton liegt nicht darauf, daß Machtbesitz,
sondern darauf, daß das Fehlen von Macht Schuld sein kann.
Aber ebenso wie das
Wort "Zusammenbruch" ist auch das Wort "Konterrevolution"
ein Reizwort - allerdings für die andere Seite.
Zunächst weil, wie
gesagt, gerade Konterrevolutionäre nicht Konterrevolutionäre genannt sein
wollen, so wie Imperialisten nicht Imperialisten heißen möchten und sich
beleidigt fühlen, wenn man sagt, was sie sind. Denn das Wort
"Konterrevolution" entlarvt einen Massenbetrug vom Ausmaß der
faschistischen Verführung seit Anfang der dreißiger Jahre. Wahrscheinlich ist
es vor allem darum ein Reizwort nicht nur für die Verführer, sondern auch für
die Verführten. Das Wort ärgert nicht nur die, die mit einer
scheinsozialistischen Demagogie, mit dem Slogan "sozialistische
Marktwirtschaft" und "demokratischer Sozialismus", die Diktatur
des Kapitals restaurierten. Mindestens ebenso provoziert es diejenigen, die auf
diese Demagogie hereingefallen sind und darum unvermeidlich mit dem Wort
"Konterrevolution" eine Erinnerung an die eigene Dummheit verbinden.
- Und eigenartig: - man könnte darüber tiefsinnig werden - wir Menschen neigen
nun einmal dazu, immerhin noch lieber Betrüger als Betrogene sein zu wollen.
Oft ist es schmerzlicher, zuzugeben, daß man dumm, als daß man böse gewesen
sei. (Ob uns das zum Ruhme gereicht, mag man sich fragen.) Jedenfalls geht so
manchem "sanften Revolutionär", der 1989 wirklich von einer
Verbesserung des Sozialismus träumte, offenbar nichts so schwer über die Lippen
wie das Eingeständnis, willen- und gedankenlos einer Massenhysterie erlegen zu
sein, die die Monopole durch die Medien zielbewußt schürten, indem sie die
völlige Politikunfähigkeit derer ausnutzten, die zwischen Revolution und Konterrevolution
so wenig unterscheiden konnten wie zwischen rechts und links und vorwärts und
rückwärts und also völlig orientierungslos waren.
Sodann wirkt das Wort
"Konterrevolution" wohl darum auf viele als Reizwort, weil es ein Ja
zur Revolution enthält, auch wenn man sie vorerst verloren hat. Das Wort
fordert Standhaftigkeit in der Niederlage und verweigert die Einwilligung in
die Kapitulation. Es behauptet, auch wo die eigene Macht gegenwärtig verloren
ist, ein Recht auf eigene Zukunft. Es ist ein Reizwort, weil damit der Kampf
zumindest moralisch nicht aufgegeben wird.
Zuletzt aber wirkt das
Wort "Konterrevolution" wohl deshalb provozierend, weil es den
Gedanken an Verrat weckt. Wer hat nicht nur fahrlässig oder einfach dumm,
sondern willentlich und arglistig dem Gegner zugearbeitet, während er sich als
Freund und redlicher Ratgeber tarnte? Wer hat das trojanische Pferd nicht nur
vertrauensselig, sondern heimtückisch in Ilions Mauern geholt, damit sie
fielen? Mir ist es psychologisch begreiflich, daß vor allem solche, die selbst
"verdeckt" für den Imperialismus gearbeitet haben, mit
unerschöpflichem Haß nach solchen suchen und sie verfemen, die in
"verdeckter" Arbeit dem Imperialismus wehren sollten.
*
"Zusammenbruch
und/oder Konterrevolution". Der dialektische Reiz des Themas, seine Beweglichkeit,
liegt in diesem Schrägstrich zwischen dem "Und" und dem
"Oder".
Haben wir es mit
beidem zu tun: mit Konterrevolution und Zusammenbruch? Oder nur mit einem von
beidem: Zusammenbruch oder Konterrevolution?
Bisher habe ich die
Begriffe "Zusammenbruch" und "Konterrevolution"
gegeneinandergestellt. Ich habe damit - wenn das nicht zu akademisch klingt -
zuerst den dialektischen Widerspruch signalisiert. Absichtlich! Ich wollte
damit einen Gegenakzent setzen zu dem, womit in der SED viel dialektisches
Lebensgefühl verdorben worden ist. Und gerade diese Verderbnis haben, wenn ich
nicht irre, in der PDS vor allem diejenigen, die den übrigen SED-Nachlaß gar
nicht radikal genug liquidieren können, ganz unreflektiert als Erbe übernommen:
nämlich die Neigung, wenn man Dialektik nicht überhaupt verteufelt, immer nur
an die dialektische Einheit zu denken. Der dialektische Widerspruch war (und
ist) dann im besten Falle nur eine Brücke zur dialektischen Einheit, die man,
hat man sie überschritten oder auch nur illusionär übersprungen, schleunigst
hinter sich abbricht. Man möchte doch so gern in der Geborgenheit einer
Friede-Freude-Eierkuchen-Idylle die Seligkeit sozialistischer Visionen genießen
- in dem getrosten Gefühl, den Klassenkampf nun endlich hinter sich zu haben. -
Ganz ähnlich, wie es mir einmal ein als sehr "fortschrittlicher
Christ" geltender "Friedensfreund" sagte, nachdem er bei einer
Dienstreise in die BRD in eine Massendemonstration geraten war: "Was gehen
mich deren Klassenkämpfe an?"
Diese undialektische
Liebe zur "dialektischen Einheit" hat - denke ich - (vielfach
vermittelt) ein Lebensgefühl erzeugt, das (nicht minder kompliziert und
widersprüchlich vermittelt) einiges zu tun hat mit dem Zusammenbruch des
Sozialismus und dem vorläufigen Sieg der Konterrevolution. Denn wer in der
Dialektik den Widerspruch negiert, ignoriert auch gern in der Realität den
Kampf (und nennt dann gerade solche, die diesen Kampf scheuen,
"Realisten"). Es könnte sein, daß beim Ausräumen der Stalin'schen
Irrtümer die These, nach dem Sieg des Sozialismus verschärfe sich der
Klassenkampf, irrtümlich für einen Irrtum gehalten worden ist. Zumindest ist
sie zu schematisch in ihr Gegenteil verkehrt worden: in der sozialistischen
Gesellschaft wirkten keine Reaktionäre mehr, sondern es gäbe nur noch
"Zurückgebliebene", die man "nicht zurücklassen, sondern
mitnehmen" müsse. Wie sich zeigt, haben wir unter ihnen allerlei
Klassenfeinde mitgenommen! (Womit ich natürlich nicht bestreiten will, daß
Stalins These, ihrerseits schematisch und undialektisch praktiziert, in anderer
Weise zur Selbstzerfleischung in der sozialistischen Bewegung beigetragen hat.
Man darf eben auch die dialektische Einheit der Gegensätze nicht ignorieren...)
