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Der Systematiker
Dialektiker vom Format Hegels: ein Nachruf
auf den Theologen Hanfried Müller Dieter Kraft In: junge Welt vom 10.03.09 Die deutsche Kirchengeschichte kennt nicht
viele Theologen, die so katalysierend gewirkt haben wie der Systematiker
Hanfried Müller. Bereits seine Übersiedelung in die DDR mit seiner Frau
Rosemarie Müller-Streisand führte zu kontroversen Reaktionen. Denn beide kamen
nicht, wie nach 1953 so manch andere westdeutsche Theologen, als Missionare des
Antikommunismus, sondern mit der Hoffnung, daß unter den neuen
gesellschaftlichen Bedingungen auch im Verhältnis zwischen Kirche und
Sozialismus ein neuer Anfang gemacht werden könne. Geprägt von der Barmer
Theologischen Erklärung der Bekennenden Kirche (1934), als Schüler von
Hans-Joachim Iwand, Karl Barth und Ernst Wolf, wurde ihnen das Schuldbekenntnis
des Darmstädter Bruderratswortes (1947) zu einer unwiderrufbaren regula: »Wir
sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische
Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung
der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte
gemahnen müssen.« »Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die
Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen.« In den evangelischen Kirchen in der DDR gab
es nur wenige Theologen, die diese Einsicht kompromißlos durchgehalten haben -
gegen alle Anwürfe eines Kirchentums, das nun erst recht »eine „christliche
Front“ aufzurichten« begann »gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im
gesellschaftlichen Leben der Menschen«. Wer dieser Konfrontation offen und öffentlich
widersprach, der mußte katalysierend wirken. 1956 promovierte Hanfried Müller bei
Heinrich Vogel über Dietrich Bonhoeffer. Als seine Monographie 1961 erschien,
die erste große systematische Darstellung und Interpretation der Theologie
Bonhoeffers, löste sie, nun auch international, vehemente Diskussionen aus.
Allein schon der Titel war vielen suspekt: »Von der Kirche zur Welt«. Zwar
konnte niemand diese brillante Studie wissenschaftlich ignorieren, aber spätere
Bonhoeffer-Forscher bemühten sich, bisweilen ostentativ, um Abgrenzung. Und nur
wenige verstanden, worum es Müller in diesem Werk eigentlich ging: Nicht um
seinen Weg »von der Kirche zur Welt«, sondern um die biblische, bei Bonhoeffer
explizierte theologische Erkenntnis, daß das Evangelium der gottlosen Welt gilt
und nicht etwa nur der Kirche - und daß sich deshalb die Kirche mit ihrer Verkündigung
»von der Kirche zur Welt« wenden, sich also in Selbstverleugnung solchen
zuwenden muß, die sie für gottlos hält. Im »Weißenseer Arbeitskreis« (WAK), der
kirchlichen Bruderschaft in Berlin-Brandenburg, fand diese
Bonhoeffer-Interpretation, wenn auch nicht einhellig, so doch weitgehend
Zustimmung. Und so prägte sie dann auch die »Sieben Theologischen Sätze« des
WAK »Von der Freiheit der Kirche zum Dienen« (1963), die sich als Gegen-Sätze
zu einem Kirchenverständnis verstanden, das traditionell antikommunistisch
unterlegt war. Der bekenntnispolitischen Instrumentalisierung des »weltanschaulich-philosophischen
Gegenübers von Theismus und Atheismus« hielten die »sieben Sätze« entgegen,
was großkirchlich als empörend zurückgewiesen wurde: »frei von
Antikommunismus und Opportunismus«, »ohne eine christliche Front aufzurichten«,
»begegnen wir der nichtchristlichen Gesellschaft nicht ängstlich oder gehässig,
sondern hilfsbereit und besonnen und können so auch in der sozialistischen
Gesellschaftsordnung verantwortlich mitleben«. Für Hanfried Müller hatten die »sieben Sätze«
eine fundamentale theologische Bedeutung, die er später als Synodaler ebenso
nachdrücklich zur Geltung brachte wie als Theologieprofessor an der Berliner
Humboldt-Universität - im permanenten Disput mit eben jener Mehrheit, die dann
am 3. Oktober 1990 die Kirchenglocken zu »Dankgottesdiensten« läuten ließ. Als Hanfried Müller 1982 die Weißenseer Blätter
herausgab, hatte er dieses bittere Ende der DDR bereits vor Augen. Deshalb verstand er die Blätter auch als ein
Forum für all jene, die der schleichenden Konterrevolution wenigstens
publizistisch zu widerstehen versuchten. Seine scharfsinnigen und gleichermaßen
weitsichtigen Beiträge wurden für viele zu einer politischen Orientierung, die
noch nach der sogenannten »Wende« Konsistenz zeigte und Peter Hacks
apostrophieren ließ, daß Hanfried Müller »vermöge seiner Zeitschrift Weißenseer
Blätter die Kenntnis der Marxschen Theorie über die gedankenlose, die
schreckliche Zeit der Konterrevolution hinweg« gerettet habe. Hanfried Müller war ein dialektischer Denker
von einem so außergewöhnlichen Format, daß man schon Hegel bemühen muß, um
vergleichsweise davon reden zu können. Und er war ein Systematiker, dem eine Präzision
des Gedankens zu Gebote stand, an der sich jede Unreinheit des Denkens
desavouierte. Mit dieser Klarheit ist auch seine »Evangelische Dogmatik im Überblick«
(1978) geschrieben, die in ihrer christologischen Konzentration eine Mitte
findet, von der her die Kirche für die Welt unbedingt beansprucht ist. Für
diese Klarheit wurde Hanfried Müller gehaßt und verehrt. Am 3. März 2009
starb er im Alter von 84 Jahren. Seine Schüler und Freunde denken an ihn mit
Dankbarkeit. Hanfried Müller wird am Donnerstag, 13.15
Uhr, auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde (Eingang Gudrunstr.)
beigesetzt ________________________________________________ |
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