Und damit bin nun auch
bei der "dialektischen Einheit", bei dem "Und" vor und nach
dem Schrägstrich: Zusammenbruch und Konterrevolution - Konterrevolution und
Zusammenbruch. (Aber wir werden dabei nicht stehen bleiben dürfen, wir werden
von dem "Und" wieder weiterdenken müssen zum "Oder" und vom
"Oder" zum "Und" - immer auf höherer Ebene, denn in
Serpentinen verläuft der Weg der Geschichte und ihrer Erkenntnis.)
II. Zum
Zusammenhang des Sieges der Konterrevolution mit dem Zusammenbruch des
Sozialismus
Sieht man einmal ab
von der Signalwirkung der Begriffe "Zusammenbruch" und "Konterrevolution"
für die Wirkung dessen, was geschehen ist, und macht man sich einmal frei von
der Reizwirkung, die von ihnen ausgeht, dann geht es offenkundig um beides: In
einer Konterrevolution ist der Sozialismus (ich erlaube mir fortan diese
Verkürzung! Ich müßte zumindest einschränken: seine erste weltgeschichtliche
Realisierung in Europa) zusammengebrochen. Und der Zusammenbruch territorial
und historisch begrenzter Realisierungen des Sozialismus ermöglichte einen
vorläufigen Sieg der Konterrevolution von historischem Ausmaß. Dabei war jede
Schwäche und jeder Mangel des Sozialismus, jeder sozialistische Fehler ein
Vorteil für seine Feinde und jede sozialistische Errungenschaft, jeder
sozialistische Erfolg ein Nachteil für die Konterrevolution. Die Schwäche der
einen Seite ist die Stärke der anderen Seite - und umgekehrt.
Gewiß kann man
unterscheiden, ob in einem Schachspiel "Weiß" durch einen genialen
Zug gewonnen oder "Schwarz" durch einen katastrophalen Fehler
verloren hat... Es kann aber auch eine Seite, weil der Gegner kleine Schwächen
erkannte und nutzte, zunehmend in Zugzwänge geraten sein, aus denen es keinen
Ausweg mehr gab... Vielleicht bietet Skat ein noch besseres Bild: da kann man
nicht nur verlieren, weil man sich überreizt, verrechnet oder einfach nicht
aufpaßt, sondern auch, weil man schlechte Karten bekommen hat. Und
"schlechte Karten" hatte die Sowjetunion nach dem Sieg am
"schwächsten Glied der Kette" und nachdem sie sich 1945 fast ebenso
"krankgesiegt" hatte, wie sich die USA "gesundgesiegt"
hatten. (Aber wer richtig spielt, kann auch mit schlechten Karten gewinnen;
zunächst hatte die SU eben das geschafft, und eben das hatte die DDR bis zu
Ulbrichts Sturz bewußt und konsequent versucht.)
Jedenfalls muß man
erst einmal das Spiel betrachten, die Geschichte studieren, bevor man urteilt:
Ist überwiegend oder gar allein die eine Seite zusammengebrochen wie ein falsch
konstruiertes, ein schlampig gebautes oder vergammeltes Gebäude? Oder ist dies
Gebäude unterminiert und gesprengt, bombardiert und in Brand gesetzt,
vielleicht zugleich von innen unterminiert und angezündet und von außen
bombardiert und in Brand geschossen worden? Schließlich aber: Hätte man dies
Haus so fest bauen können, daß es einem Bombardement widerstanden hätte, und
hätte man es so sichern können, daß es einem Verrat gewachsen gewesen wäre?
Bedurfte es also zu seinem Ende sowohl der Fehler seiner Erbauer und Bewohner
als auch des Angriffs der Feinde und des Verrats falscher Freunde? Gilt also
die Formel: Sieg der Konterrevolution und Zusammenbruch des sozialistischen
Lagers in Europa?
*
Die Frage nach den
Gründen, aus denen der Sozialismus sich in Europa noch nicht als reale
sozial-ökonomische Gesellschaftsstruktur zu behaupten vermochte, kann man
sozusagen in verschiedenen Dimensionen aufwerfen: mehr historisch-induktiv oder
mehr analytisch-deduktiv, mehr empirisch-praktisch oder mehr geschichtstheoretisch.
Keine dieser Dimensionen sollte man absolut setzen, aber auch keine
ausschließen. Es käme darauf an, sie sowohl zu unterscheiden als auch zu
verbinden.
Es muß gefragt werden:
Welche Fehler von Sozialisten oder welcher Abfall sozialistischer Führer oder
Führungsgremien von kommunistischen Prinzipien haben zur Niederlage des
Sozialismus geführt? Auch die Frage, ob die Arbeiterklasse ihrer historischen
Aufgabe etwa nicht entsprochen hat (und wenn, warum?), sollte nicht tabu sein.
Kurt Gossweiler hat
überzeugend vorgetragen, ursächlich für die Niederlage sei die Verleugnung von
drei konstitutiven Momenten des wissenschaftlichen Sozialismus, die sich mit
Chrustschow in der Sowjetunion durchgesetzt habe: (1.) Die Absage an den
Internationalismus, (2.) die nicht mehr alternativ angesetzte Konkurrenz mit
dem Imperialismus und (3.) die Preisgabe der Wissenschaftlichkeit ökonomischer
Planung.
Sahra Wagenknecht hat
darauf aufmerksam gemacht, daß ein Mißverständnis und Mißbrauch hinsichtlich
der Politik friedlicher Koexistenz dazu verleitet habe, den Klassencharakter
des internationalen Systemgegensatzes zwischen Sozialismus und Kapitalismus zu
ignorieren. Das führte zu einem verhängnisvoll defätistischen Verlust
revolutionären Bewußtseins.
In kurzen
Diskussionsbeiträgen hat Wolfgang Berger uns mehrfach darauf hingewiesen,
ursächlich für unsere Niederlage sei es, daß man versäumt habe (beziehungsweise
daß es vereitelt worden sei), sich rechtzeitig auf die Auswirkungen der
sogenannten wissenschaftlich-technischen Revolution (WTR) einzustellen. Er hat
das primär an der "Wende" der DDR Anfang der siebziger Jahre
erläutert. (vgl. WBl. 4/92, S. 26 ff.) Auch dieser Mangel läßt sich durchaus
als Fernwirkung der von Gossweiler aufgewiesenen Fehlentscheidungen begreifen.
Mir scheint, daß
insbesondere an dieser Stelle die kommunistische Weltbewegung ihre führende
Rolle verspielt hat. Die führende Rolle besteht ja primär nicht in
administrativer Leitung, sondern in der Fähigkeit vorauszudenken und also
zuerst darin, wegweisend die Themen der Zukunft zu entdecken, die damit
gegebenen Probleme theoretisch zu klären und dann, geleitet von solcher
vorauseilenden Erkenntnis, deren praktische Lösung zu organisieren. Man könnte
es geradezu tragisch nennen, daß die kommunistische Bewegung sich ausgerechnet
in dem Augenblick dazu unfähig erwies, in dem sich die
wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten einer solchen Produktivität zeigten,
die einerseits erst die materiell-technische Voraussetzung zur kommunistischen
Phase der Entwicklung bietet und die andrerseits nur unter sozialistischen
Produktionsverhältnissen human bewältigt werden kann: nämlich zur Förderung der
Kultur durch Freiheits- und Zeitgewinn für alle statt zur Verelendung immer
größerer Massen durch deren Ausschluß von der Produktion und durch die
Perversion ihrer materiellen und ideellen Bedürfnisse im Interesse der
Kapitalverwertung (bloßer Kaufanreiz statt sinnvoller Versorgung,
Vergnügungsreisen statt Wohnungen, Rauschmittel statt guter Ernährung, Sensationsmedien
statt Bildung).
Gerade die Entwicklung
im geistigen Kommunikationsgefüge zeigt eine ähnliche Tragik: Wie die
wissenschaftlich-technische Revolution des 20. Jahrhunderts eigentlich so zum
Sozialismus gehört wie die industrielle des 19. zum Kapitalismus (die übrigens
auch erst nach der gesellschaftlich-politischen Revolution wirksam wurde), so
gehört eigentlich die globale elektronische Massenkommunikation zur
internationalistischen sozialistischen Demokratie. Es wirkt wie ein schlechter
Scherz der Geschichte, daß ausgerechnet "WTR" und elektronische
Medien (vom Sozialismus nicht gekonnt beherrscht) zu vernichtenden Waffen der
Gegenrevolution wurden statt zu Instrumenten der Revolution. (Übrigens kam ja
auch die umstürzende kopernikanische Wende mit der Entdeckung Amerikas zunächst
dem feudal-reaktionären Habsburgerreich zugute und erst später den
frühbürgerlichen und bürgerlichen Kräften, die daraus viel mehr - freilich auch
nicht ohne Indianergenozid sowie zum Teil um den Preis des zeitweiligen
Rückfalls in die Sklaverei - zu machen vermochten.)
Rainer Eckert hebt in
seinen Analysen, die er in unserem Kreis vorgetragen hat, in hohem Maße darauf
ab, daß die ganze kommunistische Weltbewegung mit der Sowjetunion stand und
fiel. (WBl. 3/91, S. 34-49) Einerseits ist das sicher richtig. Andererseits -
darf ich einmal mit Worten spielen? - muß man fragen, "ob das richtig
war". Ich meine damit, ob nicht ein gewisser Autozentrismus der
Sowjetunion dem sozialistischen Internationalismus erheblich geschadet hat und
der Sowjetunion selbst am meisten. Rainer Eckert nimmt - fast möchte man sagen:
heroisch - die Ausdehnung, Überdehnung, Zurücknahme der Überdehnung und
schließlich das Auseinanderfallen der sowjetischen Sozialismusform, also ihre
Explosion und Implosion, zunächst wie eine historisch notwendige Tatsache hin.
Das Geschäft des Theoretikers ist es nicht so sehr, zu fragen, wie etwas falsch
gelaufen ist, sondern zu erklären, warum es eben so gelaufen ist - und laufen
mußte.
Wenn auch auf anderer
Linie, berührt sich mit solcher theoretisch-grundsätzlichen Fragestellung die
Kritik, die Robert Kurz (zum Teil parteilich-marxistisch zum Ärger, zum Teil
aber auch hämisch-diskreditierend zur Freude von Antikommunisten) in
verschiedenen Broschüren und Büchern vorgelegt hat. (...) Wenn man ihre
Verwandtschaft mit allerlei "modernen"
"Modernisierungstheorien", die alle im Effekt zu einer Apologie des
Imperialismus als eines unvermeidlichen Übels zu führen pflegen, außer Acht
läßt, enthält diese Kritik brennende Fragen. Zum Beispiel: Sind die
sozialistischen Staaten daran gescheitert, daß sie die Orientierung auf den
Tauschwert statt ausschließlich auf den Gebrauchswert ihrer Produkte und also
die Warenproduktion keineswegs zu überwinden vermochten? Tatsächlich entstand
ja der Widerspruch, daß Kapital, Produktionsmittel und Arbeit weithin ihren
Warencharakter verloren, nicht aber die Produkte, so daß man von einem in sich
gebrochenen Sozialismus sprechen könnte. Mußte er nicht unvermeidlich der
Dominanz des Kapitalismus auf dem Weltmarkt erliegen, als er mit Ländern, die
ungebrochen auch mit Kapital, Produktionsmitteln und Arbeit als Waren
handelten, in einen Austausch trat? (War nicht zum Beispiel der
"Schwindelkurs" der "Ostmark" ein lebendiger Ausdruck
dafür?) Machte dann diese Halbheit in der sozialistischen Ökonomie die
sozialistische Gesellschaft nicht wehrlos dagegen, daß auch in ihr die
Ideologie der noch global herrschenden Klasse immer mehr an Einfluß gewann -
mit Forderungen wie der nach Marktwirtschaft und "Freizügigkeit", die
sich natürlich nicht administrativ unterdrücken ließen? Förderte der
Sozialismus unter diesen Bedingungen darum zuletzt - Ironie der Geschichte - im
Willen, dem imperialistischen ein sozialistisches Weltsystem entgegenzusetzen,
tatsächlich nur das Gegenteil, indem er im ökonomisch zurückgebliebenen Osten
Europas eine Industrialisierung forcierte, die nicht zum Kommunismus, sondern
zur "Modernisierung", soll bei Kurz heißen: Globalisierung des
imperialistischen Weltmarktes, diente? Kurz meint, de facto habe die gesamte
ursprünglich marxistische Arbeiterbewegung getan, was sie nicht wollte: in
ihrer bolschewistischen Spielart habe sie in vorbürgerlichen Ländern die
ursprüngliche Akkumulation nachgeholt und in ihrer revisionistischen Spielart
in bürgerlichen Ländern Wege zur Massenakzeptanz des Kapitalismus gewiesen.
Übrigens sei auch der Faschismus - hier gleitet Kurz leider fast zur These
"rot gleich braun" über - auch zu verstehen als eine terroristisch
nachholende "Modernisierung" im Sinne jener
"Globalisierung" des Kapitalismus, wie sie sich erst nach dem zweiten
Weltkrieg (zum Beispiel auch in der neuen Form des Kolonialismus) durchgesetzt
und mit der Aufnahme der ehemals sozialistischen Länder Osteuropas in das
imperialistische Weltsystem fast vollendet habe. Darum sieht Kurz erst jetzt
den wirklichen revolutionären Umschlag heranreifen. (Wirkt hier nicht die Entwicklung
der Produktivkräfte - gar nicht so viel anders als oft im vulgären DDR-ML-Grundlagenstudium
- wie ein deus ex machina, um den Preis, daß, wie bei der "Sieghaftigkeit
des Sozialismus", so auch bei der "Moderne", Aktivität und
Verantwortung historischer Subjekte auf der Strecke bleiben?)
*
Meist zeigen solche
Untersuchungen, die konkret nach dem "Wie" der Niederlage fragen,
besonders deutlich, inwiefern Angriffe von außen und Verrat von innen zum Sieg
der Konterrevolution führten. Wo pointiert nach dem "Warum" gefragt
wird, treten überwiegend Elemente innerer Schwäche ans Licht, derentwegen der
Sozialismus zusammengebrochen ist, ja, "zusammenbrechen mußte". (Die
Behauptung, der Sozialismus sei "gescheitert" oder habe
"scheitern müssen", sagt noch mehr, ist noch resignativer, meint,
bereits die Konzeption sei illusionär, utopisch, unrealisierbar und falsch
gewesen. Das aber ist hier und jetzt nicht unser Thema!)
*
Ich denke, der mehr
historisch-empirische und der mehr theoretisch-analytische Aspekt können
nützlich sein. Man sollte beide sorgfältig unterscheiden, aber auch bewußt
verbinden. Mittelbar geht es dabei um den dialektischen Widerspruch und die
dialektische Einheit von Parteilichkeit und Objektivität - um diese alte Frage,
die wir in den fünfziger Jahren, als wir noch theoretisch lebendig waren, so
gründlich erörtert haben. Es geht darum, revolutionäre Moral und revolutionäre
Analyse zu unterscheiden und zu verbinden - so wie "Das kommunistische
Manifest" und "Das Kapital" zusammengehören. Nur wer richtig
Geschichte macht, kann Geschichte recht verstehen. Aber auch nur, wer die
Geschichte richtig versteht, kann richtig Geschichte machen. Wenn man sie im
Rückblick "moralisiert", das heißt, wenn man ihr rückblickend nicht
als Forscher, sondern als Richter begegnet, läuft man Gefahr, sie nicht zu
begreifen, sondern das Geschichtsbild nach eigenen Wünschen zu modeln. Und dann
wird man auch nicht mehr richtig Geschichte machen können. Mich beeindruckt
immer wieder an der Geschichtssicht von Marx und Engels, wie sachlich und
moralinfrei sie Geschichte schreiben, nie unter dem Gesichtspunkt, wie sie
hätte sein sollen oder müssen, sondern immer nur unter dem Aspekt, wie sie war
- und das heißt eben analysierend und nicht moralisierend. Wie schrecklich und
großartig erscheint da zum Beispiel im Kommunistischen Manifest im Rückblick
die Rolle des Klassenfeindes: der Bourgeoisie! Aber so sachlich-nüchtern kann
man Geschichte nur verstehen (es sei denn, man erläge dem Zynismus), wenn man
sie mit revolutionärer Moral für die Zukunft macht. Und mit revolutionärer
Moral Geschichte machen kann man nur, wenn man die geschehene (und darum
unabänderliche) Geschichte nicht mißbraucht, um daran die Moral zu üben, an der
es einem im Blick auf eigene Taten an Einsicht und Mut gebricht. Die Analyse
der Vergangenheit darf nicht zur Fluchtburg vor der in der Gegenwart geforderten
revolutionären Aktivität werden. Ebensowenig darf man vor der Analyse der
Geschichte in einen politischen Aktivismus flüchten, der dann niemals revolutionäre
Energie sein wird, sondern nur anarchisches Revoluzzertum oder
opportunistisches Haschen nach "Effektivität".
*
Nachdem das gesagt
ist, möchte ich nun aber doch noch einmal eine Hypothese zur Diskussion
stellen, die ich gelegentlich schon angedeutet habe. Sie hatte in gewisser
Weise Kurt Gossweiler den Anstoß gegeben, uns zu begründen, daß und warum der
Sozialismus nach 1945 durchaus eine Chance hatte. Denn Kurt Gossweiler hatte
meine These vom "frühsozialistischen Absolutismus", die in den
Weißenseer und in den Marxistischen Blättern erschienen war*,
so verstanden, als ob ich das hätte bestreiten wollen.
Darum aber ging es mir
nicht! Ich hatte eine andere Frage gemeint als Gossweiler. Er untersucht,
welche unmarxistischen Fehlentscheidungen (vor allem in der Sowjetunion) zum
Untergang des Sozialismus führten. Ich hatte gefragt, warum dort nach fast
vierzig Jahren sozialistischer Entwicklung solche Fehlentscheidungen möglich
waren. Warum konnte dieses Land, das als einziges der faschistischen Invasion
zu widerstehen vermochte, auf die Dauer dem konterrevolutionären Angriff im
Kalten Krieg nicht standhalten?
Dabei bestreite ich
nicht: Das sozialistische Lager in Europa brach unter einer konterrevolutionären
Aggression zusammen - weder gleichsam von selbst noch an der Kritik der
"Kerzenkinder", die sich des Sieges ihrer "getauften
Revolution" rühmen und bis heute (frustriert-betroffen wie eh und je)
nicht begreifen, warum sie als Sieger nichts gewonnen, sondern manches verloren
haben, was sie vorher nicht zu schätzen wußten. Vielmehr brach es zusammen, als
der Imperialismus seine zuerst innenpolitisch erprobten Herrschaftsmethoden
außenpolitisch perfektionierte: Terror (im Sinne von Totrüstung) verbunden mit
Demagogie (wirksam zum Beispiel in der Transformation der Politik friedlicher
Koexistenz als einer vom Sozialismus erstrebten Form des internationalen
Klassenkampfes in eine "Verständigungspolitik" als eine vom
Imperialismus genutzte Waffe im Klassenkampf) und schließlich: Korruption
(durch Verbindung von Kredit- und Embargo-Politik, also als Ergänzung von
Bestechung und Erpressung - "Zuckerbrot und Peitsche"!)
Um auf mein eingangs
benutztes Bild zurückzukommen: Das Gebäude ist nicht von selbst zusammengebrochen.
Es war jedenfalls richtig konzipiert und so stabil gebaut, wie man unter
ständigem Beschuß ein Gebäude nur errichten kann. Es ist einem Bombardement und
einer Unterminierung zum Opfer gefallen...
Warum aber konnte das
Gebäude des Sozialismus dem Bombardement und der Unterminierung nicht
standhalten?
Gewiß zunächst einmal,
weil Personen, die man mit Namen und Adresse nennen kann, an diesem Bauwerk
Umbauten vorgenommen hatten, die tief in seine Statik eingriffen und seine
Stabilität untergruben. Was Gossweiler, Berger, Wagenknecht hier an
Fehlentscheidungen und Versäumnissen genannt haben, scheint mir zuzutreffen.
Den Grundfehler machte
mir vor langer Zeit einmal Dieter Frielinghaus deutlich: Auf einem Bahnhof,
erzählte er, hätten zwei Züge in gegensätzlicher Richtung zur Abfahrt bereit
gestanden: der eine in Richtung Sozialismus, der andere in Richtung
Kapitalismus. Er sei in den Sozialismuszug gestiegen - und dann habe er sich
gewundert, daß immer mehr Leute durch diesen Zug gingen und fragten: Wann holen
wir endlich den anderen Zug ein, der in der entgegengesetzten Richtung
unterwegs ist? (So falsch, wie man es uns einreden wollte, war die Parole
"Überholen ohne einzuholen" - also auf einem anderen Wege! - wohl
doch nicht.) Aber warum wollten viele Leute auf der sozialistischen Strecke ein
kapitalistisches Ziel erreichen und in eine Lebensweise fahren, die nur für
wenige in den Zentren des Imperialismus, niemals aber für alle und überall
generalisierbar und darum sozial gerecht nicht realisierbar ist?
Reichen angesichts
dessen die Hinweise auf Fehlentscheidungen, ja Verrat sozialistischer Führer -
so richtig sie sind - zur Erklärung des Sieges der Konterrevolution und der
Niederlage des Sozialismus aus? Ich frage mich: warum war die sowjetische
Gesellschaft nach fast vierzigjähriger Geschichte (und die kommunistische
Bewegung mit all ihrer internationalen revolutionären Erfahrung) nicht in der
Lage, solche Fehlentscheidungen zu korrigieren, solchen Verrat zu erkennen und
unzureichende Kader auszuwechseln, obwohl doch die natürliche Strafe für ihre
Versäumnisse jeweils auf dem Fuße folgte: Auf den "neuen Kurs" der 17.
Juni 1953 und auf den XX. Parteitag der KPdSU die ungarische Konterrevolution?
(Natürlich setzt sich eine notwendige Neuorientierung - und sie war nach der
Stalin-Ära notwendig! - nie ohne Schwankungen durch. Die Geschichte der
Arbeiterbewegung und auch die frühe Geschichte der Sowjetunion ist voll von
dieser Erfahrung. Aber nun wurde ja das Schwanken geradezu zur Linie, und der
Subjektivismus wechselte nur noch seine Gesichter: von Chrustschow über
Breshnew zu Gorbatschow.)
Ich meine, daß
insbesondere die Sowjetunion (aber auch die kommunistische Weltbewegung)
tatsächlich Mitte unseres Jahrhunderts vor der Aufgabe einer Neuorientierung
stand. Ihr war sie nicht gewachsen! Insbesondere die Sowjetunion stand vor der
Aufgabe einer - keine Sorge! Ich meine nicht "Perestroika" -
Demokratisierung der Arbeiter- und Bauernmacht. Nicht darum, weil sie bisher
"undemokratisch" gewesen wäre (jedenfalls war sie viel demokratischer
als die bürgerlichen Staaten, in denen sich die Demokratie ja nur auf der
Spielwiese tummeln kann, die die Diktatur des Kapitals ihr überläßt), sondern
weil der Sozialismus zur Bewältigung der neu aufbrechenden Probleme einer
gewaltigen Ausweitung des Verantwortungsbewußtseins aller für das Ganze (das
nenne ich Demokratisierung) bedurft hätte. Demokratie ist doch nicht nur eine
Frage der Mehrheitsmacht und erst recht nicht nur eine Frage des
Verfassungsrechtes. Gerade in Deutschland haben ja oft genug undemokratische
Mehrheiten demokratische Verfassungen geändert oder einfach unterlaufen, ohne
auch nur ihren Wortlaut einer Korrektur zu würdigen. Demokratie ist vielmehr
zuerst eine Frage der Massenbildung und Charakterbildung: Zivilcourage gegen
Herdeninstinkt, Selbstdisziplin gegen provokatorischen Platzhirschinstinkt,
gesellschaftliches Pflichtbewußtsein gegen Fluchtinstinkt, und all das als
Massenerscheinung, das ist der beste demokratische Verfassungsschutz. Dieses
Bewußtsein, daß die "res publica" (Republik heißt ja wörtlich:
"öffentliche Angelegenheit") in der Mitverantwortung eines jeden
besteht, hätte auf der Basis gesellschaftlichen Eigentums ebenso wachsen
müssen, wie es nicht zufällig (wie wir täglich sehen, man denke nur an die
passiven Zuschauer bei Ausländer-Pogromen) auf der Basis immer monopolistischer
werdenden Privateigentums verkümmert.
Die Sowjetunion konnte
Mitte der fünfziger Jahre nicht bei einem System stehen bleiben, das wesentlich
dadurch entstanden war, daß die Klassenherrschaft zunächst konkret primär durch
eine Avantgarde von Berufsrevolutionären, dann durch einen starken Generalsekretär
mit seinem Apparat ausgeübt wurde. Die KPdSU hätte Wege suchen und finden
müssen, um immer weitere Kreise der herrschenden Klassen selbst politisch so zu
bilden, daß sie politisch verantwortlich hätten handeln können. Voraussetzungen
dafür waren gegeben. Ich habe den Eindruck, daß das demokratische
Mitverantwortungsbewußtsein, ermöglicht und ausgedrückt in der öffentlichen
Diskussion wesentlicher politischer Entscheidungen, am Ende der Stalin-Ära in
breiten Massen viel entwickelter war als später. In der DDR verlor es sich fast
vollends auf dem Wege zu einem Konsum-Sozialismus nach Ulbrichts Sturz.
Aber es war nicht
entwickelt genug! Sonst hätte der XX. Parteitag kaum mit seiner unkritischen,
undialektischen, geschichtsfremden Stalinverdammung die kommunistische Weltbewegung
so nachhaltig an sich selbst irre machen und den Weg zu einer kritischen, das
heißt urteilsfähigen und dialektischen Sicht der eigenen Geschichte verlegen
können. Er vereitelte damit genau das, worauf es angekommen wäre: Auf den
(durch viele, leider auch unnötige Opfer besonders teueren) Errungenschaften
der "Stalin-Ära" aufbauend, die Charakteristika dieser Zeit
dialektisch aufzuheben und sie so fortschreitend hinter sich zu lassen.
Tatsächlich aber reichte Mitte der fünfziger Jahre die gesellschaftliche Kraft
zu einer solchen revolutionären Wende nicht aus. Und darum kam es beim XX.
Parteitag zu einer konterrevolutionären Wende, die uns Kurt Gossweiler deutlich
beschrieben hat und die nicht ohne innere Logik in der Liquidation des
sozialistischen Lagers unter Gorbatschows Führung endete.
Warum aber fehlte die
Kraft? An dieser Stelle hatte ich in dem genannten Aufsatz (WBl. 5/90, v.a. S.
63 ff.) eine Analogie zur bürgerlichen Revolutionsgeschichte gefunden. Dabei
heißt "Analogie" immer beides: Ähnlichkeit und Unähnlichkeit.
*
Auch das Bürgertum war
in der frühbürgerlichen Revolution quantitativ und qualitativ noch zu schwach,
um seine Macht in der Kollektivität der Klasse und also bürgerlich-demokratisch
zu organisieren. So entstand der frühbürgerliche Absolutismus (...)
Nun hat es die
sozialistische Revolution - hier liegen die Unähnlichkeiten - insbesondere aus
zwei Gründen viel schwerer als die bürgerliche:
Erstens, weil das
Bürgertum, gestützt auf seine spontan gewachsene ökonomische Macht, die
politische Macht erringt und, hat es sie errungen, in ihr von seiner
ökonomischen Macht getragen wird. Das Proletariat aber muß erst kraft der
revolutionär gewonnenen politischen Macht seine ökonomische Macht bewußt begründen.
Und mehr noch: seine politische Macht wird nicht von einer spontan
funktionierenden Wirtschaft getragen, sondern diese bedarf ständiger
politischer Lenkung. So liegt (wie bei der sozialistischen Revolution) auch
beim sozialistischen Aufbau der Primat bei der Politik gegenüber der Ökonomie.
Ich habe den Eindruck,
daß eine Reihe unserer "modernen" Ökonomen das nicht begriffen hatten.
In einem vulgärmarxistischen Mißverständnis schienen sie oft nach einer
Wirtschaft zu suchen, die ebenso spontan sozialistische Verhältnisse
reproduzieren könnte, wie das Kapital spontan kapitalistische Verhältnisse
reproduziert. So blickten sie geradezu neidisch auf die
"Selbstheilungskräfte" des Marktes, diskreditierten das Wesen
sozialistischer Ökonomie, nämlich die Planmäßigkeit der Produktion, statt eine
richtige Planung zu organisieren, vernachlässigten Akkumulation des produktiven
Volkseigentums, verfielen in einer Art Milieutheorie der Illusion, die eigene
Klasse sozusagen durch ein Konsumangebot mittels "Pump" beim Klassenfeind
ruhigstellen (um nicht zu sagen: kaufen) zu können, und dachten ernsthaft, der
Imperialismus sei wesentlich reform-, nämlich friedensfähig genug, um mit ihm
bei der Lösung der "globalen Probleme" kooperieren zu können. Als
"Pragmatiker" vom Westen hochgelobt, wurden sie so (willentlich oder
nicht) neben den ideologischen "Reformatoren des Sozialismus"
andererseits Teil der fünften Kolonne der Konterrevolution (...)
Zweitens: Durch eine
noch größere Schwierigkeit unterscheidet sich die Entwicklung der sozialistischen
Gesellschaft von der der bürgerlichen: Die bürgerliche Revolution setzte sich
immer dort durch, wo das Kapital und das Bürgertum am weitesten entwickelt
waren. Die sozialistische Revolution aber stand unter dem Widerspruch, daß sie
dort die beste Chance hatte zu siegen, wo die Chance, den Sozialismus zu
konsolidieren, besonders schlecht war: "am schwächsten Glied der
Kette", wie Lenin das nannte...
Wo aber die
Bedingungen besser waren, da konnte sie nicht siegen. Dort war das
revolutionäre Subjekt bereits von der Bourgeoisie korrumpiert, die für diese
Korruption Teile des Extraprofits einsetzen konnte, den sie aus der Ausbeutung
der "schwächsten Glieder der Kette", an der "Peripherie"
gewonnen hatte. Hier war der Wille zum Aufstieg der Arbeiterklasse bereits
zersetzt durch die massenhafte Möglichkeit und das Ziel eines Aufstiegs aus der
Klasse.
Diese Schwächen sind
in der Sowjetunion zwar sehr brutal, aber erstaunlich schnell verringert
worden. Aber wohl zu brutal und nicht schnell genug, um - als nach dem Kriege
die Zeit dazu heranreifte - zu einer umfassenden gesellschaftlichen
Kollektivierung der Führungs- und Leitungsverantwortung übergehen zu können,
wie es, obwohl man zugleich dem im Kalten Krieg mit allen Mitteln angreifenden
Gegner widerstehen mußte, nötig gewesen wäre. Dadurch entstand ein Defizit. War
es vermeidbar? Ich bezweifle, ob diese Frage beweiskräftig beantwortet werden
kann (...)
Aber als bereits der
ganze Revisionismus unter Gorbatschows Führung von innen und alle
Monopolmedien, und nicht nur sie, von außen dies Defizit an volksdemokratischem
Charakter und Bewußtsein ausnutzten, um mit dem demagogischen Lockruf
"mehr Demokratie" das Volk der DDR wieder im vergoldeten Käfig
einzufangen, war es schon viel zu spät. Und außerdem handelte es sich bei
dieser Schwäche in der DDR um Metastasen der Krankheit, deren erste Symptome
sich zeigten, als die KPdSU und die Sowjetunion nach der "Stalin-Ära"
in eine Art Pubertätskrise gerieten und gegenüber ihrer vergangenen und
künftigen Geschichte nicht zu der kritischen gesellschaftlichen Mündigkeit
fanden, deren es in dieser Zeit bedurft hätte. So war die Sowjetunion (ebenso
wie ein großer Teil der ebenfalls noch nicht selbständig genug auf sie
orientierten kommunistischen Weltbewegung) dem konzentrischen Angriff des Antikommunismus
von außen und innen immer weniger gewachsen und brach unter ihm, seit Reykjavik
immer schneller, zusammen.
Angesichts des Sieges
der Konterrevolution gilt es also, in einem späteren Anlauf den Sozialismus so
aufzubauen, daß er jedem Gegenangriff standhält. Im Blick darauf finde ich den
Verlauf der bürgerlichen Revolutionsgeschichte tröstlich. Die Gegenreformation
hatte nicht das letzte Wort! Es folgten ihr noch viele bürgerliche Revolutionen
bis zum globalen Sieg der Bourgeoisie. Da aber im Unterschied zur bürgerlichen
die sozialistische Revolution sich nicht naturhaft-spontan ergibt, sondern der
bereits bewußte Initialakt zur eigentlichen, das heißt vernünftig-planmäßig
gemachten, zur "künstlichen" Geschichte ist, bedarf es theoretischer
Weiterarbeit, um die Ursachen unserer Niederlage zu analysieren und den
Fortgang der revolutionären Bewegung für die Zukunft richtiger zu konzipieren.
Dazu notiere ich noch
einige selbstkritisch-kritische Fragen:
III. Einige
Grundsatzfragen
1. Ich setze beim
letzten Gedanken ein: bei der Bewußtheit materialistisch-dialektischer Geschichtsgestaltung:
Mit Recht hat sich
marxistische Kritik immer gegen einen "Spontanismus" gewandt, der auf
die subjektive Spontaneität der
Massen im revolutionären Akt setzt. Er ignoriert, daß diese Revolution als
Übergang zur "eigentlichen", nämlich bewußt gestalteten Geschichte
der Menschheit bereits selbst bewußter geschichtlicher Akt sein muß.
Aber: Hat es nicht im
Populärmarxismus der DDR einen mindestens ebenso gefährlichen objektiven Spontanismus gegeben? Das
klang dann so, als sei, wie für Hegel der absolute Geist, für Marx die
Entwicklung der Produktivkräfte* das eigentliche
Subjekt der Geschichte. Natürlich war
sie das auch - für die bisherige Geschichte, die sich eben darum naturhaft-spontan
vollzog. Und sie ist es für den
Kapitalismus der Gegenwart, der sich, wo ihm keiner bewußt in den Arm fällt,
"von selbst" durchsetzt. Das hat Marx gezeigt. Aber geht es für die
sozialistische Gesellschaft nicht gerade darum, daß sie nicht von der
Entwicklung der Produktivkräfte regiert wird, sondern ihrerseits diese bewußt,
aktiv und planmäßig lenkt und regiert? Was bedeutet das für das Verhältnis von
historischer Analyse und Moral? Wie erfaßt revolutionäres Bewußtsein die
dialektische Wechselwirkung zwischen der "Gesetzmäßigkeit der Geschichte"
(die doch im Selbstlauf eher zum Untergang als zum Sozialismus zu führen
scheint) und dem gesellschaftlichen Willen zu verantwortungsbewußter Lenkung
der Geschichte in der Erkenntnis, daß der Sozialismus notwendig, weil die Katastrophe sonst unvermeidlich ist? (...)
Ich fürchte, die
Vulgarisierungen der dialektischen Geschichts- und Erkenntnistheorien haben
dazu beigetragen, viel revolutionären Elan zu brechen und einen Passivismus zu
erzeugen, in dem man sich nicht ganztägig der revolutionären Aufgabe, sondern
nur von 8 bis 17 Uhr der "Leitung" verantwortlich fühlte. (Es kann ja
schließlich nichts schief gehen, wenn der Sozialismus "gesetzmäßig von
selbst" siegt...) (...).
2. "Ökonomische
Ineffektivität" werfen nicht nur Antikommunisten dem Sozialismus vor und
sprechen dann von "sozialistischer Mißwirtschaft". Auch
sozialistische Ökonomen erheben oft selbstkritisch diesen Vorwurf. Damit haben
sie gewiß recht, wenn sie subjektive Schlamperei meinen oder die
Binsenweisheit, daß auch im Sozialismus die Produktionsmittel reproduziert und
modernisiert, die Arbeitsproduktivität gehoben, das Volkseigentum akkumuliert
werden muß, daß auch im Sozialismus nur verteilt werden kann, was zuvor
geschaffen worden ist, und (aber das wird kaum betont) auch die Arbeiterklasse,
nicht anders als die zur Macht aufsteigende Bourgeoisie, nicht darum
herumkommt, durch das, was Max Weber "Konsumaskese" genannt hat, ihr
Herrschaftssystem zu konsolidieren.
Heutzutage aber wird
fast jeder beim Wort "ökonomische Effizienz" zuerst an die
"Kosten-Nutzen-Rechnung" denken, die jedes kapitalistische
Unternehmen anstellen muß, wenn es sein Kapital nicht mindern, sondern mehren
will. "Effektiv" ist dann die Senkung der Kosten und die Erhöhung des
Gewinns! Für wen? Für die Gesellschaft oder für das Kapital? Was für das
Kapital positiv "effektiv" ist, weil es "sich rechnet", ist
ja oft negativ effektiv für die Gesellschaft: Man denke nur an die Rüstungs-
und (auch keineswegs harmlos!) an die Wegwerfproduktion, aber auch an die
Käuflichkeit aller Dienstleistungen vom Rechts- bis zum Gesundheitswesen. Gewiß
ist eine hohe Arbeitsproduktivität Bedingung, daß die Quellen des gesellschaftlichen
Reichtums so sprudeln, daß der Kommunismus möglich wird. Andererseits führt
nicht nur im Kapitalismus das Streben nach Maximalprofit zum Zusammenbruch
aller menschlichen Verhältnisse, sondern der Sozialismus wäre schlecht beraten,
wenn er dem Streben nach Maximierung des Mehrwertes ein Streben nach
Maximierung des Mehrproduktes gegenüberstellte. Das Mehrprodukt kann nur in
Relation zum Freizeit- und Freiheitsgewinn optimiert, nicht maximiert werden,
denn sonst wäre auch der Sozialismus/Kommunismus wie der Kapitalismus kaum noch
allgemeinmenschlich generalisierbar (...)
Ich denke darum, man
müßte differenziert nach dem Verhältnis zwischen "ökonomischer" und
"gesellschaftlicher" Effektivität fragen und nach Wegen suchen, die
ökonomische Effektivität (die keineswegs gleichgültig ist) der gesellschaftlichen
ein- und unterzuordnen.
Das könnte
zusammenhängen mit der Frage, welchen Rang in der sozialistischen Gesellschaft
Tauschwerte gegenüber Gebrauchswerten haben dürfen. Wie und wieweit ist schon
in der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, mit Recht, nicht nur der
Warencharakter von Grund und Boden und Produktionsmitteln (zumindest
hinsichtlich des Privataustausches der Bürger) im Volkseigentum aufgehoben
worden, und inwieweit haben auch Arbeit und Befriedigung der
Grundlebensbedürfnisse ihren Warencharakter (mit Recht oder Unrecht?) behalten
oder verloren?
Hat die sehr
undifferenziert unkritische und undialektische Übernahme der "ökonomischen
Effektivität" als eines Gipfelbegriffs kapitalistischen Renommees dazu
beigetragen, im Erfolg ein Wahrheitskriterium zu sehen - mit der Folge, daß so
viele so schnell vor dem Erfolg der Konterrevolution kapituliert haben und
dabei moralisch zusammengebrochen sind?
3. Zur Frage des
revolutionären Subjekts: (...) Wenn der Kapitalkonzentration auf der einen die
Zersplitterung der Arbeiter als Klasse auf der anderen Seite entspricht, wäre
zu erwarten, daß die Hauptelemente der klassischen Bestimmung des Proletariat
auseinandertreten: Auf der einen Seite die, die nichts zu verlieren haben als
ihre Ketten, von denen aber auch niemand mehr ihre Arbeitskraft kaufen will und
die so sehr verelendet werden, daß sie schlechthin gar nichts mehr zu verkaufen
haben. Auf der anderen Seite die, die nur, aber immerhin noch, ihre
Arbeitskraft (samt dazu gehöriger Qualifikation) zu verkaufen haben: aber oft
kauft das Kapital nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern sie selbst samt ihrem
Bewußtsein ein, so daß sie alsbald mehr zu verlieren haben als ihre Ketten.
Wenn das tendenziell
so wäre: Wie ist dann aus den Verelendeten, deren das Kapital so wenig bedarf,
daß es sie auch, ohne um seine Profite zu fürchten, physisch vernichten könnte,
und denen, auf deren Arbeitskraft das
Kapital angewiesen ist und die es darum mitsamt ihrem Bewußtsein kauft, ein revolutionäres Subjekt zu schaffen?
(...)
Ich will mit einer
sozialpsychologischen Frage schließen, auf die ich mir eine marxistische
Antwort wünschte:
Wodurch haben wir
eigentlich in der DDR den "Ideal-ismus" des revolutionären Materialismus
verspielt zugunsten eines solchen vulgären Materialismus, der allein von
privater Gewinnsucht lebt, die der Kapitalismus erzeugt und die sein Wesen
ausmacht, von dem "Mehr, Mehr, Mehr", das sich jeder Solidarität
entzieht? Warum trat an die Stelle revolutionärer
Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen
Verhältnissen, die zu rational-konstruktiver Aktivität führt, eine konterrevolutionäre Unzufriedenheit mit
den Privatverhältnissen, die in
"Frustrationen" von "Betroffenen" ihren nihilistisch-irrational-destruktiven
Ausdruck fand? (Nicht zufällig kam ja zum Ende der DDR auf einmal unter den
"sanften Revolutionären" wieder Nietzsche in Mode.)
In gewisser Weise bin
ich mit dieser Frage wieder am Anfang: Was mit den gesellschaftlichen
Verhältnissen unzufriedenen, persönlich jedoch in ihrem Kampf für bessere
Verhältnisse durchaus zufriedenen Menschen als Sieg der Konterrevolution
erscheint, der sie zur Gegenoffensive herausfordert, das erscheint mit ihren
Verhältnissen privat Unzufriedenen als "Zusammenbruch", den sie
entweder bejammern oder bejubeln, je nachdem, wie er sich auf ihre
Privatverhältnisse auswirkt.
Damit wären wir wieder
beim Gegensatz: Nicht
Konterrevolution und, sondern Konterrevolution
oder Zusammenbruch! Und steht die
Frage so, dann meine ich: Sieg der Konterrevolution - auch wegen des
Zusammenbruchs sozialistischer Moral. Sie wieder aufzurichten ist aber weniger
eine Aufgabe ethischer Theorien als vielmehr politischer Praxis.
Verfasserverzeichnis
Bethge, Eberhard,
Theologie, BRD
Boer, Dick, Theologie,
Niederlande
Brosig, Klaus,
Theologie, DDR
Domke, Michael,
Theologie, DDR
Drachenberg, Thomas,
unbekannt, DDR
Frielinghaus, Dieter,
Theologie, DDR
-ft. Theologie, DDR
Gossweiler, Kurt,
Gesellschaftswissenschaft, DDR
Grißhammer, Heinrich,
Theologie, BRD
Heilmann, Ulrich,
Theologie, DDR
Kamnitzer, Heinz,
Gesellschaftswissenschaft, DDR
Kern, Robert,
Theologie, DDR
Kraft, Dieter,
Theologie, DDR
Kreck, Walter,
Theologie, BRD
Krum, Horsta,
Theologie, Berlin(West)
-n., Theologie, DDR
Maechler, Winfried,
Theologie, Berlin(West)
Müller, Hanfried,
Theologie, DDR
Müller-Streisand,
Rosemarie, Theologie, DDR
Puccio, Osvaldo,
Gesellschaftswissenschaft, Chile
Rugenstein, Björn,
Naturwissenschaft, DDR
Scherffig, Wolfgang,
Theologie, BRD
Schöller, Jürgen,
Theologie, DDR
Schönfeld, Renate,
Theologie, DDR
Stappenbeck,
Christian, Theologie/Gesellschaftswissenschaft, DDR
Veerkamp, Ton,
Theologie, Niederlande/Berlin(West)
Verghese, Paul,
Metropolit Mar Gregorius, Theologie, Indien
Wagenknecht, Sahra,
Gesellschaftswissenschaft, DDR
Die Weißenseer Blätter
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Die "Weißenseer
Blätter erscheinen in der Regel fünfmal jährlich mit einem Jahresumfang von
etwa 350 Seiten. Sie werden nach dem Grundsatz verbreitet: "jedem nach
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Die Weißenseer Blätter
können bestellt werden unter der Anschrift:
Weißenseer Blätter, p.
A. Hanfried Müller, Ehrlichstraße 75, D - 10318 - Berlin
*
Interessenten, die
sich einen Überblick darüber verschaffen möchten, was in die vorliegende
Auswahl nicht aufgenommen wurde,
beziehungsweise welche Abschnitte der aufgenommenen Beiträge der aus
Raumgründen unvermeidlichen Kürzung zum Opfer fielen. können davon ausgehen,
daß die Weißenseer Blätter seit ihrem Erscheinen (ab Heft 1/1982) unter anderem
an folgende zentrale Bibliotheken geliefert worden und also dort komplett
greifbar sind:
Deutsche Bücherei
Leipzig, Deutsche Staatsbibliothek/Berlin und Stadtbibliothek Berlin.
Plan für weitere Bände in dieser Reihe
Sollte das vorliegende
Buch auf größeres Interesse stoßen, so planen Verlag und Herausgeber weitere
Nachdrucke unter dem Rahmentitel: "Kirchen- und Zeitgeschichte im Spiegel
der Weißenseer Blätter". Um den Umfang dieses Interesses beurteilen zu
können, würden Verlag und Herausgeber es begrüßen, wenn viele Leser von der
beiliegenden Postkarte Gebrauch machten, um gegebenenfalls ihr Interesse an
weiteren Bänden zu bekunden.
Im einzelnen ist daran
gedacht, solche Themen aufzugreifen, die - wie im Vorwort zu diesem Bande
gesagt - zunächst zurückgestellt werden mußten; so wäre etwa an je einen Band
zu folgenden Themen zu denken:
"Kirche im
Sozialismus" gegen den Sozialismus? - Kritik des politischen
Klerikalismus.
Neben der in den WBl
unter dem Titel "Kirche im Sozialismus" erschienenen Artikelserie (in
dem die Skepsis der Redaktion gegenüber diesem Begriff begründet wurde) wäre
hier auch eine Reihe von Beiträgen aufzunehmen, die diesem so gern gleichermaßen
von Kirchenleitungen wie von staatlichen Kirchenpolitikern der DDR
strapazierten inhaltsleeren Begriff einen positiven Inhalt zu geben versuchten
Kalter Kirchenkrieg -
Die Synodalberichte der Weißenseer Blätter.
In den Berichten über
Synoden in der DDR (die als Kirchenparlamente oft die Rolle von Alternativparlamenten
zu spielen suchten) sowie in Interviews mit Synodalen wird gerade auch im
Rückblick Zeitgeschichte deutlich. Denn in vielen Synoden in der DDR
konzentrierte sich das gesamtdeutsche antisozialistische Protestpotential wie
Strahlen in einer Linse: War doch oft genug für alle politisch interessierten
Seiten die Kirche das Versuchsfeld, auf dem die Wirksamkeit und Wirkung
politischer Konzeptionen erprobt wurde; zuweilen vollzog sich bei Synoden aber
auch die Initialzündung für politische Entwicklungen.
In den beiden weiteren
geplanten Bänden:
Die Transparenz von
Kirchen- und Theologiegeschichte für Gegenwartsentscheidungen
und
Begegnung
evangelischer Theologie mit dem historisch-dialektischen Materialismus.
Irrweg? Holzweg? Wegerkundung?
würde sich Gelegenheit
bieten viele Artikel aufzunehmen, in denen die WBl (nicht nur, aber auch zu
Jubiläen von allgemein-gesellschaftlicher Bedeutung) zum Beispiel anläßlich der
Schleiermacher- und Luther-Gedenktage in der DDR, transparent für gesellschaftspolitische
Fragen Kirchengeschichte in einem so weiten Horizont zeichneten, daß sie auch
das Interesse solcher fand, die sich von "Kirchengeschichte" nicht
allzu viel versprechen. Darüber hinaus könnten hier auch die tiefgreifenden
Diskussionen um die "Theologie der Befreiung", Stellungnahmen zur
Judenfrage, vor allem aber Themen evangelischer und marxistischer Religionskritik
dokumentiert werden, die für die Haltung der WBl ebenso charakteristisch sind
wie der Versuch, politische Solidarität, theologische Verantwortung und
theoretische Reflexion zu verbinden. Denn anders als für viele mit dem
Sozialismus sympathisierende Christen, die vor dem "Atheismus" der
Marxisten zu erschrecken pflegen, war und ist für die WBl - im Glauben an den
Gott, der Gottlose gerecht macht - der Christusglaube
keine religiöse Weltanschauung - den
Marxisten ebenso schwer begreiflich wie ihren religiösen Gegnern.
* Dächte man bei den
Produktivkräften ausschließlich an die Menschen
als "Produktivkräfte", wäre das ja auch so! - Aber war das in der
Propaganda gemeint? Und wenn es so gemeint gewesen wäre, ist es auch so
verstanden worden?